Kapitel 10

Die Arbeit ging voran.

Stromkabel ringelten sich überall und wurden nach und nach in das Zelt integriert. Die immer heller werdende Beleuchtung sah aus, als gehörte sie seit jeher dorthin. Weiße Ventilatoren drehten sich lautlos unter Abzugsöffnungen im Dach, um Gerüche und verbrauchte Luft zu vertreiben. Henry verstand mehr von Zeltmanagement und Publikumsbetreuung, als die schweißgebadeten Besucher sonnendurchglühter Festzelte sich hätten träumen lassen, und da auch für mich die Regelung der Luft- und Wärmeverhältnisse fast absoluten Vorrang hatte, würden die Rennbahnbesucher in Stratton Park unbeschwert atmen, ohne zu wissen wieso.

Im neunzehnten Jahrhundert hatte der durch die Kamine erzeugte Aufwind in den Häusern dazu geführt, daß Fußbänke, Ohrensessel und Ofenschirme sich größter Beliebtheit erfreuten; die Windkanäle des zwanzigsten Jahrhunderts führten zu sturmgepeitschten Straßenecken in den Städten.

Luftdruck, Luftbewegung, Lufttemperatur; Staubabfuhr, weniger Milben, weniger Luftfeuchtigkeit: all das hatte nichts mit übertriebener häuslicher Gemütlichkeit zu tun, sondern mit allergiefreier Gesundheit und der Vermeidung von Fäulnis, Rost, Pilzen und Mehltau. Die wundersame Heilung kranker alter Gebäude begann meiner zweifellos verbohrten Ansicht nach damit, daß man sie frischer, trok-kener Luft aussetzte und sie atmen ließ.

Wir versorgten alle mit Essen aus dem Mayflower. Meine Söhne spielten Laufjungen, fungierten als Kellner, lasen bereitwillig Abfälle auf und waren allgemein so brav wie sonst nur unter strengster Aufsicht.

Roger und ich schauten uns die Wasserleitungen auf dem Bauplan an, und seine Leute legten ein Zweigrohr für den Bedienungsbereich der Nebenzelte und noch eine Abzweigung in den Umkleideraum der Reiterinnen, eigens für Rebecca. Kaltes Wasser zwar, aber vielleicht besser als nichts. Durch beharrliches Herumtelefonieren fanden wir schließlich jemand, der uns einen WC-Wagen zusagte, und Roger, der Tapfere, bettelte Ivan eine Fuhre Grünpflanzen aus dem Gartencenter ab.

«Er sagt, Ostern gehört für ihn zu den Spitzenverkaufstagen«, bemerkte Roger, als er den Hörer auflegte.»Er sagt, die Rennbahn muß die Lieferung bezahlen.«

«Reizend.«

Wir besprachen noch einige Vorkehrungen, ehe Roger enteilte und mich im Büro zurückließ. In der letzten Stunde war mir das Gehen schon wieder leichter gefallen, aber dafür fühlte ich mich um die Schultern matt und war froh, mich einmal — vorsichtig — auf die Schreibtischkante hok-ken und Arme und Beine entlasten zu können. Ich mußte an die Spruchkarte zu Hause in meiner Werkstatt denken, ein Geschenk von Amanda aus glücklicheren Tagen:»Wenn alles gut läuft, hast du offensichtlich etwas übersehen«, und sann müßig darüber nach, welches für morgen sich anbahnende Unheil Roger, Henry und ich außer acht gelassen haben könnten, da wurde abrupt die Tür geöffnet, und Forsyth Stratton federte über die Schwelle. Anscheinend war keiner von den Strattons imstande, einen Raum langsam zu betreten.

«Was machen Sie hier?«fragte er scharf.

«Ich denke nach«, sagte ich. Genaugenommen dachte ich, daß es mich gar nicht freute, ihn zu sehen, besonders wenn er auf ähnliche Gedanken kam wie Hannah und Keith. Zu meiner gelinden Erleichterung zeigte sich aber, daß er mehr an einen verbalen als an einen tätlichen Angriff dachte.

Er sagte wütend:»Sie haben kein Recht, hier die Leitung zu übernehmen.«

«Der Colonel hat die Leitung«, erwiderte ich ruhig.

«Der Colonel fragt immer erst Sie. «Seine dunklen Augen funkelten genauso wie Rebeccas, und ich fragte mich flüchtig, ob einer von ihnen oder beide Kontaktlinsen trugen.»Und der Riesenkerl, dessen Leute die Zelte aufstellen, der fragt den Colonel, was und wie, und dann kommen sie beide zu Ihnen, oder er überspringt den Colonel und läuft gleich zu Ihnen. Sie sind jünger als die zwei, aber was Sie sagen, wird gemacht. Ich habe da stundenlang gesessen und mir das mit wachsender Empörung angesehen, erzählen Sie mir also nicht, ich wüßte nicht, wovon ich rede. Keiner von uns will Sie hier sehen… wofür halten Sie sich eigentlich?«

Ich sagte trocken:»Für einen Bauunternehmer.«

«Ein hergelaufener Bauunternehmer hat nicht unsere Rennbahn zu schmeißen.«

«Ein Anteilseigner. Ein Gesellschafter.«

«Zum Teufel damit! Ich bin ein Stratton.«

«Pech«, meinte ich knapp.

Er war zutiefst beleidigt. Seine Stimme schnellte ein paar Oktaven in die Höhe, und mit rachsüchtig verzogenem Mund schrie er mich praktisch an:»Ihre Drecksmutter hatte kein Recht auf diese Anteile. Keith hätte sie mal lieber ordentlich verdreschen sollen. Und Jack sagt, Sie haben ge-stern auch Prügel von Keith bezogen, bloß nicht genug, und jetzt stecken Sie schon wieder Ihre Drecksnase in unsere Angelegenheiten, und wenn Sie meinen, Sie können uns Geld abpressen, dann haben Sie in den Wind gepißt.«

Durch den fehlenden Zusammenhang wirkte sein Ausbruch nur noch giftiger. Was mich anbelangte, so hatte ich von den Strattons eine Kränkung zuviel abbekommen und ließ mich zu einer Brutalität hinreißen, die mir sonst eher fernlag. Ich sagte absichtlich verletzend: »Sie haben in Ihrer Familie doch überhaupt nichts zu melden. Für die sind Sie Luft. Die sehen Sie noch nicht mal an. Wie kommt denn das?«

Seine Hände zuckten hoch und ballten sich zu Fäusten. Er machte wütend einen Schritt nach vorn. Ich richtete mich auf, damit ich (hoffentlich) nicht so leicht besiegbar aussah, wie ich in Wirklichkeit war, und ungeachtet der Gefahr warf ich ihm in meiner Erregung höhnisch an den Kopf:»Es hat sie wahrscheinlich ein Vermögen gekostet, daß Sie frei herumlaufen dürfen, statt im Knast zu sitzen.«

Er schrie:»Aufhören! Seien Sie still! Ich werde mich bei Tante Marjorie beschweren. «Eine seiner Fäuste wischte an meinem Kinn vorbei.

«Bitte sehr«, sagte ich. Ich versuchte zwar, mich wieder in die Gewalt zu bekommen, doch auch in meinen Ohren klang, was ich sagte, verletzend und grob:»Sie sind ein Dummkopf, Forsyth, und zweifellos ein Lump dazu, und Marjorie verachtet Sie sowieso, der brauchen Sie nicht noch was vorzuheulen, damit sie Ihnen die verrotzte Nase putzt. Und wenn Sie sehen könnten, wie die Stinkwut Ihnen das Gesicht entstellt, würden Sie um zehn Ecken rennen und sich verkriechen.«

Die letzte, kindische Stichelei traf ihn schwer. Offenbar hielt er sich etwas auf sein Aussehen zugute. Die trotzig verzerrten Züge glätteten sich, die straff hochgezogene Lippe legte sich über die Zähne und die blasse Haut lief rot an.

«Sie Scheißkerl!« Er bebte vor alten und neuen Demütigungen. Die Fäuste öffneten sich und sanken herunter. Schon stand er nur noch als jämmerlicher Versager da, viel Lärm und Pose, nichts dahinter.

Plötzlich schämte ich mich. Na großartig, dachte ich, da schießt du aus allen Rohren auf den kleinsten Stratton. Und wo waren deine mutigen Worte gestern, als Keith dir gegenüberstand?

«Ich tauge mehr zum Verbündeten als zum Feind«, sagte ich.»Warum versuchen Sie es nicht mit mir?«

Er sah geschlagen und verwirrt aus; vielleicht war er mürbe genug, um ein paar Fragen zu beantworten.

Ich sagte:»Hat Keith Ihnen gesagt, ich sei hierhergekommen, um Ihrer Familie Geld abzupressen?«

«Natürlich. Weshalb hätten Sie sonst kommen sollen?«

Ich sagte nicht:»Weil das Geld Ihres Großvaters mir mein Studium ermöglicht hat. «Ich sagte nicht:»Vielleicht, um meine Mutter zu rächen. «Ich sagte:»Hat er das gesagt, bevor die Tribüne hochgegangen ist, oder danach?«

«Bitte?«

Ich wiederholte die Frage nicht. Er starrte eine Weile mürrisch vor sich hin und sagte schließlich:»Danach, glaube ich.«

«Wann genau?«

«Am Freitag. Vorgestern. Am Nachmittag. Wir hatten von der Explosion gehört, und da sind viele von der Familie hergefahren. Sie hatte man ins Krankenhaus geschafft. Keith meinte, jetzt würden Sie garantiert ein paar Schrammen über Gebühr hochspielen. Er war ganz sicher.«

«Und Sie haben ihm natürlich geglaubt?«

«Klar.«

«Sie alle?«

Er zuckte die Achseln.»Conrad sagte, wir sollten uns darauf gefaßt machen, daß wir Ihnen Schmerzensgeld zahlen müssen, und Keith meinte, das könnten sie sich nicht mehr leisten, nachdem…«Er brach plötzlich ab, noch verwirrter als vorher.

«Nachdem was?«fragte ich.

Er schüttelte unglücklich den Kopf.

«Nachdem sie«, vermutete ich,»schon so tief in die Tasche greifen mußten, um Ihnen aus der Patsche zu helfen?«

«Ich will das nicht hören«, sagte er und hielt sich wie ein Kind die Ohren zu.»Seien Sie still.«

Er war um die Zwanzig, dachte ich. Nicht besonders schlau, ohne Arbeit und anscheinend ungeliebt. Auch und vor allem ein Stratton. Leute mit Geld abzufinden war bei den Strattons alter Brauch, doch wenn man das Verhalten der anderen gegenüber Forsyth bei der Vorstandssitzung am Mittwoch zugrunde legte, hatte er sie zuviel gekostet. Was an Zuneigung dagewesen sein mochte, hatte sich zu diesem Zeitpunkt in Groll verwandelt.

Es gab in der Familie ein System von Druckmitteln und Zwängen; ich merkte, daß sie vorhanden waren, konnte aber nicht den Finger darauf legen. Forsyths Vergehen an sich war für die anderen wahrscheinlich nicht so von Bedeutung wie einerseits die Kosten, um es aus der Welt zu schaffen, und andererseits die Macht, die sie dadurch über ihn gewonnen hatten. Konnten sie ihm nach wie vor mit einer Enthüllung drohen, würde er jetzt vermutlich alles tun, was die Familie von ihm verlangte.

Roger hatte gesagt, Marjorie halte Conrad in einer Art Zangengriff — er füge sich stets ihren Forderungen.

Ich selbst hatte mich, ohne die mögliche Tragweite zu erkennen, bereit erklärt, für sie herauszufinden, wieviel Schulden Keith hatte und bei wem, und ferner, womit Conrad sich von dem Möchtegern-Architekten der neuen Tribüne unter Druck setzen ließ, der sich als Wilson Yarrow entpuppt hatte, über den ich etwas wußte, das mir entfallen war.

Wurde ich am Ende von Marjorie benutzt, um Dinge ans Licht zu fördern, die ihr noch mehr Druckmöglichkeiten, noch mehr Macht über ihre Familie geben sollten? Hatte sie sofort durchschaut, daß ich ihr helfen würde, wenn sie mein Interesse am Erfolg der Rennbahn weckte? War sie so gewieft, und war ich so schwer von Begriff? Wahrscheinlich ja.

Trotzdem glaubte ich immer noch, daß ihr der Erfolg der Rennbahn wirklich am Herzen lag, auch wenn sie mich als Werkzeug zur Durchsetzung ihrer neuerungsfeindlichen Politik gebrauchen wollte.

Marjorie selbst konnte die Tribüne nicht in die Luft gejagt haben und hätte es auch nicht gewollt. Wenn sie durch mich oder sonstwie herausfand, wer es getan oder in die Wege geleitet hatte, und wenn es ein Familienmitglied war, dann würde sie, soweit ich das bis jetzt überblickte, nicht unbedingt öffentliche oder strafrechtliche Vergeltung fordern. Es würde keinen Prozeß, keine Verurteilung, keine Freiheitsstrafe für den Täter geben. Der Stratton-Clan und vor allem Marjorie würden noch ein Geheimnis mehr in das große Sammelbecken aufnehmen und es zur innerfamiliären Erpressung benutzen.

Ich sagte zu Forsyth:»Sind Sie als Schüler einem Kadettenkorps beigetreten?«

Er starrte mich an.»Nein, natürlich nicht.«

«Wieso >natürlich

Er sagte gereizt:»Nur ein Trottel legt Wert darauf, in Uniform herumzustiefeln und sich anbrüllen zu lassen.«

«Auch Feldmarschälle fangen so an.«

«Machthungrige Kretins«, meinte er spöttisch.

Ich hatte genug von ihm. Es war unwahrscheinlich, daß er jemals mit Sprengschnur oder Sprengstoff hantiert hatte: Bei Jungen vom Kadettenkorps hätte es sein können. Forsyth begriff noch nicht einmal, worauf meine Frage hinzielte.

Christopher, Toby und Edward kamen in das Büro, dicht beieinander, wie um dadurch stärker zu sein, und sahen ängstlich aus.

«Was ist los?«fragte ich.

«Nichts, Pa. «Christopher entspannte sich ein wenig, die Augen auf Forsyth.»Der Colonel wollte, daß wir dich holen, damit du sagst, wo die Wasserhähne hin sollen.«

«Sehen Sie?«sagte Forsyth bitter.

Ich ging, immer noch am Gehgestell, an Forsyth vorbei und mit meinen Söhnen zur Tür hinaus, und obwohl ich hörte, daß Forsyth hinter mir herkam, erwartete ich zu Recht keinen Ärger mehr von dieser Seite. Dafür kündigte sich reichlich Ärger in Gestalt einer Abordnung von Strattons an, die aus dem Haupteingang des Zirkuszeltes traten wie ein Greiftrupp, der entschlossen war, mich auf dem Asphalt abzufangen. Meine drei Söhne, zu unerfahren für eine solche Situation, blieben stehen.

Ich ging einen Schritt an ihnen vorbei und blieb ebenfalls stehen. Die Strattons bildeten einen Halbkreis vor mir; Conrad zu meiner Linken, dann eine Frau, die ich nicht kannte, dann Dart, Ivan, Jack — mit Schwellungen und blauen Flecken im Gesicht —, dann Hannah und Keith. Keith, zu meiner Rechten, stand ein wenig außerhalb meines Gesichtsfeldes, für mich ein unbefriedigender Zustand. Ich trat einen halben Schritt zurück, damit ich sehen konnte, ob er eine unwillkommene Bewegung machte. Die Strattons deuteten das offenbar als umfassenden Rückzug, denn alle machten einen entsprechenden Schritt nach vorn und drängten ein wenig näher heran, so daß Keith wieder hinter meinem Gesichtsfeld war, wenn ich nicht den Kopf nach ihm drehte.

Christopher, Toby und Edward zögerten unschlüssig hinter mir und lösten sich voneinander. Ich spürte ihre Furcht und Bestürzung. Sie schlichen an mir vorbei, kamen in mein Blickfeld, schlichen im Krebsgang weiter, an den Strattons vorbei, dann drehten sie sich kurzerhand um, rannten los und verschwanden im Zirkuszelt. Ich machte ihnen keinen Vorwurf daraus: Mir war selbst zum Weglaufen zumute.

«Keine Marjorie?«fragte ich Dart in scherzhaftem Ton. Warum ist denn meine Leibwache nicht da, wenn ich sie brauche? hätte ich hinzufügen können.

«Wir waren in der Kirche«, sagte Dart unerwartet.»Mar-jorie, Vater, Mutter und ich. Ostersonntag und so. «Er grinste unbekümmert.»Anschließend hat uns Marjorie zum Essen eingeladen. Sie wollte nicht mit hierherfahren. Hat nicht gesagt, warum.«

Niemand hielt es für nötig, uns bekannt zu machen, doch ich reimte mir zusammen, daß die Frau zwischen Dart und Conrad Darts Mutter war, Lady Victoria Stratton. Sie war dünn, kühl, gepflegt und sah aus, als wäre sie lieber sonstwo. Sie betrachtete mich mit echt Strattonscher Verachtung, und ich überlegte flüchtig, ob Ivans Frau Dolly und Keiths viertes Opfer, Imogen, sich ebenso nahtlos in den Familiencharakter fügten.

Forsyth kam links von mir zum Stehen, neben Conrad, der ihm keinerlei Beachtung schenkte.

Auf der anderen Seite des Platzes erschien Roger kurz am Zelteingang, nahm die Stratton-Formation zur Kenntnis und ging wieder hinein.

Ich sah mir den Halbkreis von mißbilligenden Mienen und kalten Augen an und entschloß mich zum Angriff. Immer noch die beste Verteidigung, nahm ich an.

«Wer von Ihnen«, sagte ich unverblümt,»hat die Tribüne gesprengt?«

Conrad sagte:»Machen Sie sich nicht lächerlich.«

Wenn ich mit Conrad redete, hatte ich zwar Keith zu sehr im Rücken und kriegte eine Gänsehaut, aber andererseits war Conrad am ehesten derjenige, der Keith zurückhalten würde.

Ich sagte zu ihm:»Einer von Ihnen war es oder hat es zumindest arrangiert. Die Sprengung der Tribüne war Stratton-Werk. Kein Terrorakt von außen. Hausgemacht.«

«Quatsch.«

«Der wahre Grund, weshalb Sie mich loswerden wollen, ist der, daß Sie befürchten, ich könnte herausbekommen, wer es war. Sie haben Angst, weil ich gesehen habe, wie die Sprengladungen aussahen, bevor sie gezündet wurden.«

«Nein!«Die Heftigkeit, mit der Conrad es leugnete, war an sich schon ein Eingeständnis.

«Und Sie haben Angst, daß ich Ihnen, wenn ich herausfinde, wer es war, den Vorschlag mache, für Geld zu schweigen.«

Keiner von ihnen sagte etwas.

«Denn darauf könnten Sie nicht ohne weiteres eingehen«, sagte ich,»nach Forsyths kostspieligem Abenteuer.«

Sie sahen Forsyth wütend an.

«Ich habe ihm nichts erzählt«, beteuerte er verzweifelt.»Ich habe kein Wort gesagt. Er hat’s erraten. «Dann schleuderte er einen gesunden Zornesblitz in die Runde.»Er hat’s erraten, weil ihr alle so eklig zu mir seid, also geschieht es euch recht.«

«Halt’s Maul, Forsyth«, sagte Hannah scharf.

Ich sagte zu Conrad:»Wie gefällt Ihnen Ihre neue Zelttribüne?«

Eine halbe Sekunde lang sah Conrad unwillkürlich und aufrichtig zufrieden aus, doch Keith sagte heftig hinter meinem rechten Ohr:»Die ändert nichts daran, daß wir das Land verkaufen.«

Conrad warf ihm einen empörten Blick voller Abneigung zu und sagte ihm, wenn sie die Zelte jetzt nicht hätten, würden die enttäuschten Zuschauer künftig scharenweise ausbleiben, die Bahn würde bankrott gehen und mit einem solchen Berg von Schulden belastet werden, daß durch den Verkauf des Landes kaum noch etwas zu gewinnen wäre.

Keith schäumte. Dart lächelte verstohlen. Ivan sagte abwägend:»Die Zelte sind notwendig. Wir können froh sein, daß wir sie haben.«

Alle außer Keith nickten zustimmend. Keith knurrte leise, viel zu dicht neben mir. Ich spürte, was in ihm vorging.

Ich sagte grimmig zu Conrad:»Halten Sie mir Ihren Bruder vom Leib.«

«Was?«

«Wenn er«, sagte ich,»oder sonst jemand von Ihnen mich noch einmal anrührt, wird das Zelt abgeschlagen.«

Conrad bekam große Augen.

Ich stützte mich auf das Gehgestell. Ich sagte:»Ihr Bruder weiß, daß er mich immer noch leicht umbügeln kann.

Deshalb sollen Sie eines wissen: Wenn er oder Hannah oder Jack meinen, sie könnten da weitermachen, wo sie gestern unterbrochen worden sind, dann haben Sie morgen früh da eine leere Wiese. «Ich nickte zu dem Zelt hin.

Hannah höhnte:»Seien Sie nicht albern.«

Conrad sagte zu mir:»Das können Sie nicht. Es steht nicht in Ihrer Macht.«

«Wollen wir wetten?«

Henry kam aus dem Hauptzelt, und mit ihm alle meine Söhne. Sie blieben am Eingang stehen, schauten herüber, warteten ab. Conrad folgte der Richtung meines Blickes und sah mich nachdenklich an.

«Henry«, erklärte ich ihm,»der Hüne dort hat Ihnen das Zelt als Notbehelf geliefert, weil ich ihn darum gebeten habe. Er ist ein Freund von mir.«

Conrad wandte ein:»Der Colonel hat das Zelt gefunden.«

«Ich habe ihm gesagt, wo er suchen muß. Wenn mir noch einmal gedroht, mir von irgendeinem hier noch mal ein Haar gekrümmt wird, fährt Henry mit dem ganzen Kram nach Hause.«

Conrad erkannte die Wahrheit, wenn sie ihm das Ohr polierte. Er war außerdem Realist genug, sich einer Drohung zu beugen, von der er wußte, daß sie wahrgemacht werden konnte. Er wandte sich ab, verließ den beunruhigenden Halbkreis und nahm seine Frau und auch Dart mit. Dart drehte sich um und blitzte mir mit den Zähnen zu. Sein Scheitel schimmerte rosa durch den dünnen Flaum auf seinem Kopf, sicher etwas, das ihm nicht gefallen hätte.

Ich wandte mich Keith zu, der immer noch mit hochgezogenen Schultern, vorgerecktem Kopf, vorspringendem Kinn und zornigen Augen dastand; insgesamt ein Bild unberechenbarer Aggressivität.

Ich wußte nichts zu sagen. Ich stand einfach da, provozierte ihn nicht, versuchte nur den Eindruck zu vermitteln, daß ich überhaupt nichts erwartete, keinen Angriff, keinen Rückzieher, keinen Gesichtsverlust auf seiner oder meiner Seite.

Forsyth, hinter mir, sagte boshaft:»Na los, Keith, gib’s ihm. Worauf wartest du? Tritt ihn noch mal, solange du es kannst.«

Die niederträchtige Anstachelei bewirkte das Gegenteil. Keith sagte fast automatisch:»Halt deine dumme Klappe, Forsyth«, und bebte vor Enttäuschung ebensosehr wie vor Wut, während der Augenblick der Gefahr sich wieder in einem Zustand weniger massiven, anhaltenden Hasses auflöste.

Plötzlich erschien mein Sohn Alan neben mir, hielt sich an dem Gehgestell fest und beobachtete Keith voller Angst, und einen Moment später trat Neil auf der anderen Seite zu uns und starrte Keith mit weit aufgerissenen Augen an. Keith, den alten Rohling, schien es etwas zu entnerven, daß sich Kinder ihm entgegenstellten.

«Komm, Papa«, sagte Alan und zog an dem Gehgestell.»Henry braucht dich.«

Ich sagte entschieden:»Okay «und bewegte mich nach vorn, und Hannah und Jack standen mir direkt im Weg. Unsicher traten sie auseinander, um mich durchzulassen; ich sah zwar Übelwollen in ihren Gesichtern, aber nicht die unbeherrschbare, kochende Wut vom Tag zuvor.

Die drei anderen Jungen kamen jetzt auch hinzu und drängten sich um mich, so daß ich schließlich wie von einer jungen menschlichen Hecke geschützt bei Henry anlangte.

«Du hast sie also abgeschüttelt«, meinte er.

«Vor allem hat deine Größe sie abgeschreckt.«

Er lachte.

«Außerdem habe ich ihnen gesagt, du würdest das Zelt einpacken und nach Hause fahren, wenn sie noch mehr Mist verzapfen, und das können sie sich nicht leisten.«

«Ein richtiger kleiner Giftzahn, hm?«

«Ich bin nicht scharf auf deren Art von Fußball.«

Er nickte.»Der Colonel hat mir das erzählt. Wieso zum Teufel hilfst du denen denn noch?«

«Pure Bosheit.«

Christopher sagte unglücklich:»Wir haben dich alleingelassen, Papa.«

«Wir wollten Hilfe holen«, versicherte mir Edward und glaubte es auch.

Toby sagte leise, ebensosehr zu sich selbst wie zu mir:»Wir hatten Angst. Wir sind einfach… weggelaufen.«

«Ihr kamt ins Büro, um mich zu holen«, hob ich hervor,»und das war mutig.«

«Aber nachher…«:, sagte Toby.

«In der Realität draußen«, sagte ich beschwichtigend,»ist keiner tagein, tagaus ein Held. Das erwartet auch niemand. Es geht nicht.«

«Aber Papa.«

«Ich war froh, daß ihr den Colonel geholt habt, also ver-geßt es.«

Christopher und Edward glaubten mir vernünftigerweise, aber Toby schien sich nicht sicher zu sein. In diesen Osterferien war zuviel passiert, was er niemals vergessen würde.

Roger und Oliver Wells kamen aus dem Hauptzelt und unterhielten sich freundlich. Der Feuerball von Olivers schlechter Laune war an diesem Morgen bei einer Führung durch die langsam Gestalt annehmende Ausstattung der

Zelte gelöscht worden. Wen kümmerte Harold Quest? meinte er schließlich. Henry habe fabelhafte Arbeit geleistet; alles werde gutgehen. Er und Roger hatten genau ausgetüftelt, wo die Rennprogramme und die Ausweise für den Club erhältlich sein sollten. Auf Olivers Drängen hin wurde direkt hinter der Ziellinie, auf der Innenseite der Bahn, eine Extra-Tribüne für die Rennleitung errichtet. Es sei unerläßlich, meinte er, daß die Rennleitung wie von dem nicht mehr bestehenden Richternest aus einen ungehinderten Blick auf den Verlauf der einzelnen Rennen habe. Roger hatte einen Schildermaler aufgetan, der sich bereit erklärte, seinen Fernsehnachmittag sausen zu lassen, um statt dessen» Rennleitung«,»Clubhaus«,»Speisesaal für Mitglieder«,»Umkleideraum für weibliche Jockeys «und» Mitgliederbar «zu pinseln.

Roger und Oliver gingen zu Rogers Jeep hinüber, warfen den Motor an und schnurrten mit unbekanntem Ziel davon. Sie hatten jedoch kaum zwanzig Meter in Richtung des Fahrwegs zurückgelegt, als sie scharf bremsten, wieder umdrehten und neben mir und den Jungen anhielten.

Roger streckte den Kopf vor und eine Hand, die mein Funktelefon hielt.

«Das Ding hat geklingelt«, sagte er.»Jemand namens Carteret will Sie sprechen. Sind Sie zu Hause?«

«Carteret! Fantastisch!«

Roger gab mir den Apparat und fuhr seines Wegs.

«Carteret?«fragte ich in den Hörer.»Bist du noch da? Bist du in Rußland?«

«Nein, verdammt«, sagte eine altbekannte Stimme mir ins Ohr.»Ich bin hier in London. Meine Frau sagt, du hättest ihr gesagt, es sei dringend. Wenn man jahrelang nichts voneinander hört, nicht mal eine Weihnachtskarte kriegt, ist alles dringend! Also, was gibt’s?«

«Ehm… es gibt was, wobei mir dein Langzeitgedächtnis helfen könnte.«

«Wovon zum Teufel redest du?«Er hörte sich gestreßt und nicht allzu erfreut an.

«Erinnerst du dich an Bedford Square?«

«Wer könnte das vergessen?«

«Ich bin hier an eine merkwürdige Geschichte geraten und habe mich gefragt, ob du. entsinnst du dich zufällig noch an einen Studenten namens Wilson Yarrow?«

«An wen?«

«Wilson Yarrow.«

Nach einer Pause sagte Carterets Stimme unschlüssig:»War der so an die drei Jahre vor uns?«

«Genau.«

«Irgendwas war nicht koscher mit ihm.«

«Ja. Weißt du noch, was?«

«Gott, das ist doch zu lange her.«

Ich seufzte. Ich hatte gehofft, Carteret mit seinem vielfach bewährten Supergedächtnis würde mir die Antworten nur so runterrasseln.

«War es das?«fragte Carteret.»Also Kumpel, es tut mir sehr leid, aber ich stecke bis über die Ohren in Arbeit.«

Ohne große Hoffnung sagte ich:»Hast du noch die Tagebücher, die du an der Schule geführt hast?«

«Na, ich denke schon — irgendwo.«

«Könntest du die mal durchsehen, ob du was über Wilson Yarrow geschrieben hast?«

«Lee, hast du eine Ahnung, was du da verlangst?«

«Ich habe ihn wiedergesehen«, sagte ich.»Gestern. Ich weiß, daß mit ihm etwas ist, an das ich mich eigentlich erinnern müßte. Ehrlich, es könnte wichtig sein. Ich wüßte gern, ob ich vielleicht ein paar Leute, die ich kenne… warnen sollte.«

Einige Sekunden war es still, dann:»Ich bin heute morgen aus Petersburg zurückgekommen. Dann habe ich mehrmals ohne Erfolg die Nummer angerufen, die du meiner Frau gesagt hast. Hätte es fast aufgegeben. Morgen fliege ich mit meiner Familie für sechs Tage nach Euro-Disney. Danach schau ich in die Tagebücher. Oder wenn du es eiliger hast, dann komm doch heute abend noch rüber und wirf selbst schnell einen Blick rein. Ginge das? Du bist doch in London, nehme ich an.«

«Nein. In der Nähe von Swindon, genau gesagt.«

«Tja, tut mir leid.«

Ich überlegte kurz und sagte:»Wie wär’s, wenn ich mit der Bahn nach Paddington komme? Bist du zu Hause?«

«Klar. Wir sind den ganzen Abend da. Aus- und einpak-ken. Kommst du? Wär’ schön, dich mal wieder zu sehen nach all der Zeit. «Jetzt klang er herzlicher, als wäre es ihm ernst damit.

«Ja. Prima. Ich freu mich auch, dich zu sehen.«

«Also abgemacht. «Er erklärte mir, wie ich vom Bahnhof Paddington mit dem Bus zu ihm kam und legte auf. Henry und die Kinder starrten mich mit ungläubiger Verwunderung an.

«Hab ich recht gehört?«sagte Henry.»Du hängst mit einer Hand am Gehgestell, und mit der anderen planst du eine Zugfahrt nach London?«

«Vielleicht«, überlegte ich,»kann Roger mir ja einen Stock leihen.«

«Was ist mit uns, Papa?«sagte Toby.

Ich blickte zu Henry, der ergeben nickte.»Ich paß auf, daß sie nicht zu Schaden kommen.«»Mit etwas Glück bin ich wieder da, bis sie ins Bett müssen.«

Ich rief den Bahnhof Swindon an und fragte, wie die Züge fuhren. Wenn ich mich sputete, hieß es, könnte ich in fünf Minuten einen bekommen. Aber auch wenn ich den nächsten nahm, der zum verbilligten Feiertagstarif nach London ging, konnte ich noch am Abend wieder in Swindon sein. Gerade so. Mit ein wenig Glück.

Roger, der von seiner Tour zurückkam, hatte nicht nur einen, sondern zwei Stöcke für mich und ließ sich dazu überreden, mir eine Kopie von Yarrows Tribünenplänen mitzugeben (»Sie sind mein Tod«) und mich zum Bahnhof zu bringen, wenn er auch, als wir losfuhren, an meinem Verstand zweifelte.

«Möchten Sie wissen, ob man Wilson Yarrow trauen kann?«fragte ich.

«Wäre schön zu wissen, daß man’s nicht kann.«

«Na also.«

«Ja, aber…«

«Es geht mir besser«, sagte ich knapp.

«Ich bin ja schon still.«

Ich zahlte meinen Fahrschein mit Kreditkarte, stieg in den Zug, nahm von Paddington ein Taxi und kam ohne Zwischenfall vor Carterets Haustür bei Shepherd’s Bush an. (Reihenhaus mit Erkerfenstern, gebaut für vornehme, aber verarmte Edwardianer.)

Er öffnete mir selbst, und die Jahre ohne Kontakt verflüchtigten sich, während wir uns musterten. Er war immer noch klein, rundlich, mit Brille und schwarzem Haar, eine eigentümliche Mischung von Kelte und Thai, auch wenn er in England geboren und ausgebildet worden war. Wir hatten uns im ersten Jahr an der Akademie unbekannter-weise zusammengetan, um eine Bude zu teilen, und hatten uns dann während des ganzen Studiums, wann immer nötig, gegenseitig geholfen.

«Du hast dich nicht verändert«, sagte ich.

«Du auch nicht. «Er sah zu mir hoch, betrachtete meine Locken und meine braunen Augen; hob die Brauen nicht wegen der Arbeitskleidung, sondern wegen der Stöcke, auf die ich mich stützte.

«Nichts Ernstes«, sagte ich.»Ich werde es dir erzählen.«

«Wie geht’s Amanda?«fragte er und führte mich ins Haus.»Seid ihr noch verheiratet?«

«Ja.«

«Ich hätte nie gedacht, daß das hält«, sagte er freimütig.»Und die Jungen? Das waren drei, nicht?«

«Jetzt haben wir sechs.«

«Sechs! Ja, du hast noch nie halbe Sachen gemacht.«

Ich lernte seine Frau kennen, die zu tun hatte, und seine beiden Kinder, die sich schon darauf freuten, Mickymaus kennenzulernen. In dem unaufgeräumten, verwohnten Wohnzimmer erzählte ich ihm von der momentanen Situation und der möglichen Zukunft der Rennbahn Stratton Park. Ich ging recht ausführlich darauf ein.

Wir tranken Bier. Er sagte, zu Wilson Yarrow sei ihm nichts weiter eingefallen, als daß er zur hehren Elite gehört habe, ein Kandidat für die Unsterblichkeit.

«Aber was dann passiert ist…«, sagte er.»Es gab Gerüchte. Irgend etwas wurde vertuscht. Es betraf uns nicht direkt, und wir haben ja auch immer tief in der Arbeit gesteckt. Ich weiß bloß noch seinen Namen. Hätte er Tom Johnson geheißen oder so, hätte ich den auch vergessen.«

Ich nickte. Es ging mir ähnlich. Ich fragte, ob ich mir seine Tagebücher ansehen dürfe.

«Die hab ich dir rausgesucht«, sagte er.»Sie waren in einer Kiste auf dem Speicher. Meinst du wirklich, ich hätte da was über Wilson Yarrow reingeschrieben?«

«Hoffentlich. Du hast über die meisten Sachen geschrieben.«

Er lächelte.»Eigentlich Zeitverschwendung. Ich dachte, mein Leben zieht vorbei und ich vergeß es, wenn ich es nicht aufschreibe.«

«Da hattest du wahrscheinlich recht.«

Er schüttelte den Kopf.»Die tollen Sachen und die schlimmen behält man sowieso. Der Rest ist schnuppe.«

«Meine Tagebücher sind Bilanzen«, sagte ich.»Ich sehe mir die alten Bilanzen an und weiß, was ich wann gemacht habe.«

«Baust du immer noch verfallene Häuser um?«

«Ja.«

«Das könnte ich nicht.«

«Und ich könnte nicht in einem Büro arbeiten. Hab ich versucht.«

Wir lächelten uns wehmütig an, alte Freunde, die so gut wie nichts gemeinsam hatten außer ihrem Fachwissen.

«Ich habe dir was mitgebracht«, sagte ich und meinte das große braune Kuvert, das ich unterwegs zusammen mit einem der Gehstöcke unbeholfen in der Hand gehalten hatte.»Während ich die Aufzeichnungen lese, kannst du dir mal ansehen, wie Wilson Yarrow sich einen Tribünenneubau vorstellt. Sag mir, was du davon hältst.«

«In Ordnung.«

Gut gedacht, aber schlecht zu machen. Ich sah mit Bestürzung, wie er seine Tagebücher anschleppte und sie auf dem Couchtisch stapelte. Es waren ungefähr zwanzig dik-ke DIN-A-4-Spiralhefte, buchstäblich Tausende von Seiten, gefüllt mit seiner sauberen kleinen Schrift; eine Aufgabe von Tagen, nicht von einer halben Stunde.

«Wer denkt denn an so was«, sagte ich schwach.»Mir war nicht klar…«

«Ich hab dir ja gesagt, daß du nicht weißt, was du verlangst.«

«Könntest du… oder vielmehr, würdest du sie mir leihen?«

«Zum Mitnehmen, meinst du?«

«Du bekommst sie auch wieder.«

«Ehrenwort?«sagte er unschlüssig.

«Bei meinem Diplom.«

Sein Gesicht hellte sich auf.»Na schön. «Er öffnete das braune Kuvert und warf einen Blick auf den Inhalt, um bei der axonometrischen Zeichnung mit hochgestellten Brauen zu verharren.»Das ist Angeberei!«sagte er.

«Ja. Unnötig.«

Carteret betrachtete die Aufrisse und Grundrisse. Er verlor kein Wort über das viele Glas: Schwieriges Arbeiten mit Glas war typisch Architectural Association. Man hatte uns beigebracht, im Glas den Stoff der Zukunft zu sehen, noch unerschlossenes Neuland auf dem Gebiet des Designs. Als ich leise angemerkt hatte, daß Glashäuser doch ein alter Hut seien, seit Joseph Paxton 1851 den Crystal Palace im Hyde Park zusammengestückt habe, hatte man mich zwar nicht rundheraus mit dem Bannfluch belegt, mich fortan aber als Bilderstürmer schief angesehen. Jedenfalls ließ Carteret auch supermoderne Glasprojekte gelten, die ich weder elegant noch praktisch, sondern nur gewollt raffiniert fand. Glas als Selbstzweck erschien mir witzlos; es war eine Lichtquelle, doch im übrigen zählte das, was man durch die Scheiben sehen konnte.

«Wo sind die anderen Pläne?«fragte Carteret.

«Das ist alles, was Yarrow den Strattons vorgelegt hat.«

«Wie bringt er die Zuschauer denn fünf Etagen hoch?«

Ich lächelte.»Die sollen vermutlich laufen, wie in der alten Tribüne, die explodiert ist.«

«Keine Fahrstühle. Keine Rolltreppen auf dem Grundriß. «Er blickte auf.»Dafür kriegt er doch in der heutigen Zeit keinen Abnehmer.«

«Ich glaube fast«, sagte ich,»daß Conrad Stratton sich stellvertretend für die Rennbahn verpflichtet hat, Yarrow alles abzunehmen.«

«Vertraglich, meinst du?«

«Ich weiß es nicht. Wenn ja, ist es nicht bindend, denn er hatte keine Abschlußvollmacht.«

Carteret runzelte die Stirn.»Trotzdem ein bißchen heikel.«

«Nicht, wenn sich Wilson Yarrow irgendwie disqualifiziert hat.«

«Wie meinst du das? Ist er rausgefallen? Von der Liste gestrichen?«

«Ich denke eher, aufgefallen durch unredliches Verhalten.«

«Tja, dann viel Glück mit den Tagebüchern. An so was erinnere ich mich nicht.«

«Aber… irgend etwas war doch?«

«Ja.«

Ich sah auf meine Uhr.»Kann ich von hier aus ein Taxi rufen?«

«Klar. Der Apparat steht in der Küche. Ich mach das für dich. «Er ging hinaus und kam kurz darauf mit einer Tragetasche wieder, hinter ihm seine Frau, die an der Tür stehenblieb.

«Damit du die Tagebücher transportieren kannst«, meinte er und begann sie in die Tasche zu packen,»- und meine Frau sagt, ich soll dich selber nach Paddington fahren. Sie sagt, du hast Schmerzen.«

Verlegen warf ich seiner Frau einen Blick zu und fuhr mir mit der Hand übers Gesicht, während ich nach einer Antwort suchte.

«Sie ist Krankenschwester«, sagte Carteret.»Sie dachte, du hättest Arthritis, bis ich ihr das mit dem eingestürzten Dach erklärte. Sie sagt, du zwingst dich zu jeder Bewegung und brauchst ein bißchen Ruhe.«

«Keine Zeit.«

Er nickte vergnügt.»Und wenn das Fieber noch so bollert, die Grippe muß bis nächsten Dienstag warten?«

«So ungefähr.«

«Also fahr ich dich nach Paddington.«

«Ich bin dir wirklich dankbar.«

Er nickte, von meiner Aufrichtigkeit überzeugt.

«Wie dem auch sei«, sagte ich,»ich dachte, das neue medizinische Schlagwort wäre >Steh auf und wandle<.«

Carterets Frau schenkte mir ein süßes nachsichtiges Lächeln und ging, und Carteret selbst brachte die Tasche mit den Tagebüchern zu seinem Wagen und nahm, als wir am Bahnhof Paddington anlangten, den Taxiweg nach hinten, um zwischen zwei Bahnsteigen, direkt bei den Zügen, halten zu können.

Auf der Fahrt dahin sagte ich:»Die Stratton-Bahn will einen Wettbewerb für ihre neue Tribüne ausschreiben. Warum schlägst du deiner Firma nicht vor, daran teilzunehmen?«

«Ich habe keine Ahnung von Tribünen.«»Ich aber«, sagte ich.»Ich könnte dir sagen, worauf es ankommt.«

«Warum entwirfst du sie nicht selber?«

Ich schüttelte den Kopf.»Nicht mein Metier.«

«Mal sehen, was meine Firma sagt«, meinte er skeptisch.

«Sie soll hinschreiben und ihr Interesse bekunden, und erst mal fragen, für wie viele Zuschauer die Tribüne gedacht sein soll. Man kann unmöglich eine Tribüne entwerfen, wenn man nicht mal die erforderlichen Maße kennt. Die muß Yarrow jemand gesagt haben, denn da liegt er ungefähr richtig.«

«Meine Firma kann es ja wenigstens versuchen«, sagte Carteret.»Momentan gibt es fünfzehntausend arbeitslose Architekten im Land. Die Leute glauben, Architekten braucht man nicht. Sie wollen das Honorar sparen, und dann beklagen sie sich, wenn sie eine Wand einreißen und ihr Schlafzimmer ins Kellergeschoß fällt.«

«Das Leben ist beschissen«, meinte ich trocken.

«Immer noch der alte Zyniker, stelle ich fest.«

Er brachte die Tagebücher in den Zug und verfrachtete sie und mich auf einen Sitz.»Ich rufe dich an, wenn ich aus Disneyland zurückkomme. Wo bist du dann?«

Ich gab ihm die Nummer von zu Hause.»Kann sein, daß sich Amanda meldet. Sie gibt’s dann an mich weiter.«

«Lassen wir nicht wieder zehn Jahre hingehen«, sagte er.

«Okay?«

Auf der ruckeligen Fahrt nach Swindon versenkte ich mich in die Tagebücher und ertrank schließlich in wehmütiger Erinnerung. Wie jung wir gewesen waren! Wie unfertig und vertrauensvoll. Wie ernst und sicher.

Ich kam zu etwas, das mir einen bösen Stich versetzte. Carteret hatte geschrieben:

Lee und Amanda sind heute in der Kirche getraut worden, mit allem Brimborium, wie sie es wollte. Beide sind neunzehn. Ich glaube, er macht eine Dummheit, aber ich muß zugeben, daß sie beide sehr zufrieden ausgesehen haben. Sie ist verträumt. Typisch Lee. Ihr Vater, erste Sahne, hat alles bezahlt. Ihre jüngere Schwester Sally, bißchen pickelig, war Brautjungfer. Lees Mutter war auch da. Madeline. Umwerfend. Gefiel mir wahnsinnig. Sie sagt, ich bin zu jung. Nachher zum Empfang bei Amandas Eltern, mit Champagner, Kuchen usw. Rund 40 Leute. Amandas Kusinen, Freundinnen, alte Onkel und so. Ich mußte auf das Wohl der Brautjungfer trinken. Wer spielt auch schon Brautführer? Lee sagt, sie werden von der Luft leben. Aber sie gehen echt auf Wolken. Jetzt sind sie für drei Tage nach Paris, um sich als Mann und Frau zu üben. Hochzeitsgeschenk von Amandas Eltern.

Gott, dachte ich, von diesem Hochzeitstag hatte ich noch die kleinste Einzelheit behalten. Ich war sicher gewesen, wir würden für alle Zeit glücklich sein. Traurige Illusion.

Auf der nächsten Seite hatte Carteret geschrieben:

Party bei Lee und Amanda gestern abend. Die meisten von unserem Jahrgang waren da. Urwaldreif. Was anderes als die Trauung vorige Woche!! Sie sehen immer noch entrückt aus. Bier und Pizza diesmal. Auf Lees Kosten. Bin um sechs ins Bett und habe die Vorlesung von Opa Hammond verpennt. Lee fehlt mir in unserer Hütte. Wußte gar nicht, was ich da Gutes hab. Seh mich am besten mal nach Ersatz um, allein kann ich mir den Pferch nicht leisten, so öde er auch ist.

Ich sah zu, wie in der dunklen Landschaft vor den Zugfenstern Lichter vorbeiflitzten, und fragte mich, was Amanda jetzt gerade machte. Saß sie friedlich mit Jamie allein daheim? Oder war sie, und der Gedanke drängte sich mir auf, ihrerseits auf Abenteuerurlaub; hatte sie auf der Party ihrer Schwester einen Mann kennengelernt? War sie auf der Party ihrer Schwester gewesen? Weshalb wollte sie, daß ich mit den Jungen zwei Tage länger blieb?

Ich fragte mich, wie ich es verkraften würde, wenn sie sich nach all den Jahren nun doch ernsthaft in einen anderen verliebt hatte.

So brüchig unsere Ehe auch war, ich wollte unbedingt, daß sie bestehenblieb. Selbst in einem unbefriedigenden Zusammenleben sah ich — vielleicht, weil keine neue, verzehrende Leidenschaft mir begegnet war — nur Vorteile, wobei das stabile Gleichgewicht von sechs jungen Leben ganz oben auf der Liste stand. Ich sträubte mich total gegen den Gedanken einer endgültigen Trennung mit Güterteilung und Verlust des Sorgerechts für die Söhne; was ich damit verband, war Unsicherheit, Unglück, Einsamkeit, Verbitterung. Diese Art von Leid würde mich zugrunde richten, mich zerbrechen, wie kein körperlicher Schmerz es konnte.

Laß Amanda einen Geliebten haben, dachte ich; laß sie aufblühen im Abenteuer, laß sie auf Reisen gehen, ruhig auch ein Kind bekommen, das nicht von mir ist; aber, lieber Gott, laß sie bleiben.

Ich würde es herausfinden, wenn wir am Donnerstag nach Hause kamen, dachte ich. Dann würde ich es merken. Ich würde Bescheid wissen. Ich wollte nicht, daß der Donnerstag kam.

Mit Mühe wandte ich mich wieder Carterets Tagebüchern zu und blätterte sie auf der weiteren Fahrt durch, aber Wilson Yarrow kam darin so wenig vor, als hätte es ihn nie gegeben.

Es war nach zehn, als ich das Taxi in Swindon anwies, durch den Nebeneingang auf die Rennbahn zu fahren und am Bus zu halten.

Die Jungen waren alle da und schauten sich dösig ein Video an, nur Neil schlief fest. Christopher, erleichtert, ging wie versprochen zu den Gardners und sagte ihnen, daß ich wohlbehalten zurück war. Ich legte mich dankbar hin mit dem starken Gefühl, hier zu Hause zu sein, in diesem Bus, mit diesen Kindern. Nur nicht den Tag der unklugen Heirat bedauern — dies war daraus entstanden. Jetzt kam es nur darauf an, es zusammenzuhalten. Der Schlaf umfing uns alle friedlich, doch in der Nacht brannte es.

Die Jungen und ich betrachteten die qualmenden Überreste der Hecke vor dem Graben. Zu Asche und schwarzen Stümpfen verkohlt, erstreckte sie sich über das Geläuf, zehn Meter lang, ein Meter breit, und roch gesund nach Gartenfeuer.

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