Kapitel 7

Roger murmelte: »Teufel.«

Ich sagte ebenso leise zu ihm:»Verschwinden Sie.«

«Nein.«

«Doch. Sehen Sie zu, daß Sie Ihren Job behalten.«

Roger blieb.

Keith stieß die Tür mit dem Fuß zu und zögerte dann sogar einen Augenblick, doch Hannah hatte keinerlei Bedenken oder Hemmungen. Für sie war ich der Angelpunkt aller Ressentiments, die sie vierzig Jahre lang genährt und an sich hatte nagen lassen. Keith, der schon bei ihr als Kind die verletzten Gefühle hätte lindern können, lindern sollen, hatte sie ohne Zweifel noch darin bestärkt. Hannah hatte ihren Abscheu nicht unter Kontrolle. Der Dolchstoß aus dem Hinterhalt… er war in ihrem Blick.

Sie kam mit dem gleichen raubkatzenhaften Gang, den ich bei Rebecca gesehen hatte, auf mich zu und setzte ihr ganzes Gewicht ein, als sie mich gegen die Wand warf und zugleich die Finger mit den langen Nägeln spreizte, um sie mir ins Gesicht zu krallen.

Roger versuchte es mit höflicher Einrede.»Miss Stratton — «

Die Katze sprang, ohne ihn zu beachten.

Ich hätte ihr gern einen Schlag in den Magen versetzt und sie geohrfeigt, daß ihr Hören und Sehen verging, aber für mein Unterbewußtsein war das tabu, und vielleicht konnte ich gerade diese Frau nicht verletzen, weil Keith meine Mutter geschlagen hatte. Meine Mutter, Hannahs Mutter. Ein Wirrwarr. Jedenfalls versuchte ich lediglich die Hände meiner vermaledeiten Halb-Schwester zu pak-ken, wozu ich das Gehgestell loslassen mußte, und das gab Keith eine Gelegenheit, die er ohne Skrupel nutzte.

Er riß das Gestell hoch, stieß Hannah aus dem Weg, und die stabilen Chromröhren mit den schwarzen Gummistutzen trafen mich wie eine Keule. Nicht gut. Für die verklammerten Wunden entsetzlich.

Roger hielt Keith am Arm fest, um einen zweiten Schlag zu verhindern, und ich hielt Hannah bei den Handgelenken und versuchte ihren Spuckattacken zu entgehen. Alles in allem war es ein unschöner Samstagmorgen geworden.

Es kam noch schlimmer.

Keith schlug mit dem Gestell auf Roger los. Roger wich aus. Keith schwang es zu mir herum und traf zum zweitenmal, und da Hannah sich noch heftig loszureißen suchte, während Keith herankam und mit dem Chromgestänge jetzt auf meine Magengegend zielte, beschlossen meine Beine leider, mir den Dienst zu versagen, und knickten einfach weg, so daß ich wankte, wackelte und schmählich zu Boden sackte.

Hannah entriß ihre Hände meinem Griff und versetzte mir einen Tritt. Ihr Sohn, der mich noch nicht mal kannte, stieg in das Getümmel ein und trat mich zweimal genauso heftig, aber ohne zu bedenken, welche Folgen das für ihn selbst haben konnte. Ich packte den zum drittenmal vorstoßenden Fuß und riß daran, und mit einem überraschten Aufschrei verlor der junge Mann das Gleichgewicht und stürzte innerhalb meiner Reichweite nieder.

Sein Pech. Ich packte ihn und schlug ihm die Faust ins

Gesicht und knallte seinen Kopf auf den Boden, so daß Hannah über uns schrie wie eine Furie. Ihre Schuhe, merkte ich, hatten harte Spitzen und spitze Hacken.

Ich wußte, daß Roger irgendwo da oben versuchte, das Handgemenge zu beenden, aber dazu hätte der Colonel wohl eine Schußwaffe gebraucht.

Keith ging mit seinen schweren Füßen auf mich los, stampfend und tretend. Unter seinem Gewicht, seiner Brutalität liefen tiefe Schauer durch meinen Körper. Roger gab sich wirklich alle Mühe, ihn von mir wegzuzerren, und ungefähr zu diesem Zeitpunkt, keinen Augenblick zu früh, öffnete sich die Bürotür wieder, und es gab eine willkommene Unterbrechung.

«Na, hört mal«, blökte eine Männerstimme,»was ist denn hier los?«

Keith schüttelte Rogers Griff ab und sagte ungerührt:»Zieh Leine, Ivan. Das geht dich nichts an.«

Ivan hätte vielleicht sogar gehorcht, aber hinter ihm kam ein viel schwierigerer Kunde.

Marjories gebieterische Stimme drang durch den allgemeinen Kampfeslärm.

«Keith! Hannah! Zum Donnerwetter, was fällt euch denn ein? Colonel, rufen Sie die Polizei. Holen Sie sofort die Polizei.«

Die Drohung wirkte augenblicklich. Hannah hörte auf zu treten und zu schreien. Keith trat keuchend zur Seite. Jack rutschte auf allen vieren von mir weg. Roger stellte die Gehhilfe vor mich hin und streckte die Hand aus, um mich hochzuziehen. Das kostete ihn mehr Anstrengung, als er erwartet hatte, aber soldatische Entschlossenheit machte es möglich. Ich hievte mich mit der Kraft meiner Arme auf das Gestell, lehnte mich müde gegen die Wand und stellte fest, daß nicht nur Ivan und Marjorie hinzugekommen waren, sondern auch Conrad und Dart.

Einen sprachlosen Moment lang schätzte Marjorie die Lage ab, registrierte die rasende Wut, die Hannah noch anzusehen war, die unverbrauchte rohe Gewalt bei Keith und die rachsüchtige Flappe des aus der Nase blutenden Jack. Sie schaute zu Roger, umfing schließlich mich mit einem Blick von Kopf bis Fuß und ließ die Augen auf meinem Gesicht ruhen.

«Eine Schande«, sagte sie vorwurfsvoll.»Zu raufen wie die Tiere. Das sollten wir doch besser wissen.«

«Er hat hier nichts zu suchen«, sagte Keith belegt und fügte eine glatte Lüge hinzu:»Er hat mich mit der Faust geschlagen. Er hat angefangen.«

«Mir hat er das Nasenbein gebrochen«, beklagte sich Jack.

«Sagt bloß, er hat euch alle drei angegriffen«, spöttelte Dart.»Geschieht euch recht.«

«Halt den Mund«, befahl Hannah ihm giftig.

Conrad äußerte seine Meinung.»Durch irgend etwas hat er ja bestimmt die Sache ausgelöst. Ich meine, das liegt doch auf der Hand. «Er wurde zum Untersuchungsrichter, zur tragenden Figur des Verfahrens, zum Ankläger; zum Wichtigtuer.

«Also, Mr. Morris, weshalb haben Sie denn nun meinen Bruder geschlagen und seine Familie angegriffen? Was haben Sie dazu zu sagen?«

Zeit für den Angeklagten, sich zu verteidigen, dachte ich. Ich schluckte. Ich fühlte mich schwach — und war zu wütend, um der Schwäche nachzugeben oder sie offen zu zeigen, damit sich alle noch daran ergötzten.

Als ich sicher sein konnte, daß meine Stimme nicht als ein Krächzen herauskam, sagte ich gleichmütig:»Ich habe

Ihren Bruder nicht geschlagen. Ich habe gar nichts getan. Sie sind auf mich losgegangen, weil ich bin, der ich bin.«

«Das ergibt keinen Sinn«, sagte Conrad.»Niemand wird angegriffen, bloß weil er ist, was er ist.«

«Erzähl das mal den Juden«, meinte Dart.

Die ganze Runde war einen Moment lang bestürzt.

Marjorie Binsham sagte:»Geht nach draußen, alle miteinander. Ich regle das mit Mr. Morris hier. «Sie drehte den Kopf zu Roger.»Sie auch, Colonel. Raus.«

Conrad sagte:»Das ist gefährlich — «

«Quatsch!«unterbrach Marjorie.»Ab mit euch.«

Sie gehorchten ihr und schlurften hinaus, ohne sich anzusehen, geniert.

«Macht die Tür zu«, befahl sie, und Roger, der als letzter ging, schloß sie.

Sie setzte sich gelassen hin, heute in einem eng anliegenden marineblauen Mantel, unter dem sich wieder ein weißer Stehkragen zeigte. Das wellige weiße Haar, der sehr zart wirkende Teint und die stechenden Falkenaugen, all das war wie zuvor.

Sie musterte mich kritisch.»Gestern sind Sie in die Luft geflogen, und heute lassen Sie auf sich rumtrampeln. Sehr klug stellen Sie sich nicht an, was?«

«Nein.«

«Und gehen Sie von der Wand weg. Sie machen Blut drauf.«

«Ich streiche sie Ihnen.«

«Wo kommt das Blut denn überhaupt her?«

Ich erzählte ihr von den zahlreichen Prellungen, Schnittwunden und Klammern.»Es fühlt sich an«, sagte ich,»als wäre da einiges wieder aufgerissen.«»Verstehe.«

Sie wirkte einen Augenblick unschlüssig, nicht so energisch wie sonst. Dann sagte sie:»Wenn Sie wollen, entbinde ich Sie von unserer Abmachung.«

«Was?«Ich war überrascht.»Nein, die Abmachung steht.«

«Ich habe nicht damit gerechnet, daß Sie verletzt werden.«

Ich überlegte kurz. Verletzt zu sein war zwar unangenehm, in gewisser Hinsicht aber belanglos. Ich ignorierte es, so gut ich konnte. Konzentrierte mich auf anderes.

«Wissen Sie«, fragte ich,»wer den Sprengstoff gelegt hat?«

«Nein.«

«Wer von den Strattons besäße die nötigen Kenntnisse?«

«Keiner.«

«Was ist mit Forsyth?«

Auch sie machte die Schotten dicht.

«Forsyth mag sein, was er will«, sagte sie,»aber ein erfahrener Pyrotechniker ist er nicht.«

«Hätte er ein Motiv, Sprengstoff legen zu lassen?«

Nach einer Pause sagte sie:»Ich glaube nicht.«

Schweiß stand mir auf der Stirn. Ich hob unwillkürlich die Hand, um ihn abzuwischen, wankte und faßte schnell wieder nach dem Gehgestell, um die Balance zu halten und nicht hinzufallen. Zu viele geprellte Muskeln, zuviel zerschnittenes Gewebe, insgesamt zu mitgenommen. Ich stand still und atmete tief durch; der kritische Moment war vorüber, das Gewicht ruhte auf meinen Armen.

«Setzen Sie sich«, befahl Marjorie.

«Das wäre vielleicht noch schlimmer.«

Sie riß die Augen auf. Ich lächelte.»Meine Kinder finden das komisch.«

«Aber Sie nicht.«

«Nicht besonders.«

Sie sagte gedehnt:»Zeigen Sie Keith wegen Körperverletzung an? Keith und Hannah?«

Ich schüttelte den Kopf.

«Wieso nicht? Die haben Sie getreten. Ich habe es gesehen.«

«Und würden Sie das auch vor Gericht aussagen?«

Sie zögerte. Sie hatte mit der Polizei gedroht, um den Streit zu beenden, aber es war eine Drohung gewesen und weiter nichts.

Ich dachte an den Pakt meiner Mutter mit Lord Stratton, über Keiths Gewalttätigkeit zu schweigen. Von diesem Stillschweigen hatte ich ungeheuer profitiert. Gefühlsmäßig neigte ich dazu, es wie meine Mutter zu halten. Ich sagte:

«Eines Tages werde ich mit Keith abrechnen — aber nicht, indem ich Sie öffentlich mit Ihrer Familie in Konflikt bringe. Es ist eine Sache, die er und ich unter uns abmachen müssen.«

Sichtlich erleichtert sagte sie förmlich:»Ich wünsche Ihnen Glück.«

Vor dem Fenster draußen heulte kurz eine Sirene auf, mehr ein Signal der Ankunft als der Dringlichkeit.

Die Polizei war also doch gekommen. Marjorie Binsham war wenig begeistert, und ich war sehr müde, und durch die sich öffnende Bürotür ergossen sich Leute in einer Zahl, für die der kleine Raum keineswegs gedacht war.

Keith versuchte erfolglos, den Gesetzeshütern einzureden, ich hätte mich der Körperverletzung an seinem Enkelsohn Jack schuldig gemacht.

«Jack«, bemerkte Roger ruhig,»sollte Leute, die am Boden liegen, nicht mit Füßen treten.«

«Und Sie«, entgegnete Keith ihm heftig,»Sie können einpacken. Hab ich ja schon gesagt. Sie sind entlassen.«

«Mach dich nicht lächerlich«, schnappte Marjorie.»Colonel, Sie sind nicht entlassen. Wir brauchen Sie. Bitte bleiben Sie bei uns. Nur durch ein Mehrheitsvotum des Vorstandes kann Ihnen gekündigt werden, und diese Mehrheit kommt nicht zustande.«

«Warte nur, Marjorie«, sagte Keith mit schwerer, vor Demütigung zitternder Stimme,»dich krieg ich auch noch.«

«Na hör mal, Keith — «, setzte Conrad an.

«Sei du bloß still«, sagte Keith haßerfüllt.»Du oder dein Architekt, dieser Erpresser, ihr habt doch die Tribüne hochgehen lassen.«

Das betretene Schweigen, die stumme Verblüffung aller Strattons gab der Polizei Gelegenheit, in ein Notizbuch mit zu erledigenden Punkten zu schauen und übergangslos die Frage vorzubringen, wer von der Familie normalerweise einen dunkelgrünen, sechs Jahre alten Granada mit rostigen linken Kotflügeln fahre.

«Wie kommen Sie denn jetzt darauf?«wollte Keith wissen.

Statt ihm zu antworten, wiederholte die Polizei ihre Frage.

«Er gehört mir«, sagte Dart.»Na, und?«

«Und stimmt es, daß Sie gestern morgen um zwanzig nach acht damit durch den Haupteingang der Rennbahn gefahren sind und Mr. Harold Quest gezwungen haben, auf die Seite zu springen, da er sich sonst ernstlich verletzt hätte, und haben Sie ihm, als er sich darüber beschwerte, mit einer obszönen Geste geantwortet?«

Dart hätte fast gelacht, besann sich klugerweise aber im letzten Moment eines Besseren.»Nein, das stimmt nicht«, sagte er.

«Was stimmt nicht, Sir? Daß Sie durch das Tor gefahren sind? Daß Sie Mr. Quest gezwungen haben, zur Seite zu springen? Oder daß Sie eine obszöne Handbewegung gemacht haben?«

Dart sagte unbekümmert:»Ich bin nicht gestern morgen um zwanzig nach acht durch den Haupteingang gefahren.«

«Aber Sie haben das Fahrzeug doch identifiziert, Sir…«

«Gestern morgen um zwanzig nach acht bin ich nicht damit gefahren. Weder hier durch den Haupteingang noch sonstwohin.«

Die Polizei stellte höflich die unvermeidbare Frage.

«Ich war im Bad, wenn Sie es genau wissen wollen«, sagte Dart und überließ die Eingrenzung seiner dortigen Tätigkeit der allgemeinen Phantasie.

Ich fragte:»Ist Mr. Quest ein dicker Mann mit Bart, Strickmütze und einem Plakat, auf dem steht PFERDERECHTE GEHEN VOR

Der Polizist räumte ein:»Die Beschreibung paßt auf ihn, Sir.«

«Dieser Mensch!«rief Marjorie aus.

«Gehört erschossen«, sagte Conrad.

«Er läuft einem direkt vor die Räder«, erklärte Marjorie dem Polizisten streng.»Irgendwann erreicht er bestimmt sein Ziel.«

«Und das wäre, Madam?«

«Daß man ihn umfährt, natürlich. Bei der geringsten Berührung wird er sich kunstvoll zu Boden werfen. Er will leiden für die Sache. Vor solchen Leuten muß man höllisch auf der Hut sein.«

Ich fragte:»Sind Sie sicher, daß Mr. Quest tatsächlich gestern morgen um zwanzig nach acht draußen vor dem Tor war?«

«Er hat es nachdrücklich behauptet«, sagte der Polizist.

«An Karfreitag? Das ist ein Tag, an dem kein Mensch auf die Rennbahn geht.«

«Er sagt, er war hier.«

Ich ließ es auf sich beruhen. Mangelnde Energie. Dart war mit dem Auto so oft durch das Tor rein und raus gefahren, daß wahrscheinlich jeder Demonstrant es bis hin zu seinem verkratzten Heckaufkleber beschreiben konnte, und der lautete:»Wenn Sie das lesen können, gehen Sie auf Abstand. «Dart hatte den Rauschebart neulich, als ich dabei war, verärgert. Rauschebart Harold Quest war darauf aus, Unruhe zu stiften. Wo lag die Wahrheit?

«Und Sie, Mr. Morris…«Eine andere Seite des Notizbuchs wurde aufgeschlagen und konsultiert.»Wir hörten von der Klinik, daß man Sie dabehalten wollte, aber als wir hinkamen, um Sie zu vernehmen, waren Sie einfach gegangen. Man hatte Sie nicht offiziell entlassen.«

«Was für gestrenge Worte!«meinte ich.

«Bitte?«

«Dabehalten und entlassen. Wie im Gefängnis.«

«Wir konnten Sie nicht finden«, klagte er.»Anscheinend wußte niemand, wo Sie geblieben waren.«

«Jetzt bin ich ja hier.«

«Und, ehm… Mr. Jack Stratton beschuldigt Sie, ihn heute morgen gegen acht Uhr fünfzig angegriffen und ihm das Nasenbein gebrochen zu haben.«

«Jack Stratton beschuldigt gar niemand«, sagte Marjorie voller Überzeugung.»Jack, rede.«

Der mürrische junge Mann, der sich mit einem Taschentuch das Gesicht abtupfte, nahm Marjories geballten Unwillen zur Kenntnis und murmelte, er sei möglicherweise gegen eine Tür gelaufen oder so. Obwohl Keith und Hannah dem widersprachen, strich der Polizist den Eintrag in seinem Notizbuch resigniert durch und sagte, seine Vorgesetzten wünschten von mir zu erfahren, wo der Sprengstoff sich vor der Detonation befunden habe. Wo ich also zu erreichen sei.

«Wann?«fragte ich.

«Heute morgen, Sir.«

«Dann… bin ich noch hier, glaube ich.«

Conrad verkündete mit einem Blick auf seine Uhr, er habe einen Abbruchexperten und einen Gutachter des Stadtbauamts bestellt, um zu klären, wie man am besten die alte Tribüne abreißen und das Gelände für den Wiederaufbau räumen könne.

Keith sagte aufbrausend:»Dazu hast du kein Recht. Die Rennbahn gehört mir ebensogut wie dir, und ich will sie verkaufen, und wenn sie ein Bauunternehmer kauft, reißt der die Tribüne auf seine Kosten ab. Wir bauen nicht wieder auf.«

Marjorie sagte grimmigen Blickes, sie müßten ein Gutachten darüber einholen, ob die Tribünen in ihrer alten Form wiederhergestellt werden könnten oder nicht und ob die Rennbahn-Versicherung eine andere Handlungsweise überhaupt zulasse.

«Nehmt die Versicherung zum Verkaufserlös hinzu, und es rentiert sich für uns alle«, sagte Keith starrköpfig.

Die Polizisten, uninteressiert, zogen sich nach draußen in ihren Wagen zurück, und man sah sie telefonieren, vermutlich mit ihrer Dienststelle.

Ich meinte zweifelnd zu Roger: »Könnte man die Tribüne denn wieder instand setzen?«

Er antwortete vorsichtig.»Läßt sich noch nicht sagen.«

«Klar geht das. «Marjorie war ganz sicher.»Alles läßt sich instand setzen, wenn man nur will.«

So aufbauen wie vorher, meinte sie; dasselbe noch mal. Mir schien das ein Fehler zu sein im Hinblick auf die Zukunft der Rennbahn Stratton Park.

Die Familie stritt weiter. Offenbar waren sie alle extra so schnell aufgetaucht, um einseitige Entscheidungen zu verhindern. Sie verließen das Büro als ein zankender Haufen, den die Furcht zusammenhielt, was jeder für sich unternehmen könnte. Roger beobachtete ihren Abgang mit verzweifelter Miene.

«Wie kann man so ein Geschäft führen! Und weder Oliver noch ich sind bezahlt worden, seit Lord Stratton tot ist. Er hat uns die Schecks immer persönlich ausgestellt. Jetzt ist nur Mrs. Binsham berechtigt, uns zu bezahlen. Das habe ich ihr auch erklärt, als wir vorigen Mittwoch die Bahn abgefahren sind, und sie sagte, sie verstehe, aber als ich sie gestern nach der Explosion noch mal darauf ansprach, als sie mit all den anderen hier war, meinte sie, ich solle sie zu einem solchen Zeitpunkt doch damit verschonen. «Er seufzte schwer.»Das ist ja alles gut und schön, aber wir haben seit über zwei Monaten kein Gehalt mehr gesehen.«

«Wer bezahlt das Rennbahnpersonal?«fragte ich.

«Ich. Lord Stratton hat das so geregelt. Zu Keiths Mißfallen. Er meint, das sei eine Einladung zum Betrug. Da schließt er natürlich von sich auf andere. Jedenfalls sind die einzigen Gehaltsschecks, die ich nicht zeichnen darf, die von Oliver und mir.«

«Haben Sie sie schon ausgestellt?«

«Meine Sekretärin, ja.«»Dann geben Sie sie mir.«

«Ihnen?«

«Ich sehe zu, daß die alte Eule sie unterschreibt.«

Er fragte nicht weiter. Er zog eine Schreibtischlade auf, nahm einen Umschlag heraus und hielt ihn mir hin.

«Stecken Sie ihn in meine Jacke«, sagte ich.

Er sah auf das Gehgestell, schüttelte nachdenklich den Kopf und stopfte schließlich die Schecks in meine Jackentasche.

«Sind die Tribünen«, fragte ich,»ein Totalverlust?«

«Überzeugen Sie sich am besten selbst. Wohlgemerkt, man kommt nicht nah heran. Die Polizei hat alles abgeriegelt.«

Vom Bürofenster aus war wenig Schaden zu erkennen. Man sah die hintere Wand, das Dach und schräg von der Seite die offenen Sitzreihen.

«Ich möchte mir die Löcher lieber ohne Strattons ansehen.«

Roger grinste beinah.»Jeder von denen hat Angst, die anderen aus den Augen zu lassen.«

«So kommt es mir auch vor.«

«Ich nehme ja an, Sie wissen, daß Sie bluten.«

«Marjorie meinte, ich versaue ihr die Wand. «Ich nickte.»Es hat jetzt, glaub ich, aufgehört.«

«Aber. «Er verstummte.

«Ich laß mich noch mal überholen«, versprach ich.»Aber Gott weiß wann. Da muß man so lange warten.«

Er sagte zögernd:»Bei einem Arzt hier von der Bahn ginge es schneller. Wenn Sie wollen, frag ich ihn. Er ist sehr entgegenkommend.«

«Ja«, sagte ich knapp.

Roger griff zum Telefon und versicherte dem Arzt, daß die Rennen wie geplant am Montag stattfinden würden. Könnte er ihm bis dahin einen Gefallen tun und einen Verletzten zusammennähen? Wann? Am besten gleich. Vielen Dank.

«Dann kommen Sie mal«, sagte er beim Auflegen.»Können Sie noch gehen?«

Ich konnte noch und ging, wenn auch ziemlich langsam. Die Polizisten monierten, daß ich schon wieder verschwand. Nur für eine Stunde oder so, beschwichtigte sie Roger. Die Strattons waren nirgends zu sehen, aber ihre Wagen standen noch da. Roger lenkte seinen Jeep zum Haupteingang, und Mr. Harold Quest verzichtete darauf, uns mit seinen Obsessionen zu behelligen.

Der Arzt war derjenige, der die Gestürzten am Graben versorgt hatte, geschäftsmäßig und ruhig. Als er sah, was von ihm verlangt wurde, wollte er zuerst nicht.

«Allgemeinmediziner machen so was kaum noch«, erklärte er Roger.»Sie überweisen die Leute ins Krankenhaus. Da gehört er auch hin. Sich mit solchen Schmerzen herumzuschlagen ist lächerlich.«

«Sie kommen und gehen«, sagte ich.»Und wenn wir nun mitten in der Sahara wären?«

«Swindon ist nicht die Sahara.«

«Das ganze Leben ist eine Wüste.«

Er brummte vor sich hin und flickte mich mit etwas zusammen, das wie Klebeband aussah.

«Hab ich Sie nicht schon mal gesehen?«fragte er verwirrt, als er fertig war.

Ich verwies auf das Hindernis.

«Der Mann mit den Kindern!«Er schüttelte bedauernd den Kopf.»Grausig, was sie da mitansehen mußten.«

Roger dankte ihm für seine Dienste und ich ebenfalls. Der Arzt erzählte Roger, daß Rebecca Stratton sich bei der Rennsportbehörde über seine fachliche Kompetenz oder vielmehr Inkompetenz beklagt hatte. Jetzt verlangte man von ihm eine genaue Darlegung der Gründe, die ihn bewogen hatten, sich für ein Startverbot wegen Gehirnerschütterung auszusprechen.

«Sie ist ein Miststück«, sagte Roger mit Nachdruck.

Der Arzt sah unbehaglich zu mir her.

«Er ist in Ordnung«, versicherte ihm Roger.»Sprechen Sie sich ruhig aus.«

«Seit wann kennen Sie ihn denn?«

«Lange genug. Und es waren Strattons, die ihm die Wunden wieder aufgerissen haben.«

Wehe dem, dachte ich, der in irgendeiner Weise von den Strattons als Brotgeber abhängig war. Roger lebte wirklich am Rande eines Abgrunds — und wenn er seinen Job verlor, verlor er auch seine Wohnung.

Er fuhr uns vorsichtig zurück zur Rennbahn und unterließ es, sich über die Hand, mit der ich mir den Mund zuhielt, oder über meinen hängenden Kopf zu verbreiten: Wie ich mit meinen Problemen umging, war meine Sache. Ich entwickelte ein starkes Gefühl der Freundschaft und Dankbarkeit ihm gegenüber.

Der Rauschebart trat vor den Jeep. Ich hätte gern gewußt, ob er wirklich Quest hieß — die Suche, die Forderung — oder ob er sich den Namen ausgedacht hatte. Im Moment konnte man ihn schlecht danach fragen. Er verstellte uns die Einfahrt, und zu meiner Überraschung setzte Roger prompt zurück, wendete, und wir fuhren auf der Straße weiter.

«Mir ist gerade eingefallen«, meinte er bedächtig,»daß wir nicht nur ein Geplänkel mit diesem Irren vermeiden, wenn wir hintenrum fahren; Sie können sich dann ja auch in Ihrem Bus gleich umziehen.«

«Ich habe fast nichts mehr zum Wechseln.«

Er blickte zweifelnd zu mir herüber.»Meine Größe wird Ihnen kaum passen.«

«Nein. Es geht schon.«

Ich mußte wählen zwischen abgewetzten Arbeitsjeans und feinem Rennbahnzivil. Ich entschied mich für die Jeans und ein kariertes Holzfällerhemd und warf die blutgetränkten Sachen vom Morgen in einen Wäschekorb, der schon mit klatschnassem kleinerem Zeug vollgestopft war.

Die Jungen hatten sich und den Bus fertig gewaschen. Der Bus war jetzt definitiv sauberer. Die Jungen mußten wieder trocken sein, auch wenn sie nirgends zu sehen waren. Ich stieg langsam wieder aus und sah Roger um das Haus auf Rädern herumgehen, interessiert, aber zurückhaltend wie immer.

«Das war ursprünglich ein Fernreisebus«, sagte ich.»Ich habe ihn gekauft, als das Busunternehmen von seinem gemütlichen alten Fuhrpark auf moderne vollverglaste Panoramakutschen umgestiegen ist.«

«Wie… ich meine, wie halten Sie’s mit den Latrinen?«

Ich lächelte über den Soldatenausdruck.»Der Bus hat große Gepäckräume unterm Boden. Da habe ich Wasser-und Abwassertanks eingebaut. Und in jedem Landkreis fahren extra Tankwagen zum Entleeren abgelegener Gruben. Außerdem gibt es Werften. Das Entleeren ist kein Problem, wenn man weiß, wen man fragen muß.«

«Erstaunlich. «Er klopfte auf den blanken, kaffeebraunen Lack, und ich merkte, daß es wieder eine kurze Atempause für ihn war, bevor er sich endgültig der unangenehmen Gegenwart zuwandte.

Er seufzte.»Vielleicht sollten wir…«

Ich nickte.

Wir stiegen in den Jeep und kehrten zur Tribüne zurück, wo ich, auf die Gehhilfe gestützt, zum erstenmal objektiv die chaotische Zerstörung vom Tag zuvor betrachtete. Wir hielten uns vorsichtshalber hinter den Absperrbändern der Polizei, doch in dem Bau rührte sich nichts mehr.

Erster Gedanke: Unglaublich, daß Toby und ich aus dem Chaos lebend herausgekommen waren.

Das Gebäude war in der Mitte aufgeschlitzt, seine Innereien ergossen sich in einer monströsen Kaskade nach draußen. Der Waageraum, die Umkleideräume und Oliver Wells’ Büro, die aus dem Hauptkomplex vorsprangen, waren von der sich verteilenden Masse der eingestürzten oberen Etagen plattgedrückt worden. Die standhafte Tribünenfront mit den langen Sitzreihen aus Stahlbeton hatte dafür gesorgt, daß der gesamte Explosionsdruck nur in eine Richtung ging, in die weniger widerstandsfähige Stein-, Holz- und Putzkonstruktion der Speiseräume, der Bars und der Treppe.

Über dem dichtgepackten Schutt ragte eine Hohlsäule in die oberen Stockwerke empor wie ein Ausrufezeichen, gekrönt von ein paar übriggebliebenen Zackenfingern des Richternests, die zum Himmel zeigten.

Ich sagte leise, gedehnt:»Mein… Gott.«

Nach einiger Zeit fragte Roger:»Was halten Sie davon?«

«Vor allem«, sagte ich,»wüßte ich mal gern, wie zum Teufel Sie hier übermorgen Rennen veranstalten wollen.«

Er verdrehte genervt die Augen.»Es ist das Osterwochenende. Heute gibt es mehr Hochzeiten als an irgendeinem anderen Tag im Jahr. Am Montag Reitturniere, Hun-deschauen, was Sie wollen, landesweit. Ich habe gestern den ganzen Nachmittag versucht, Festzelte anzumieten. Irgendwelche Zelte. Aber jedes Stückchen Plane ist bereits vergeben. Wir decken natürlich diesen ganzen Teil der Tribüne ab und müssen alles und jedes zum Buchmacherring hin verlegen, aber bis jetzt hat man mir nur ein paar Container als Umkleidekabinen zugesagt, und es sieht so aus, als müßten wir im Freien wiegen, wie früher bei den Geländejagdrennen. Und was Ausschank und Verpflegung angeht. «Er zuckte hilflos die Achseln.»Wir haben den Gastrolieferanten gesagt, sie sollen nach ihrem Gutdünken verfahren, und sie meinten, sie seien ohnehin überfordert. Gott steh uns bei, wenn es regnet, dann arbeiten wir hier mit Schirmen.«

«Wo wollten Sie die Zelte aufstellen?«fragte ich.

«Auf dem Mitgliederparkplatz. «Er klang untröstlich.»Das Ostermontagsmeeting ist für uns der Dukatenesel der Saison. Wir können es nicht abblasen. Und sowohl Marjorie Binsham wie auch Conrad bestehen auf der Durchführung. Wir haben alle Trainer gebeten, uns ihre Tiere zu schicken. Die Ställe sind in Ordnung. Da geht noch alles nach Vorschrift, wir haben sechs Sicherheitsboxen und so weiter. Die Sattelboxen sind einwandfrei. Der Führring ist okay. Oliver kann mein Büro benutzen.«

Er wandte sich von der düsteren Betrachtung der Haupttribüne ab, und langsam machten wir uns auf den Weg zu seinem Arbeitsplatz. Er müsse telefonisch ein paar Schaltpläne durchgeben, sagte er.

Sein Büro war voll von Strattons. Conrad saß in Rogers Sessel hinter dem Schreibtisch. Conrad redete in Rogers Telefon, ganz Herr der Lage.

Conrad sagte gerade:»Ja, ich weiß, daß Sie meinem Verwalter gesagt haben, Sie hätten kein Zelt frei, aber hier spricht Lord Stratton persönlich, und ich ersuche Sie, uns ein geeignetes Zelt zu beschaffen und es morgen hier aufzubauen. Von mir aus schlagen Sie woanders eins ab, mir ist egal, woher Sie’s nehmen, aber bringen Sie eins her.«

Ich tippte Roger auf den Arm, bevor er etwas einwenden konnte, und bedeutete ihm, wieder mit hinauszugehen. Draußen, wo kein Stratton uns mehr beachtete, schlug ich vor, wir sollten zurück zum Bus fahren.

«Da haben wir auch Telefon«, erklärte ich.»Und man ist ungestört.«

«Haben Sie gehört, was Conrad gesagt hat?«

«Ja. Ob er es auf die Tour schafft?«

«Wenn ja, bin ich meinen Job los.«

«Fahren Sie uns zum Bus.«

Roger fuhr hin, und um mir die neuerliche Busbesteigung zu ersparen, sagte ich ihm, wo das Mobiltelefon stand und wo mein Adreßbuch lag, und bat ihn, mir beides nach draußen zu bringen. Als er wiederkam, schlug ich eine Nummer nach und rief sie an.

«Henry? Lee Morris. Wie geht’s?«

«Not am Mann? Was kaputt? Dach eingestürzt?«

«Du merkst aber auch alles.«

«Stimmt, Lee, aber mein Standardzirkuszelt hab ich als Reithalle an einen Ponyclub verpachtet. Kleine Mädchen mit Schutzhelmen. Die haben das fürs ganze Jahr.«

«Und das große, aufwendige?«

Ein ergebener Seufzer kam durch die Leitung. Henry, ein alter Freund, Altwarenhändler großen Stils, hatte von einem bankrotten Wanderzirkus zwei Hauptzelte übernommen, die er mir hin und wieder vermietete, wenn ich eine völlig abgetakelte Ruine vor dem Wetter schützen wollte.

Ich erklärte ihm, was benötigt wurde und weshalb, und ich erklärte Roger, wer sein Gesprächspartner war, dann stützte ich mich zufrieden auf das Gehgestell und ließ sie über Bodenfläche, Kosten und Transport reden. Als sie handelseinig wurden, sagte ich zu Roger:»Er soll sämtliche Flaggen mitliefern.«

Roger gab die Bitte verwirrt weiter und erhielt eine Antwort, die ihn zum Lachen brachte.»Ausgezeichnet«, sagte er,»ich rufe Sie zur Bestätigung noch mal an.«

Wir nahmen das Telefon und das Adreßbuch im Jeep mit und kehrten zum Büro zurück. Conrad brüllte dort zwar immer noch in den Hörer, doch nach der Ungeduld zu urteilen, die jetzt unter den übrigen Strattons herrschte, ohne Erfolg.

«Sie sind dran«, flüsterte ich Roger zu.»Sagen Sie, Sie hätten das Zelt gefunden.«

Es fiel ihm nicht leicht, sich mit fremden Federn zu schmücken, doch er hatte ein Einsehen. Die Strattons konnten aus Bosheit jeden Vorschlag meinerseits ablehnen, auch wenn es zu ihrem Vorteil war, darauf einzugehen.

Roger ging zu seinem Schreibtisch, als Conrad wütend den Hörer auf die Gabel knallte.

«Ich, ehm… ich habe ein Zelt aufgetrieben«, sagte er fest.

«Na, endlich!«meinte Conrad.

«Wo denn?«fragte Keith verärgert.

«Ein Mann in Hertfordshire hat eins. Er kann es morgen früh anliefern und schickt ein Team für die Montage mit.«

Conrad freute sich wider Willen und mochte es nicht zugeben.

«Allerdings«, fuhr Roger fort,»verleiht er dieses Zelt nicht kurzzeitig. Wir müßten es für mindestens ein Vierteljahr behalten. Aber«, setzte er eilig hinzu, da Unterbrechungen in der Luft lagen,»diese Bedingung wäre nur zu unserem Vorteil, denn die Tribüne dürfte noch viel länger außer Betrieb sein. Wir könnten das Zelt behalten, solange wir es brauchen. Es hat sogar einen festen Boden, verstellbare Trennwände und ist offenbar viel stabiler als ein normales Festzelt.«

«Zu teuer«, wandte Keith ein.

«Effektiv billiger«, sagte Roger,»als wenn wir für jeden Renntag extra Zelte aufstellen.«

Marjorie Binshams Blick schweifte an Roger und ihrer Familie vorbei und heftete sich auf mich.

«Hätten Sie einen Vorschlag?«fragte sie.

«Beachte ihn nicht«, beharrte Keith.

Ich sagte gleichmütig:»Alle vier Vorstandsmitglieder sind hier. Lassen Sie doch den Vorstand entscheiden.«

Ein rasch überspieltes Lächeln zuckte in Marjories Mundwinkeln. Dart grinste unverhohlen.

«Nennen Sie uns die Zahlen«, verlangte Marjorie von Roger, und er entnahm seinen Notizen die Maße und den Preis und setzte hinzu, daß die Versicherung für den Ausfall der Tribüne die Kosten ohne weiteres decke.

«Wer hat die Versicherung abgeschlossen?«fragte Marjorie.

«Lord Stratton und ich, über einen Makler.«

«Na schön«, sagte Marjorie energisch,»ich stelle den Antrag, daß der Colonel zu den vorgeschlagenen Bedingungen einen Mietvertrag für das Zelt abschließt. Und Ivan unterstützt den Antrag.«

Ivan, überrumpelt, sagte geistesabwesend:»Ich? Ah ja, richtig.«

«Conrad?«fragte Marjorie herausfordernd.

«Hm… ich wohl auch.«

«Angenommen«, sagte Marjorie.

«Ich bin dagegen«, zischte Keith.

«Wir haben deinen Einspruch gehört«, sagte Marjorie.»Colonel, bestellen Sie das Zelt.«

Roger suchte die Nummer aus meinem Adreßbuch und sprach mit Henry.

«Sehr gut, Colonel«, beglückwünschte ihn Marjorie, als alles arrangiert war.»Ohne Sie könnte der Betrieb gar nicht laufen.«

Conrad sah ernüchtert aus, Ivan verwirrt und Keith mordlustig.

Jack, Hannah und Dart als Nebenfiguren enthielten sich des Kommentars.

Das eingetretene Schweigen endete mit der Ankunft zweier Fahrzeuge: Eins brachte, wie sich herausstellte, zwei höhere Polizeibeamte und einen Sprengstoffexperten; dem anderen entstiegen Conrads Abbruchspezialist und ein Vertreter der Stadtverwaltung mit wuchtigem Schnauzbart.

Die Strattons strömten geschlossen ins Freie.

Roger wischte sich mit der Hand übers Gesicht und meinte, der Militärdienst in Nordirland sei weniger stressig gewesen.

«Glauben Sie, wir haben es mit einem irischen Anschlag zu tun?«fragte ich.

Er sah erschrocken aus, schüttelte aber den Kopf.»Die Iren prahlen damit. Bis jetzt hat sich noch keiner auf die Brust geklopft. Und denken Sie dran, daß es kein Anschlag auf Personen war. Die irischen Bombenleger wollen Menschen verletzen.«

«Wer war es also?«»Die entscheidende Frage. Ich weiß es nicht. Und Sie brauchen mir nicht zu sagen, daß… vielleicht noch mehr kommt.«

«Wie steht’s mit der Bewachung?«

«Ich habe die Rennbahnarbeiter zwangsverpflichtet. «Er klopfte auf das Funksprechgerät an seinem Gürtel.»Alle halten ständig Kontakt mit meinem Vorarbeiter. Sobald ihnen was auffällt, meldet er es mir.«

Die soeben eingetroffenen Polizeibeamten kamen in das Büro und stellten sich als ein Chefinspektor und ein Detektivsergeant vor. Der dritte im Bunde, ein angespannter junger Mann, wurde namenlos und unbestimmt als Kampfmittel experte vorgestellt — jemand, der Bomben entschärft. Er stellte die meisten Fragen.

Ich antwortete ihm sachlich und beschrieb, wo die Sprengschnur gewesen war und wie sie ausgesehen hatte.

«Sie und Ihr kleiner Sohn wußten auf Anhieb, was es war?«

«Wir hatten schon mal welche gesehen.«

«Und wie dicht waren die Ladungen in den Wänden angebracht?«

«Im Abstand von etwa einem Meter. Manchmal auch weniger.«

«Und über einen wie großen Bereich?«

«Rings um die Wände des Treppenhauses auf mindestens zwei Etagen, vielleicht auch mehr.«

«Wir haben gehört, daß Sie vom Bau sind. Was meinen Sie, wie lange Sie selbst gebraucht hätten, um die Löcher für die Ladungen zu bohren?«

«Für eins? Zum Teil waren das Ziegelwände, zum Teil Wände aus künstlichen Steinen wie etwa Hüttenstein, und alle waren verputzt und gestrichen. Dicke, tragende Wände, aber nicht sehr hart. Man käme sogar ohne Schlagbohrer aus. Die Löcher müßten wahrscheinlich zwölf, dreizehn Zentimeter tief sein, zweieinhalb Zentimeter Durchmesser — mit Strom und einer starken Bohrkrone könnte ich vielleicht zwei in der Minute schaffen, wenn ich’s eilig hätte. «Ich schwieg.»Die Sprengschnur durch die Löcher zu führen und die Sprengmasse hineinzustopfen dauert natürlich länger. Ich habe mir sagen lassen, daß man sie sehr vorsichtig mit einem Stück Holz einbringen und zurechtdrücken muß, ohne daß es Funken gibt; zum Beispiel mit einem Besenstiel.«

«Wer hat Ihnen das gesagt?«

«Abbruchspezialisten.«

Der Chefinspektor fragte:»Woher wissen Sie so genau, daß die Wände aus Backstein und aus Schlackenstein bestanden? Wie konnten Sie das feststellen, wenn sie doch verputzt und gestrichen waren?«

Ich dachte zurück.»Unter den Bohrlöchern lag jeweils ein Häufchen Staub am Boden. Mal war es rötlicher Ziegelstaub, mal war es grauer.«

«Sie hatten Zeit, sich das anzusehen?«

«Ich erinnere mich daran. Eigentlich verriet der Staub mir nur, daß eine Menge Sprengstoff in den Wänden steckte.«

Der Spezialist sagte:»Haben Sie nachgesehen, wo der Schaltkreis herkam oder hinging?«

Ich schüttelte den Kopf.»Ich war auf der Suche nach meinem Sohn.«

«Und haben Sie um die Zeit sonst irgend jemanden in der Nähe der Tribüne gesehen?«

«Nein.«

Sie baten mich und Roger, mit ihnen bis zu der Absperrung zu kommen, damit wir dem Spezialisten erklären konnten, wo die Treppe und das Treppenhaus vor der Explosion gewesen waren. Der Sprengstoffexperte wollte dann offenbar mit Schutzanzug und Schutzhelm hineingehen und sich das Ganze von nahem besehen.»Lieber Sie als ich«, bemerkte ich dazu.

Sie stellten sich geduldig auf mein Schleichtempo ein. Als wir die Stelle erreichten, von wo aus der Schaden am besten zu sehen war, blickte der Bombenentschärfer zu den Zackenfingern des Richternests hoch und dann runter auf meine Gehhilfe. Er setzte seinen breitrandigen Schutzhelm auf und zeigte mir ein schiefes, selbstironisches Lächeln.

«Ich bin alt in meinem Beruf«, meinte er.

«Wie alt?«

«Achtundzwanzig.«

Ich sagte:»Auf einmal tut mir gar nichts mehr weh.«

Sein Lächeln wurde breiter.»Glück muß man haben.«

«Das wünsche ich Ihnen auch«, sagte ich.

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