Es war bereits nach vierzehn Uhr dreißig am Sonntagnachmittag, aber Polizeiobermeister Pallenberg war noch immer nicht am Tatort eingetroffen. In der Zwischenzeit waren Alexandra und Tobias an den Fundort von Assmanns Leiche zurückgekehrt, um sich dort noch einmal in Ruhe umzusehen. Kater Brown hatte sie begleitet, denn Alexandra hatte sich vorgenommen, das Tier nicht einmal für eine Minute aus den Augen zu lassen. Sie wussten nicht, wer für die beiden Morde und den Giftanschlag auf den Kater verantwortlich war. Und solange das so war, würde sie alles tun, um das Leben ihres kleinen pelzigen Freundes zu beschützen. Und falls der Mörder nicht gefasst wurde, war sie fest entschlossen, die Mönche davon zu überzeugen, ihr Kater Brown zu überlassen.
Mit Einweghandschuhen ausgerüstet, hatten sie den Toten abgetastet und dabei feststellen müssen, dass er kein Handy bei sich trug. Das war auch zu erwarten gewesen, immerhin war es wahrscheinlich, dass Assmann selbst per Anruf oder SMS in die Falle gelockt worden war.
Gerade wollte Alexandra nach draußen gehen, um nach Pallenberg Ausschau zu halten, als die Tür aufgezogen wurde.
Bruder Johannes trat zu ihnen. Er war kreidebleich. »Es gibt einen weiteren Todesfall? Oh, mein Gott! Bruder Andreas hat mich gerade erst informiert. Zum Glück sind Sie beide wohlauf! Dem Himmel sei Dank!« Er bückte sich zu Kater Brown, um ihn zu streicheln, aber seine Hand zitterte so sehr, dass er sie wieder zurückzog. »Dir geht es wenigstens wieder gut.« Bruder Johannes’ Mundwinkel verzogen sich zu einem kleinen Lächeln, doch gleich darauf kehrte der besorgte Gesichtsausdruck zurück. »Bruder Andreas konnte mir nichts Genaues sagen, er wusste nur, dass es noch einen Toten gegeben hat, und hat die Polizei informiert …« Er stutzte und sah sich um. »Ist Herr Pallenberg etwa schon wieder abgefahren?«
»Nein, nein. Er ist bislang noch gar nicht aufgetaucht.« Tobias trat einen Schritt zur Seite und gab damit den Blick auf den Toten frei, der in der Nähe der letzten Bankreihe auf dem Boden lag.
Bruder Johannes trat langsam näher und wurde womöglich noch blasser. »Herr Assmann?«, entfuhr es ihm entsetzt, und er stöhnte auf. Er wankte nach links und ließ sich auf die Holzbank sinken. »O Gott, hätte ich ihm doch bloß nicht die Tür aufgeschlossen!«
»Die Tür aufgeschlossen?«, wiederholte Alexandra und fröstelte mit einem Mal. »Wie meinen Sie das?«
Der Mönch fuhr sich fahrig mit der Hand durchs Gesicht. »Herr Assmann kam gestern Abend spät zu mir. Sie waren mit Kater Brown auf dem Weg zum Tierarzt, und er hatte die Unterredung mit seinen Mitarbeitern beendet. Alle waren in ihren Quartieren, das Licht war ausgeschaltet worden, als er auf einmal bei mir klopfte und darauf bestand, dass ich ihm die Eingangstür aufschloss. Er sagte, er müsse noch mal weg. Er wollte mir den Grund nicht verraten. Aber er war sehr … Ich weiß gar nicht, wie ich es am besten beschreiben soll … ›Ungeduldig‹ trifft es vielleicht am besten. So als hätte er einen Termin vergessen und müsste sich nun ganz besonders sputen.«
»Um wie viel Uhr war das?«, wollte Alexandra wissen.
»Oh, lassen Sie mich nachdenken … Auf jeden Fall nach elf. Die Lichter waren schon eine Weile aus, und ich hatte mich in mein Zimmer zurückgezogen und saß in der Dunkelheit. Einschlafen konnte ich nicht, weil ich immer an Kater Brown denken musste. Außerdem wartete ich ja auf Ihre Rückkehr und wollte Ihnen aufschließen. Ich hatte Bedenken, Herrn Assmann um diese Zeit noch aus dem Haus zu lassen. Ehrlich gesagt hatte ich auch keine Lust, die halbe Nacht auf ihn zu warten, um ihm wieder aufzuschließen. Aber er beharrte darauf und wischte meine Bedenken beiseite.«
»Zu seinen Plänen hat er wirklich nicht mehr gesagt?«
»Nein, und ich habe ihn auch nicht danach gefragt. Er wollte bei seiner Rückkehr einen seiner Kollegen mit dem Handy aus dem Bett klingeln. Der sollte mich dann wecken.« Bruder Johannes hob hilflos die Schultern. »Ich gab seinem Drängen nach und ließ ihn raus. Er blieb dann in der Nähe des Brunnens stehen und sah zur Straße hinüber, als wartete er auf jemanden. Ein paar Minuten beobachtete ich ihn, wie er unruhig auf und ab ging. Aber dann hatte ich einfach keine Lust mehr, für ihn das Kindermädchen zu spielen.«
Tobias nickte verständnisvoll, und Bruder Johannes fuhr bedrückt fort:
»Nach einer Weile kehrte ich also in mein Zimmer zurück, aber die Unruhe wegen Kater Brown hielt mich weiter wach. Ich begab mich wieder ins Foyer, um Sie hereinzulassen und nach Herrn Assmann zu sehen. Als ich ins Foyer kam, stand er nicht mehr draußen auf dem Platz am Brunnen. Ich ging davon aus, dass derjenige, mit dem er sich treffen wollte, in der Zwischenzeit eingetroffen und mit ihm weggefahren war. Irgendwann sah ich die Lichter Ihres Wagens auf dem Parkplatz … und den Rest kennen Sie ja. Wenn ich geahnt hätte, dass Assmann sich in die Kapelle begibt … Was hat er hier wohl gesucht?«
»Schwer zu sagen«, meinte Alexandra. »Wir vermuten, dass man ihn mit irgendetwas geködert hat, vielleicht mit einem Beweisstück, das Wildens Mörder hätte überführen können.«
»Aber warum tötet jemand einen Geschäftsführer und seinen Stellvertreter?«, rätselte Bruder Johannes.
»Dieser zweite Todesfall untermauert unseren Verdacht, dass der Täter in den Reihen seiner Mitarbeiter zu suchen ist. Am ehesten kommt einer der leitenden Angestellten infrage, weil sie von Assmanns Tod profitieren würden. Immerhin hätte er wahrscheinlich die Nachfolge von Wilden angetreten, und damit wäre der Posten auf Jahre hinaus besetzt gewesen. Da Assmann jünger war als alle anderen potenziellen Kandidaten, hätte keiner von ihnen mehr die Chance bekommen, vor ihrer Pensionierung doch noch ein paar Jahre als Geschäftsführer tätig zu sein.«
»Und … wenn Herr Pallenberg wieder genauso reagiert wie bei Herrn Wilden?«, fragte der Mönch beunruhigt. »Wenn er diesen Todesfall auch zum Unfall erklärt, und niemand nimmt irgendwelche offiziellen Ermittlungen auf …«
Alexandra hob ratlos die Schultern. »Wir können Pallenberg nur die Fakten vorlegen, alles Weitere hängt wohl von ihm ab. Aber ich denke, die Indizienlage wird diesmal ausreichen, um ihn …«
Ein lautes Knattern unterbrach Alexandra mitten im Satz. Bruder Johannes horchte auf, und auch Kater Brown spitzte die Ohren.
Alexandra und Tobias gingen mit dem Kater zur Tür und drückten sie weit genug auf, um einen Blick nach draußen werfen zu können.
»Was ist denn das?«, fragte sie erstaunt, als sie den Polizisten entdeckte, der auf einem schwarzen Fahrrad mit Hilfsmotor gleich unter dem Lenker den Weg vom Klostereingang zur Kapelle entlangfuhr. Die Dienstmütze hatte er sich tief ins Gesicht gezogen, wohl damit der Fahrtwind sie ihm nicht vom Kopf wehen konnte.
»Das ist eine Solex«, klärte Tobias sie auf. »Eigentlich ein Mofa, aber viel, viel billiger als das günstigste ›richtige‹ Mofa, jedenfalls zu der Zeit, als die Dinger noch gebaut wurden. Als ich zur Schule ging, war es total cool, mit so einer Solex vorgefahren zu kommen …«
Pallenberg hatte das Mofa inzwischen abgestellt und näherte sich der Tür. Tobias’ Blick fiel auf einen knallroten Benzinkanister, der vor einer Polizeitasche auf dem Gepäckträger festgeklemmt war.
Der Polizist nickte ihnen zu und ging mit ernstem Gesicht an ihnen vorbei zu Assmanns Leiche.
Bruder Johannes stand von der Bank auf. »Guten Tag, Herr Pallenberg. Danke, dass Sie hergekommen sind.«
»Bruder Johannes«, erwiderte der Polizeiobermeister und drückte ihm die Hand. »Tja, schneller ging’s leider nicht. Mein Dienstwagen ist nach zwei Kilometern mit leerem Tank liegen geblieben, weil die Tankanzeige verrückt spielt. Also musste ich meine gute alte Solex aus der Scheune holen. Gleich muss ich dann weiterfahren zu Jean-Louis und einen Kanister Benzin holen, damit ich mit dem Wagen bis zur Tankstelle komme.« Damit wandte er sich dem Toten zu. Er betrachtete ihn einen Moment schweigend. »Um wen handelt es sich? Können Sie mir das sagen?«
»Das ist Kurt Assmann, der Assistent des Mannes, der am Samstagmorgen im Brunnenschacht vor dem Eingang gefunden wurde«, erklärte der Mönch. Alexandra und Tobias ließen Pallenberg nicht aus den Augen.
Der Polizist umkreiste den Toten einige Male langsam und besah ihn sich von allen Seiten. Dann schaute er sich sorgfältig am Tatort um. Der gesprungenen Steinfliese, der zerbrochenen Skulptur sowie der leeren Halterung an der Empore schenkte er besondere Beachtung. Schließlich stand er nachdenklich da und kratzte sich am Kopf.
Alexandra trat auf ihn zu und sagte leise: »Herr Assmann hat mir gestern Abend nach elf Uhr noch eine SMS geschickt, in der er uns mitteilte, dass jemand ihm Wildens Laptop aushändigen wollte. Offenbar wurde Kurt Assmann von seinem Mörder bewusst hierher gelockt.«
Pallenberg nickte. »Das passt ins Bild. Auf jeden Fall ist er nicht von einer zufällig herabstürzenden Skulptur erschlagen worden. Vieles deutet auf einen gewaltsamen Tod hin, aber Genaueres müssen die Spezialisten feststellen. Geben Sie mir bitte einen Moment Zeit, ich werde noch einmal versuchen, die Kollegen von der Spurensicherung und der Rechtsmedizin zu erreichen, obwohl ich keine große Hoffnung habe.« Er verließ die Kapelle und telefonierte einige Minuten mit seinem Handy. Tobias und Alexandra konnten zwar nicht verstehen, was er sagte, aber sie sahen, dass er verschiedene Nummern wählte und beim Reden aufgeregt gestikulierte.
Schließlich kam er zu ihnen zurück. Sein Gesicht war ernst. »Diese Demo in Trier hat mehr Zulauf erhalten als erwartet. Auch heute sind noch alle Kollegen im Einsatz. Ich bin nach wie vor allein. Vor Montagmorgen kann niemand herkommen, um mich zu unterstützen. Die Spurensicherung ist mit zwei Einbrüchen beschäftigt, und der Gerichtsmediziner, der seinen erkrankten Kollegen vertritt, ist nach Bitburg gerufen worden. Selbst auf der Dienststelle dort ist niemand auf die Schnelle abkömmlich. Es tut mir sehr leid …«
Alexandra schüttelte fassungslos den Kopf. »Das kann doch wohl nicht wahr sein! Am Montagmorgen reisen die Kollegen der beiden Toten ab – und der Mörder höchstwahrscheinlich mit ihnen!«
»Ich weiß. Doch es ändert nichts daran, dass ich allein bin, dass ich keine Ausrüstung habe, um Spuren zu sichern, und dass ich auch kein Rechtsmediziner bin, der dem Toten da ein Geheimnis entlocken kann. Ich werde so viele Fotos machen, wie notwendig sind, und ich werde die Kapelle verschließen, die Tür mit einem polizeilichen Siegel versehen und die Kollegen von der Spurensicherung gleich morgen früh herschicken. Mehr kann ich im Augenblick nicht tun.«
»Eines sollten Sie noch erfahren: Ein Unbekannter hat versucht, den Klosterkater zu vergiften«, sagte Tobias.
»Gestern Abend«, ergänzte Alexandra. »Jemand hat ihm ein starkes Betäubungsmittel verabreichen wollen, das den Kater beinahe umgebracht hätte.«
Pallenberg betrachtete Kater Brown, der auf dem Steinboden saß und sich putzte. »Und Sie denken, dass dieser Vorfall mit den beiden Todesfällen in Verbindung steht?« Als Alexandra die Frage bejahte, erkundigte er sich: »Wissen Sie, welches Gift zur Anwendung kam?«
»Wir können es erfragen. Bestimmt kann die … der Tierarzt, der Kater Brown behandelt hat, uns das sagen.«
»Bitte informieren Sie mich, wenn Sie Genaueres wissen!«
»Wie wir eben herausgefunden haben, ist auch Assmanns Handy verschwunden«, sagte Alexandra und rechnete schon mit einer Standpauke, weil sie den Toten auf eigene Faust untersucht hatten.
Doch Pallenberg runzelte nur die Stirn. »Vielleicht hatte er es ja gar nicht bei sich …«
Alexandra schüttelte aufgeregt den Kopf. »Doch, bestimmt, denken Sie nur an die SMS, die er uns geschickt hatte!«
»Herr Assmann hat mit dem Handy das Kloster verlassen, ich habe es genau gesehen«, mischte sich da Bruder Johannes ein und erzählte dem Polizisten auch noch einmal von seiner letzten Begegnung mit Kurt Assmann am vergangenen späten Abend.
Polizeiobermeister Pallenberg hörte ihm aufmerksam zu, und mit jedem Wort, das er vernahm, wurde seine Miene ernster. Als der Mönch schließlich geendet hatte, nickte er nachdenklich. »Wie gesagt, ich werde nun die Leiche und den Fundort aus allen Perspektiven fotografieren, den Tatort abriegeln und die Tür versiegeln. Die Mitarbeiter der Ermordeten erhalten die klare Anweisung, das Klosterhotel und die Anlagen bis auf Weiteres nicht zu verlassen. Spusi und Rechtsmedizin werden morgen in aller Frühe hier sein. Mehr kann ich im Augenblick wirklich nicht tun.« Damit drehte er sich um und ging zu seinem Mofa hinaus, um die Polizeitasche an sich zu nehmen.
Kater Brown folgte Alexandra nach draußen. Er war sehr zufrieden, dass sie so schnell verstanden hatte, was er ihr hatte mitteilen wollen. Allerdings war da immer noch die eine Sache, die ihr bislang entgangen war, aber darauf würde er sie bestimmt noch hinweisen können. Er musste nur den richtigen Moment abpassen und ihr den Weg zeigen. Mit dieser Hundeleine müsste das eigentlich klappen.
Nachdem sie das Gebäude verlassen hatten, in dem er den toten Mann gewittert hatte, konnte er wieder ein Stück durchs angenehm kühle Gras laufen, das so schön unter seinen Pfoten kitzelte. Ein knallgelber Schmetterling kam auf ihn zugeflattert, und Kater Brown blieb stehen, um ihn genauer zu betrachten. Der Schmetterling flog kreuz und quer über den Rasen und freute sich seines Lebens. Es war schwierig, seine Flugbahn vorauszuberechnen, denn er ließ sich mal hierhin, mal dorthin trudeln.
Dennoch duckte sich Kater Brown und spannte die Muskeln an, während seine Augen jede Bewegung des gelben Falters genau verfolgten. Es dauerte eine Weile, aber dann war der Schmetterling nahe genug, und Kater Brown konzentrierte sich ganz genau auf den einen Punkt, den der Falter gleich erreichen musste. Einen Sekundenbruchteil, bevor dieser Moment gekommen war, sprang er hoch, streckte die Vorderpfoten vor und fuhr die Krallen aus, um den Schmetterling zu erwischen … aber der Falter änderte im allerletzten Augenblick seinen Kurs, und Kater Browns Krallen gingen ins Leere. Verflixt! Schnell warf er einen Blick zu Alexandra hinüber. Wie peinlich! Aber wenn sie über diesen gescheiterten Beutezug amüsiert war, ließ sie sich jedenfalls nichts anmerken.
»Mach dir nichts draus!«, sagte sie nur. »Beim nächsten Mal klappt’s bestimmt.«
Hm, ja. Kater Brown setzte sich hin und gähnte. Das machte er immer, wenn er verlegen war und von einer Niederlage ablenken wollte. Vielleicht sollte er sich auch gleich noch einmal putzen …
Da spürte er auf einmal eine federleichte Berührung hinter dem Ohr und wandte blitzschnell den Kopf. Frechheit! Der gelbe Falter war offenbar zum Gegenangriff übergegangen und wollte ihn attackieren! Na warte! Blitzschnell sprang er hoch und schlug die Vorderpfoten zusammen – nur um ein zweites Mal unverrichteter Dinge wieder auf allen vieren zu landen. Der Schmetterling flatterte fröhlich zu einer der Hortensien hinüber. Doch Kater Brown würdigte ihn keines Blickes mehr, sondern stolzierte beleidigt davon. Er würde dieses freche Ding schon noch bekommen. Es musste ja nicht heute sein …
Alexandra war noch viel zu erschüttert über die Entdeckung von Assmanns Leiche, um über die Kapriolen des Katers lachen zu können. Schweigend ging sie hinter ihm her. Als er den Brunnen ansteuerte, auf dessen Rand Kater Brown offenbar ein Nickerchen machen wollen, schüttelte sie bedauernd den Kopf. »Nein, mein Kleiner, du musst mich schon begleiten. Ich habe vor, gleich einmal in den Keller hinunterzusteigen. Du wolltest mir da unten doch noch etwas zeigen.«
»Wir gehen zusammen da runter«, beharrte Tobias, der ihnen gefolgt war und nun mit ihnen ins Foyer trat. »Oder reichen dir zwei Morde und ein Giftanschlag auf den Kater noch nicht, um einzusehen, dass wir es mit einem skrupellosen Täter zu tun haben? Ich schlage vor, dass wir ab sofort hier nur noch gemeinsam unterwegs sind.«
Alexandra rieb sich die Augen. »Vielleicht hast du recht. Ich möchte jetzt nur nicht paranoid reagieren. Trotz allem bin ich fest entschlossen, mich im Keller umzusehen«, flüsterte sie.
Tobias warf einen raschen Blick zum Empfangstresen. »Schau mal, der Empfang ist nicht besetzt«, wisperte er, eilte zum Tresen und warf einen prüfenden Blick ins angrenzende Büro. Dann griff er nach dem Bund mit den Kellerschlüsseln und zwinkerte Alexandra auffordernd zu.
»Super! Los, komm!« Alexandra wandte sich mit Kater Brown schon dem Gang zu, der zur Kellertreppe führte, als Tobias’ Handy klingelte.
Er sah auf das Display und hob einen Finger, um ihr zu zeigen, dass es ein wichtiger Anruf war. »Ekki, was hast du für mich?«, fragte er, und sofort wurde Alexandra hellhörig. »Ja? Aha … Gut, dann … nein, da muss ich erst zum Wagen gehen. Ich rufe dich in zwei Minuten zurück.«
Noch während er redete, lief er los und gab Alexandra ein Zeichen, ihm nach draußen zu folgen. Schnell nahm sie Kater Brown auf den Arm, um zu verhindern, dass er sich wieder auf den Boden warf, weil er lieber sofort in den Keller hinuntersteigen wollte. Dann eilte sie hinter Tobias her, der bereits den Parkplatz ansteuerte.
»Schließ bitte Wildens Porsche auf und steig schon mal ein, ich hole nur meinen Laptop aus dem Wagen«, rief er ihr zu.
Alexandra nahm auf dem Fahrersitz Platz und öffnete die Mittelkonsole, um Bernd Wildens Handy hervorzuholen, das immer noch am Ladekabel hing. Zwei Minuten später stieg auch Tobias in den Wagen, fuhr den Rechner hoch und wählte gleichzeitig Ekkis Nummer.
»So, da bin ich wieder … Ja, ist da … Ja, der fährt gerade hoch … okay …« Er drehte sich zu Alexandra um. »Hier kommt das Passwort … Tipp bitte ein: D … S … 21 … P … A … Doppel-L … A … S … und bestätigen.«
Mit zitternden Fingern kam Alexandra der Aufforderung nach und … atmete erleichtert auf. Passwort akzeptiert leuchtete ihr entgegen. »Hat geklappt«, sagte sie.
»Bingo«, gab Tobias weiter. »Sehr gut.«
»Augenblick, hier tut sich was«, rief Alexandra erschrocken. »Das Display sagt: Daten werden gesendet. Da stimmt was nicht.«
»Ekki, hast du gehört?«, fragte er, dann nickte Tobias. »Alles okay, Alex.«
»Aber wieso?«
»Warte.« Er widmete sich wieder dem Kollegen am anderen Ende der Leitung, der offenbar Wunder bewirken konnte. »Ins Internet gehen? Ja, wird gemacht, Sekunde.« Er zog den Mobilfunk-Stick aus der Laptoptasche und schloss ihn an das Gerät an, eine halbe Minute später war die Verbindung hergestellt. »So, bin drin.« Dann tippte er eine Webadresse ein. Gleich darauf öffnete sich eine Seite, und Tobias gab in verschiedene Felder das ein, was Ekki ihm diktierte. Schließlich öffnete sich ein Fenster: Daten werden empfangen.
»Es läuft«, meldete er an Ekki und ließ ein erleichtertes Seufzen folgen. »Du hast was gut bei mir … Ja, in Ordnung, das machen wir …« Er lachte, beendete das Gespräch und wandte sich dann Alexandra zu. »Ekki holt jetzt alle Daten von Wildens Handy und schickt sie in Kopie an meinen Rechner weiter. Falls das Handy doch noch verschwindet, haben wir die Daten auf dem Rechner. Und … falls uns etwas zustößt, hat Ekki die Daten ebenfalls und kann sie an die Polizei weiterleiten.«
Alexandra nickte beklommen. »Und wie lange braucht dein Kollege?«
»Etwa eine halbe Stunde. Es ist eine ziemlich große Datenmenge.«
Die Minuten krochen dahin. Nach etwas mehr als einer halben Stunde wechselte die Displayanzeige des Handys auf das standardmäßige Startbild.
»So, fertig«, sagte Alexandra aufgeregt. »Wir können loslegen.«
»M-hm …« Tobias nickte. »Auf meinem Notebook ist auch alles angekommen. Ich schlage vor, wir sehen uns das an meinem Laptop an.«
»Lass uns parallel arbeiten«, erwiderte sie. »Du weißt doch, vier Augen sehen mehr als zwei. Am besten fangen wir mit der Anrufliste an. Gewählte Rufnummern.« Sie tippte auf das Display, bis sie im gewünschten Menü war, während Tobias auf seinem Rechner nacheinander verschiedene Symbole anklickte.
»Hm, das ist ja interessant«, murmelte er, als er die Übersicht angezeigt bekam. »Wilden hat am Freitag sehr fleißig telefoniert. Sieben … acht Anrufe, die an eine Handynummer gingen. Und … sechs Anrufe mit der gleichen Vorwahl.«
»Das ist die Vorwahl von Kaiserslautern«, ergänzte sie. »Bei der Handynummer habe ich einen Eintrag.« Sie sah vom Display auf und drehte sich zu Tobias um. »Assmann.«
»Er hat acht Telefonate mit seinem Assistenten geführt?« Tobias zog die Augenbrauen hoch. »Interessant. Und Assmann hat uns erzählt, dass er nicht wusste, was Wilden vorgehabt haben könnte. Die beiden werden doch nicht bloß übers Wetter gesprochen haben.«
»Ganz sicher nicht«, stimmte sie ihm zu. »Und … Assmann hat am gleichen Tag vier Mal zurückgerufen. Das geht aus dieser Liste hier hervor.« Alexandra tippte wieder auf das Display. Sie fühlte sich seltsam elektrisiert. Vielleicht würden sie jeden Moment einen Hinweis auf den Täter erhalten …
Doch Tobias’ nächster Einwand dämpfte ihre Euphorie: »Leider hat er am späten Freitagabend keinen Anruf erhalten. Sein Mörder hat ihn also nicht mit einem Telefonanruf aus dem Hotel gelockt …« Er öffnete ein anderes Fenster und gab etwas ein. »Diese anderen Nummern in Kaiserslautern, die Wilden angerufen hat … alles Banken und Sparkassen.«
»Die hat er auch schon am Donnerstag angerufen. Doch vorher nicht, und am Donnerstag auch erst am frühen Nachmittag.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich wette, Assmann wusste genau, was Wilden von den Banken wollte. Aber was kann das gewesen sein? Wenn es etwas Dringendes zu regeln gab, wäre er doch nicht hergekommen.«
»Dann sehen wir uns doch mal die Liste Gesendete SMS an! Vielleicht hilft die uns ja weiter.«
»Hm, alle gingen an Kurt Assmann, wenn ich das richtig sehe«, murmelte Alexandra wenig später frustriert. »Und Wilden hat das ›Kurz‹ in ›Kurznachricht‹ offenbar sehr wörtlich genommen. Hier: 12–15 M. Oder hier: Wernges stimmt zu.«
»Das taugt nichts. Die Nachrichten sind so knapp abgefasst, dass nur Wilden und Assmann wussten, was das zu bedeuten hat und von wem die Rede ist. Die am Freitag eingegangenen SMS sind übrigens genauso kryptisch …«
»Verflixt und zugenäht. Weil Assmann tot ist, können wir ihn nicht mehr mit diesen Abkürzungen konfrontieren!« Alexandra hieb ärgerlich auf das Lenkrad. »Wer weiß, vielleicht haben die beiden ausgerechnet, welche Abfindung sie zahlen müssten, um die leitenden Angestellten loszuwerden und durch Leute zu ersetzen, die es nicht auf Wildens Posten abgesehen haben.« Nachdenklich schaute sie von dem Handy auf die völlig andere Darstellung auf dem Laptopmonitor. »Wie hast du die Anzeige sortiert?«
»Nach Datum und Uhrzeit, damit die letzten Anrufe und SMS zuerst aufgelistet werden.«
»Und was ist das?« Sie zeigte auf die oberste Zeile.
»Das ist ein anderes Verzeichnis. Darin sind keine SMS-und keine Anrufdaten enthalten. Es handelt sich dabei um die Diktierfunktion.«
»Wieso steht die da oben?«
Tobias zuckte mit den Schultern. »Vielleicht weil sie zuletzt benutzt worden ist.«
»Nach den Anrufen und den SMS?«
Er nickte. »Ja, richtig.«
Alexandra spürte, wie ihr Herz schneller zu pochen begann. »Geh mal da rein!«
Tobias klickte das Verzeichnis an. »Da gibt’s nur einen Eintrag. Da, siehst du?«
»Ja. Aber … schau dir mal diese Dateigröße an. Mensch, das kann doch nicht wahr sein, oder? Das muss ja eine endlose Aufnahme sein.«
»Du hast recht. Siebenundneunzig Minuten. Da ist bestimmt die Diktierfunktion nicht ausgeschaltet worden …«
»Sie ist bis 23.44 Uhr gelaufen.« Wieder deutete Alexandra auf die Anzeige. »Dann hat Wilden um diese Zeit noch gelebt! Klick mal schnell auf Wiedergabe und lass die letzten zwei Minuten laufen! Vielleicht hören wir ja irgendwas, das uns weiterhilft.«
Tobias nickte kurz. Seine Wangen waren gerötet, und er schien genauso aufgeregt wie Alexandra zu sein. Mit angehaltenem Atem spielte er den Rest der Aufnahme ab. »Nichts«, sagte er entmutigt, als aus den Lautsprechern des Laptops nur ein regelmäßiges leises Klicken drang.
»Geh weiter zurück!«
Schritt für Schritt wanderte Tobias rückwärts, wechselte von zwei-auf fünfminütige Intervalle, schließlich ging er auf zehn Minuten. Alexandra fürchtete bereits, dass die Diktierfunktion sich nur versehentlich aktiviert hatte und es gar nichts zu hören geben würde, als auf einmal Geräusche aus den Lautsprechern ertönten, die sie zuerst nicht zuordnen konnte. Was war das? Es klang wie ein unterdrücktes Ächzen, dann wie ein Knirschen auf sandigem oder steinigem Boden.
»Das sind nur ungefähr zehn Minuten«, merkte Tobias an. »Ich spiele die Aufnahme von Anfang an ab.«
Die Wiedergabe begann. Tobias und Alexandra lauschten gebannt. Alexandra wagte gar nicht zu atmen, während Kater Brown auf ihrem Schoß lag und im Schlaf leise schnaufte.
Eine Gänsehaut kroch ihr den Rücken hinunter, und sie suchte fassungslos Tobias’ Blick. Nach gut zehn Minuten ertönten wieder die Ächz-und Knirschlaute. Sie ergaben nun einen grauenhaften Sinn. Alexandra atmete schockiert aus. »Oh Mann!«
»Das kannst du laut sagen«, murmelte Tobias erschüttert und schluckte mehrmals. Sein Gesicht hatte alle Farbe verloren, und er schüttelte immer wieder ungläubig den Kopf.
»Hätten wir Wildens Handy schon gestern Morgen entdeckt, würde Assmann jetzt noch leben«, flüsterte sie.
»Was machen wir denn jetzt?«
»Wir rufen Pallenberg an«, entschied sie. »Er muss sofort zurück zum Kloster kommen.«