6. Kapitel

Nachdem ein paar starke Taschenlampen herbeigeschafft worden waren, standen Alexandra und Tobias Seite an Seite am Rand des Brunnens und schauten gemeinsam mit Bruder Johannes in den Schacht. Zwei andere Mönche hielten je zwei Lampen nach unten gerichtet, damit die Lichtkegel für genügend Helligkeit sorgten.

»Herr Wilden?«, rief Bruder Johannes zunächst so leise, als hätte er Angst, einen Schlafenden zu wecken, wurde dann aber lauter und lauter. Als Wilden keine Reaktion zeigte, schüttelte der Mönch besorgt den Kopf und sah zu Alexandra. »Er ist wohl tot, nicht wahr?«

Sie atmete tief durch, dann nickte sie. »So sieht es aus … oder … oder was meinst du, Tobias?«

»Ich glaube nicht, dass man den Kopf so sehr anwinkeln kann«, antwortete er, »es sei denn, das Genick ist gebrochen.«

»Ich auch nicht«, stimmte sie ihm bedrückt zu. »Doch falls er noch lebt, kann er von Glück reden, dass der Brunnen nicht mehr in Betrieb ist, sonst wäre er da unten längst ertrunken. Möchte wissen, wie Wilden da reingeraten ist.«

»Vielleicht war der Brunnen ja das Einzige, wo er seine Nase noch nicht reingesteckt hatte, und das wollte er unbedingt nachholen«, sagte Tobias und ließ im nächsten Moment ein verdutztes »Autsch!« folgen, da Alexandra ihm mit der Faust gegen den Oberarm geschlagen hatte. »Was soll denn das?«

»Da unten ist wahrscheinlich kürzlich ein Mensch zu Tode gekommen, und du hast nichts Besseres zu tun, als deine dämlichen Witze zu reißen!« Sie drehte sich wieder zu Bruder Johannes um, der Tobias auch vorwurfsvoll betrachtete. Dabei bemerkte sie aus dem Augenwinkel, dass die anderen Mönche eine Art Menschenkette gebildet hatten, um die übrigen Gäste daran zu hindern, ebenfalls einen Blick in den Brunnen zu werfen. Dass sie und Tobias aus erster Hand das Geschehen mitverfolgen durften, war Bruder Johannes’ Entscheidung zu verdanken, ihnen freien Zugang zu gewähren.

»Der Notarzt ist alarmiert?«, fragte sie den Mönch.

Er nickte.

»Tja, dann bleibt uns wohl nichts anderes übrig, als zu warten«, meinte Tobias. »Falls Wilden noch lebt, aber schwer verletzt ist, würden wir ihm unter Umständen mehr schaden als helfen, wenn wir selbst versuchten, ihn da rauszuholen. Da müssen Fachleute ran.«

Es verstrichen noch einmal zehn Minuten. Inzwischen war eine halbe Stunde vergangen, seit der Notruf gewählt worden war. Alexandra hatte sich vom Brunnen zurückgezogen und auf eine Holzbank gesetzt, auf der Kater Brown hockte und das Treiben aufmerksam verfolgte. Nachdem es ihm gelungen war, Alexandra auf seinen Fund aufmerksam zu machen, hatte er sich auf der Bank niedergelassen, als wäre seine Arbeit erledigt. »Das hast du gut gemacht«, raunte Alexandra ihm zu, damit Tobias sie nicht hörte. Er würde sich nur wieder über sie lustig machen, weil sie sich mit Kater Brown »unterhielt«.

Auf dem Platz rings um den Ziehbrunnen herrschte betroffene Stille. Alle schienen auf das Nahen des Notarztwagens zu lauschen. Und tatsächlich ertönte auf einmal in einiger Entfernung eine Sirene, und kurz darauf kam ein Rettungswagen in Sichtweite. Er hielt mit hoher Geschwindigkeit auf den Feldweg zu, bremste scharf ab und holperte über den Weg an der Zufahrt zum Parkplatz vorbei. In wenigen Metern Entfernung zum Brunnen hielt er schließlich an. Zwei Rettungssanitäter stiegen aus und gingen zu Bruder Johannes, der sie aufgeregt zu sich winkte.

Alexandra stand auf und kehrte zum Brunnen zurück, gerade als die Sanitäter einen Blick in den Schacht warfen. »Hm, wie sollen wir ihn denn da rauskriegen?«, fragte der bärtige Sanitäter, auf dessen Jacke ein Namensschild mit dem Schriftzug Buchner befestigt war.

Der andere, sein Name war Kersting, schüttelte ratlos den Kopf. »Frag mich was Leichteres! Da müsste eigentlich die Feuerwehr ran, aber die ist bei der Demo in Trier …«

Nachdem die beiden bestimmt eine halbe Minute unschlüssig in den Brunnen gestarrt hatten, beschloss Alexandra, sich einzumischen: »Ich bin keine Expertin, was die Rettung von Verletzten angeht, aber ich nehme an, dass sich einer von Ihnen schnellstmöglich nach unten begeben muss, um das Opfer zu bergen. Der Mann liegt schon viel zu lange da unten.«

»Immer langsam, Kleine«, meinte Kersting, der seinen Kollegen um fast einen Kopf überragte. »Wir können hier nichts überstürzen.«

»›Kleine‹?«, wiederholte sie ungläubig.

Bevor sie weiter aufbegehren konnte, spürte sie Tobias’ Hand beschwichtigend auf ihrem Arm. »Komm, lass die Leute ihre Arbeit machen, das bringt doch nichts.«

»Dann sollten sie auch ihre Arbeit machen, anstatt nur dazustehen«, fauchte sie. Alexandra machte sich aus seinem Griff frei. Es wurde höchste Zeit, dass Wilden aus dem Schacht geborgen wurde. Sollte er doch noch leben, kam es auf jede Sekunde an. »Wollen Sie dem Mann nicht helfen?«, drängte sie die beiden Sanitäter.

»Doch, doch, natürlich«, sagte Buchner. »Aber wie Ihnen vielleicht schon aufgefallen ist, sind mein Kollege und ich nicht unbedingt die Schlanksten, und wenn einer von uns da runterklettert, hat er überhaupt keinen Platz, um sich da unten zu bewegen -ganz zu schweigen davon, den Mann irgendwie zu fassen zu bekommen, um ihn rauszuziehen.«

»Ganz genau«, stimmte Kersting ihm zu. »Da muss jemand runter, der schlank und zierlich ist, zum Beispiel …«

Als der Sanitäter abrupt verstummte, stutzte Alexandra. Im ersten Moment glaubte sie, er wolle sich einen Scherz erlauben, doch darauf deutete nichts weiter hin – im Gegenteil. Kerstings Blick war auffordernd auf sie gerichtet. »Das kann nicht Ihr Ernst sein«, gab sie kopfschüttelnd zurück. »Sie wollen tatsächlich mich da runterschicken?«

Alexandra drehte sich zu Tobias um, der sich mit einem Mal verdächtig ruhig verhielt. »Wolltest du dich gerade freiwillig melden?«, fragte sie spitz.

»Sorry, in dieses Loch kriegst du mich nicht rein«, sagte er. »Um dich da unten bewegen zu können, musst du kopfüber runter. Das heißt, du musst dich mit zusammengeschnürten Beinen abseilen lassen.«

»Ich mach’s«, erklärte da ein Mönch mit dunklem, lockigem Haar, der Alexandra bislang noch nicht aufgefallen war. Er trug eine altmodisch anmutende Hornbrille und war mindestens einen halben Kopf kleiner als die anderen Mönche, die nach wie vor die Gäste auf Abstand hielten. Einige der Leute waren inzwischen ins Kloster zurückgekehrt, die anderen standen da und beobachteten das Treiben. Ein paar von ihnen hatten eine Kamera oder ein Handy gezückt, um die Ereignisse im Bild festzuhalten.

»Ich bin Bruder Antonius«, stellte der dunkelhaarige Mönch sich Alexandra, Tobias und den Rettungssanitätern vor. »Ich werde mich nur schnell umziehen, dann stehe ich zur Verfügung. Jemand soll in der Zwischenzeit ein stabiles Seil beschaffen, an dem ich runtergelassen werden kann.« Mit diesen Worten drehte er sich um und eilte in Richtung Kloster davon.

»Bruder Antonius ist immer sehr hilfsbereit und umsichtig«, erklärte Bruder Johannes, als wäre das sein Verdienst, dann schaute er sich suchend um und wandte sich schließlich an die Rettungssanitäter: »Wo bleibt denn eigentlich Doktor Randerich?«

»Der kommt … dahinten.« Kersting deutete auf einen grellrot lackierten Wagen, der sich mit Blaulicht und hoher Geschwindigkeit näherte.

In diesem Moment kehrte auch Bruder Antonius zu ihnen zurück. »Alles bereit?« Er schaute erwartungsvoll in die Runde. Der Mönch hatte die Kutte gegen einen Arbeitsoverall getauscht, und nun wurde auch klar, warum Bruder Antonius für die Aufgabe die beste Wahl war: Er hatte die Statur eines Jockeys. So schmal, wie er war, konnte er sich an Wilden vorbeizwängen und sich den Mann genauer ansehen, bevor sie ihn aus dem Schacht holten. Und er war ein ausgesprochenes Leichtgewicht, was es umso einfacher machte, ihn an einem Seil nach unten zu lassen.

»Bin schon da«, rief Buchner und brachte das Seil aus dem Rettungswagen mit. Er kniete sich vor Bruder Antonius hin, der sich auf den Brunnenrand gesetzt hatte. Mit geschickten Handgriffen band er die Knöchel des Mannes zusammen, zurrte den Doppelknoten zu und gab mit einem Nicken zu verstehen, dass alles bereit war. Er bat seinen Kollegen und Tobias, ihm dabei zu helfen, das Seil festzuhalten, während sie den Mönch in den Brunnenschacht hinabließen.

Der glitt bäuchlings über die innere Kante der Mauer, dann verschwand er Stück für Stück im Brunnen. »Weiter, weiter, noch ein Stück«, rief Bruder Antonius laut. Und schließlich: »Halt!« Er war nun bei Wilden angelangt. Die beiden anderen Mönche hatten wieder den Lichtkegel ihrer Taschenlampen in die Tiefe gerichtet, und Alexandra und Bruder Johannes verfolgten vom Brunnenrand aus mit, wie Antonius sich, kopfüber am Seil baumelnd, um Wilden kümmerte. Nach einer Weile sah er nach oben, machte eine ernste Miene und schüttelte den Kopf. »Kein Puls. Keine Atmung. Wir haben ihn zu spät gefunden«, rief er. »Lassen Sie mich noch ein Stück runter, dann löse ich das Seil und lege es ihm um, damit Sie ihn raufziehen können.«

Keine zehn Minuten später war die Arbeit erledigt, und Bernd Wilden lag neben dem Brunnen auf dem Boden – zweifellos tot. Der Kopf lag seltsam verdreht da. Die Haare waren von getrocknetem Blut verklebt. Gesicht und Hände wiesen unzählige Schrammen auf, die wahrscheinlich vom Sturz in die Tiefe herrührten. Die Kleidung war offenbar mit einigen scharfen Steinkanten an der Schachtmauer in Berührung gekommen und aufgerissen.

Dr. Randerich, der Notarzt, kniete neben Wilden nieder und fühlte noch einmal dessen Puls. Dann sah er mit ernster Miene zu Tobias, Bruder Johannes und Alexandra hinüber, die um den Toten herum auf dem Boden vor dem Brunnen kauerten, und schüttelte den Kopf.

»Das habe ich ihm nicht gewünscht, ehrlich nicht. Und für uns ist es eine Katastrophe«, murmelte der Mönch. »Wenn sich das herumspricht, dann sind wir ruiniert!«

»Ach was, Bruder Johannes«, gab Tobias zurück. »Unfälle passieren nun mal, dagegen ist niemand gefeit.«

»Tut mir leid«, sagte Bruder Antonius, der inzwischen von den Sanitätern aus dem Brunnen gezogen worden war. »Aber da war nichts mehr zu machen.«

»Leider nicht«, stimmte Alexandra ihm zu und lächelte ihn aufmunternd an. »Aber Sie haben dennoch mehr geleistet, als irgendjemand von Ihnen hätte verlangen können.«

»Na ja«, erwiderte er. »Wir konnten ihn doch nicht da unten liegen lassen. Auch jemand wie er hat es verdient, respektvoll behandelt zu werden, zu Lebzeiten genauso wie im Tod.«

Jemand wie er?, wiederholte Alexandra in Gedanken. Aus unerfindlichem Grund war ihr kriminalistischer Spürsinn erwacht, von dessen Existenz sie bislang nichts gewusst hatte.

Nachdenklich betrachtete sie den Leichnam. Zugegeben, es mochte eine ganz banale Erklärung dafür geben, wieso Wilden am Grund des Brunnens tot aufgefunden worden war, aber vielleicht …

Sie hatte selbst erlebt, wie respektlos und verächtlich Bernd Wilden sich seinen Mitmenschen gegenüber verhalten hatte. Mit Sicherheit hatte er sich viele Feinde gemacht.

Einer der Mönche kam zu ihnen und reichte Bruder Johannes eine Decke. Er stand auf und breitete sie über dem Toten aus.

»Der Kollege fordert den Leichenwagen an«, sagte der Sanitäter namens Buchner. »Mit den Leuten regeln Sie die weiteren Formalitäten. Wir sind für Tote halt nicht zuständig.«

Bruder Johannes hielt einen Moment inne. »Die Polizei muss doch sicher auch noch gerufen werden, oder nicht?«

»Die ist bereits informiert«, versicherte Buchner ihm. Kaum hatte er ausgesprochen, tauchte auf der Landstraße auch schon ein Streifenwagen mit eingeschaltetem Blaulicht und Sirene auf, der sich zügig dem Kloster näherte.

Während die Rettungssanitäter in ihren Wagen stiegen und ein Stück zurücksetzten, kam der Polizeiwagen auf den Platz vor dem Brunnen gefahren. Ein Polizist in Uniform stieg aus, ein Mann um die vierzig, mit mittelblonder Kurzhaarfrisur, die gleich darauf unter der Dienstmütze verschwand.

»Guten Tag, Bruder Johannes.« Er gab dem Mönch die Hand und nickte Dr. Randerich zu. »Ich bin hergekommen, so schnell ich konnte. Was ist denn passiert?«

»Guten Tag, Herr Pallenberg. Einer unserer Gäste, Herr Bernd Wilden«, der Mönch deutete auf die unter dem Tuch liegende Gestalt, »ist im Brunnen tot aufgefunden worden.«

Der Polizeibeamte sah von einem zum anderen. »Wer hat den Mann gefunden?«

»Ich, mithilfe von Kater Brown«, antwortete Alexandra und trat ein Stück näher.

»Das sind Frau Berger und Herr Rombach«, stellte Bruder Johannes sie beide vor. »Sie sind Gäste in unserem Haus.«

»Polizeiobermeister Pallenberg.« Der Polizist reichte ihnen die Hand. »Mithilfe von Kater Brown?«, hakte er nach. »Wie soll ich das verstehen?« Als Alexandra ihm schilderte, was sich zugetragen hatte, musste er trotz der ernsten Angelegenheit schmunzeln. »Das ist ja unglaublich! Sie sollten versuchen, ihn als Trüffelschwein einzusetzen, Bruder Johannes. Vielleicht lässt sich mit dem Kater ja ein Vermögen machen.« Sofort wurde er wieder ernst. »Kann ich?«, fragte er, hockte sich hin und hob die Decke hoch, um die Leiche zu begutachten. »Hm«, machte er und zog Einweghandschuhe aus der Jackentasche. Nachdem er sie recht mühsam übergestreift hatte, drehte er den Kopf des Toten einmal in die eine und dann in die andere Richtung. Dann schüttelte er den Kopf, erhob sich und trat zu Dr. Randerich, um sich kurz mit ihm zu unterhalten.

»Ziemlich klarer Fall, denke ich«, erklärte Pallenberg schließlich. »Der Mann ist allem Anschein nach in den Brunnen gestürzt. Dabei hat er sich diese Verletzungen zugezogen, die zu seinem Tod geführt haben.«

»Und wenn er gestoßen wurde?«, wandte Alexandra ein.

Die Umstehenden schauten sie erschrocken an.

Der Polizist runzelte die Stirn. »Warum sollte ihn jemand gestoßen haben?«

»Ich sage ja nicht, dass ihn jemand gestoßen hat«, stellte sie klar. »Ich meine nur, dass es möglich ist. Jedenfalls finde ich, dass man diese Möglichkeit nicht von vornherein ausschließen sollte.«

»Entschuldigen Sie, Frau …«

»Berger«, antwortete sie. »Alexandra Berger.«

»Ja, Frau Berger. Was machen Sie beruflich?« Pallenbergs Stimme war anzuhören, dass er sich bemühte, nicht aufzubrausen.

»Ich bin Reisejournalistin.«

»So, so.« Er nickte nachdenklich. »Hm, wenn ich so darüber nachdenke, sollten Sie im Augenblick untersuchen, was hier den Touristen geboten wird. Aber es ist ganz sicher nicht Ihre Aufgabe, sich in die Arbeit der Polizei einzumischen, von der Sie keine Ahnung haben.«

»Prinzipiell muss ich Ihnen recht geben, allerdings besteht der Unterschied darin, dass ich durch diesen Zwischenfall von meiner Arbeit abgehalten werde – während ich bei Ihnen das Gefühl habe, dass Ihre Arbeit etwas ist, das Sie von etwas Angenehmerem abhält.«

»Okay, Miss Spitzfindigkeit, ich werde Ihnen jetzt mal erzählen, wie das hier läuft«, antwortete er. »Es spricht alles für einen Unfall und sehr, sehr wenig für eine andere Todesursache, wie mir Doktor Randerich soeben bestätigt hat. Wie Sie sehen, versehe ich momentan meinen Dienst völlig allein, was eigentlich gegen die Vorschriften verstößt. Aber weil sich heute in Trier ein paar Demonstranten die Beine vertreten müssen, ist jeder irgendwie abkömmliche Beamte hier aus der Gegend abgezogen worden. Die Jungs von der Spurensicherung stehen ebenfalls nicht zur Verfügung. Der Gerichtsmediziner liegt nach einem Motorradunfall mit ein paar Knochenbrüchen im Krankenhaus, und sein Vertreter aus Hückelhoven war eben nicht erreichbar, weil sein Team und er zu einer Flussleiche gerufen worden sind. Ich kann also im Augenblick gar nichts tun. Ich verfüge weder über die Ausrüstung, um Spuren zu sichern, noch bin ich in der Lage, den Knaben da zu sezieren, um festzustellen, ob ihn womöglich irgendjemand mit einem Kissen erstickt oder ihm K.-o.-Tropfen verabreicht hat, um ihn anschließend in den Brunnen zu werfen.«

»Das heißt, Sie erklären einen Todesfall einfach so zum Unfall? Ich kann es gar nicht fassen, dass ich das tatsächlich höre«, sagte sie und sah zu Tobias, von dem sie eigentlich Unterstützung erwartet hätte. Doch er stand nur schweigend da.

Pallenberg seufzte. »Wie gesagt, vor Montag habe ich keine Hilfe von der Gerichtsmedizin und der Spurensicherung zu erwarten.«

»Bis dahin könnte ein Täter doch längst über alle Berge sein, und zwar im wörtlichen Sinn«, gab Alexandra zu bedenken. »Sie können doch kein Interesse daran haben, ein solches Risiko einzugehen.«

Pallenberg ließ sich von ihren Worten nicht beeindrucken. »Noch einmal, Frau Berger: Ob es mir gefällt oder nicht – im Augenblick sind mir einfach die Hände gebunden, da Spusi und Gerichtsmedizin anderswo im Einsatz sind. Bitte akzeptieren Sie das!«

»Ja, aber Sie müssen doch irgendwas unternehmen. Wenn ihn jemand umgebracht hat …«

Der Polizist bedeutete ihr mit einer wirschen Handbewegung zu schweigen. »Dann verraten Sie mir doch mal, welches Motiv jemand gehabt haben sollte, diesen Mann umzubringen!«

»Es ist doch nicht meine Aufgabe, nach den Motiven zu suchen!«

Pallenberg zuckte mit den Schultern, ging auf ihre Bemerkung aber gar nicht weiter ein. »Ich werde nun eine Reihe von Fotos machen, die der Spurensicherung hoffentlich weiterhelfen werden, und dann kommt unser Toter in die Kühlkammer. Sobald sich einer der Polizeimediziner um ihn kümmern kann, wird das passieren, und dann wird sich ja zeigen, ob wir es mit einem Mord zu tun haben.«

»Und es stört Sie nicht, dass Sie möglicherweise einen Mörder entwischen lassen?«

»Wen soll ich denn festnehmen? Jeden, der Ihrer Meinung nach etwas mit dem Tod des Mannes zu tun haben könnte?«, fragte er ironisch. »Vielleicht sollte ich dann das Kloster beschlagnahmen. Auf der Wache habe ich nämlich nur eine Zelle für zwei Personen zur Verfügung.«

»Sie müssen sich nicht über mich lustig machen!«

»Dann erzählen Sie mir nicht, wie ich meine Arbeit zu erledigen habe. Ich muss mich bei meinem Vorgesetzten rechtfertigen.«

Mit diesen Worten ging er zu seinem Wagen, telefonierte kurz und kam wenig später mit einer Digitalkamera zurück zu der Gruppe. Dann fotografierte er den Toten und den Brunnenschacht sorgfältig aus den unterschiedlichsten Winkeln. Als er fertig war, sagte er zu Dr. Randerich: »Der Leichenwagen ist angefordert. Würden Sie noch auf ihn warten? Ich werde noch woanders gebraucht.«

Der Arzt nickte. »Kein Problem. Vorausgesetzt, es wickelt sich in der Zwischenzeit nicht wieder irgendein Raser um den nächsten Baum.«

Pallenberg nickte den Anwesenden knapp zu und ging zu seinem Wagen. Kurz darauf brauste er mit quietschenden Reifen in Richtung Landstraße davon.

Alexandra, Tobias, Bruder Johannes und der Notarzt sahen dem Polizeiauto schweigend nach.

»Wenn es ein Mord war, dann hat der Täter also jetzt die Gelegenheit, unbehelligt zu entkommen«, murmelte Tobias nach einer Weile ärgerlich.

»Ganz genau.« Alexandra drehte sich zu Bruder Johannes um.

Der schüttelte nur betrübt den Kopf, ehe er erklärte: »Ich habe davon gehört, dass es aufgrund seiner Dienstzeiten in Pallenbergs Ehe Probleme gibt, vielleicht ist das ja der Grund, dass er so reagiert.«

Dr. Randerich räusperte sich. »Herr Pallenberg war in letzter Zeit großem Stress ausgesetzt. Sie haben vielleicht von diesem schrecklichen Unfall mit einem Reisebus am Grenzübergang Vetschau gehört … Ich weiß, das ist keine Entschuldigung für Pallenbergs Verhalten, aber manchmal verschwört sich einfach alles gegen einen. Im Ort erzählt man sich, dass er sich schon seit einiger Zeit um einen Termin beim Polizeipsychologen bemüht.«

Tobias war hellhörig geworden. »Der Unfall mit den vierzehn Toten?«

»Neunzehn«, sagte der Arzt. »Darunter befanden sich vier von Pallenbergs Kollegen. Das Ganze glich einem Massaker. Herr Pallenberg war bei der Bergung der Toten dabei.«

Alexandra schüttelte den Kopf. Zugegeben, der Polizist schien es tatsächlich nicht leicht zu haben, aber dennoch blieb sie bei ihrer Meinung: Polizeiobermeister Pallenberg hatte den Todesfall vorschnell zu einem Unfall erklärt und gab so einem möglichen Täter die Gelegenheit, Beweise zu vernichten und ungeschoren davonzukommen! Hätte der Polizist sich nur ein Mal kurz umgehört, hätte er herausgefunden, dass es mehr als genug Kandidaten gab, die Wilden zu Lebzeiten liebend gern den Hals umgedreht hätten. Sie selbst hatte innerhalb kürzester Zeit gleich mehrere unerfreuliche Begegnungen mit diesem Mann gehabt. Wie musste es da erst für seine Mitarbeiter gewesen sein, ständig Wildens Attacken ausgesetzt zu sein und sich nicht dagegen zur Wehr setzen zu können?

Bruder Johannes’ Handy kündigte den Eingang einer SMS an, und er sah kurz auf das Display. »Frau Berger, wären Sie so freundlich, zusammen mit Doktor Randerich hier zu warten, bis der Leichenwagen Herrn Wilden abgeholt hat? Es wäre ein wenig pietätlos, wenn wir den Toten einfach da liegen lassen würden. Ich werde jetzt in einer wichtigen Angelegenheit im Kloster gebraucht, und …«

»Ja, schon gut, ich warte hier«, versicherte sie ihm. »Aber hoffentlich kommt der Bestatter bald! Ich möchte nämlich nicht noch heute Mittag hier stehen und Totenwache halten.«

Langsam ging sie zurück zur Bank, auf der Kater Brown inzwischen eingeschlafen war. Als sie sich zu ihm setzte und vorsichtig seinen Bauch zu kraulen begann, schreckte der Kater mit einem leisen Fauchen hoch. Doch als er Alexandra erkannte, reckte er sich und kletterte dann auf ihren Schoß, um sich dort zusammenzurollen.

Tobias wechselte derweil ein paar Worte mit Dr. Randerich, dann ging er recht zielstrebig zum Parkplatz, wo er sich eine Zeitlang an Wildens Wagen aufhielt. Schließlich kam er gemächlich zurück und setzte sich neben Alexandra. Langsam streckte er eine Hand aus und strich Kater Brown vorsichtig über den Rücken.

»Keine Angst, der kratzt nicht«, sagte Alexandra.

»Angst hab ich nicht, ich habe nur keine Erfahrung mit Katzen. Meine Eltern hatten immer Hunde, auch jetzt noch. Aber ich habe mir nie einen eigenen zugelegt, weil ich weiß, dass ich durch den Job niemals genug Zeit hätte, mich um das Tier zu kümmern.«

»Ja, so geht’s mir mit Katzen«, gestand sie ihm. »Ich würde gern ein Pärchen bei mir aufnehmen, doch dann hätte ich zum Beispiel für dieses Wochenende jemanden bitten müssen, sich um die beiden zu kümmern.« Sie grinste schief. »Und wahrscheinlich hätte ich jetzt trotzdem keine Ruhe, weil ich ständig darüber nachdenken würde, ob es ihnen gut geht oder ob sie vielleicht irgendetwas angestellt haben.«

Tobias verzog den Mund. »Das sind halt die Opfer, die man für seinen Traumjob bringen muss.«

»Tja, man kann nicht alles haben«, murmelte sie und wechselte das Thema. »Du hast dir Wildens Wagen angesehen?«

Tobias nickte. »Ich weiß nicht. Auf dem Kiesuntergrund kann man keine Spuren ausmachen, allerdings habe ich ein paar Stellen entdeckt, an denen irgendetwas Rötliches oder Bräunliches auf die Steine getropft ist.«

»Blut?«

Er hob die Schultern. »Ich denke ja. Ich habe ein paar der Steine in ein Taschentuch gewickelt, aber das müsste in einem Labor untersucht werden. Außerdem sind mir eben am Rand des Brunnens blutige Schleifspuren aufgefallen …«

Alexandra schob den Kater vorsichtig vom Schoß und lief aufgeregt zu dem alten Brunnen hinüber. Schnell hatte sie die roten Spuren entdeckt und betrachtete sie nachdenklich.

Als sie zu Tobias zurückkehrte, waren ihre Wangen vor Aufregung gerötet. »Du, die ganze Sache wird immer ominöser. Ich glaube nicht mehr an einen Unfall! Eigentlich müssten wir jetzt Pallenberg anrufen.«

Tobias winkte ab. »Der dann herkommt und Fotos von den Kieselsteinen und der Blutspur macht. Nee, das bringt nichts.«

»Dieser Polizist ist ein echter Idiot«, brummte sie. Eindringlich schaute sie Tobias an. »Stell dir vor, wir haben recht und jemand hat Wilden tatsächlich ermordet …«

»Dann hat derjenige sicher eine Menge Leute sehr glücklich gemacht«, warf Tobias ein.

»Das will ich gar nicht abstreiten, aber trotzdem soll der Täter nicht ungestraft davonkommen. Ich finde das einfach nicht richtig.« Sie setzte sich und brütete düster vor sich hin. »Hör mal, das klingt jetzt völlig … verrückt. Aber stell dir mal vor, Wilden wurde tatsächlich umgebracht und Pallenberg selbst war der Täter … oder jemand, den er schützen will.«

»Du hältst es für möglich, dass ein Polizist einen Mord begeht und ihn dann höchstpersönlich zu einem Unfall erklärt?« Tobias zog die Brauen zusammen. »Ich habe schon Mühe, mir den ersten Teil deiner Theorie vorzustellen! Ein Polizist, der hingeht und einen anderen umbringt …«

»Polizisten sind auch nur Menschen«, wandte sie ein. »Nur weil sie das Gesetz vertreten, heißt das nicht, dass sie vor niederen Regungen gefeit sind. Es hat beispielsweise schon Eifersuchtsdramen unter Polizisten gegeben. Außerdem reden wir hier über einen Mann wie Bernd Wilden. Der hat sich mit jedem im Kloster angelegt, mit dem Personal genauso wie mit uns. Ich glaube nicht, dass er vor einem Streit mit einem Polizisten zurückgeschreckt wäre. Angenommen, er hat sich im Ort von Pallenberg ungerecht behandelt gefühlt und ihm damit gedroht, sich bei seinen Vorgesetzten bis hin zum Polizeipräsidenten oder an noch höherer Stelle zu beschweren, oder angenommen, er hatte sogar was gegen Pallenberg in der Hand, was den Polizeiobermeister seinen Posten gekostet hätte, dann … na ja, dann wäre das doch ein Grund, Wilden aus dem Weg zu räumen und das Ganze als Unfall abzutun, damit niemand auf die Idee kommt, gegen ihn zu ermitteln.«

Tobias fuhr sich mit der freien Hand durchs Haar und sah sie prüfend von der Seite an. »Du hast doch irgendetwas vor, richtig?«

Sie rang sekundenlang mit sich, ob sie ihm sagen sollte oder nicht, welchen Entschluss sie soeben gefasst hatte. Aber dann sah sie ein, dass es nichts bringen würde, wenn sie es ihm verschwieg. Tobias musste ihr nur eine Weile auf den Fersen bleiben. Spätestens dann würde ihm klar werden, was sie vorhatte. »Ich glaube, ich werde ein bisschen Detektiv spielen und selbst auf Spurensuche gehen.«

Kater Brown hob den Kopf und schaute blinzelnd von Alexandra zu diesem Tobias. Der Mann streichelte ihn so zaghaft! Wirklich angenehm war das nicht. Am liebsten hätte Kater Brown die Krallen ausgefahren und diesem Zauderer einen leichten Hieb versetzt. Aber davon wollte er vorerst noch mal absehen. Der Mann schien Angst vor ihm zu haben. Kater Brown schnupperte an dem Männerarm. Na, das hätte er sich ja denken können! Auch wenn der Duft nur sehr schwach an ihm haftete, roch Tobias eindeutig nach Hund! Bestimmt war das der Grund für seine Angst: Mit diesen dummen Hundeviechern, die sich von den Menschen dressieren und herumkommandieren ließen, kannte Tobias sich aus. Aber er hatte keine Ahnung, wie er mit einem Exemplar einer höheren Spezies umgehen sollte. Na gut, zumindest begegnete er Katzen mit Respekt und Interesse. Nun, da wollte Kater Brown mal nicht so sein und ihn gewähren lassen. Später konnte er noch immer versuchen, Alexandra die andere Entdeckung zu zeigen, die er gemacht hatte. Das musste ja nicht sofort sein. Auf Alexandras Schoß war es viel zu gemütlich …


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