Dart fuhr mich nach Stratton Hays. Von unterwegs rief ich über mein Funktelefon (hörte jemand mit?) bei Marjorie zu Hause an, und sie machte aus ihrem Unmut keinen Hehl.
«Sie waren nicht auf der Versammlung!«
«Nein. Tut mir sehr leid.«
«Das war ein Schlag ins Wasser«, sagte sie verärgert.»Zeitverschwendung. Keith hat fortwährend herumgebrüllt, und wir kamen zu nichts. Die Kasseneinnahmen konnte er zwar nicht wegreden, die waren ausgezeichnet, aber er will unbedingt verkaufen. Können Sie wirklich nicht in Erfahrung bringen, wieviel Schulden er hat?«
«Weiß es Imogen?«fragte ich.
«Imogen?«
«Wüßte sie irgendwas über die Angelegenheiten ihres Mannes zu erzählen, wenn ich sie sturzbetrunken mache?«
«Sie sollten sich schämen!«
«Wahrscheinlich.«
«Ich wünschte, sie wüßte was. Aber versuchen Sie es nicht, denn wenn Keith Sie dabei erwischt…«Sie schwieg und sagte dann ohne Nachdruck:»Nehmen Sie seine Drohungen ernst?«
«Das muß ich.«
«Haben Sie an einen möglichen. Rückzug gedacht?«
«Ja, schon. Sind Sie beschäftigt? Ich muß Ihnen etwas erzählen.«
Sie sagte, wenn ich ihr eine Stunde gäbe, könne ich sie zu Hause besuchen, und damit war ich einverstanden. Dart und ich fuhren weiter nach Stratton Hays, wo er an der gleichen Stelle parkte wie bei meinem ersten Besuch und wie üblich den Schlüssel in der Zündung stecken ließ.
Der große elegante Bau, erfüllt von vergessenen Leben und stillen Geistern, stand friedlich im schattengesprenkelten Sonnenlicht, ein Haus für Hunderte, bewohnt von einem.
«Und jetzt?«sagte der eine, Darlington Stratton, fünfter Baron in spe.
«Wir haben fast eine Stunde. Können wir uns den Nordflügel ansehen?«
«Das ist doch eine Ruine. Ich sagte es Ihnen.«
«Ruinen sind mein Metier.«
«Hatte ich vergessen. Also gut. «Er schloß die Hintertür auf und führte mich wieder durch die geräumige Eingangshalle ohne Vorhänge, ohne Möbel, und einen breiten, durch Fenster erhellten Flur entlang, der Ausmaße wie eine Gemäldegalerie hatte, nur daß die Wände kahl waren. Am Ende des Ganges kamen wir zu einer massiven Tür, glatt, unlackiert und modern, mit Riegeln verschlossen. Dart schlug sich mit den Riegeln herum, öffnete die knarrende Tür, und wir betraten die Art von verwahrlostem Terrain, auf die ich geeicht war: morsches Holz, Massen von Schutt, sprießende junge Bäume.
«Das Dach wurde vor gut sechzig Jahren entfernt«, sagte Dart gedrückt und sah zum Himmel hoch.»So viele Jahre Regen und Schnee… das Obergeschoß ist einfach verrottet und eingestürzt. Großvater hat sich an die Nationalstiftung und den Kulturschutz gewandt… die sagten wohl, da gäbe es nur eins: den Flügel abreißen und den Rest erhalten. «Er seufzte.»Großvater mochte keine Veränderungen. Er ließ einfach die Zeit hingehen, und nichts geschah.«
Ich kletterte mit Mühe über einige Meter verwitterter grauer Balken und blickte auf eine weite, unwirtliche Landschaft, flankiert von hohen, noch aufrechten, aber nicht mehr stabilen Wänden.
«Seien Sie bloß vorsichtig«, warnte Dart.»Ohne Schutzhelm soll hier niemand rein.«
Der Ort versetzte mich nicht in kreative Erregung, weckte nicht den Wunsch in mir, ihn zu erneuern. Das einzige, was er mit seinen majestätischen Proportionen, in seinem unwürdigen Tod noch hergab, war eine Atempause, ein sinnfälliges, zu Ruhe und Geduld mahnendes Bild der Vergänglichkeit, ein Eindruck von der Zuversicht und dem Fleiß, die hier vor vierhundert Jahren geplant, gewirkt, gewaltet hatten.
«Okay«, sagte ich, drehte mich um und stieß am Eingang wieder zu Dart.»Danke.«
«Was halten Sie davon?«
«Ihr Großvater war gut beraten.«
«Ich hatte es befürchtet.«
Er verriegelte die schwere Tür wieder, und wir kehrten durch die große Halle zum hinteren Eingang zurück.
«Kann ich mir bei Ihnen mal die Hände waschen?«fragte ich.
«Klar.«
Wir gingen an der Tür vorbei, um zu seiner Wohnung im Erdgeschoß des Südflügels zu kommen.
Hier war der Lebensgeist ungebrochen und Gemütlichkeit gefragt, davon zeugten Teppiche, Vorhänge, antike Möbel und der Geruch nach frischer Politur. Er führte mich zur Tür seines Badezimmers, eine Kombination von alt und modern, ein umgebautes Wohnzimmer vielleicht, mit einer großen, freistehenden viktorianischen Badewanne und zwei neu aussehenden Waschbecken, eingelassen in eine Marmorplatte. Auf der Ablage standen Flaschen mit Shampoo und Haarkur und Schlangenöl jeder Art.
Nach einem verständnisvollen Blick darauf ging ich zum Fenster, das mit einer Spitzengardine verhangen war, und schaute hinaus. Drüben links stand Darts Wagen in der Auffahrt. Geradeaus Rasen und Bäume. Rechts ein offener Garten.
«Was ist?«sagte er, als ich stehenblieb. Da ich mich noch immer nicht rührte, kam er nach einem Augenblick herein und stellte sich neben mich, um zu sehen, wo ich hinschaute.
Er kam, und er sah. Er richtete die Augen suchend auf mein Gesicht und las meine Gedanken ohne Mühe.
«Scheiße«, sagte er.
Ein passendes Wort für Bad und Toilette. Ich sagte jedoch nichts, sondern ging wieder nach draußen.
«Wie sind Sie darauf gekommen?«fragte Dart, der mir folgte.
«Ich hab’s mir gedacht.«
«Und jetzt?«
«Fahren wir zu Marjorie.«
«Ich meine. was wird mit mir?«
«Ach, gar nichts«, sagte ich.»Das habe ich nicht zu entscheiden.«
«Aber.«
«Sie waren im Bad bei der Haarpflege«, sagte ich.»Und durch das Fenster haben Sie gesehen, wer am Karfreitagmorgen Ihren Wagen benutzt hat. Niemand wird Sie fol-tern, um dahinterzukommen. Bleiben Sie einfach dabei, daß Sie nichts gesehen haben.«
«Wissen Sie… wer es war?«
Ich lächelte ein wenig.»Fahren wir zu Marjorie.«
«Lee.«
«Kommen Sie mit und hören Sie zu.«
Dart fuhr uns zu Marjories Haus, einem unverfälscht georgianischen, wie sich herausstellte, so sauber und gepflegt wie sie selbst. Quadratisch stand es auf unkrautfreiem Grund am Ortsausgang von Stratton, mit gleichmäßigen Schiebefensterreihen, zentraler Vordertür und einer kreisförmigen Auffahrt hinter urnenbestückten Torpfosten.
Dart parkte bei der Haustür und ließ wie üblich den Schlüssel stecken.
«Schließen Sie denn nie ab?«fragte ich.
«Wozu? Ich hätte nichts dagegen, wenn ich mir einen neuen Wagen zulegen müßte.«
«Kaufen Sie sich doch einfach einen.«
«Irgendwann«, sagte er.
«Wie Ihr Großvater.«
«Was? Ach ja. Ein bißchen gleiche ich ihm wohl schon. Irgendwann. Vielleicht.«
Marjories Haustür wurde uns von einem Butler geöffnet (»Sie lebt in der Vergangenheit«, flüsterte Dart), der uns freundlich durch eine Halle in ihr Wohnzimmer führte. Wie erwartet, makelloser Geschmack dort im Land der stillstehenden Zeit, eine Palette zarter Farben mit Altrosa, Grün und Gold. Die Fenster waren noch mit den Originalläden versehen, aber auch mit bodenlangen Vorhängen und kurzen Volants, und sie blickten auf einen sonnigen Frühlingsgarten.
Marjorie saß in einem breiten Sessel, der den Raum beherrschte, auch hier und jetzt die maßgebende Person. Sie trug wie öfter schon ein dunkelblaues Kleid mit weißem Kragen, puppenhaft und vornehm anzusehen, und verbarg einstweilen den harten Kern.
«Nehmt Platz«, befahl sie, und Dart und ich setzten uns zu ihr, ich auf ein kleines Sofa, Dart auf einen spinnenbei-nigen Stuhl — Hepplewhite wahrscheinlich.
«Es gäbe was zu erzählen«, begann sie.»Das sagten Sie doch, Lee.«
«Mhm«, sagte ich.»Sie hatten mich ja gebeten, zwei Dinge herauszufinden.«
«Und über Keiths Finanzen konnten Sie nichts erfahren«, sie nickte entschieden.»Das haben Sie mir schon gesagt.«
«Ja, aber… was Ihren anderen Auftrag angeht.«
«Reden Sie schon«, sagte sie, als ich innehielt.»Ich weiß doch Bescheid. Ich habe Sie gebeten herauszufinden, womit dieser verflixte Architekt Conrad unter Druck setzt, um seinen Tribünenneubau durchzubringen.«
Dart sah überrascht aus. »Auftrag?« fragte er.
«Ja, ja. «Seine Großtante war ungeduldig.»Lee und ich haben eine Abmachung getroffen. Mit Handschlag. Nicht wahr?«Sie drehte mir den Kopf zu.»Eine Abmachung, gegen die Sie nicht verstoßen wollten.«
«Ganz recht«, sagte ich.
«Tante Marjorie!«Dart war perplex.»Du hast Lee für dich arbeiten lassen?«
«Was ist denn dabei? Es dient letztlich dem Wohl der Familie. Wo sollen wir anfangen, wenn wir nicht die Fakten kennen?«
Die Vertreter der Weltpolitik konnten noch von ihr lernen, dachte ich bewundernd. Welch ein klarer Verstand unter dem welligen weißen Haar.»Bei meinen Ermittlungen«, sagte ich,»habe ich auch von Forsyth und den Rasenmähern erfahren.«
Dart schnappte nach Luft. Marjorie machte große Augen.
«Ebenso«, fuhr ich fort,»habe ich von Hannahs Fehltritt und seinen Folgen gehört.«
«Wovon reden Sie?«fragte mich Dart verwirrt.
Marjorie klärte ihn auf.»Hannah ist mit einem Zigeuner in die Büsche gegangen und hat sich schwängern lassen, das blöde Stück. Keith hat den Zigeuner angegriffen, der natürlich Geld verlangt hat. Mein Bruder hat ihn ausbezahlt.«
«Soll das heißen«, kombinierte Dart,»der Vater von Jack war ein Zigeuner?«
«Fast. Noch nicht mal ein richtiger. Ein nichtsnutziger Tramp«, sagte Marjorie.
«Ach du guter Gott«, sagte Dart schwach.
«Und daß du nie mehr davon sprichst«, verlangte Marjorie streng.»Hannah redet Jack ein, sein Vater sei ein ausländischer Adliger, der einen Skandal vermeiden mußte, um nicht sein Leben zu ruinieren.«
«Ja. «Darts Antwort kam leise.»Das hat Jack mir selbst erzählt.«
«Und den Glauben wollen wir ihm lassen. Ich hoffe, Lee«, sagte sie zu mir,»das war jetzt alles.«
Das Telefon auf dem Tischchen neben ihrem Sessel klingelte. Sie nahm den Hörer ab und hörte zu.
«Ja… wann? Dart ist hier. Lee auch. Ja. «Sie legte auf und sagte zu Dart:»Das war dein Vater. Er sagt, er ist auf dem Weg hierher. Er hört sich unglaublich wütend an. Was hast du getan?«»Ist Keith bei ihm?«Ich stieß die Frage hervor, und sie stürzte sich darauf.
«Sie haben Angst vor Keith!«
«Nicht ohne Grund.«
«Conrad sagt, Keith hat ihn gedrängt herzukommen, aber ich weiß nicht, ob Keith bei ihm ist oder nicht. Möchten Sie jetzt lieber gehen?«
Ja und nein. Ich dachte an Mord und Totschlag in ihrem friedlichen Wohnzimmer und hoffte, sie würde das nicht zulassen.
Ich sagte:»Ich habe ein Foto mitgebracht, das ich Ihnen zeigen wollte. Es liegt in Darts Wagen. Ich hole es eben.«
Ich stand auf und ging zur Tür.
«Daß Sie aber nicht davonfahren und mich hier sitzenlassen«, sagte Dart, nur halb im Scherz.
Die Versuchung war stark, aber wo sollte ich hin? Ich holte das Kuvert mit dem Foto aus dem Fach an der Tür, wo ich es deponiert hatte, und kehrte ins Wohnzimmer zurück.
Marjorie nahm das Foto und betrachtete es verständnislos.
«Was hat das zu bedeuten?«
«Ich erkläre es Ihnen«, sagte ich,»aber wenn Conrad kommt, warte ich, bis er da ist.«
Der Weg von Conrad zu Marjorie war kurz. Er kam sehr bald und zu meiner Erleichterung ohne Keith. Allerdings kam er bewaffnet mit einer Schrotflinte, des Gutsherren Freund. Er trug sie nicht aufgeklappt über dem Arm, wie man es sollte, sondern gespannt und schußbereit.
Er schob sich an dem Butler vorbei, der ihm die Tür geöffnet hatte und jetzt ein sehr förmliches» Lord Stratton, Madam «hinterherschickte, als Conrad mit langen Schrit-ten über den Chinateppich setzte, vor mir stehenblieb und den Doppellauf der Flinte auf mich richtete.
Ich stand auf. Knapp zwei Schritte lagen zwischen uns.
Er hielt die Waffe nicht in der Schulter wie beim Zielen auf Federwild, sondern in Taillenhöhe, lang vertraut mit Schüssen aus der Hüfte. Auf diese Entfernung konnte er keine Stechmücke verfehlen.
«Sie sind ein Lügner und ein Dieb. «Er knurrte vor Zorn, die Finger beängstigend fahrig im Bereich des Abzugs.
Ich bestritt den Vorwurf nicht. Ich schaute an ihm und seiner Flinte vorbei auf das Foto in Marjories Hand, und er folgte meinem Blick. Er erkannte das Bild, und seine Augen nahmen einen mörderischen Ausdruck an, der dem von Keith in nichts nachstand. Die Flintenläufe zielten genau auf meine Brust.
«Conrad«, sagte Marjorie scharf,»beruhige dich.«
«Beruhigen? Ich soll mich beruhigen? Dieser verachtungswürdige Mensch ist in meinen Geheimschrank eingebrochen und hat mich bestohlen.«
«Trotzdem erschießt du ihn nicht in meinem Haus.«
Es war schon irgendwie lustig, aber Komik und Tragik liegen immer sehr nah beieinander. Nicht einmal Dart lachte.
Ich sagte zu Conrad:»Ich bringe Sie von der Erpressung weg.«
«Was?«
«Wovon reden Sie?«wollte Marjorie wissen.
«Ich rede davon, daß Wilson Yarrow Conrad erpreßt, damit er ihm grünes Licht für den Tribünenneubau gibt.«
Marjorie rief:»Sie haben es also herausgefunden!«
«Ist die Waffe geladen?«fragte ich Conrad.
«Ja, natürlich.«
«Würden Sie sie dann… ehm, woandershin halten?«
Er stand wie festgemauert, stur, breitbeinig und rührte sich nicht.
«Vater!«protestierte Dart.
«Du hältst den Mund«, sagte sein Vater unwirsch.»Du hast ihm Beihilfe geleistet.«
Ich riskierte die Flucht nach vorn.»Wilson Yarrow hat Ihnen gesagt, wenn er den Auftrag für die Tribüne nicht bekäme, würde er dafür sorgen, daß Rebecca als Jockey von der Rennbahn verwiesen wird.«
Dart glotzte mich an. Marjorie sagte:»Das ist doch absurd.«
«Nein, keineswegs. Das Foto ist eine Aufnahme von Rebecca, wie sie auf einer Rennbahn von jemandem, der ein Buchmacher sein könnte, einen Batzen Geld entgegennimmt.«
Ich bemühte mich, wieder Speichel in meinen Mund zu bekommen. Noch nie hatte jemand im Zorn ein geladenes Gewehr auf mich gerichtet. Obwohl ich mich an die Überzeugung klammerte, daß Conrad sich im Gegensatz zu Keith beherrschen konnte, spürte ich den Schweiß auf der Stirn.
«Ich habe mir das Tonband angehört«, sagte ich.
«Sie haben es gestohlen.«
«Ja«, gab ich zu.»Ich habe es gestohlen. Es ist vernichtend.«
«Und jetzt wollen Sie mich erpressen. «Die Hand am Abzug straffte sich.
«Ach du lieber Gott, Conrad«, sagte ich fast ärgerlich.»Nehmen Sie Vernunft an. Ich will Sie nicht erpressen. Ich sorge dafür, daß auch Yarrow damit aufhört.«»Und wie?«
«Wenn Sie die verdammte Flinte runternehmen, sage ich es Ihnen.«
«Was für ein Tonband?«fragte Dart.
«Das Band aus meinem Schrank, das zu stehlen du ihm geholfen hast.«
Dart sah verständnislos drein.
«Dart hat nichts davon gewußt«, sagte ich.»Er saß in seinem Wagen.«
«Aber Keith hat doch Ihre Jacke durchsucht«, wandte Dart ein.
Ich griff in meine Hosentasche und holte die Kassette heraus. Conrad warf einen Blick darauf und versetzte mich weiter in Angst und Schrecken.
«Dieses Tonband«, erklärte ich Marjorie,»ist die Aufnahme eines Telefongesprächs, bei dem Rebecca Informationen über Pferde, die sie reiten soll, verkauft. Das ist das schwerste Vergehen im Rennsport. Diese Kassette und das Foto, an die Rennsportbehörde geschickt, wären das Ende ihrer Karriere. Sie bekäme Rennbahnverbot. Der Name Stratton wäre hin.«
«Das würde sie doch nicht machen«, jammerte Dart.
Conrad sagte, als schmerzten ihm die Worte auf der Zunge:»Sie hat es zugegeben.«
«Nein!«stöhnte Dart.
«Ich habe sie zur Rede gestellt«, sagte Conrad.»Ihr das Band vorgespielt. Sie kann so hart sein. Wie versteinert hat sie es sich angehört. Sie sagte, ich würde nicht zulassen, daß Yarrow es benutzt. «Conrad schluckte.»Und… sie hatte recht.«
«Legen Sie die Waffe weg«, sagte ich.
Er tat es nicht.
Ich warf das Band Dart zu, der es ungeschickt auffing, es fallen ließ und wieder aufhob.
«Geben Sie es Marjorie«, sagte ich, und mit zusammengekniffenen Augen gehorchte er.
«Wenn Sie die Waffe entladen und gegen die Wand lehnen«, sagte ich zu Conrad,»erfahren Sie von mir, wie Sie Yarrow loswerden können, aber solange Sie die Hand am Abzug haben, nicht.«
«Conrad«, sagte Marjorie energisch,»du wirst ihn nicht erschießen. Also leg die Flinte weg, damit nicht aus Versehen was passiert.«
Gesegnete Leibwächterin. Conrad sah sich in die Realität zurückgeholt wie durch eine kalte Dusche und schaute unschlüssig auf seine Hände. Er hätte die Schußwaffe zweifellos weggelegt, wäre nicht Rebecca, die den Butler glatt überrannt hatte, in diesem Moment wie ein Wirbelwind hereingestürmt.
«Was geht hier vor?«fragte sie scharf.»Ich habe ein Recht darauf, das zu erfahren.«
Marjorie fixierte sie mit dem gewohnten Mißvergnügen.»Bedenkt man, was du getan hast, dann hast du überhaupt kein Recht.«
Rebecca sah auf das Foto von ihr selbst und die Kassette in Marjories Hand, auf die Schrotflinte in der Hand ihres Vaters und auf mich, den er bedrohte.
«Keith hat mir gesagt, daß dieser… dieser…«:, sie zeigte auf mich, da ihr die angemessen bösen Wörter fehlten,»daß er was gestohlen hat, was für mich Rennbahnverbot bedeutet.«
Ich sagte grimmig zu Conrad:»Das Band ist fingiert.«
Rebecca reagierte mit gesteigerter Wut. Während die übrige Familie noch zu verstehen versuchte, was ich gesagt hatte, entriß sie ihrem Vater die Flinte, zog sie in die Schulter ein, zielte kurz auf mich und drückte ohne Zögern auf den Abzug.
Ich sah die Absicht in ihren Augen, warf mich der Länge nach seitwärts auf den Teppich, blieb auf dem Bauch liegen und entging dem Schwall zischender Schrotkörner um Zentimeter, wobei ich wußte, es waren zwei Läufe, zwei Patronen, und keine Möglichkeit sah, einem Schuß in den Rücken auszuweichen.
Der Raum war noch erfüllt von dem donnernden Krachen, von Feuer und Rauch, von intensivem, beißendem Korditgeruch. Jesus, dachte ich. Allmächtiger Gott. Nicht Keith, sondern Rebecca.
Der zweite Schuß kam nicht. Ich klebte am Boden — es gab kein anderes Wort dafür. Immer noch der Geruch, der Widerhall, aber sonst… Stille.
Ich bewegte mich, drehte den Kopf, sah ihre Schuhe, ließ den Blick zu ihren Händen hinaufwandern.
Sie hielt nicht die Mündung des zweiten Laufs auf mich gerichtet.
Ihre Hände waren leer.
Die Augen langsam nach rechts… Conrad selbst hatte die Flinte.
Dart kniete sich neben meinem Kopf hin und sagte hilflos:»Lee.«
Ich sagte belegt:»Sie hat mich verfehlt.«
«Gott, Lee.«
Ich war außer Atem, aber ich konnte da nicht ewig bleiben. Ich setzte mich aufrecht; zum Auf stehen war ich zu mitgenommen.
Der Schuß hatte sie alle erschreckt, auch Rebecca.
Marjorie, sehr aufrecht, den Mund starr geöffnet, wie scheintot, sah kreidebleich aus. Conrads Augen starrten trüb auf ein allzu knapp vermiedenes Blutvergießen. Rebecca… konnte ich noch nicht ins Gesicht sehen.
«Sie wollte das nicht«, sagte Conrad.
Aber sie hatte es in der Tat gewollt, ohne Rücksicht auf Verluste.
Ich hustete krampfhaft. Ich sagte noch einmal:»Das Band ist fingiert. «Und diesmal versuchte keiner, mich dafür umzubringen.
Conrad sagte:»Ich verstehe nicht.«
Ich atmete langsam durch und bemühte mich, meinen hämmernden Puls zu beruhigen.
«Sie kann das nicht gemacht haben«, sagte ich.»Sie hat es nicht getan. Sie würde nicht die… innerste Bastion ihrer Persönlichkeit aufs Spiel setzen.«
Conrad sagte verwirrt:»Da komme ich nicht ganz mit.«
Endlich sah ich Rebecca an. Sie erwiderte den Blick mit hartem, ausdruckslosem Gesicht.
«Ich habe Sie reiten sehen«, sagte ich.»Da wachsen Sie über sich hinaus. Und neulich habe ich Sie sagen hören, Sie kämen dieses Jahr unter die ersten fünf auf der Jockeyliste. Sie haben das voll Eifer gesagt. Sie sind eine Stratton, Sie sind unendlich stolz, und Sie sind reich und auf das Geld nicht angewiesen. Niemals würden Sie billige Tips verkaufen, wenn Ihnen dafür ein solcher Ehrverlust droht.«
Rebeccas Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen unter den gesenkten Lidern, ihr Gesicht blieb starr.
«Aber sie hat doch zugegeben, daß es stimmt!«sagte Conrad wieder.
Ich sagte bedauernd:»Sie hat das Band selbst aufgenommen, um Sie unter Druck zu setzen, damit die Tribüne neu gebaut wird, und sie hat versucht mich zu erschießen, damit ich Ihnen nichts davon sage.«
«Rebecca!«Conrad konnte es nicht glauben.»Der Mann lügt. Sag mir, daß er lügt.«
Rebecca sagte nichts.
«Sie haben alle Anzeichen von unerträglicher Anspannung gezeigt«, sagte ich zu ihr.»Wahrscheinlich hielten Sie es zuerst für eine gute Idee, Ihren Vater glauben zu machen, es gebe eine Erpressung, der er sich fügen müsse, um Sie vor dem Rennbahnverbot zu bewahren; aber nachdem Sie es getan hatten und er sich wirklich hatte erpressen lassen, haben Sie es wohl doch bitter bereut. Aber das haben Sie ihm nicht gebeichtet. Sie haben Ihren drastischen, verbohrten Plan zur radikalen Modernisierung von Stratton Park weiter durchgezogen, und das zerrt seit Wochen jetzt an Ihren Nerven und bringt Sie… aus dem Gleichgewicht.«
«Die Kleiderbügel!«sagte Dart.
«Aber warum, Rebecca?«fragte Conrad flehend, zutiefst bestürzt.»Ich hätte doch alles für dich getan…«
«Sie wären vielleicht mit dem Bau einer neuen Tribüne nicht einverstanden gewesen«, sagte ich,»schon gar nicht nach Entwürfen von Wilson Yarrow. Und er war es doch wohl, der zu Ihnen gekommen ist und gesagt hat: >Ihre Tochter hat Dreck am Stecken, und wenn Sie ihr gutes Ansehen erhalten wollen, brauchen Sie mir nur diesen Auftrag zu geben.
Conrad antwortete nicht direkt, sondern entspannte seine Flinte und nahm mit fahrigen Fingern beide Patronen heraus, die verschossene, schwarz und leer, und die ungebrauchte, orange und glänzend. Er steckte sie beide in seine Tasche und lehnte das Gewehr an die Wand.
Im gleichen Moment klopfte es leise an der Tür. Conrad ging hin, um zu öffnen, und sah Marjories besorgten Butler vor sich.
«Nichts passiert«, versicherte ihm Conrad mit sonorer Stimme.»Die Flinte ist versehentlich losgegangen. Hat leider ein bißchen Dreck gegeben. Darum kümmern wir uns nachher.«
«Ja, mein Lord.«
Die Tür schloß sich. Jetzt erst fiel mir auf, daß die Schrotladung einen Spiegel an der Wand zertrümmert und Fetzen goldener Seide aus den Sesselbezügen gerissen hatte. Mehr als ungemütlich.
Ich griff nach dem Gehstock, den ich neben meinem Platz auf das schmale Sofa gelegt hatte, und mit seiner Hilfe stand ich auf.
«Sie müssen Keith etwas von Erpressung erzählt haben«, sagte ich zu Conrad.»Er hat das Wort im Zusammenhang mit Yarrow benutzt. Sie waren alle dabei.«
Conrad breitete hilflos die Hände.»Keith hat gedrängt und gedrängt, ich solle die Neubaupläne aufgeben, und ich sagte, das könnte ich nicht. «Er schwieg.»Aber wie haben Sie das alles herausbekommen?«
«Anhand von Kleinigkeiten«, sagte ich.»Ich war zum Beispiel auf derselben Bauschule wie Wilson Yarrow.«
«Bauschule!« rief Marjorie dazwischen.
«Ja. Als ich ihn sah… seinen Namen hörte… wußte ich, daß irgendwas mit ihm nicht stimmte. Da ich mich nur dunkel erinnern konnte, ging ich zu einem ehemaligen Mitstudenten, den ich zehn Jahre nicht gesehen hatte, und fragte ihn. Er hatte damals Tagebuch geführt und auch ein Gerücht aus der Zeit festgehalten, wonach Yarrow mit der Einreichung eines Bauplans, der gar nicht von ihm war, einen angesehenen Preis gewonnen hatte. Die Schule sprach ihm den Preis ab und vertuschte die ganze Angelegenheit ein wenig — aber das Stigma des Betrugs blieb trotzdem, und es dürfte einige hundert Architekten wie mich geben, die den Namen Yarrow mit etwas nicht ganz Koscherem verbinden. So etwas spricht sich in Fachkreisen herum und bleibt in Erinnerung — zumal denen, die ein besseres Gedächtnis haben als ich —, und aus der glänzenden Karriere, die man Yarrow einmal vorausgesagt hat, ist nichts geworden. Nur sein Name steht auf den Plänen, die er für Sie gezeichnet hat, also ist er wahrscheinlich nirgends angestellt. Es kann sogar sein, daß er überhaupt arbeitslos ist, und wir haben derzeit einen Architektenüberschuß, da die Schulen jedes Jahr mehr Kräfte ausbilden, als der Markt aufnehmen kann. Ich könnte mir vorstellen, daß er in dem Tribünenneubau für Stratton Park eine Möglichkeit sah, wieder Anerkennung zu finden. Ich nehme an, er wollte diesen Auftrag unbedingt.«
Sie alle, auch Rebecca, hörten gebannt zu.
Ich sagte:»Bevor ich überhaupt nach Stratton Park kam, hat Roger Gardner mir erzählt, daß da ein Architekt neue Tribünen entwirft, der weder vom Rennsport noch vom Massenverhalten etwas versteht, auf keinen Rat hört und die Rennbahn garantiert ins Verderben stürzt, aber daß Sie, Conrad, sich nicht von ihm abbringen lassen.«
Ich hielt inne. Niemand sagte etwas.
«Also«, fuhr ich fort,»habe ich letzten Mittwoch an Ihrer Hauptversammlung teilgenommen und Sie alle kennengelernt und Ihnen zugehört. Ich habe erfahren, was Sie im Hinblick auf die Rennbahn wollten. Marjorie wollte, daß alles so bleibt, wie es ist. Sie, Conrad, wollten eine neue Tribüne, eigentlich, um Rebecca vor dem Absturz zu bewahren, aber das wußte ich damals noch nicht. Keith wollte verkaufen, um zu Geld zu kommen. Rebecca wiederum wollte, wie sie sagte, reinen Tisch machen — neue Tribünen, neuer Verwalter, neuer Geschäftsführer, ein neues Image für die altmodische Stratton-Bahn. Marjorie hat die Versammlung auf eine Weise geleitet, daß die Supermächte vor Bewunderung auf die Knie gesunken wären, und hat Sie geschickt alle so gelenkt, wie sie es brauchte, um ihren Willen zu bekommen: daß Stratton Park in der absehbaren Zukunft weiterlaufen wird wie bisher.«
Dart warf seiner Großtante einen bewundernden Blick zu, in dem das Grinsen beinah durchschien.
Ich sagte:»Damit waren weder Rebecca noch Keith einverstanden. Keith hatte bereits den Schauspieler Harold Quest als Störenfried engagiert, der vor dem Haupteingang der Rennbahn gegen den Hindernissport demonstrieren sollte, um Besucher von Stratton Park fernzuhalten und der Rennbahn ihre Anziehung und ihre Einkünfte zu nehmen, damit sie als Geschäft bankrott geht und Sie gezwungen sind, ihren großen Aktivposten, das Land, zu verkaufen. Er hat Harold Quest auch veranlaßt, ein Hindernis niederzubrennen, die Hecke vor dem Graben — ein symbolischer Akt, da an diesem Hindernis bei der vorigen Veranstaltung ein Pferd tödlich verunglückt war —, doch der Plan schlug fehl, wie Sie wissen. Keith ist nicht besonders schlau. Rebecca dagegen…«
Ich zögerte. Einiges mußte noch offengelegt werden: Ich wünschte, jemand anders… irgend jemand anders… hätte es für mich getan.
«In der Familie Stratton, wie sie jetzt besteht«, nahm ich den Faden von einer anderen Seite wieder auf,»gibt es zwei gutmütige, harmlose Mitglieder, Ivan und Dart. Es gibt ein sehr gewieftes Mitglied, Marjorie. Dann ist da Conrad, der mächtiger erscheint, als er tatsächlich ist. Alle anderen vom Geschlecht der Strattons haben eine Neigung zur Brutalität und Gewalt, die Sie schon ein Vermögen gekostet hat. Kombiniert man diesen Wesenszug mit Dummheit und Arroganz, bekommt man Forsyth und seine Rasenmäher. Wie er glauben viele Strattons, daß man ihnen niemals auf die Schliche kommt, und wenn doch, daß die Familie sie dann mit ihrem Geld und ihrer Macht herausreißt, wie sie es in der Vergangenheit stets getan hat.«
«Und wieder tun wird«, sagte Marjorie bestimmt.
«Und wieder tun wird«, räumte ich ein,»wenn Sie können. Aber bald werden Sie Ihr ganzes Geschick zur Schadensbegrenzung aufwenden müssen.«
Überraschend hörten sie weiter zu, statt mir den Mund zu verbieten.
Ich sagte vorsichtig:»Bei Rebecca wird die Gewalttätigkeit weitgehend in die Bahn des Wettkampfsports gelenkt und äußert sich in leidenschaftlichem Wetteifer. Sie hat ausgeprägten Mut und Siegeswillen. Dazu kommt ein überstarker Drang, ihren Kopf durchzusetzen. Als Marjorie ihrem ursprünglichen Plan für den Bau neuer Tribünen einen Riegel vorschob, fand sie eine einfache Lösung: Die alten mußten weg.«
Diesmal protestierte Conrad ungläubig und Marjorie ebenfalls, aber Rebecca und Dart nicht.
«Ich nehme an«, sagte ich zu Rebecca,»Sie haben Wilson Yarrow gebeten, das für Sie zu erledigen, und ihn wissen lassen, daß es sonst um seinen Auftrag geschehen wäre.«
Sie starrte mich ungerührt an, eine keinesfalls gezähmte Tigerin.
Ich sagte:»Wilson Yarrow hing ja durch den Erpressungsversuch schon mit drin. Er sah genau wie Sie, daß die teilweise Zerstörung der Haupttribüne ihren Neubau unumgänglich machen würde. Er kannte die alte Tribüne, und als Architekt wußte er, wie mit dem geringsten Aufwand der größtmögliche Schaden zu erzielen war. Die Treppe in der Mitte war die Hauptschlagader des Gebäudes. Brachte man dieses Kernstück zum Einsturz, würden auch die umliegenden Räume einstürzen.«
«Ich hatte nichts damit zu tun«, schrie Rebecca plötzlich.
Conrad erschrak. Er war… entsetzt.
«Ich habe die Ladungen gesehen, bevor sie explodiert sind«, sagte ich zu Rebecca.»Ich habe gesehen, wie sie angebracht waren. Sehr professionell. Ich hätte es auch so gemacht. Und ich kenne Leute in der Branche, die Ihnen im Gegensatz zu meinem verantwortungsbewußten Freund, dem Hünen Henry, alles mögliche verkaufen würden, ohne groß zu fragen. Aber selbst Abbruchspezialisten fällt es schwer, die Menge des benötigten Sprengstoffs genau zu berechnen. Jedes Gebäude hat seine eigenen Stärken und Schwächen. Man neigt dazu, lieber zuviel als zuwenig zu nehmen. Die von Yarrow verwendete Menge hat den halben Bau auseinandergerissen.«
«Nein«, sagte Rebecca.
«Doch. Sie haben sich darauf geeinigt, es am frühen Karfreitagmorgen zu machen, weil dann niemand da sein würde.«
«Nein.«
«Wilson Yarrow hat die Löcher gebohrt und die Sprengsätze gelegt, und Sie haben Schmiere gestanden.«
«Nein.«
«Ohne Wachtposten konnte er das nicht machen. Und wenn man krumme Dinger dreht, nimmt man am besten einen Aufpasser, auf den man sich verlassen kann.«
Dart zuckte zusammen. Dann grinste er. Unbezwingbar.
«Sie haben in Darts Auto Wache gehalten«, sagte ich.
Rebecca riß die Augen auf. Das» Nein«, das sie herausbrachte, klang weniger überzeugend als die anderen Dementis.
«Sie dachten«, sagte ich,»wenn Sie mit Ihrem knallroten Ferrari hinfahren und ein zufällig anwesender Arbeiter sieht den an einem rennfreien Tag auf der Bahn stehen, fällt ihm das nach der Explosion vielleicht wieder ein, und er meldet es der Polizei. Also sind Sie nach Stratton Hays gefahren, haben Ihr Auto da abgestellt und sich Darts Wagen ausgeliehen, in dem der Schlüssel immer steckt, und damit sind Sie dann auf die Rennbahn gefahren, denn Darts Wagen ist dort so bekannt, daß er quasi unsichtbar ist. Aber Sie hatten nicht mit Harold Quest, dem Schauspieler und Wichtigtuer gerechnet, der sich an dem Tag gar nicht dort am Eingang aufgehalten hätte, wenn er ein echter Demonstrant gewesen wäre, und sicher waren Sie bestürzt darüber, daß er aussagte, er habe Darts Wagen dort gesehen, und ihn der Polizei beschrieb. Aber auch wieder nicht so bestürzt, wie wenn Harold Quest Ihren Ferrari angezeigt hätte.«
«Ich glaub das alles nicht«, sagte Conrad schwach. Aber er glaubte es.
«Ich nehme an«, sagte ich zu Rebecca,»Sie haben Yarrow irgendwo abgeholt und sind mit ihm und dem Sprengstoff zur Rennbahn gefahren, denn die Polizei hat den Wagen untersucht und Nitratspuren gefunden.«
Rebecca sagte nichts.
Ich sagte:»Dart hat von Anfang an gewußt, daß Sie es waren — oder Sie und Yarrow —, der die Tribüne in die Luft gejagt hat.«
«Dart hat es Ihnen gesagt!«rief Rebecca und fuhr wütend zu ihrem Bruder herum, der völlig verblüfft und verletzt aussah.
«Du hast mich verraten an diesen. diesen.«
«Hat er nicht«, sagte ich grimmig.»Dart hat unbeirrbar zu Ihnen gehalten. Er ist gestern von der Polizei ziemlich in die Zange genommen worden und hat kein Wort gesagt. Sie haben ihn beschuldigt, die Ladungen selbst angebracht zu haben, und da er nach wie vor ihr Hauptverdächtiger ist, werden sie ihn noch mal verhören. Aber er wird nicht gegen Sie aussagen. Er ist stolz auf Sie, gefühlsmäßig in einem Zwiespalt, denn für übergeschnappt hält er Sie auch, aber er ist ein Stratton, und er verrät Sie nicht.«
«Woher wissen Sie das?«warf Dart gequält ein.
«Ich stand neben Ihnen, als sie auf Tempestexi gesiegt hat.«
«Aber… daraus war das doch nicht zu entnehmen.«
«Ich bin seit acht Tagen von Strattons umgeben.«
«Wie hast du es rausgekriegt?«fragte Rebecca ihren Bruder.
«Ich habe vom Bad aus deinen Ferrari an der Stelle gesehen, wo meine alte Karre hätte stehen müssen.«
Sie sagte hilflos:»Er stand noch keine Stunde da.«
Conrad ließ die Schultern hängen.
«Ich war lange vor der Explosion wieder in Lambourn«, sagte Rebecca verärgert.»Und Yarrow hat sich da schon in London gezeigt.«
«Ich wüßte gern«, sagte Marjorie nach einer Pause zu mir,»wodurch Rebecca Ihren Verdacht erregt hat.«
«Lauter Kleinigkeiten.«
«Erzählen Sie.«
«Nun«, sagte ich,»sie wollte unbedingt Veränderungen.«
«Und?«half Marjorie nach, als ich schwieg.
«Sie sprach von einer neuen Tribüne aus Glas. Es gibt in England zwar Tribünen mit verglasten Abschnitten, aber keine ganz verglasten wie auf Yarrows Plänen, und ich habe mich gefragt, ob sie die Pläne gesehen hatte, die Conrad so heimlichtuerisch unter Verschluß hielt. Und dann…«
«Und dann?«
«Rebecca sagte, sie sei die einzige in der Familie, die Anschlag und Anker auseinanderhalten könne.«
Alle außer Rebecca schauten verständnislos drein.
«Ich kann Ihnen nicht folgen«, sagte Marjorie.
«Das ist kein Ausdruck aus dem Rennsport«, erklärte ich.
«Roger Gardner konnte nichts damit anfangen.«
«Ich auch nicht«, warf Conrad ein,»und ich habe mein Leben lang Pferde besessen und geritten.«
«Ein Architekt versteht es«, sagte ich,»auch ein Maurer, ein Zimmermann, ein Ingenieur. Daß es einem Jockey klar ist, hätte ich eigentlich nicht erwartet. Also habe ich mich wenn auch erst nur nebenbei — gefragt, ob sie vielleicht viel mit einem Architekten geredet hat und ob dieser Architekt nicht Yarrow sein könnte. Nur eine vage Überlegung am Rande, aber so etwas behält man im Kopf.«
«Und was sind Anker und Anschlag?«fragte Dart.
«Anker sind im Bauwesen eiserne Zugstangen zum Zusammenhalten von Bauteilen, zum Beispiel eines Balkens mit der Mauer.«
Marjorie sah verwirrt aus, Conrad nicht.
«Und ein Anschlag?«fragte sie.»Sagen das nicht die Jäger?«
«Die auch. Da spricht man von Anschlag freihändig oder aufgelegt. Im Bauwesen bedeutet es eine vorspringende Mauerzunge zur Aufnahme von Fenster- oder Türblendrahmen. Der Architekt nennt so auch das Führungsstück an der Reißschiene. Jedenfalls ist es kein rennbahnüblicher Ausdruck.«
«Anker und Anschlag«, meinte Dart nachdenklich.»Hat Ihr Jüngster das nicht vor sich hin gesungen?«
«Gut möglich.«
«Ich hätte Sie umbringen sollen, als ich die Gelegenheit hatte«, sagte Rebecca heftig zu mir.
«Ich dachte auch, Sie würden es tun«, gab ich zu.
«Sie hat direkt auf Sie gezielt«, sagte Dart.»Vater hat ihr die Flinte entrissen. Wenn Sie ihn fragen, wird er wahrscheinlich sagen, daß ein Schuß in die Brust vielleicht noch als Unfall hätte hingestellt werden können, daß aber ein Nachschuß in Ihren Rücken nichts anderes als Mord sein konnte.«
«Dart!«protestierte seine Tante streng; aber er sah das sicher ganz richtig. Er war einer von ihnen. Er wußte Bescheid.
Conrad hatte eine Frage an seine Tochter.»Woher kennst du Yarrow überhaupt? Wie bist du an ihn geraten?«
Sie zuckte die Achseln.»Auf einer Party. Er hat so alberne Stimmenimitationen gemacht, in dem Akzent, der auf dem Band ist. >Rebe-ah Stra-on, Liebes.< Jemand sagte mir, er sei ein Ausnahmearchitekt, aber völlig pleite. Ich wollte eine neue Tribüne. Er wollte dringend Arbeit, und wie und woher war ihm ziemlich egal. Wir wurden uns einig.«
«Aber du magst doch sonst keine Männer.«
«Ich mochte ihn auch nicht«, sagte sie unverblümt.»Ich habe ihn benutzt. Eigentlich verachte ich ihn. Jetzt hat er, wie vorauszusehen, die Hosen gestrichen voll.«
«Also. was nun?«fragte Conrad mich unglücklich.»Die Polizei?«
Ich blickte zu Marjorie.»Sie«, sagte ich,»sind diejenige, die an den Schalthebeln der Familie sitzt. Sie lenken die anderen seit vierzig Jahren. Sie haben sogar Ihren Bruder ganz behutsam gelenkt.«
«Wie das?«fragte Dart neugierig.
Marjorie beschwor mich mit weit geöffneten Augen, aber mehr noch Perdita Faulds zuliebe sagte ich zu Dart:»Das Geheimnis Ihres Großvaters ging nur ihn etwas an, und er hat es mit ins Grab genommen. Ich kann es Ihnen nicht sagen.«
«Sie wollen nicht«, sagte Dart.
«Ich will nicht«, gab ich zu.»Jedenfalls ist es nicht meine, sondern Marjories Entscheidung, ob die Polizei verständigt wird. Ich sollte ihr ein Druckmittel gegen Yarrow verschaffen, und das hat sie jetzt. Damit ist der Fall für mich erledigt. «Ich hielt inne.»Ich bin übrigens sicher, daß die Polizei keine hinreichenden Beweise hat oder bekommen wird, um Sie strafrechtlich zu belangen, Dart. Wenn Sie nur weiter von nichts wissen, geht das schon in Ordnung.«
«Aber was ist mit Yarrow?«fragte Dart.
«Das muß Marjorie entscheiden. Aber wenn Sie Yarrow verklagen, geben Sie auch Rebeccas Mitschuld und Ihre eigene Verwicklung preis. Ich kann mir nicht vorstellen, daß Ihnen daran liegt.«
«Aber Keith?«sagte Marjorie und wich der Last, die ich ihr aufgebürdet hatte, nicht aus.»Was ist mit ihm?«
Keith.
Ich wandte mich an Conrad.»Sagten Sie Marjorie vorhin, Keith habe Sie hergeschickt?«
«Ja.«
«Mit dem Gewehr?«
Er sah ein wenig beschämt aus.»Sie müssen mich auch verstehen. Ich meine, nachdem Sie und Dart gegangen waren, standen Keith und ich noch da im Zimmer und unterhielten uns über Sie und den aufgebrochenen Schrank, da sahen wir Ihren Dietrich im Schloß, und ich sagte gerade, Sie hätten aber viel riskiert, bloß um einen Blick auf die Pläne zu werfen. Und dann schoß mir auf einmal durch den Kopf, wie tief Sie in der ganzen Sache drinstecken, und obwohl ich nicht glauben konnte, daß Sie noch etwas anderes gesucht hatten oder daß Sie so viel wußten, schaute ich im Schrank in der Schachtel nach, in der ich das Foto und die Kassette verwahrte, und da war ich so fertig, daß Keith mich fragte, was los sei, und ich sagte es ihm. Wir dachten beide, jetzt würden Sie natürlich hingehen und uns erpressen.«
«Ach, natürlich.«
«Ja, aber…«
«Bei Ihnen macht das jeder mit jedem; Sie glauben, daß keiner anders kann.«
Conrad zuckte mit den schweren Schultern, als verstünde sich das von selbst.»Jedenfalls«, sagte er,»hat Keith dann die Herausgabe des Umschlags verlangt, den unser Vater mir kurz vor seinem Tod anvertraut hatte. Ich sagte, den dürfe ich nicht herausgeben. Es gab einen ziemlichen Streit, aber ich hatte strikte Anweisung von Vater, ihn niemandem zu zeigen. Keith fragte mich, ob ich wüßte, was drin sei, aber ich weiß es nicht, und das habe ich ihm auch gesagt. Er meinte, er müsse ihn haben. Er fing an, die Schachteln aufzumachen und alles rauszukippen. Ich wollte ihn bremsen, aber Sie wissen ja, wie er ist. Dann kam er zu der Schachtel, in der das Kuvert hätte sein müssen, wenn ich nicht irrte, aber als er sie auskippte, war es nicht drin… Sie konnten aber doch gar nicht wissen, daß es existiert — wie hätten Sie es da entwenden sollen? Schließ-lich half ich ihm bei der Suche. Jetzt liegt alles bei mir auf dem Fußboden, eine fürchterliche Unordnung, da steige ich nie mehr durch…«
«Aber den Umschlag habt ihr gefunden?«fragte Marjorie besorgt.
«Nein. «Er wandte sich an mich und betonte:»Ich weiß, daß er da drin war, in einem ganz bestimmten Karton, unter einem Stapel abgelaufener Versicherungspolicen. Keith sagte, ich solle die Flinte holen und Sie umbringen…«
«Aber er wußte, Sie würden es nicht tun«, sagte ich entschieden.
Dart fragte:»Was sind Sie da so sicher?«
«Der eine Zwilling«, sagte ich,»würde den Pilger umbringen. Der andere nicht. An ihrem Wesen können sie nichts ändern.«
«Die Weggabelung! Sie… Sie spitzfindiger Hund.«
Marjorie sah mir in die Augen, ohne zu verstehen oder sich um das zu kümmern, was Dart gesagt hatte.»Haben Sie den Umschlag mitgenommen?«
«Ja«, sagte ich.
«Haben Sie ihn geöffnet? Haben Sie gesehen, was drin war?«
«Ja.«
«Dann geben Sie ihn mir.«
«Nein. «Ich schüttelte den Kopf.»Diese Sache…«, ich holte Luft,»die muß ich alleine machen.«
Das Telefon schrillte neben Marjorie. Mit verkniffenem Mund, verärgert über die Unterbrechung, nahm sie den Hörer ab.
«Ja«, sagte sie, und ihr Gesicht wurde ausdruckslos.»Ja, er ist hier.«
Sie hielt mir den Hörer hin.»Es ist Keith«, sagte sie.»Er möchte Sie sprechen.«
Er weiß, dachte ich, daß ich diesen Brief an mich genommen haben muß. Und er weiß, was drin steht.
Mit böser Vorahnung sagte ich:»Ja?«
Er sprach nicht gleich, aber er war da; ich konnte ihn atmen hören.
Lange Sekunden vergingen.
Er sagte nur fünf Wörter, bevor die Verbindung abbrach. Die schlimmsten fünf Wörter unserer Sprache.
«Sagen Sie Ihren Kindern Lebewohl.«