Kapitel 2

Es regnete während des Hindernismeetings in Stratton Park, doch meine fünf Großen — von Christopher, vierzehn, bis Neil, sieben — meckerten weniger über das Wetter als darüber, daß sie an einem Samstag in sauberen, unauffälligen Klamotten herumlaufen mußten. Toby, zwölf, der Fahrer des roten Fahrrads, hatte sich um den Ausflug zu drücken versucht, doch Amanda hatte ihn zu den anderen in den Kombi verfrachtet und uns Coca-Cola und Brötchen mit Schinkenomelett eingepackt, die wir uns bei der Ankunft auf dem Parkplatz schmecken ließen.

«Okay, die Spielregeln«, sagte ich und sammelte unsere Papierabfälle in einer Tüte.»Erstens, ihr flitzt nicht blind herum und rempelt Leute an. Zweitens, Christopher kümmert sich um Alan, Toby um Edward, Neil geht mit mir. Drittens, wenn wir einen Treff ausgemacht haben, kommt ihr unmittelbar nach jedem Rennen dahin.«

Sie nickten. Das familieneigene Kontrollsystem war alt-eingeführt und vollauf akzeptiert. Sie fanden das regelmäßige Nasenzählen eher beruhigend als lästig.

«Viertens«, fuhr ich fort,»ihr lauft nicht hinter Pferden her, denn es kann passieren, daß sie auskeilen, und fünftens, wir haben zwar eine klassenlose Gesellschaft, aber ihr seid gut beraten, wenn ihr auf der Rennbahn jeden mit >Sir< anredet.«

«Sir, Sir«, sagte Alan grinsend,»ich muß mal, Sir.«

Ich scheuchte sie alle an der Kasse vorbei und kaufte ihnen Karten für die Clubtribüne. Die weißen Pappvierecke baumelten an den Reißverschlüssen von fünf blauen Anoraks. Die fünf jungen Gesichter sahen ernst und gutwillig aus, auch das von Toby, und ich erlebte einen seltenen Augenblick des Stolzes auf meine geliebten Kinder.

Als Treffpunkt vereinbarten wir eine trockene Ecke nicht weit vom Absattelring, in Sichtweite der Herrentoilette. Dann gingen wir alle zusammen durchs Eingangstor zum Clubhaus und weiter zur Tribünenvorderseite, und als ich sicher war, daß sich alle die Örtlichkeiten eingeprägt hatten, ließ ich die Älteren jeweils zu zweit losziehen. Neil, klug aber außerhalb der Brüderschar schüchtern, legte seine Hand in meine und ließ sie wie geistesabwesend dort oder hielt sich ersatzweise an meiner Hose fest, ging aber nicht das Risiko ein, abhanden zu kommen.

Sich zu verirren war für Neil wie für den phantasiebegabten Edward der absolute Alptraum. Alan lachte nur darüber; Toby legte es drauf an. Christopher, der Selbständige, verlor nie die Übersicht und fand gewohnheitsmäßig eher seine Eltern als sie ihn.

Neil war unkompliziert und hatte nichts dagegen, daß wir auf der Tribüne herumliefen, statt uns die Pferde anzusehen, die vor dem ersten Rennen jetzt regennaß durch den Führring stapften. (»Was sind die Tribünen, Pa?«»Die ganzen Gebäude hier.«) Neils reger kleiner Verstand saugte Wörter und Eindrücke auf wie ein Schwamm, und ich hatte mich schon daran gewöhnt, Bemerkungen von ihm zu hören, die ich kaum einem Erwachsenen zugetraut hätte.

Wir schauten kurz in eine Bar, die trotz des Regens ziemlich leer war, und Neil zog die Nase kraus und sagte, der Geruch dort gefalle ihm nicht.

«Das ist Bier«, sagte ich.

«Nein, es riecht wie die Kneipe, in der wir vor dem Umzug in die Scheune gewohnt haben. So wie es da gerochen hat, bevor du sie aufgemöbelt hast.«

Ich sah nachdenklich auf ihn hinunter. Ich hatte eine alte, glück- und zukunftslose Gastwirtschaft umgebaut und ihre tröpfelnden Umsätze in eine Flut verwandelt. Viele Faktoren hatten dabei mitgespielt — ein neuer Grundriß, Farben, Licht, Lüftung, Parkplätze. Ich hatte bewußt Gerüche hereingenommen, vor allem den von Brot, frisch aus dem Ofen, aber ich wußte nicht, was ich verbannt hatte außer schalem Bier und abgestandenem Rauch.

«Wonach riecht es?«fragte ich.

Neil bückte sich und hielt das Gesicht dicht über den Fußboden.»Nach dem fiesen Reinigungsmittel, mit dem der Wirt sein Linoleum geschrubbt hat, ehe du es rausgerissen hast.«

«Wirklich?«

Neil richtete sich auf.»Können wir rausgehen?«fragte er.

Wir gingen Hand in Hand.»Weißt du, was Salmiakgeist ist?«sagte ich.

«Das wird in den Spülstein gekippt«, erklärte er.

«Hat es so gerochen?«

Er dachte darüber nach.»Wie Salmiakgeist, aber mit Parfüm drin.«

«Widerlich«, sagte ich.

«Genau.«

Ich lächelte. Abgesehen von dem wunderbaren Augenblick der Geburt Christophers hatte ich mit Babys nie viel anfangen können, aber wenn ihr wachsender, erwachender Verstand sie erst mal befähigte, eigene Gedanken und Meinungen zum Ausdruck zu bringen, war ich immer wieder hingerissen.

Wir schauten dem ersten Rennen zu, und ich hob Neil hoch, damit er die tolle Aktion an den Hürden sehen konnte.

Unter den Jockeys, so entnahm ich dem Rennprogramm, war eine Rebecca Stratton, und nach dem Rennen (R. Stratton unplaziert) kamen wir zufällig an ihr vorbei, als sie gerade die Gurte um ihren Sattel schlang und über die Schulter weg mit den niedergeschlagenen Besitzern sprach, ehe sie zu den Umkleideräumen ging.

«Der ist gelaufen wie ein mondsüchtiges Trampeltier. Vielleicht versuchen Sie es mal mit Scheuklappen.«

Sie war hochgewachsen, ihr Körper flach, die Wangenknochen in dem schmalen, aseptischen Gesicht spitz vorspringend, und nirgends ein Zugeständnis an Weiblichkeit. Im Gegensatz zu den männlichen Jockeys, die bei ihrem typischen schnellen Trippelschritt zuerst die Fersen aufsetzten, ging sie katzenhaft federnd auf den Ballen, den Zehen, so als wäre sie sich nicht nur ihrer Kraft bewußt, sondern würde auch dadurch erregt. Die einzige Frau, bei der ich diesen Gang bisher gesehen hatte, war eine Lesbierin.

«Was ist ein mondsüchtiges Trampeltier?«fragte Neil, als sie fort war.

«Das bedeutet langsam und schwerfällig.«

«Ach so.«

Wir trafen uns mit den anderen am Sammelpunkt, und ich gab allen Geld für Popcorn.

«Pferderennen sind langweilig«, sagte Toby.

«Wenn du auf einen Sieger tippst, bekommst du von mir die gleiche Quote wie am Wettschalter«, sagte ich.

«Und ich?«fragte Alan.

«Das gilt für alle.«

Aufgemuntert gingen sie zum Führring, um sich die nächsten Starter anzusehen, wobei Christopher ihnen zeigte, wie man die Formen im Programmheft liest. Neil, der dicht bei mir blieb, sagte ohne Zögern, er tippe auf Nummer sieben.

«Wieso die Sieben?«sagte ich und schaute nach.»Die hat ihr Lebtag noch kein Rennen gewonnen.«

«Mein Kleiderkasten in der Schule hat die Nummer sieben.«

«Aha. Nun, die Sieben heißt Clever Clogs — Schnelldenker.«

Neil strahlte.

Die anderen vier kamen mit ihren Tips wieder. Christopher war für das formstärkste Pferd, den Favoriten. Alan hatte sich Jugaloo herausgesucht, weil ihm der Name gefiel. Edward setzte auf einen hoffnungslosen Fall, weil er traurig aussah und Ermutigung brauchte. Toby entschied sich für Tough Nut, weil der im Ring geschlagen und gebockt und die Leute gescheucht hatte.

Alle wollten wissen, auf wen meine Wahl fiel, und ich überflog rasch die Liste und sagte auf gut Glück» Grand-father«, Großvater, um mich anschließend über die unbewußten Tücken des Verstandes zu wundern und mich zu fragen, ob das wirklich so ein Zufall war.

Zu meiner gelinden Erleichterung gewann Tobys Tough Nut, die harte Nuß, nicht nur das Rennen, sondern hatte auch im Absattelring noch genügend Pep, um einige Male boshaft auszuschlagen. Tobys Langeweile verwandelte sich in reges Interesse, und wie so oft reagierten die anderen auf seine Stimmung. Außerdem hörte es auf zu regnen. Der Nachmittag fing erst richtig an.

Später ging ich mit ihnen die Bahn hinunter, um das vierte Rennen, eine 3-Meilen-Steeplechase, von einem schwierigen Sprung aus zu verfolgen. Es war ein Graben, das vorletzte Hindernis auf der Bahn, flankiert von einem naß gewordenen Rennplatzarbeiter in leuchtend oranger Jacke und von einem Johanniter, der Jockeys, die ihm vor die Füße fielen, Erste Hilfe erweisen sollte. Eine Gruppe von etwa dreißig Zuschauern hatte die gleiche Idee gehabt wie wir und stand hinter den Rails an der Innenbahn, verteilt zwischen Absprung- und Aufsprungseite des Hindernisses.

Der Graben selbst — im historischen Jagdrennen ein echter Entwässerungsgraben mit Wasser — war heutzutage, wie hier in Stratton Park, kein eigentlicher Graben mehr, sondern ein knapp anderthalb Meter breiter Zwischenraum auf der Absprungseite des Hindernisses. Ein im Geläuf eingelassener Balken diente den Pferden als Anhalt, wo sie abzuspringen hatten, und die Hecke aus dunklem Birkenreisig war ein Meter vierzig hoch bei mindestens siebzig, achtzig Zentimetern Tiefe: alles in allem ein Standardsprung, der für erfahrene Steepler wenig Überraschungen bereithielt.

Die Jungen hatten zwar schon eine Menge Pferderennen im Fernsehen gesehen, aber auf eine richtige Rennbahn hatte ich sie noch nie mitgenommen, schon gar nicht dahin, wo das Geschehen voll auf die Sinne einstürmte. Als das Zehnerfeld in der ersten der beiden Runden über das Hindernis ging, bebte die Erde unter den donnernden Hufen, knisterte das schwarze Reisig unter den halbtonnenschweren, flach hindurchwischenden Steeplern, teilte die Luft sich vor dem Pulk der Kämpfer, die da im Flug, mit dreißig Meilen in der Stunde Leib und Leben riskierten: Der Lärm dröhnte in den Ohren, die Jockeys schimpften, die kaleidoskopisch bunten Farben rauschten vorbei… und plötzlich waren sie fort, kaum mehr zu sehen, und es wurde wieder still, das Getümmel, das Gedränge war vorüber, war Erinnerung.»Mensch!«sagte Toby beeindruckt.»Daß das so ist, hast du nicht gesagt.«

«So ist es nur, wenn man nah dran ist«, sagte ich.

«Aber für die Jockeys muß es immer so sein«, gab Edward zu bedenken.»Ich meine, die nehmen den Krach ja bis ins Ziel mit. «Edward, zehn, hatte den Piratenfangtrupp auf der Eiche geleitet. Seine Schweigsamkeit täuschte, denn immer war er derjenige, der sich fragte, wie es wäre, ein Pilz zu sein; der mit unsichtbaren Freunden sprach; der sich am meisten um hungernde Kinder sorgte. Edward dachte sich Phantasiespiele für seine Brüder aus, las Bücher, lebte in einer eigenen Welt und war dabei so zurückhaltend wie sein neunjähriger Bruder Alan extravertiert und mitteilsam war.

Der Rennbahnarbeiter ging auf der Aufsprungseite an der Hecke entlang und drückte mit einem kleinen Spaten das durcheinandergebrachte Reisig zurecht, damit es vor dem zweiten Ansturm wieder ordentlich aussah.

Die fünf Jungen warteten ungeduldig, während die Starter weiter um die Bahn herumgingen und zum zweiten und letzten Mal auf den Graben zuhielten, auf den nur noch ein Sprung folgte und dann der Schlußspurt zum Ziel. Alle fünf hatten ihren Siegertip bei mir abgegeben, und als die Leute um uns herum anfingen, ihre Favoriten anzufeuern, brüllten auch die Jungs.

Ich hatte mein Vertrauen in Rebecca Stratton gesetzt, die jetzt eine Schimmelstute namens Carnival Joy ritt, und als sie sich dem Sprung näherten, schien sie an zweiter Stelle zu liegen, was mich ein wenig überraschte, denn meine Wetterfahrung war gleich Null.

Im letzten Moment wich das Pferd vor ihr von seiner geraden Linie ab, und flüchtig sah ich die Anspannung im Gesicht des Jockeys, als er einen Zügel aufnahm, um die

Situation zu retten. Aber er verpaßte den Sprung völlig. Sein Pferd sprang einen Schritt zu früh ab und landete genau in der Lücke zwischen Absprungbalken und Hecke, wo es seinen Jockey absetzte und, indem es ausscherte, nicht nur Carnival Joy, sondern allen nachfolgenden Startern in die Quere kam.

Bei dreißig Meilen in der Stunde geht alles schnell. Carnival Joy sah, daß der Weg nach vorn verstellt war, und versuchte, zugleich die Hecke und das Pferd auf der Absprungseite zu überfliegen, ein schier unmögliches Unterfangen. Die Hufe der Stute trafen das reiterlose Pferd, so daß sie mit dem Brustkorb voran voll in das Hindernis krachte. Ihre Reiterin wurde über die Hecke katapultiert und knallte mit rudernden Armen und Beinen auf den Turf. Carnival Joy fiel über die Hecke, traf mit dem Kopf auf, überschlug sich, blieb atemlos auf der Seite liegen und keilte bei dem Versuch, wieder hochzukommen, lebensgefährlich aus.

Die Nachfolgenden, ob sie nun abbremsten, von dem Gewirr noch gar nichts mitbekommen hatten oder es zu umgehen versuchten, machten das Debakel nur schlimmer, wie Autos bei einer Massenkarambolage im Nebel. Ein Pferd, das zu schnell war, zu spät begriff, daß es kein Entrinnen mehr gab, glaubte noch einen Ausweg entdeckt zu haben und versuchte durch den linksseitigen Fang direkt vom Geläuf herunterzuspringen.

Die Fänge auf der Absprungseite sollen gerade verhindern, daß Pferde im letzten Moment ausbrechen, und zu diesem Zweck müssen sie so hoch sein, daß sie nicht übersprungen werden können. Jeder Versuch, sich durch einen Sprung über die Fänge in Sicherheit zu bringen, ist deshalb zum Scheitern verurteilt, wenn auch heute nicht so verhängnisvoll wie früher, als sie noch aus Holz bestanden, das brechen und Splitter ins Fleisch treiben konnte. In

Stratton Park waren die Fänge der geltenden Norm entsprechend aus Plastik, das biegsam war und nachgab, ohne zu verletzen, doch das Pferd, das jetzt die Hindernisbegrenzung unversehrt durchbrach, kollidierte mit den dort stehenden Zuschauern, die zu spät auseinanderstoben.

Eben noch ein reibungsloses Rennen. Fünf Sekunden darauf ein Blutbad. Ich registrierte zwar, daß sich auf der Aufsprungseite drei weitere Pferde verletzt hatten, deren Reiter bewußtlos waren oder sich schimpfend hochrappelten, aber ich hatte nur Augen für die Zuschauer am Unglücksort, vor allem für ein paar kleine Gestalten in blauen Anoraks, die ich, ich gebe es zu, voller Panik zählte, und mir wurde vor Erleichterung fast schlecht, als ich sie alle unversehrt dastehen sah. Um das Entsetzen in ihren Gesichtern konnte ich mich später kümmern.

Alan, dem Anschein nach ohne ein Gefühl für Gefahr geboren, tauchte plötzlich unter den Rails durch und rannte auf die Bahn, entschlossen, den gestürzten Jockeys zu helfen.

Ich rief ihm sofort nach, er solle zurückkommen, aber es war zuviel Lärm um uns herum, und im Gedanken an all die verschreckt umherstürmenden Pferde stieg ich selbst unter den Rails durch, um ihn rasch zurückzuholen. Neil, der kleine Neil, trippelte hinter mir her.

Erschrocken nahm ich ihn hoch und lief zu Alan, der sich, scheinbar blind für die ausschlagenden Beine von Carnival Joy, alle Mühe gab, einer benommenen Rebecca Stratton aufzuhelfen. Ich war am Rand der Verzweiflung, als ich sah, daß jetzt auch Christopher ihr quer übers Geläuf zu Hilfe eilte.

Rebecca Stratton kam wieder ganz zu sich, wedelte verärgert die kleinen Hände weg, die sich ihr hilfsbereit entgegenstreckten, und sagte in scharfem Ton zu niemand

Bestimmtem:»Schafft mir bloß die Gören weg. Die haben mir gerade noch gefehlt.«

Wütend stand sie auf, stelzte zu dem Jockey hinüber, dessen Pferd die ganze Karambolage verursacht hatte und der jetzt hilflos neben der Hecke stand, und sagte ihm lautstark ein paar wenig schmeichelhafte Dinge über seine Reitkunst. Ihre Hände schlossen sich immer wieder zu Fäusten, als hätte sie ihn am liebsten geschlagen.

Klar, daß meine Gören sie prompt nicht mehr ausstehen konnten. Ich scheuchte sie mit ihren verletzten Gefühlen vom Geläuf herunter und aus der Gefahrenzone, doch als wir an der Rennreiterin vorbeikamen, sagte Neil plötzlich laut und deutlich:»Mondsüchtiges Trampeltier.«

«Was?« Rebeccas Kopf fuhr herum, aber ich hatte mein Söhnchen schleunigst von ihr wegbefördert, und sie schien eher aus der Fassung gebracht als auf Streit erpicht, es sei denn mit dem unglücklichen Reiterkollegen.

Toby und Edward beachteten sie nicht mehr, sondern kümmerten sich jetzt um die niedergemähten Zuschauer, von denen zwei sehr schwer verletzt aussahen. Leute weinten, waren wie betäubt, aber auch Zorn kam auf. Weiter weg wurde Beifall gerufen. Eines der wenigen Pferde, die der Unglücksstelle ausgewichen waren, hatte das Ziel erreicht und gesiegt.

Wie auf den meisten Rennplätzen war den Startern rund um den Kurs ein Krankenwagen gefolgt, der einen schmalen Fahrweg parallel zum Geläuf benutzte, um im Notfall gleich eingreifen zu können. Der Rennbahnfunktionär hatte zwei Flaggen herausgeholt, eine rotweiß, eine orange, und sie mehrmals geschwenkt, um dem Arzt und dem Tierarzt, die in der Mitte des Platzes in einem Wagen saßen, zu signalisieren, daß sie sofort gebraucht wurden.

Ich rief die Jungen zu mir, und gemeinsam schauten wir den Sanitätern und dem Arzt mit seiner Armbinde zu, wie sie sich neben die Gestürzten hinknieten, Tragbahren holten, sich berieten und nach Kräften versuchten, mit Knochenbrüchen, Blut und Schlimmerem fertig zu werden. Es war zu spät, sich darüber Gedanken zu machen, was die Jungen hier sahen; da sie meinen Vorschlag, zur Tribüne zurückzugehen, ablehnten, blieben wir wie die meisten Zuschauer da, und immer neue stießen zu uns in einem steten Strom, makabrerweise angezogen von Unglück und Chaos.

Der Krankenwagen fuhr langsam mit den beiden Rennplatzbesuchern fort, die an dem durchbrochenen Fang niedergestreckt worden waren.»Das Pferd ist dem Mann ins Gesicht gesprungen«, erklärte Toby mir sachlich.»Ich glaube, er ist tot.«

«Sei doch still«, protestierte Edward.

«Das ist die Realität«, sagte Toby.

Eins von den Pferden war nicht zu retten. Man verbarg es hinter Stellwänden, was man bei dem Mann mit dem eingetretenen Gesicht nicht getan hatte.

Zwei Pkws und ein zweiter Krankenwagen kamen aus Richtung Tribüne angerauscht, und heraus sprangen ein zweiter Arzt, ein zweiter Tierarzt und ein Rennbahngewaltiger in Gestalt des Vereinssekretärs Oliver Wells, eines meiner Besucher vom Sonntag. Er eilte von Gruppe zu Gruppe, befragte die Ärzte, sprach mit den Tierärzten hinter der Stellwand, befragte die Sanitäter, die einen bewußtlosen Jockey versorgten, ließ einen vom Pferd getretenen Zuschauer berichten, der mit dem Kopf zwischen den Knien am Boden saß, und hörte schließlich auch Rebecca Stratton zu, die nach ihrer kurzzeitigen Benommenheit immer noch völlig überdreht war und einen Schwall wütender Anschuldigungen loswerden mußte.

«Hören Sie zu, Oliver. «Sie hob gebieterisch die Stimme.»Der kleine Kacker da hat das alles ausgelöst. Ich werde ihn der Rennleitung melden. Fahrlässige Reitweise! Eine Geldbuße. Eine Sperre ist das mindeste.«

Oliver Wells nickte nur und ging noch einmal zu einem der Ärzte, der dann zu Rebecca hinüberschaute, seinen bewußtlosen Patienten allein ließ und versuchte, den Puls der allzu wachen jungen Frau zu fühlen.

Sie zog ärgerlich die Hand weg.»Ich bin vollkommen in Ordnung, Sie alberner Wicht«, fauchte sie.

Der Arzt sah sie aus zusammengekniffenen Augen an und machte sich woanders nützlich, und über das knochige Gesicht von Oliver Wells huschte ein Ausdruck, den man nur als Frohlocken bezeichnen konnte. Noch ehe er seine Gesichtszüge wieder geordnet hatte, merkte er, daß ich ihn beobachtete, und gab seinen Gedanken abrupt eine neue Richtung.

«Lee Morris, nicht wahr?«rief er aus. Er schaute auf die Kinder.»Was tun die denn alle hier?«

«Besuch auf der Rennbahn«, sagte ich trocken.

«Ich meine…«Er sah auf die Uhr und auf die laufenden Räumarbeiten ringsum.»Wenn Sie nachher wieder nach vorn gehen, können Sie dann kurz bei mir im Büro vorbeischauen? Es ist gleich neben dem Waageraum. Äh… ginge das?«

«Okay«, sagte ich bereitwillig.»Wenn Sie es wünschen.«

«Großartig. «Er warf mir noch einen letzten, leicht verwunderten Blick zu und widmete sich wieder seinen Aufgaben, und da sich die Lage auf dem Rasen allmählich beruhigte und ihre Dramatik sich verlor, rissen die fünf Jungen schließlich Augen und Füße los und gingen mit mir zur Tribüne zurück.

«Der Mann war vorigen Sonntag bei uns daheim«, sagte mir Toby.»Er hat Segelohren und eine lange Nase.«

«Stimmt.«

«Die haben in der Sonne Schatten geworfen.«

Was Kindern so nebenbei alles auffiel! Ich war zu sehr mit der Frage beschäftigt gewesen, was der Mann wollte, um auf Schatten in seinem Gesicht zu achten.

«Er ist der Mann, der hier meistens die Rennen organisiert«, sagte ich.»Er leitet den Betrieb an Renntagen. Nennt sich Rennvereinssekretär.«

«So was wie ein Feldmarschall?«

«Ganz ähnlich.«

«Ich hab Hunger«, sagte Alan, der schnell Gelangweilte.

Neil sagte noch zweimal:»Mondsüchtiges Trampeltier«, weil es so schön war.

«Was redest du denn?«fragte Christopher, und ich erklärte es ihm.

«Wir wollten doch nur helfen«, empörte er sich.»So eine blöde Kuh.«

«Kühe sind nett«, sagte Alan.

Als wir zur Tribüne kamen, lief bereits das fünfte Rennen, ein Hürdenrennen, dessen Ausgang jedoch keinen meiner fünf Söhne sonderlich interessierte, da sie nicht dazu gekommen waren, sich einen Favoriten auszusuchen.

Beim vierten Rennen hatte keiner gewonnen. Alle ihre Hoffnungen waren am Graben zerschellt. Edwards Tip war das Pferd, das ums Leben gekommen war.

Ich spendierte ihnen Tee in der Teestube; unverschämt teuer, aber ein notwendiges Gegenmittel gegen den Schock. Toby ertränkte seine kurze Begegnung mit der Realität in vier Tassen heißer, süßer Stärkung mit viel

Milch und soviel Kuchen, wie er der Bedienung nur abschmeicheln konnte.

Sie aßen das ganze sechste Rennen hindurch. Sie gingen zur Toilette. Alles drängte heimwärts, zu den Ausgängen, als wir uns zum Büro des Vereinssekretärs neben dem Waageraum durchkämpften.

Die Jungen traten leise hinter mir ein, ungewöhnlich still, so daß man sie irrtümlich für wohlerzogen hätte halten können. Oliver Wells, der hinter einem vollgestopften Schreibtisch saß, betrachtete zerstreut die Kinder und sprach weiter in ein Walkie-talkie. Roger Gardner, der Verwalter, war auch da; er hockte mit einer Hüfte auf dem Schreibtisch und ließ seinen Fuß baumeln. Colonel Gardners Sorgen hatten während der Woche womöglich noch zugenommen; jedenfalls standen noch tiefere Falten auf seiner Stirn. Aber seine gepflegten Umgangsformen, dachte ich, würden ihm überall durchhelfen, auch wenn er bei unserem Eintreten jetzt überrascht aufstand, so als hätte er zwar Lee Morris erwartet, nicht aber die fünf kleineren Ableger.

«Kommen Sie rein«, sagte Oliver und legte das Funksprechgerät weg.»Tja, was machen wir denn mit den Jungs?«Eine offenbar rhetorische Frage, denn gleich griff er wieder zu seinem Walkie-talkie und drückte die Tasten.»Jenkins? In mein Büro bitte. «Er schaltete wieder aus.»Jenkins wird sich um sie kümmern.«

Ein Funktionär klopfte kurz an einer Verbindungstür und kam unaufgefordert herein: ein Bürobote mittleren Alters in einem marineblauen Trenchcoat, dem Gesicht nach etwas bieder und behäbig, von vertrauenerweckend massiger Gestalt.

«Jenkins«, sagte Oliver,»gehen Sie mit den Jungs mal in die Jockeystube, da können sie sich Autogramme geben lassen.«»Stören sie da auch nicht?«fragte ich nach Elternart.

«Jockeys verstehen sich mit Kindern«, sagte Oliver und scheuchte meine Söhne hinaus.»Geht mit Jenkins, Jun-gens, ich will mit eurem Vater reden.«

«Verlier sie nicht, Christopher«, hakte ich nach, und alle fünf folgten aufgeräumt ihrem Betreuer.

«Nehmen Sie Platz«, bat Oliver, und ich zog einen Stuhl heran und setzte mich zu ihnen an den Schreibtisch.»Da wir hier keine fünf Minuten ungestört sein werden«, sagte Oliver,»kommen wir am besten gleich zu Sache. «Das Walkie-Talkie knatterte. Oliver ergriff es, drückte auf eine Taste und lauschte.

Eine Stimme sagte barsch:»Oliver, kommen Sie mal ganz schnell her. Die Sponsoren möchten kurz mit Ihnen reden.«

Oliver sagte wohlüberlegt:»Ich schreibe gerade meinen Bericht über das vierte Rennen.«

«Jetzt gleich, Oliver. «Die herrische Stimme klickte sich aus und beendete die Diskussion.

Oliver stöhnte.»Mr. Morris… können Sie warten?«Er stand auf und ging, ob ich nun warten konnte oder nicht.

«Das«, erklärte Roger sachlich,»war ein Anruf von Conrad Darlington Stratton, dem vierten Baron.«

Ich schwieg.

«Die Lage hat sich geändert, seit wir am Sonntag bei Ihnen waren«, sagte Roger.»Es steht jetzt allenfalls noch schlechter. Ich wollte noch mal zu Ihnen, aber Oliver hielt das für zwecklos. Und siehe da — hier sind Sie! Was hat Sie hergeführt?«

«Neugierde. Aber wenn man bedenkt, was meine Jungen da heute an dem Hindernis gesehen haben, wären wir besser daheimgeblieben.«»Furchtbarer Schlamassel. «Er nickte.»Ein totes Pferd. Gar nicht gut für den Rennsport.«

«Was ist mit den Zuschauern? Mein Sohn Toby meinte, davon sei auch einer tot.«

Roger sagte entrüstet:»Selbst bei hundert toten Zuschauern gäbe es noch keinen Protest wegen Brutalität im Sport. Die Tribünen könnten einstürzen und hundert Leute erschlagen, die Rennen gingen weiter. Tote Menschen zählen nicht, wenn Sie mich fragen.«

«Hm. der Mann war also tot?«

«Haben Sie ihn gesehen?«

«Nur mit einem Verband überm Gesicht.«

Roger sagte düster:»Die Zeitungen werden es bringen. Das Pferd ist durch die Abgrenzung direkt in ihn hineingeflogen und hat ihm mit dem Vorderbein die Augen aufgeschlitzt — die Renneisen, die die an den Hufen haben, sind messerscharf, es war grausig, sagte Oliver. Aber der Mann ist an einem Genickbruch gestorben. Auf der Stelle tot unter zehn Zentnern Pferd. Das beste, was sich dazu sagen läßt.«

«Mein Sohn Toby hat das Gesicht des Mannes gesehen«, sagte ich.

Roger sah mich an.»Welcher ist Toby?«

«Der Zweitälteste. Er ist zwölf. Der Junge, der mit dem Rad ins Haus gefahren kam.«

«Dann weiß ich’s. Armes Kerlchen. Sollte mich nicht wundern, wenn er davon Alpträume kriegt.«

Toby war ohnehin derjenige, um den ich mir am meisten Sorgen machte, und jetzt auch noch dies. Er war von klein auf rebellisch, hatte schon als Taps gern gezankt und ließ kaum jemand an sich heran. Ich hatte das ungute Gefühl, daß er sich bei aller Mühe, die ich mir gab, in ein paar Jahren zu einem kalten Weltverächter entwickeln würde, allein und unglücklich. Ich spürte, daß es sich anbahnte, und hätte es zu gern verhindert, aber ich kannte so viele Familien, in denen ein geliebter Sohn, eine geliebte Tochter im Teenageralter nur noch Haß und Zerstörung ausgebrütet und jede Hilfe abgelehnt hatten.

Rebecca Stratton, dachte ich, könnte vor zehn Jahren so gewesen sein. Gerade kam sie wie ein Sturmwind in Olivers Büro gefegt, riß die Tür auf, daß sie an die Wand schlug, und brachte eine Welle kalter Außenluft und rasender Wut herein.

«Wo ist der verdammte Oliver?«rief sie und schaute sich um.

«Bei Ihrem Vater.«

Sie hörte nicht zu. Sie war noch in Stiefeln und Reithose, trug aber statt der Rennfarbe einen braunen Pullover. Glitzernde Augen, der Körper wie erstarrt — sie wirkte halb geistesgestört.»Wissen Sie, was sich dieser blöde Quacksalber erlaubt hat? Vier Tage Startverbot hat er mir gegeben. Ich bitte Sie! Vier Tage! Er sagt, ich hab eine Gehirnerschütterung. Daß ich nicht lache. Wo steckt Oliver? Er muß dem Esel klarmachen, daß ich am Montag reite. Wo steckt er?«

Rebecca drehte sich auf dem Absatz um und stolzierte so energiegeladen hinaus, wie sie gekommen war.

Ich schloß die Tür hinter ihr und sagte:»Wenn Sie mich fragen, hat sie eine ganz gewaltige Gehirnerschütterung.«

«Ja, aber ein bißchen ist sie immer so. Wäre ich der Arzt, dürfte sie gar keine Rennen reiten.«

«Demnach ist sie Ihnen wohl nicht die liebste Stratton.«

Roger wurde sofort wieder vorsichtig.»So habe ich das nicht gemeint.«»Natürlich nicht. «Ich schwieg.»Was hat sich denn nun seit vorigem Sonntag geändert?«

Er blickte auf die hell kremfarbenen Wände, den gerahmten Druck von Arkle, den Wandkalender mit den durchgestrichenen Tagen, auf die große (genau gehende) Uhr und auf seine Schuhe, bevor er schließlich sagte:»Mrs. Binsham ist auf den Plan getreten.«

«Ist das so schwerwiegend?«

«Sie wissen, wer sie ist?«Er war neugierig, ein wenig überrascht.

«Die Schwester des alten Lords.«

«Ich dachte, Sie seien über die Familien nicht informiert.«

«Ich stehe nicht mit ihr in Verbindung, habe ich gesagt, und das stimmt auch. Aber meine Mutter hat von ihnen allen erzählt. Sie war, wie gesagt, mal mit dem Sohn des alten Herren verheiratet.«

«Meinen Sie, mit Conrad? Mit Keith? Oder… mit Ivan?«

«Mit Keith«, sagte ich.»Conrads Zwillingsbruder.«

«Zweieiige Zwillinge«, sagte Roger.»Der jüngere.«

Ich nickte.»Fünfundzwanzig Minuten jünger, und das hat er anscheinend nie verwunden.«

«Es macht wohl auch wirklich einen Unterschied.«

Den Unterschied, ob man die Baronswürde erbte oder nicht.

Ob man den Stammsitz der Familie erbte oder nicht. Ein Vermögen erbte oder nicht. Meiner Mutter zufolge war Keiths Eifersucht auf den fünfundzwanzig Minuten älteren Bruder einer der ständigen Eiterherde, die das Seelenleben ihres Exmannes vergifteten.

Ich hatte noch die Fotos meiner Mutter von der Stratton-Hochzeit. Der Bräutigam, blond, hochgewachsen, sah blendend aus und war so unverkennbar stolz auf sie, so zärtlich zu ihr, daß man meinen konnte, hier hätten sich zwei fürs Leben gefunden. Sie sei damals überglücklich gewesen, hatte sie mir erzählt; erfüllt von einem unbeschreiblich leichten, herrlichen Gefühl der Freude.

Noch kein halbes Jahr darauf hatte er ihr bei einem Streit den Arm gebrochen und ihr zwei Schneidezähne ausgeschlagen.

«Mrs. Binsham«, sagte Roger Gardner,»hat für nächste Woche eine Gesellschafterversammlung anberaumt. Soll ein ziemlicher Drachen sein, Conrads Tante, und anscheinend ist sie das einzige lebende Wesen, vor dem er kuscht.«

Vor vierzig Jahren hatte sie ihren Bruder, den dritten Baron, rigoros dazu gebracht, sich in der Öffentlichkeit von meiner Mutter zu distanzieren. Schon damals war sie der Dynamo der Familie gewesen, die Drahtzieherin, die das Programm festlegte und die anderen nach ihrer Pfeife tanzen ließ.

«Sie hat nie nachgegeben«, sagte meine Mutter.»Sie saß einfach jeden Widerstand aus, bis man sich ihr in Gottes Namen fügte. Da sie auf dem Standpunkt stand, immer recht zu haben, war sie natürlich auch überzeugt, immer das Beste zu wollen.«

Ich fragte Roger:»Kennen Sie Mrs. Binsham?«

«Ja, aber nicht näher. Eine eindrucksvolle alte Dame, sehr rüstig. Sie war öfter mit Lord Stratton zum Pferderennen hier — äh, mit dem alten Lord, nicht mit Conrad —, aber ich habe mich eigentlich nie direkt mit ihr unterhalten. Oliver kennt sie besser. Oder vielmehr«, er lächelte schwach,»er hat schon hin und wieder ihre Anordnungen befolgt.«»Vielleicht schafft sie die Streitigkeiten jetzt ja aus der Welt, und die Lage beruhigt sich«, sagte ich.

Roger schüttelte den Kopf.»Ihr Wort gilt vielleicht bei Conrad, Keith und Ivan, aber die Jüngeren könnten aufmucken, zumal sie nun auch Anteilseigner werden.«

«Ist das sicher?«

«Ganz sicher.«

«Sie haben jetzt also einen Informanten im Nest?«

Sein Gesicht wurde undurchdringlich; er war auf der Hut.

«Davon war nicht die Rede.«

«Nein.«

Oliver kam zurück.»Die Sponsoren sind unglücklich über das tote Pferd, die Ärmsten. Schlechte Publicity. Für so etwas zahlen sie nicht. Sie wollen bis zum nächsten Jahr noch mal darüber nachdenken. «Er klang niedergeschlagen.»Das Rennen war gut belegt, wissen Sie«, erklärte er mir.»Eine 3-Meilen-Jagd mit zehn Startern, das ist schon was. Oft kriegt man nur fünf, sechs oder noch weniger zusammen. Wenn der Sponsor aussteigt, wird das Ganze im nächsten Jahr eine Nummer kleiner.«

Ich bekundete mein Verständnis.

«Wenn es ein nächstes Jahr gibt«, sagte er.»Nächste Woche ist Gesellschafterversammlung… hat man Ihnen das gesagt?«

«Ja.«

«Die wird hier auf der Rennbahn abgehalten, im reservierten Speiseraum der Strattons«, sagte er.»Conrad ist ins Haupthaus noch nicht eingezogen, und er meint, ein nicht so privater Rahmen entspreche ohnehin eher dem Zweck. Werden Sie teilnehmen?«Weniger eine Frage, dachte ich, als eine dringende Bitte.

«Ich habe mich noch nicht entschieden«, sagte ich.

«Ich hoffe sehr auf Sie. Die Meinung eines Außenstehenden tut wirklich not, verstehen Sie? Der Familie selbst fehlt die Distanz

«Niemand wird mich da sehen wollen.«

«Noch ein Grund mehr, hinzugehen.«

Das schien mir fraglich, aber ich widersprach nicht. Zeit, die Jungen abzuholen, schlug ich vor, und als ich hinkam,»halfen «sie gerade den Jockeydienern, die Rennsättel und anderes Zeugs in große Wäschekörbe zu verfrachten, während sie mit beiden Händen Rosinenkuchen aßen.

Sie hätten nicht gestört, sagte man mir, und ich hoffte, es stimmte auch. Ich dankte allen. Bedankte mich bei Roger.»Üben Sie Ihr Stimmrecht aus«, sagte er eindringlich. Auch Jenkins dankte ich.»Guterzogene Bande«, meinte er freundlich.»Bringen Sie die ruhig mal wieder mit.«

«Wir haben zu allen >Sir< gesagt«, vertraute mir Neil im Hinausgehen an.

«Wir haben Jenkins mit >Sir< angeredet«, sagte Alan.»Er hat uns den Kuchen besorgt.«

Wir kamen zu dem Kombi und stiegen ein, und sie zeigten mir die Autogramme in ihren Programmheften. Offenbar hatten sie sich in der Jockeystube bestens amüsiert.

«War der Mann nun tot?«fragte Toby, den das immer noch mehr als alles andere beschäftigte.

«Leider ja.«

«Dachte ich mir. Ich hab noch nie einen Toten gesehen.«

«Tote Hunde schon«, sagte Alan.

«Das ist doch was anderes, du Träne.«

Christopher fragte:»Was hat der Colonel damit gemeint, daß du dein Stimmrecht ausüben sollst?«

«Bitte?«»Er hat gesagt: >Üben Sie Ihr Stimmrecht aus.< Und dabei hat er ziemlich besorgt ausgesehen, oder nicht?«

«Tja«, sagte ich,»wißt ihr denn, was Anteile sind?«

«Kuchenstückchen«, tippte Neil.»Wenn jeder eins kriegt.«

«Nehmen wir mal ein Schachbrett«, sagte ich,»das hat vierundsechzig Felder, ja? Und sagen wir, jedes Feld ist ein Anteil. Dann wären es zusammen vierundsechzig Anteile.«

Die jungen Gesichter verrieten mir, daß das Konzept nicht rüberkam.

«Also gut«, sagte ich,»nehmen wir einen Fliesenfußboden.«

Sie nickten sofort. Mit Fliesen kannten sie sich aus als Architektenkinder.

«Nun legt ihr zehn Fliesen längs, zehn quer und füllt dann die Fläche aus.«

«Hundert Fliesen«, nickte Christopher.

«Gut. Jetzt sagen wir mal, jede Fliese ist ein Anteil, ein Hundertstel von der Gesamtfläche. Insgesamt sind es hundert Anteile. Okay?«

Sie nickten.

«Und das Stimmrecht?«fragte Christopher.

Ich zögerte.»Angenommen, ein Teil der Fliesen gehört euch, dann könnt ihr bestimmen, welche Farbe die haben sollen… rot, blau, oder was immer ihr wollt.«

«Über wie viele könntest du bestimmen?«

«Über acht«, sagte ich.

«Du kannst dir acht blaue Fliesen wünschen? Und die anderen?«

«Die anderen zweiundneunzig gehören anderen Leuten.

Die können sich für ihre Fliesen jede Farbe aussuchen, die ihnen gefällt.«

«Das gäbe aber ein Durcheinander«, hob Edward hervor.»Die kriegt man doch nicht alle unter einen Hut.«

«Da hast du völlig recht«, sagte ich lächelnd.

«Aber eigentlich geht es ja nicht um Fliesen, oder?«sagte Christopher.

«Nein. «Ich hielt inne. Ausnahmsweise hörten sie mal alle zu.»Sagen wir, die Rennbahn hier entspricht einhundert Fliesen. Hundert Hundertstel. Hundert Anteile. Ich habe acht Anteile davon. Zweiundneunzig sind in anderen Händen.«

Christopher zuckte die Achseln.»Dann hast du nicht viel. Acht ist noch nicht mal eine Reihe.«

Neil sagte:»Wenn die Rennbahn durch hundert geteilt wird, könnten auf den acht Hundertsteln von Papa ja die Tribünen stehen!«

«Knallkopf«, sagte Toby.

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