Ungeachtet unserer Drohungen gegenüber Quest befanden sich an diesem Morgen hinter dem Bretterzaun nur noch zwei Konstabler im Einsatz, und beide mehr, um zu verhindern, daß Unbefugte den einsturzgefährdeten Bau betraten und sich verletzten, als um weiter nach Spuren zu suchen.
Soweit Roger und Oliver am vorangegangenen Nachmittag, während ich in London war, herausbekommen konnten, hatten die höheren Dienstgrade und der Bombenspezialist ihre Arbeit mit der Entdeckung und Restaurierung eines zersprengten Zifferblatts abgeschlossen und vage erklärt, die Ermittlungen würden» andernorts «weitergeführt.»Sie wissen nicht, wer es war«, folgerte Roger knapp.
Vor dem tristen und unschönen Trennzaun erhob sich jetzt ein aufblasbares, zum Springen und Turnen einladendes Dornröschenschloß mit Zuckerbäckertürmen und sogar einem Aufpasser in Gestalt des einzigen Montagearbeiters, den Henry zurückbehalten hatte.
Ivan hatte in einer Anwandlung von Großzügigkeit noch eine Ladung (kostenloser) Pflanzen vorbeigebracht, diesmal buschähnliche junge Bäume in Töpfen, die er zu beiden Seiten des Schlosses verteilte, so daß der Bretterzaun zu einem freundlicheren, fast schon schmückenden Teil des Gesamtbildes wurde.
Als Roger schließlich gegen halb zwölf mit uns nach Hause fuhr, fiel weder ihm noch mir noch Henry irgend etwas ein, das bis zum Nachmittag hätte verbessert werden müssen, wenn auch vieles, woran man nachher, vor dem nächsten Renntag, noch arbeiten konnte.
Die Jungens zogen sich unter nur mittlerem Gemecker saubere Sachen an. Ich verwandelte mich vom Bauarbeiter zum feinen Herrn und war so ungeschickt, den Stapel Tagebücher von Carteret, die auf dem Tisch an meinem Bett lagen, mit dem Gehstock zu Boden zu werfen. Edward hob sie mir freundlicherweise auf, hielt aber eines so unglücklich aufgeklappt, daß die Seiten halb aus der Spiralbindung rissen.»He, paß auf!«sagte ich und nahm es ihm ab.»Sonst werde ich erschossen.«
Ich konzentrierte mich darauf, das Heft so zu schließen, daß es nicht noch mehr Schaden litt, und von der aufgeschlagenen Seite sprang mich der Name an, nach dem ich im Zug vergeblich gefahndet hatte.
Wilson Yarrow.
«Wilson Yarrow«, hatte Carteret geschrieben,»dieses Vorbild, das man uns ständig um die Ohren schlägt, soll ein Betrüger sein!«
Der nächste Absatz brachte keine Erläuterung dazu, sondern beschränkte sich auf Anmerkungen zu einer Vorlesung über die Miniaturisierung des Raums.
Ich stöhnte.»Er soll ein Betrüger sein «brachte mich nicht weiter. Ich blätterte einige Seiten vor und kam zu folgendem:
Man munkelt, daß Wilson Yarrow den Epsilon-Preis voriges Jahr mit einem abgekupferten Plan gewonnen hat!
Rote Köpfe im Kollegium! Sie wollen nicht darüber reden, aber vielleicht hören wir ja von jetzt an weniger über den brillanten Wilson Yarrow.
Der Epsilon-Preis, ich erinnerte mich dunkel, war jährlich für den innovativsten Gebäudeentwurf eines höheren Semesters verliehen worden. Ich hatte ihn nicht gewonnen. Carteret auch nicht. Soweit ich wußte, hatte ich an der Ausschreibung nie teilgenommen.
Roger klopfte an die Bustür, steckte seinen Kopf herein und sagte:»Fertig?«, worauf Familie Morris in vollem Glanz zur Truppeninspektion nach draußen strömte.
«Sehr schön«, meinte er beifällig. Er nahm Rennprogramme, Clubausweise und Essensmarken aus einem Aktenkoffer und verteilte sie an uns.
«Ich will nicht zum Pferderennen«, sagte Toby plötzlich mit düsterem Gesicht.»Ich will hierbleiben und Fußball gucken.«
Roger überließ die Entscheidung mir.
«Okay«, sagte ich friedlich zu meinem Sohn.»Hol dir was zum Mittagessen, und wenn du es dir anders überlegst, kommst du nachher zum Büro.«
Tobys Sorgenmiene wich einem weniger bekümmerten Ausdruck.»Danke, Pa«, sagte er.
«Kommt er denn allein zurecht?«fragte Roger, als er mit uns anderen losfuhr, und Edward versicherte ihm:»Toby ist gern allein. Er versteckt sich oft vor uns.«
«Oder geht auf Fahrradtour«, sagte Christopher.
Rogers Gedanken wandten sich dem bevorstehenden Tag zu.»Wir haben alles getan, was in unserer Macht stand«, meinte er unsicher.
«Machen Sie sich nicht soviel Sorgen«, empfahl ich ihm.»Kennen Sie den Unterschied zwischen Anker und Anschlag?«
«Wovon in aller Welt reden Sie?«
«Ich prüfe eine Theorie.«
«Ist das ein Rätsel, Pa?«fragte Neil.
«Ja und nein. Aber rat nicht, es gibt keine Lösung dafür.«
Roger parkte den Jeep am Ende des Bürogebäudes, so daß er bereitstand, falls eine Fahrt um die Bahn erforderlich wurde. Die Jungs gingen zu zweien davon, Neil mit Christopher, Edward mit Alan, nachdem wir als Sammelpunkt nach dem ersten, dritten und fünften Rennen einen Platz in Büronähe vereinbart hatten.
Leute kamen: ein Bus mit Totopersonal, der Unfalldienst der Johanniter, das Einsatzkommando der Polizei für die Verkehrsregelung und die Verhütung von Handgreiflichkeiten im Buchmacherring, die Buchmacher mit ihren Seifenkisten und Schiefertafeln, die Kontrolleure, die Kartenverkäufer; dann die Jockeys, die Sponsoren, die Mitglieder der Rennleitung, die Trainer, die Strattons und schließlich die Rennbahnbesucher, die noch alle Wetten zu verlieren hatten.
Ich stand am Haupteingang, beobachtete die Gesichter und sah in beinah allen die Festtagsfreude, um die es uns gegangen war. Selbst das von Oliver bestellte Fernsehteam schien sichtlich beeindruckt: Die Kameras surrten im Zelt und außerhalb.
Mark fuhr mit dem Daimler bis an das Tor zum Sattelplatz, damit Marjorie nicht vom Parkplatz aus zu gehen brauchte. Sie sah mich weiter vorn stehen und winkte mich zu sich wie jemand, dem man selten den Gehorsam verweigert.
Wortlos sah sie zu, wie ich mit dem Stock an ihre Seite hinkte.
«Fähnchen«, meinte sie skeptisch.
«Schauen Sie doch die Gesichter.«
Wie ich es mir gedacht hatte, war sie angetan von den lächelnden Leuten, dem Geplapper, der summenden Erregung ringsum. Ein Rummelplatz mochte es sein, aber es war auch etwas, worüber man reden konnte, und es gab dem Pferderennen in Stratton Park ein positiveres Gesicht als eine in die Luft gejagte Tribüne.
Sie sagte:»Der Colonel hat uns Lunch versprochen…«
Ich wies ihr den Weg zum privaten Speiseraum der Strattons, wo der gleiche Butler und die gleiche Bedienung wie an jedem Renntag sie begrüßte, und offensichtlich fühlte sie sich sofort wohl. Sie betrachtete alles eingehend, vom Tisch, den der Gastroservice mitgebracht und mit Weißzeug und Silber gedeckt hatte, bis zu dem schimmernden Zeltdach mit seinem warmen indirekten Licht und den verborgenen Lüftungsklappen.
«Conrad hat es mir erzählt«, sagte sie langsam.»Er sprach von einem Wunder. unserer Rettung durch ein Wunder. Er hat nicht gesagt, wie schön es ist. «Sie hielt schluckend inne, außerstande weiterzusprechen.
«Es gibt, glaub ich, Champagner für Sie«, sagte ich, und ihr Butler brachte bereits ein Glas auf einem Tablett und zog einen Stuhl für sie heraus — einen Klappstuhl aus Plastik eigentlich, aber wie alle zehn Stühle am Tisch verschönt durch einen geblümten, mit eleganten Schleifen befestigten Stoff.
Da das ganze Unternehmen schon als Erfolg zu werten war, wenn es Marjorie gefiel, hatten wir nichts ausgelassen, was zu ihrem Wohlbefinden beitragen konnte. Sie saß steif da und trank in kleinen Schlucken. Nach einer Weile sagte sie:»Nehmen Sie Platz, Lee. Das heißt, wenn Sie können.«
Ich setzte mich neben sie, denn inzwischen hielt ich das auch wieder aus, ohne direkt zusammenzufahren.
Lee. Nicht mehr Mr. Morris. Ein Fortschritt.
«Mrs. Binsham…«
«Sie können Marjorie zu mir sagen… wenn Sie wollen.«
Prächtiges altes Mädchen, dachte ich unerhört erleichtert.»Ihr Angebot ehrt mich«, sagte ich.
Sie nickte, als fände sie das auch.
«Vor zwei Tagen«, sagte sie,»hat meine Familie Sie schändlich behandelt. Mir fehlen fast die Worte dafür. Und dann tun Sie dies alles für uns. «Ihre Geste umschloß den Raum. »Warum haben Sie es getan?«
Nach einer Pause sagte ich:»Wahrscheinlich wissen Sie, warum. Sie sind vielleicht die einzige, die es weiß.«
Sie dachte nach.»Mein Bruder«, sagte sie,»hat mir einmal einen Brief gezeigt, den Sie ihm nach Madelines Tod geschrieben haben. Ihre Ausbildung sei durch sein Geld ermöglicht worden, schrieben Sie. Sie wollten sich bei ihm bedanken. Sie haben all das für ihn getan, nicht wahr? Um sich zu revanchieren?«
«Ich nehme es an.«
«Ja. Nun, er würde sich freuen.«
Sie setzte ihr Glas ab, öffnete ihre Handtasche, nahm ein kleines weißes Taschentuch heraus und putzte sich leise die Nase.»Er fehlt mir«, sagte sie. Sie schnüffelte ein wenig, steckte das Taschentuch weg und bemühte sich, fröhlich zu sein.
«Nun ja«, sagte sie.»Fähnchen. Zufriedene Gesichter. Ein herrlich sonniger Frühlingstag. Es scheint sogar, als ob die schrecklichen Leute vom Eingang nach Hause gefahren sind.«
«Ah«, sagte ich,»ich muß Ihnen etwas zeigen.«
Ich zog Harold Quests Geständnis aus meiner Tasche, gab es ihr und erklärte die Sache mit Henry und dem befremdlichen Hamburger.
Sie setzte eine Brille auf, las die Seite und legte dabei eine Hand auf ihr Herz, wie um es zu beruhigen.
«Keith«, sagte sie, als sie aufschaute.»Das ist Keiths Wagen.«
«Ja.«
«Haben Sie der Polizei eine Kopie davon gegeben?«
«Nein«, sagte ich.»Das ist übrigens auch eine Kopie. Das Original liegt im Büro des Colonels im Tresor. «Nach einer Pause redete ich weiter.»Ich glaube nicht, daß ich herausbekommen kann, wieviel Schulden Keith hat oder bei wem, aber ich habe mir überlegt, daß Sie so vielleicht auch schon ein ganz gutes Druckmittel gegen ihn in der Hand haben.«
Sie unterzog mich einer langen Musterung.
«Sie verstehen mich. «Sie hörte sich weder erfreut noch verärgert an, sondern überrascht und akzeptierend.
«Es hat eine Weile gedauert.«
Ein kleines Lächeln.»Sie kennen mich erst seit vorigem Mittwoch.«
Lange fünf Tage, dachte ich.
Eine Frau erschien am Eingang des Speiseraums, und hinter ihr, halb verdeckt, stand eine zweite, jüngere Frau.
«Entschuldigen Sie«, sagte sie,»es hieß, hier könnte ich Lee Morris finden.«
Ich erhob mich auf meine unspritzige Art.
«Ich bin Lee Morris«, sagte ich.
Sie war korpulent, um die sechzig, mit üppigem Busen, großen, freundlich blickenden Augen und kurzem, lockigem graublondem Haar. Sie trug eine Kombination in
Blau und Beige, dazu flache braune Schuhe und hatte einen vielfarbenen Seidenschal lässig um den Hals geknotet. Im Arm hielt sie eine große braune Handtasche, deren goldene Schulterkette lose herabbaumelte, und sie sah ganz so aus, als ob sie sich in ihrer Haut wohl fühlte: keine Unsicherheit, keine Verlegenheit.
Ihr Blick glitt flüchtig an mir vorbei und fiel auf Marjorie, und einen Moment lang war es ungewöhnlich still, war alles in der Schwebe zwischen den beiden Frauen. Ihre Augen waren gleich geweitet, ihre Münder in gleichem Erstaunen geöffnet. Mir ging blitzartig auf, daß sie beide wußten, wer die andere war, auch wenn sie es nicht offen zu erkennen gaben und sich keines Grußes würdigten.
«Ich möchte mit Ihnen reden«, sagte die Besucherin zu mir und wandte die Augen von Marjorie ab, blieb sich ihrer Gegenwart aber prickelnd bewußt.»Nicht hier, wenn es recht ist.«
Ich sagte zu Marjorie:»Würden Sie mich entschuldigen?«
Sie hätte nein sagen können. Wenn sie gewollt hätte, würde sie es getan haben. Sie warf einen schwer zu deutenden Blick auf die Besucherin und antwortete mir entschieden:»Ja. Unterhalten Sie sich nur.«
Die Besucherin trat hinaus in den großen Mittelgang des Hauptzeltes, und ich folgte ihr.
«Ich bin Perdita Faulds«, sagte sie, als wir draußen waren.»Und das«, sie machte einen Schritt nach rechts, um den Blick auf ihre Begleiterin freizugeben,»ist meine Tochter Penelope.«
Es war, als ob man zweimal rasch hintereinander von einem Hammer getroffen wird; keine Zeit, die erste Neuigkeit richtig aufzunehmen, bevor einen die zweite umhaut.
Penelope Faulds war blond, hochgewachsen, mit einem schlanken Hals und fast das Abbild von Amanda — der jungen Amanda, in die ich mich verliebt hatte, die wunderbare Neunzehnjährige mit den lächelnden grauen Augen, die unbekümmert und verfrüht die Ehe eingegangen war.
Ich war keine neunzehn mehr. Aber es verschlug mir den Atem, als wäre ich es noch. Ich sagte:»Schönen guten Tag«, und es klang lächerlich.
«Gibt es hier auch eine Bar?«fragte Mrs. Faulds und schaute sich um.»Draußen sagte jemand, Sie hätten hier eine.«
«Äh… ja«, sagte ich.»Hier drüben.«
Ich führte sie in einen der größten >Räume< des Zeltes, in die Club-Bar, wo einige frühe Gäste bei Sandwiches und Getränken an kleinen Tischen saßen.
Perdita Faulds übernahm mühelos das Ruder.»War das Champagner, was Mrs. Binsham getrunken hat? Ich denke, das wäre auch was für uns.«
Ein wenig verwirrt wandte ich mich zur Theke, um ihre Bestellung aufzugeben.
«Geht auf mich«, sagte sie und holte Geld aus ihrer Handtasche.»Drei Gläser.«
Penelope folgte mir zur Theke.»Ich trage die Gläser«, sagte sie.»Würden Sie die Flasche nehmen?«
Mein Puls ging schneller. Albern. Ich hatte sechs Söhne. Ich war zu alt.
Die Bedienung ließ den Korken knallen und kassierte. Mrs. Faulds schaute gutgelaunt zu, wie ich ihr den Schampus eingoß.
«Wissen Sie, wer ich bin?«fragte sie.
«Sie besitzen sieben Anteile an dieser Rennbahn.«
Sie nickte.»Und Sie acht. Von Ihrer Mutter. Ihre Mutter habe ich einmal recht gut gekannt.«
Ich hielt im Einschenken inne.»Ist das wahr?«
«Ja. Nun machen Sie mal. Ich habe Durst.«
Ich füllte ihr Glas, und sie trank es rasch leer.»Und wie gut«, fragte ich, als ich ihr nachgoß,»kennen Sie Marjorie Binsham?«
«Ich kenne sie nicht direkt. Wir haben vor Jahren einmal miteinander gesprochen. Ich weiß, wer sie ist. Sie weiß, wer ich bin. Das haben Sie gemerkt, hm?«
«Ja.«
Ich beobachtete Penelope. Ihre Haut sah glatt und verlockend aus in dem warmen, diffusen pfirsichfarbenen Licht. Ich wollte ihre Wange berühren, sie streicheln, sie küssen, wie damals bei Amanda. Um Gottes willen, ermahnte ich mich streng, reiß dich zusammen. Werd erwachsen, du Narr.
«Ich war noch nie hier«, sagte Mrs. Faulds.»Wir haben im Fernsehen einen Bericht über die durch Sprengstoff zerstörte Tribüne gesehen, nicht wahr, Pen? Da wurde ich ganz neugierig. Am Samstag stand es dann noch in der Zeitung, mit Ihrem Namen und allem, und es hieß, der Rennbetrieb ginge weiter wie geplant. Da stand, Sie seien auf der Tribüne gewesen, als sie hochging, und Sie seien ein Anteilseigner und zur Zeit im Krankenhaus. «Sie schaute auf den Gehstock.»Da lagen sie offensichtlich falsch. Jedenfalls habe ich hier im Sekretariat angerufen und gefragt, wo Sie sind, und man sagte mir, Sie seien heute hier, und ich dachte, es wäre doch schön, Sie als Madelines Sohn mal kennenzulernen nach all den Jahren. Also habe ich Pen erzählt, daß ich von früher noch Anteile an der Bahn besitze, und sie gefragt, ob sie mitkommen möchte, und hier sind wir.«
Ich dachte zerstreut, daß sie vieles weggelassen hatte, aber meine Aufmerksamkeit war weitgehend bei Penelope.
«Pen, Liebes«, sagte ihre Mutter freundlich.»Das ist sicher ziemlich langweilig für dich, wenn Mr. Morris und ich hier über die alten Zeiten plaudern, warum flitzt du nicht schon mal raus und schaust dir die Pferde an?«
Ich sagte:»So früh sind noch keine Pferde im Führring.«
«Zisch ab, Pen«, sagte ihre Mutter,»sei so lieb.«
Penelope zeigte ein ergebenes Verschwörerlächeln, trank ihr Glas aus und verschwand ohne zu murren.
«Sie ist ein Schatz«, sagte ihre Mutter.»Mein ein und alles. Ich war zweiundvierzig, als ich sie bekam.«
«Ehm… Glück gehabt«, murmelte ich.
Perdita Faulds lachte.»Bringe ich Sie in Verlegenheit? Pen sagt, mein Benehmen sei peinlich. Ich würde wildfremden Leuten Sachen erzählen, die ich überhaupt keinem erzählen sollte. Ehrlich gesagt, ich schockiere die Leute schon gern ein bißchen. Es laufen zu viele zugeknöpfte Flachköpfe herum. Aber Geheimnisse stehen auf einem anderen Blatt.«
«Was für Geheimnisse?«
«Welches Geheimnis möchten Sie denn kennen?«frotzelte sie.
«Wie Sie an die sieben Anteile gekommen sind«, sagte ich.
Sie setzte ihr Glas ab und betrachtete mich mit Augen, die plötzlich nicht nur gutmütig, sondern auch klug waren.
«Also, das nenne ich eine Frage!«Sie ging nicht direkt darauf ein. Sie sagte:»Vor ein paar Wochen schrieben die Zeitungen, daß die Strattons sich wegen der Zukunft der Rennbahn streiten.«
«Ja, das habe ich auch gelesen.«
«Sind Sie deswegen hier?«»Im Grunde schon.«
Sie sagte:»Ich bin hier aufgewachsen, wissen Sie. Nicht gerade auf der Rennbahn, aber auf dem Gut.«
Ich sagte verwirrt:»Aber die Strattons — mit Ausnahme Marjories — sagen, sie kennen Sie nicht.«
«Nein, Sie Dummerchen, das stimmt auch. Vor Jahren war mein Vater Lord Strattons Friseur.«
Sie lächelte über mein unverhohlenes Erstaunen.
«Sie finden nicht, daß ich aussehe wie die Tochter eines Haarschneiders?«
«Hm, nein, aber andererseits kenne ich auch keine Haarschneidertöchter.«
«Mein Vater hatte ein Cottage auf dem Gut gemietet«, erklärte sie,»und er besaß Läden in Swindon, in Oxford und Newbury, aber er fuhr immer selbst nach Stratton Hays, um Lord Stratton die Haare zu schneiden. Wir zogen um, bevor ich fünfzehn war, und wohnten in der Nähe des Ladens in Oxford, aber einmal im Monat fuhr mein Vater immer noch nach Stratton Hays.«
«Bitte erzählen Sie«, sagte ich.»Hat Lord Stratton Ihrem Vater die Anteile gegeben?«
Sie trank die helle Flüssigkeit im Glas aus. Ich schenkte ihr nach.
«Nein, so war das nicht. «Sie überlegte ein wenig, erzählte aber weiter.»Mein Vater starb und hinterließ mir das Friseurgeschäft. Na ja, bis dahin hatte ich das ganze Schönheitsfach gelernt, mit Diplom und allem. Lord Stratton kam eines Tages einfach mal so in den Oxforder Laden, als sein Weg ihn da vorbeiführte, denn es interessierte ihn, wie ich ohne meinen Vater zurechtkam, und dann blieb er und ließ sich die Nägel maniküren. «Sie lächelte. Sie trank. Ich fragte nicht weiter.
«Ihre Mutter kam immer zum Frisieren in den Laden in Swindon«, sagte sie.»Ich hätte ihr klarmachen können, daß sie Keith, das fiese Schwein, nicht heiraten darf, aber da war es schon passiert. Wie oft kam sie mit blauen Flek-ken im Gesicht zu uns und bat mich, ihr die Haare so zu kämmen, daß es nicht auffiel. Ich bin immer in eine getrennte Kabine mit ihr, und manchmal hat sie sich an mich geklammert und losgeheult. Wir waren ungefähr im gleichen Alter, verstehen Sie, und wir mochten uns.«
«Es freut mich, daß sie jemand hatte«, sagte ich.
«Komisch, wie es so geht, hm? Ich hätte nie gedacht, daß ich mal hier sitze und mit Ihnen rede.«
«Sie wissen über mich Bescheid?«
«Lord Stratton hat erzählt. Während der Maniküren.«
«Wie lange haben Sie… seine Hände gepflegt?«
«Bis er gestorben ist«, sagte sie einfach.»Aber natürlich änderten sich die Umstände. Ich lernte meinen Mann kennen und bekam Penelope, und William — Lord Stratton, versteht sich — wurde älter und konnte nicht… na ja, aber er ließ sich immer noch gern die Nägel schneiden, und wir haben uns unterhalten. Wie gute alte Freunde, verstehen Sie?«
Ich verstand.
«Er gab mir die Anteile um die gleiche Zeit, wie er sie Ihrer Mutter gab. Seine Anwälte sollten sie für mich verwahren. Sie könnten eines Tages was wert sein, meinte er. Es war keine große Sache. Nur ein Geschenk. Eine Liebesgabe. Besser als Geld. Geld wollte ich nicht von ihm. Das wußte er.«
«Ein Glückspilz«, sagte ich.
«Ach, wie lieb. Sie sind genauso nett wie Madeline.«
Ich fuhr mir mit der Hand übers Gesicht und wußte keine Antwort.
«Weiß Penelope«, fragte ich,»von Ihnen und Lord Strat-ton?«
«Pen ist doch noch ein Kind!«erwiderte sie.»Sie ist achtzehn. Natürlich weiß sie nichts davon. Ihr Vater auch nicht. Ich habe es nie jemand erzählt. Genau wie William… Lord Stratton. Er wollte seiner Frau nicht weh tun, und ich wollte auch nicht, daß er ihr weh tut.«
«Aber Marjorie ahnt es.«
Sie nickte.»Sie weiß es all die Jahre schon. Sie hat mich in Oxford im Geschäft besucht. Nach besonderer Vereinbarung. Ich glaube, sie wollte nur mal sehen, wie ich bin. Wir haben uns einfach ein bißchen unterhalten, über dies und jenes. Nachher hat sie darüber nie was verlauten lassen. Sie hat William geliebt, wie ich auch. Sie hätte ihn nie verraten. Hat sie jedenfalls nicht. Hat sie doch immer noch nicht, oder?«
«Nein.«
Nach einer Pause schaltete Perdita geistig um, schüttelte die Wehmut ab, ging zum geschäftlichen Teil über und sagte energisch:»Was fangen wir jetzt also mit Williams Rennbahn an?«
«Wenn das Gelände zur Erschließung verkauft wird, bekommen Sie einen hübschen kleinen Kapitalgewinn.«
«Wieviel?«
«Das können Sie so gut ausrechnen wie jeder andere. Siebzigtausend Pfund für jede Million, die das Land bringt, etwas mehr oder weniger.«
«Und Sie?«fragte sie frei heraus.»Würden Sie verkaufen?«
«Man kann nicht sagen, es wäre nicht verlockend. Keith drängt darauf. Er versucht sogar, die Leute von hier zu vergraulen, damit sich der Rennbahnbetrieb nicht mehr lohnt.«»Das bringt mich schon mal vom Verkaufen ab.«
Ich lächelte.»Mich auch.«
«Also?«
«Also sollten wir eine erstklassige neue Tribüne bauen lassen — und mit erstklassig meine ich nicht riesig, sondern klug angelegt, damit das Publikum herkommt —, denn dann werden unsere Anteile höhere Dividenden abwerfen als bisher.«
«Sie glauben also, daß das Pferderennen an sich Zukunft hat?«
«Es hält sich seit über dreihundert Jahren in England. Es hat Skandale und Betrugsaffären und alle möglichen Debakel überdauert. Pferde sind schön, und Wetten ist eine Sucht. Ich würde eine neue Tribüne bauen.«
«Sie sind ein Romantiker!«neckte sie.
«Ich bin nicht haushoch verschuldet«, sagte ich,»aber Keith vielleicht.«
«William hat mir gesagt, Keith sei die größte Enttäuschung seines Lebens.«
Ich sah sie nachdenklich an, und gut fünfzig Fragen gingen mir wie Lichtblitze durch den Kopf; doch bevor ich etwas Konstruktives daraus machen konnte, kam ein Rennbahnfunktionär zu mir und sagte, Colonel Gardner wünsche mich dringend im Büro zu sprechen.
«Gehen Sie nicht weg, ohne mir zu sagen, wo ich Sie finde«, bat ich Perdita Faulds.
«Ich bin den ganzen Nachmittag hier«, beruhigte sie mich.
«Falls wir uns verpassen, hier ist die Telefonnummer meines Geschäfts in Oxford. Darüber erreichen Sie mich. «Sie gab mir eine Visitenkarte.»Und wo finde ich Sie?«
Ich schrieb ihr die Nummer meines Mobiltelefons und die Nummer von dem Haus in Sussex auf die Rückseite einer zweiten Visitenkarte, und sie widmete sich zufrieden wieder ihrem Champagner, als ich ging, um zu erfahren, welche Krise über uns hereingebrochen war.
Es drehte sich im wesentlichen um Rebeccas Nerven. Sie lief vor dem Büro auf und ab und starrte mich böse an, als ich an ihr vorbeiging und durch die Tür trat, und noch nie war sie mir so labil vorgekommen.
Roger und Oliver waren drinnen, zähneknirschend und stocksauer.
«Sie werden es nicht glauben«, sagte Roger gepreßt, als er mich erblickte.»Wir haben all die üblichen Probleme — einen im Stall ertappten Dopingsünder, einen Kurzschluß an der Toto-Anzeige und im Buchmacherring jemand mit einem Herzanfall — und wir haben Rebecca, die einen Riesenrabatz veranstaltet, weil im Umkleidezelt für die Rennreiterinnen keine Bügel hängen.«
«Bügel?« sagte ich verständnislos.
«Bügel. Sie sagt, man kann doch nicht erwarten, daß sie ihre Kleider und ihren Dreß auf den Boden werfen. Wir haben ihr einen Tisch, eine Bank, einen Spiegel und eine Waschgelegenheit mit fließendem Wasser und Abfluß besorgt. Und sie stellt sich wegen Kleiderbügeln an.«
«Hm…«, sagte ich ratlos.»Wie wär’s mit einer Leine für die Kleider?«
Roger gab mir einen Schlüsselbund.»Könnten Sie vielleicht mit dem Jeep zu mir nach Hause fahren — da ist abgeschlossen, meine Frau steckt hier irgendwo, aber ich finde sie nicht — und ein paar Bügel holen? Nehmen Sie die Kleider runter. Es ist verrückt, aber wenn Sie so nett wären — ginge das? Halten Ihre Beine das aus?«
«Klar«, sagte ich erleichtert.»Ich dachte, es wäre was Ernstes, weshalb Sie mich gerufen haben.«»Sie reitet Conrads Pferd im ersten Rennen. Für ihn — und für uns alle — wäre es durchaus ernst, wenn sie vollkommen überschnappt.«
«Okay.«
Draußen war Dart vergeblich bemüht, seine Schwester zu beruhigen. Er gab es auf, als er mich sah, ging statt dessen mit mir zum Jeep und fragte mich, wo ich hin wollte. Als ich sagte, Kleiderbügel holen, glaubte er mir erst nicht, dann bot er mir seine Hilfe an, und so nahm ich ihn mit auf die Beschaffungstour.
«Sie klinkt manchmal aus«, sagte Dart, wie um Rebecca zu entschuldigen.
«Ja.«
«Es ist wohl schon ein Streß, wenn man täglich sein Leben riskiert.«
«Vielleicht sollte sie aufhören.«
«Sie läßt nur Dampf ab.«
Wir erleichterten einen ganzen Stoß von Rogers Kleidern um ihre Bügel und hielten auf der Rückfahrt am Bus, wo ich den Kopf zur Tür hineinsteckte und voll aufgedrehten Fußballärm ins Gesicht bekam.
«Toby«, schrie ich,»alles in Ordnung?«
«Ja, Papa. «Er stellte den Ton etwas leiser.»Papa, Stratton Park war im Fernsehen! Sie haben die Flaggen gezeigt und das Springschloß und alles. Nichts wie hin, sagten sie, die Rennen fingen erst an, das wäre ein idealer Ostermontagsausflug.«
«Toll«, sagte ich.»Willst du jetzt mit zum Sattelplatz?«
«Nein, danke.«
«Okay, bis nachher.«
Ich erzählte Dart von der Fernsehberichterstattung.»Das war Olivers Werk«, meinte er.»Ich habe gehört, wie er den Kameraleuten zugeredet hat. Ich muß sagen, er und Roger und Sie, ihr habt hier fabelhafte Arbeit geleistet.«
«Und Henry.«
«Vater meint, die Familie hat Ihnen Unrecht getan. Er meint, sie hätten nicht auf Keith hören sollen.«
«Gut.«
«Aber er macht sich Sorgen um Rebecca.«
Würde ich auch, dachte ich, wenn sie meine Tochter wäre.
Dart gab die Bügel seiner Schwester, die wortlos mit ihnen davonstolzierte. Außerdem brachte er, um mir den Weg zu ersparen, die Jeepschlüssel zurück ins Büro und erzählte Roger und Oliver, daß das Zelt in den Nachrichten gekommen war. Schließlich schlug er Bier und Sandwiches in der Bar vor, um sich dem Stratton-Lunch entziehen zu können.»Keith, Hannah, Jack und Imogen«, sagte er.»Igitt. «Dann:»Wußten Sie, daß die Polizei meine alte Blechschachtel zur Spurensicherung abgeholt hat?«
«Nein«, sagte ich und suchte in Darts Gesicht nach Anzeichen von Besorgnis, fand aber keine.»Wußte ich nicht.«
«Es ist verdammt ärgerlich«, sagte er.»Ich mußte mir einen Wagen mieten. Ich schicke euch die Rechnung, habe ich der Polizei gesagt, und die haben nur gefeixt. Dieser Bombentrara hängt mir zum Hals heraus. «Er grinste über meinen Spazierstock.»Ihnen sicher auch.«
Perdita Faulds hatte die Bar verlassen und war nirgends zu sehen, als wir hinkamen. Dart und ich tranken und aßen, und ich sagte ihm, daß ich einmal ein Rezept für ein Heilmittel gegen Haarverlust gelesen hätte.
Er sah mich mißtrauisch an.»Sie wollen mich auf den Arm nehmen.«»Nun«, gab ich zu bedenken,»immerhin heilt man ja auch Malaria mit abgeschälter Baumrinde und Blutvergiftungen mit einem Pilz, der auf Gelee wächst.«
«Chinin«, sagte er nickend,»und Penicillin.«
«Genau. Und dieses Haarwuchsmittel stammt von einem mexikanischen Medizinmann, aus einem Handbuch von 1552.«
«Ich versuche alles«, sagte er.
«Man zerstößt ein wenig Seifenkraut, kocht es in Hundeurin und gibt ein bis zwei Baumfrösche hinzu und ein paar Raupen.«
«Sie sind ein Scheißkerl«, sagte er bitter.
«So steht es in dem Buch.«
«Sie elender Lügner.«
«Die Azteken haben darauf geschworen.«
«Ich werde Sie Keith zum Fraß vorwerfen«, sagte er.»Und ich trample mit auf Ihnen rum.«
«Das Buch heißt Codex Barberini. Vor fünfhundert Jahren war das ganz ernst gemeinte Medizin.«
«Und was ist Seifenkraut?«
«Ich weiß es nicht.«
«Mich wundert«, meinte er nachdenklich,»ob das wirkt.«
Wir lehnten vor dem ersten Rennen an der Umzäunung des Führrings, Dart und ich, und schauten zu, wie seine Eltern, Conrad und Victoria, in einer besorgten kleinen Gruppe mit dem Trainer ihres Pferdes und mit Rebecca, ihrer als Jockey antretenden Tochter, sprachen. Andere kleine Gruppen beäugten ähnlich sorgenvoll ihre gelassen um sie herum stolzierenden Vierbeiner und verbargen ihre wilden Hoffnungen hinter vorsichtig taxierenden Worten.
«Das letzte Mal hat er gesiegt«, taxierte Dart vorsichtig vom Rand aus.»Sie kann schon gut reiten, die Rebecca.«
«Muß sie auch, um auf der Liste so weit nach oben zu kommen.«
«Sie ist zwei Jahre jünger als ich, und ich kann mich nicht erinnern, daß sie mal nicht in Ponys vernarrt war. Mich hat mal eins getreten, und das hat mir gereicht, besten Dank, aber Rebecca…«, in seiner Stimme lag die vertraute Mischung von Ärger und Respekt,»die hat sich die Knochen gebrochen, als wären es Fingernägel. Ich kann mir nicht vorstellen, jemals auf irgend etwas so versessen zu sein wie sie aufs Siegen.«
«Ich glaube«, sagte ich,»so sind alle Erfolgstypen, wenigstens eine Zeitlang.«
Er drehte den Kopf und schätzte mich ab.»Sie auch?«
«Leider nein.«
«Ich auch nicht.«
«Deswegen stehen wir hier«, sagte ich,»und schauen Ihrer Schwester zu.«
Dart sagte:»Sie sehen immer so verdammt klar.«
Das Signal zum Aufsitzen der Jockeys kam. Rebecca in den auffallenden Stratton-Farben, grüne und blaue Karos am Körper, schlecht dazu passende Ärmel und Kappe in Orange und Rot, schwang ihre dünne, geschmeidige Gestalt in den Sattel und landete leicht wie Distelwolle. Die durch das belanglose Fehlen der Kleiderbügel hochgetriebene Anspannung war verschwunden: Rebecca wirkte ruhig, konzentriert, ein Star auf ihrer Bühne, ganz Herrin der Lage.
Dart war die Ambivalenz seiner Gefühle anzumerken, während er sie beobachtete; die Schwester, die ihn mit ihrem Wagemut und ihrem Können in den Schatten stellte, die er bewunderte und beneidete, die er verstand, aber nicht lieben konnte.
Conrads Starter, Tempestexi, ein Fuchswallach, hatte im Vergleich mit einigen anderen im Ring einen eher langen Rücken und kurze Beine. Das 2-Meilen-Hürdenrennen war laut Programm für Pferde bestimmt, die bis zum 1. Januar noch kein Hürdenrennen gewonnen hatten. Tempe-stexi, der seither eins gewonnen hatte, mußte dafür sieben Pfund Aufgewicht tragen, trat aber dennoch als Favorit an.
Ich fragte Dart, wie viele Pferde sein Vater im Training habe, und er meinte, es seien fünf, wenn auch die Zahl ihren Beinen entsprechend ein wenig schwanke.
«Sehnen«, erläuterte er knapp.»Pferdesehnen sind empfindlich wie Violinsaiten. Tempestexi ist derzeit Vaters galoppierende Hoffnung. Bisher keine wehen Beine.«
«Wettet Conrad?«
«Nein. Mutter schon. Und Keith. Der hätte jetzt sein Haus gesetzt, wenn es ihm gehörte — das Wittibhaus, meine ich. Er wird alles gesetzt haben, was er kriegen konnte. Wenn Rebecca nicht gewinnt, bringt Keith sie um.«
«Das nützt doch dann nichts.«
Dart lachte.»Gerade Sie sollten wissen, daß der Instinkt bei Keith keiner Vernunft zugänglich ist.«
Die Pferde strömten vom Führring auf die Bahn hinaus, und Dart und ich gingen, um uns das Rennen von der Behelfstribüne anzuschauen, die Henry aus den Zirkussitzen zusammengezimmert hatte.
Die Reihen waren so vollgepackt, daß ich hoffte, Henrys große Töne von der hundertprozentigen Sicherheit würden sich als wahr erweisen. Die Leute waren im Laufe der letzten Stunde wirklich wie ein Fluß zum Tor hereinge-rauscht und hatten sich zu Tausenden plappernd über den Asphalt, ins Hauptzelt und in die Buchmacherringe ergossen. Die Speiseräume waren voll, die Gäste warteten. In allen Bars herrschte Gedränge, an den Wettschaltern wuchsen die Schlangen, und an den Kassen gab es keine Rennprogramme mehr. Der große Kopierer im Büro produzierte am laufenden Band Nachschub und glühte fast durch. Oliver, den ich kurz sah, schwitzte vor Begeisterung.
«Das liegt am Fernsehen«, sagte er keuchend.
«Ja, das haben Sie gut hingekriegt.«
Während wir auf den Start warteten, sagte ich zu Dart:»Perdita Faulds ist hier auf der Rennbahn.«
«So? Und wer ist das?«
«Die andere außerstrattonische Gesellschafterin.«
Er zeigte wenig Interesse.»Hat sie nicht neulich bei der Vorstandssitzung jemand erwähnt? Weshalb ist sie gekommen?«
«Wie ich auch, um zu sehen, was aus ihrer Anlage wird.«
Dart ging darauf nicht mehr ein.»Ab!«sagte er.»Jetzt aber los, Rebecca!«
Von der Tribüne sah es nach einem ereignislosen Rennen aus, wenn auch bestimmt nicht vom Sattel. Die Starter blieben in der ersten Runde dicht beisammen, klapperten sicher über die Hürden, fegten als versetztes Band zum erstenmal am Zielpfosten vorbei und gingen in Runde zwei.
Auf der Gegengeraden fielen die Schwächeren, die weniger Schnellen zurück, so daß Rebecca im Schlußbogen an dritter Stelle lag. Daß Dart seiner Schwester ehrlich den Sieg wünschte, stand außer Zweifel. Er machte schubsende, anfeuernde Bewegungen mit dem ganzen Körper, und als sie vor der letzten Hürde in die zweite Position ging, hob er die Stimme wie alle anderen und rief ihr zu, sie solle gewinnen.
Sie gewann. Sie siegte mit knapp einer Länge, ein schmaler, schneller werdender Strahl von klarer und rhythmischer Kraft, gegen einen Kontrahenten, der Ellbogen und Peitsche schwang und die Führung doch nicht halten konnte.
Das Publikum jubelte ihr zu. Dart strahlte im Abglanz des Ruhms. Alle strömten hinunter zum Absattelplatz für den Sieger, wo Dart sich an einer Kuß- und Glückwunschorgie mit seinen Eltern und Marjorie beteiligte. Rebecca nahm den Sattel ab, ignorierte den Überschwang und verschwand zielbewußt zum Zurückwiegen im Waageraumcontainer.
Sehr professionell, ziemlich distanziert; befangen in ihrer eigenen Welt des Risikos, der Leistung, des Glaubens und — diesmal — des Erfolgs.
Ich ging zur Bürotür hinüber, wo vier Jungen sich brav zum Rapport eingefunden hatten.
«Habt ihr was zu Mittag gegessen?«fragte ich.
Sie nickten.»Gut, daß wir zeitig hingegangen sind. Etwas später war kein Tisch mehr frei.«
«Rebecca Stratton hat gerade gewonnen, habt ihr gesehen?«
Christopher sagte vorwurfsvoll:»Wir wollten bei dir auf sie wetten, obwohl sie uns Gören genannt hat, aber wir konnten dich nicht finden.«
Ich überlegte.»Ihr bekommt von mir, was die Wettschalter für den Mindesteinsatz zahlen.«
Vier fröhliche Gesichter grinsten mich an.»Verspielt es nicht«, sagte ich.
Perdita Faulds und Penelope, die vorbeikamen, blieben neben mir stehen, und ich stellte ihnen die Kinder vor.
«Alles Ihre?«fragte Perdita.»So alt sehen Sie gar nicht aus.«
«Hab jung angefangen.«
Die Jungen starrten Penelope mit großen Augen an.
«Was ist los?«fragte sie.»Habe ich Schmutz an der Nase?«
«Nein«, sagte Alan frei heraus,»du siehst aus wie Ma-mi.«
«Wie eure Mutter?«
Sie nickten alle und entführten sie gleich, als wäre es ganz natürlich, um sich vor dem nächsten Rennen mit ihr die herumgehenden Pferde anzusehen.
«Meine Pen gleicht Ihrer Frau?«sagte Perdita.
Ich zwang mich, nicht mehr hinterherzuschauen. Mein Herz klopfte. Idiotisch.
«Wie sie damals war«, sagte ich.
«Und jetzt?«
Ich schluckte.»Ja, auch wie sie jetzt ist.«
Perdita warf mir einen wissenden, von langer Erfahrung getragenen Blick zu.»Man kann die Uhr nicht zurückdrehen«, sagte sie.
Ich würde es wieder tun, dachte ich hilflos. Ich würde mit den Augen heiraten und mich wundern, eine Unbekannte in der Verpackung vorzufinden. Wurde man nie erwachsen?
Ich riß meine Gedanken davon los und sagte zu Perdita:»Hat Lord Stratton vielleicht gewußt — und Ihnen erzählt —, wie es Forsyth Stratton gelungen ist, die ganze Familie gegen sich aufzubringen?«
Ihre vollen Lippen formten ein O der belustigten Überraschung.
«Sie fackeln nicht lange, was? Warum sollte ich Ihnen das sagen?«
«Weil wir, wenn wir seine Rennbahn retten wollen, erkennen müssen, nach welchen Regeln die Familie funktioniert. Jeder weiß hier etwas über jeden, das er als Drohmit-tel einsetzt. Sie erpressen sich alle gegenseitig, damit getan — oder unterlassen — wird, was sie wollen.«
Perdita nickte.
«Und in dem Zusammenhang«, sagte ich,»zahlen sie auch Schweigegeld an Dritte, damit der Name Stratton sauber bleibt.«
«Ja, auch das.«
«Angefangen bei meiner Mutter«, sagte ich.
«Nein, vorher schon.«
«Sie wissen also Bescheid!«
«William hat gern geredet«, erwiderte sie.»Ich sagte es Ihnen.«
«Und… Forsyth?«
Penelope und die Jungen waren wieder im Anmarsch. Perdita sagte:»Wenn Sie mich morgen früh in meiner Filiale in Swindon besuchen, erzähle ich Ihnen von Forsyth… und falls Sie auf die entsprechenden Fragen kommen, auch von den anderen.«