Kapitel 14

Am Mittwoch morgen war Henry mit seinem letzten Laster nach Hause gefahren, nachdem er versprochen hatte, dem bisher Vollbrachten, das für den nächsten Einsatz stehen blieb, weitere Verbesserungen hinzuzufügen.

Am Dienstag waren die Flaggen über dem Zelt mit Seilrollen und Winden eingeholt und in Säcke verpackt worden. Ventilation und Beleuchtung wurden abgeschaltet. Die Servicezelte wurden dichtgemacht, so daß sie nicht mehr ohne weiteres zu betreten waren. Die Feuerlöscher blieben an Ort und Stelle, scharlachrote Wächter in Bereitschaft. Henrys Monteur und ein paar Rennbahnarbeiter hatten mit Schaufel und Besen die Spuren einiger Tausend Füße vom Zeltboden getilgt.

Am Mittwoch morgen gingen Roger und ich durch den Mittelgang und kontrollierten hier und da die großen Räume zu beiden Seiten. Keine Stühle, keine Tische; ein paar Plastikkästen. Das einzige Licht kam von draußen, durch Zeltleinwand und die pfirsichfarbene Deckenbespannung gefiltertes Tageslicht, das von matt zu hell und wieder zu matt wechselte, wenn langsam ziehende Wolken sich vor die Sonne schoben.

«Ruhig, was?«sagte Roger.

Eine Zeltklappe flatterte irgendwo im Wind, aber sonst war alles still.

«Kaum zu glauben«, stimmte ich zu,»wie das hier am Montag aussah.«

«Wir haben gestern die endgültige Besucherzahl ermittelt«, sagte Roger.»Es waren elf Prozent mehr als voriges Jahr. Elf Prozent! Und das trotz der gesperrten Tribüne.«

«Wegen ihr«, sagte ich.»Wegen der Berichterstattung im Fernsehen.«

«Ja, wahrscheinlich. «Er war vergnügt.»Haben Sie gestern die Zeitungen gesehen? >Mutiger Stratton Park.< Lauter so Schmus. Könnte nicht besser sein!«

«Die Strattons«, sagte ich,»wollten doch heute morgen eine Versammlung abhalten. Wissen Sie, wo?«

«Nicht hier, soweit ich informiert bin. Hier ist ja nur das Büro«, meinte er zweifelnd,»und das ist wirklich zu klein. Wenn sie sich treffen, werden sie Ihnen den Ort aber doch mitteilen.«

«Da bin ich mir nicht so sicher.«

Wir gingen langsam, ungewohnt untätig, wieder in Richtung Büro, und Dart kam mit seiner verbeulten Karre auf den Platz gefahren.

«Tag«, sagte er lässig beim Aussteigen,»bin ich der erste?«

Roger erklärte, daß er nicht im Bilde sei.

Dart zog die Brauen hoch.»Als Marjorie von Versammlung sprach, habe ich natürlich angenommen, sie meint hier.«

Alle drei gingen wir friedlich weiter zum Büro.

Dart sagte:»Die Polizei hat mir gestern mein Auto zurückgegeben, wie Sie sehen, aber es ist ein Wunder, daß ich nicht im Kittchen bin. Eine Frage der Zeit, glaube ich. Die sind zu dem Schluß gekommen, daß ich die Tribüne gesprengt habe.«

Roger hielt verblüfft einen Schritt inne.»Sie?«

«Irgendwie war die Kiste HIV-positiv, verseucht mit

Haschisch, Rinderwahnsinn, Nageldreck und was nicht noch. Ihre Hunde und ihre Retorten haben verrückt gespielt. Es gab Großalarm.«

«Nitrate«, reimte ich mir zusammen.

«Genau. Der Sprengstoff für die Tribüne wurde in meinem Wagen zur Rennbahn gebracht. Zwischen acht und halb neun Uhr früh am Karfreitag. Behaupten sie jedenfalls.«

«Das kann nicht ihr Ernst sein«, wandte Roger ein.

«Gestern nachmittag haben sie mir schwer die Hölle heiß gemacht. «Seine fröhliche Miene konnte nicht darüber hinwegtäuschen, wie ihn das mitgenommen hatte.»Dauernd wollten sie wissen, wo ich das Zeug herhatte, das P.E.4. oder wie es heißt. Meine Komplizen, sagten sie immer. Wer die wären? Ich habe sie nur angeglotzt. Ein oder zwei kleine Witzchen gerissen. Das sei gar nichts zum Lachen, meinten sie. «Er schnitt ein komisch-klägliches Gesicht.»Sie hielten mir vor, daß ich als Schüler im Kadettenkorps war. Vor einem halben Menschenalter! Ich bitte Sie! Na und, sagte ich, das ist doch kein Geheimnis. Ich bin meinem Großvater zuliebe ein, zwei Jahre auf und ab marschiert, aber ein Soldat aus Neigung bin ich definitiv nicht. Verzeihen Sie, Colonel.«

Roger wischte die Entschuldigung beiseite. Wir gingen in das Büro, standen herum, erörterten die Lage.

Dart erzählte weiter.»Sie sagten, als Kadett hätte ich doch wohl gelernt, wie man mit Sprengstoff umgeht. Irrtum, sagte ich. Den Blödsinn habe ich anderen überlassen. Meine einzige wirklich bleibende Erinnerung an die Kadettenzeit ist, wie ich mal über einen Panzer geklettert bin und hinterher Angstträume hatte, daß ich dem vor die Räder falle. Konnten die schnell sein! Jedenfalls sagte ich, redet mit Jack, der ist aus dem gleichen Grund bei den Kadetten, wie ich es war, und er geht noch zur Schule, und es stinkt ihm, und vielleicht solltet ihr den mal fragen, wie man sich Bumbum-Pengpeng besorgt, und da hätten sie mir beinah Handschellen angelegt.«

Als er schwieg, sagte ich:»Schließen Sie normalerweise Ihren Wagen ab? Ich meine, wer sonst hätte ihn am Karfreitag morgen fahren können?«

«Glauben Sie mir nicht?«fragte er gekränkt.

«Doch, ich glaube Ihnen. Ganz bestimmt. Aber wenn Sie ihn nicht gefahren haben, wer dann?«

«In meinem Wagen kann kein Sprengstoff gewesen sein.«

«Sie werden sich damit abfinden müssen, daß welcher drin war.«

«Darüber weiß ich nichts«, sagte er eigensinnig.

«Also, ehm… schließen Sie Ihren Wagen nun ab?«

«Meistens nicht, nein. Nicht, wenn er bei mir vor der Tür steht. Das habe ich auch der Polizei gesagt. Ich sagte, er stand da und sehr wahrscheinlich stak der Schlüssel. Ich sagte, jeder hätte damit wegfahren können.«

Roger und ich wandten uns von Dart ab, um nicht als Ankläger zu erscheinen.»Vor seiner Tür«, das war nicht gerade im Blickfeld der wagenstehlenden Allgemeinheit. Vor seiner Tür, das hieß am Hintereingang des Familienschlosses, Stratton Hays.

«Und wenn nun Keith Ihren Wagen genommen hat? Würden Sie aus Familientreue auch zu ihm halten?«

Dart war erschrocken.»Ich habe keine Ahnung, wovon Sie reden. Ich weiß nicht, wer meinen Wagen genommen hat.«

«Und Sie wollen es nicht herausfinden.«

Er grinste etwas unsicher.»Ein wie guter Kumpel sind Sie eigentlich?«

Roger sagte mit unbeteiligter Stimme:»Keith hat Lee vorgestern geschworen, daß er ihn umbringt. Er hat das ohne Zweifel ernst gemeint. Da können Sie es Lee nicht verdenken, wenn er wissen will, ob Keith die Tribüne gesprengt hat.«

Dart sah mich lange an. Ich lächelte mit den Augen.

«Ich glaube nicht, daß es Keith war«, sagte Dart schließlich.

«Ich schaue unter meinem Bus nach«, sagte ich zu ihm.»Meine Kinder steigen mir da nicht ein, ehe ich hundertprozentig sicher bin, daß es ungefährlich ist.«

«Lee!« Es war ein erschreckter Ausruf.»Nein, das würde er nicht machen. Nicht mal Keith. Ich schwör’s Ihnen…«Er brach ab. Dennoch hatte er mir schon gesagt, was ich wissen wollte. Ein Körnchen Wahrheit, wenn auch nicht die ganze Geschichte.

«Würden Sie mir«, sagte ich, um einen lockeren Ton bemüht,»aus Rücksicht auf Ihre Familie vielleicht helfen, Keith davon abzuhalten, daß er seine unangenehme Drohung wahr macht? Damit ihm und Ihnen allen sozusagen die Folgen erspart bleiben?«

«Aber natürlich.«

«Wunderbar.«

«Ich weiß nur nicht, was ich dazu tun soll.«

«Das sage ich Ihnen dann. Aber jetzt — wo ist Ihr Treffen?«

«Herrgott, ja.«

Er ging zum Telefon und rief offensichtlich bei seinen Eltern zu Hause an, wo sich eine Putzfrau meldete, die nicht wußte, wo Lord oder Lady Stratton zu erreichen waren.

«Verdammt«, sagte Dart und versuchte noch eine Nummer.»Ivan? Wo ist dieses verfluchte Treffen? Bei dir? Und wer ist da? Gut, sag ihnen, daß ich noch komme. «Er legte den Hörer auf und zeigte Roger und mir das alte, unbeschwerte Grinsen.»Meine Eltern sind da, Rebecca und Hannah, Imogen und Jack, und sie warten auf Tante Marjorie. Keith konnte ich schon schreien hören. Um ehrlich zu sein, ich bin nicht scharf drauf, da hinzufahren.«

«Dann lassen Sie’s«, meinte ich.

«Unbedingte Anwesenheitspflicht, sagt Ivan. Die ganze Familie. Also muß ich hin.«

Carpe diem, heißt es. Pflücke den Tag. Ergreife den Augenblick. Hier bot sich mir eine Gelegenheit, auf die hinzuarbeiten ich mir recht schwierig vorgestellt hatte.

«Wie wäre es«, sagte ich,»wenn Sie mich mit zu Ihren Eltern nehmen, der Putzfrau sagen, ich sei ein Freund der Familie, und mich da warten lassen, während Sie an dem Treffen teilnehmen?«

Er sagte verwirrt:»Aber wozu denn?«

«Als Glücksbringer«, sagte ich.

«Lee.«

«Also gut. Weil ich doch einmal einen Blick auf die Tribünenpläne werfen möchte, nachdem ich letztes Mal zu feige war.«

Roger wollte mich mit einer Geste daran erinnern, daß ich die Pläne doch schon gesehen hatte, ließ dann aber zu meiner Erleichterung die Hände wieder sinken.

Dart sagte stirnrunzelnd:»Ich verstehe ehrlich gesagt nicht ganz.«

Da ich nicht wollte, daß er verstand, sagte ich irreführend:»Es ist im Interesse Ihrer Familie. Wie gesagt, wenn Ihnen nichts daran liegt, daß Keith mich um die Ecke bringt, vertrauen Sie mir einfach.«

Er vertraute mir mehr als jeder andere in der Familie, und sein unbekümmertes Wesen trug den Sieg davon.

«Wenn Sie’s denn möchten«, willigte er ein, obwohl er immer noch nicht verstand — wie sollte er auch.»Meinen Sie, jetzt gleich?«

«Unbedingt. Aber würden Sie vielleicht hinten rausfahren, damit ich den Jungen Bescheid sagen kann, daß ich eine Zeitlang nicht auf der Rennbahn bin?«

«Sie sind seltsam«, sagte Dart.

«Die Jungen fühlen sich sicherer, wenn sie informiert sind.«

Dart sah Roger an, der resigniert nickte.»Christopher, der Älteste, hat mir gesagt, wenn sie mit dem Bus auf Tour sind, darf ihr Vater sie auch ruhig mal allein lassen, wenn sie nur wissen, daß er weg ist und wann er ungefähr wiederkommt. Sie versorgen sich dann ohne weiteres selbst. Es scheint zu funktionieren.«

Dart verdrehte spaßhaft die Augen über meine wunderlichen Haushaltsregeln, begleitete mich aber hinaus zu seinem Wagen. Auf dem Beifahrersitz sah ich eine Illustrierte namens American Hair Club liegen, mit einem satt behaarten, breit lächelnden jungen Mann, Typ Model, auf dem Titelblatt.

Dart steckte sie in die Seitentasche an seiner Tür und sagte, als müsse er sich verteidigen:»Das ist ein Sonderheft über ein Verfahren, bei dem man Haare mit Polymeren anschweißt. Hört sich schon ganz gut an.«

«Verfolgen Sie’s weiter«, meinte ich.

«Machen Sie sich nicht über mich lustig.«

«Tu ich nicht.«

Er warf mir einen mißtrauischen Blick zu, fuhr mich aber durchaus freundlich zum Bus, wo ich nur einiges Werkzeug einpackte, denn meine Söhne waren nicht dort; sie versuchten sich, mehlbestäubt bis zu den Ellbogen, in der Gardnerschen Küche an Mrs. Gardners fabelhaftem Rosinenkuchenrezept, wobei sie den meisten Teig roh aßen. Mrs. Gardner begrüßte mich mit einem strahlenden Lächeln und einem Kuß und sagte:»Ich habe solchen Spaß hier. Lassen Sie sich Zeit mit dem Heimfahren.«

«Wie kriegt man eine Frau, die einem fünf Söhne schenkt?«fragte Dart trübsinnig, als wir wieder losfuhren.»Wer zum Teufel will einen pummeligen, halbkahlen Kerl Anfang Dreißig, der nichts kann?«

«Wer will einen gutmütigen, unbekümmerten netten Mann, der nicht von Dämonen besessen ist?«

«Meinen Sie mich?«Er war überrascht.

«Ja.«

«Mich wollen die Frauen im Grunde nicht.«

«Haben Sie schon welche gefragt?«

«Ich habe mit einigen geschlafen, aber sie haben anscheinend nur Augen für das große alte Stratton Hays und sagen mir, was für tolle Parties man da steigen lassen kann, und eine fing sogar vom Einführungsball unserer Tochter an.«

«Und das macht Ihnen angst?«

«Die wollen ein Haus heiraten.«

«Wenn ich wieder zu Hause bin«, sagte ich,»können Sie uns besuchen, und ich werde zusehen, daß Sie Leute kennenlernen, die nie von Stratton Hays gehört haben und nichts vom Titel Ihres Vaters oder von Ihren eigenen Millionen wissen — dann können Sie Bill Darlington sein oder wer immer Sie wollen, und schauen mal, wie sich das anläßt.«

«Im Ernst?«

«Ja. «Ich überlegte einen Augenblick und sagte:»Was wird aus Ihrer Familie, wenn Marjorie stirbt?«»Darüber denke ich nicht nach.«

«Bis dahin sollten Sie verheiratet sein. Sie werden einmal das Oberhaupt der Familie sein, und die anderen sollten das als selbstverständlich betrachten und Ihnen und Ihrer Frau mit Respekt begegnen und mit einem guten Gefühl in die Zukunft blicken.«

«Gott«, wandte er ein,»Sie verlangen aber gar nicht viel.«

«Sie sind der beste Stratton«, sagte ich.

Er schluckte; wurde rot; schwieg. Er fuhr zwischen den Torpfosten durch zu dem häßlichen, gestreiften Haus seiner Eltern, parkte, und wie schon einmal liefen wir um das Haus herum zur Rückseite.

Die Hintertür war unverschlossen. Wir gingen an den Rohrleitungen vorbei, durch die schwarzweiß geflieste Halle, und Dart rief laut:»Mrs. Chinchee? Mrs. Chin-chee!«

Eine kleine Frau mittleren Alters in einem rosa Kittel erschien am Kopf der hohen Treppe und sagte:»Mr. Dart, hier oben bin ich.«

«Mrs. Chinchee«, rief Dart zu ihr hinauf,»mein Bekannter und ich werden eine Zeitlang hier im Haus bleiben, aber lassen Sie sich durch uns nicht stören.«

«Gut, Sir. Danke, Sir.«

Dart wandte sich ab, und Mrs. Chinchee setzte ihre Arbeit im Obergeschoß fort, nachdem jeder unwillkommenen Neugier der Boden entzogen war.

«So«, sagte Dart,»und jetzt? Ich gehe nicht zu der Konferenz. Vielleicht brauchen Sie mich hier.«

«Okay«, sagte ich ziemlich erleichtert.»Dann gehen Sie raus zu Ihrem Wagen, und falls einer von Ihren Eltern früher als erwartet von dem Treffen zurückkommt, knallen

Sie die Hand aufs Horn und hupen fünf- oder sechsmal laut, um mich zu warnen.«

«Sie meinen… ich soll Schmiere stehen?«

«Wenn Ihre Eltern wiederkommen, drücken Sie auf die Hupe und sagen ihnen, Sie hätten mir erlaubt, zu telefonieren oder das Bad zu benutzen oder so.«

«Das gefällt mir nicht«, sagte er stirnrunzelnd.»Was ist, wenn Sie dabei ertappt werden, wie Sie die Pläne einsehen?«

«Sie hatten doch erst nichts dagegen. Sie haben mich sogar angestiftet.«

Er seufzte.»Ja. Da hab ich Sie noch nicht weiter gekannt, da war’s mir egal. Also gut; aber machen Sie nicht zu lange.«

«Nein.«

Immer noch zögernd drehte er sich um und ging wieder zur Hintertür, und ich ging in Conrads Zimmer mit den dicht an dicht gehängten Pferdebildern an den Wänden und den zahllosen glänzenden Nippsachen, die auf eine elsternhafte Neigung schließen ließen. Silberne Miniaturpferde, antike Goldmünzen auf einem Tablett, eine winzige Jagdszene in Gold; Schätze auf jeder Ablage.

Ohne Zeit zu verlieren, ging ich um den großen, vollgepackten Schreibtisch herum und machte mich daran, widerrechtlich ein fremdes Schloß zu knacken, was sich zum Glück als so einfach herausstellte, wie die Form des Schlüssellochs es vermuten ließ. Das kleine flache Werkzeug, das ich mitgebracht hatte, glitt anstandslos an der Sperre vorbei, die den simplen Mechanismus schützte, und entriegelte die Tür. Ein gewöhnliches Schloß bringt man mit jedem schmalen, flachen, abgefeilten Nullachtfünfzehn-Schlüssel auf; je einfacher, desto besser.

Die paneelierte, den Wänden angeglichene Tür ließ sich ohne Schwierigkeit aufdrücken und enthüllte einen großen begehbaren Schrank. Ich legte den Gehstock auf den Schreibtisch, betrat hinkend den Schrank und knipste mit dem Lichtschalter, den ich dort fand, eine einfache Dek-kenlampe an.

Die Wände im Innern waren von Regalen gesäumt, auf denen unzählige Kartons standen, Kartons in allen Farben, Größen, Formen und unpraktischerweise alle nicht beschriftet.

Die Entwürfe für die geplante neue Tribüne — die große Mappe, mit der Conrad und Wilson Yarrow in Olivers Büro gekommen waren — lehnten direkt vor mir an einem der Wandregale. Ich löste die rosa Schleife, mit der die Mappe verschlossen war, nahm die Zeichnungen und breitete sie draußen auf Conrads Schreibtisch aus. Sie sollten, um ehrlich zu sein, nur als Tarnung dienen für den Fall, daß Dart nach mir sehen kam, denn es waren die Blätter, die ich schon kannte, ohne irgendwelche Zusätze.

Das Hauptziel meines waghalsigen Unternehmens war es, an das Kuvert heranzukommen, das William, Lord Stratton, der dritte Baron, Perdita zufolge Conrad, dem vierten Baron, hatte anvertrauen wollen; das Kuvert, das genügend Schmutz über Keith enthielt, um ihn im Zaum zu halten. Wenn ich es fand, dachte ich, konnte ich damit vielleicht mein Leben schützen — etwa, indem ich erklärte, daß im Fall meines gewaltsamen Todes, der Inhalt des Kuverts unweigerlich bekanntgemacht würde.

Angesichts des Arsenals von nichtssagenden Behältnissen mußte ich umdenken. Hier ein bestimmtes Kuvert herauszusuchen konnte Stunden statt Minuten dauern, zumal ich keine genaueren Hinweise auf die Beschaffenheit des fraglichen Kuverts bekommen hatte.

Ich nahm den Deckel von der direkt vor mir stehenden Schachtel ab. Die Schachtel war so groß wie ein großer Schuhkarton und ebenso elegant, aus starker Pappe, kastanienbraun marmoriert; die Art Karton, in der meine Mutter Fotos aufbewahrt hatte.

Diese Schachtel enthielt keine Fotos und keine geheimnisvollen Umschläge, sondern lediglich Erinnerungen an Veranstaltungen der Jagdgesellschaft, deren Leitung Conrad angehörte; Einladungskarten mit Goldrand, Speisekarten, Rednerlisten. Eine längliche Schachtel daneben enthielt lauter lose Zeitungs- und Zeitschriftenausschnitte mit Vorschauen auf künftige oder Berichten über vergangene Jagden.

Schachtel um Schachtel enthielt Dinge der gleichen Art; Conrad war weniger heimlichtuerisch, wie Dart ihn bezeichnet hatte, als vielmehr ein zwanghafter Sammler der kleinsten Einzelheiten seines Lebens; da übertraf er Carte-rets Tagebücher oder meine Rechnungsbuch-Erinnerungen bei weitem.

Ich versuchte mich in Conrad hineinzudenken, mir vorzustellen, wo er seine heiklen Informationen versteckt haben könnte — und verwarf den Gedanken, daß ich besser seinen Schreibtisch oder die Bücherregale durchsuchen sollte. Wenn William Stratton es für nötig befunden hatte, das Kuvert weiterzugeben, dann würde Conrad es nicht irgendwo herumliegen lassen, wo ein unbeteiligter Dritter es versehentlich öffnen konnte. Da es den Geheimschrank gab, auch wenn sein Schloß ein Kinderspiel war, würde Conrad ihn benutzen. Ich streifte hastig an den Schachteln entlang, hob die Deckel an, blätterte Massen von Papier durch, fand nichts, was das Risiko wert war. In einem normalen Schuhkarton stieß ich endlich auf ein Juwel, wie ich es erhofft hatte, wenn auch nicht auf den Haupttreffer.

Was ich vor mir sah, war ein schwarzweißes Hochglanz-foto von Rebecca: keinesfalls ein Porträt, sondern ein Schnappschuß von ihr in Straßenkleidung, nicht im Renndreß, wie sie mit ausgestreckter Hand offenbar ein Bündel Banknoten von einem Mann entgegennahm, der mit dem Rücken zur Kamera stand, aber einen Trilby trug, unter dem sich Locken ringelten, und einen Sakko mit charakteristischen Karos. Der etwas unscharfe Hintergrund war gerade noch als Rennbahn zu erkennen.

Ich drehte das Foto um: kein Kommentar, kein Name, nichts.

In der gleichen Schachtel, in der das Foto war, lag auch ein Tonband. Von diesen beiden Dingen abgesehen war die Schachtel leer.

Auf dem Tonband, einer normalen Kassette, war kein Inhalt angegeben.

Obwohl ich nicht an außersinnliche Wahrnehmung glaubte, spürte ich ein ungewöhnliches Kribbeln angesichts der Kombination von Foto und Tonband, zumal sie in einer Schachtel für sich waren. Ich nahm sie heraus und legte sie auf Conrads Schreibtisch in der Absicht, mich nach einem Recorder umzusehen; doch zunächst ging ich wieder in den Schrank und suchte hartnäckig weiter nach einem Kuvert, das sich wahrscheinlich dort gar nicht befand.

Alte, überholte Hundeverzeichnisse. Jahrealte Vermögensaufstellungen. Schachteln mit Darts Schulzeugnissen. Nach dem Arbeitsgrundsatz der Diebe, daß alle Welt das Wertvollste stets unten in der Schublade versteckt und man am schnellsten fündig wird, wenn man die Schublade auf den Fußboden leert, kippte ich die Schachteln zwar nicht direkt aus, lüpfte aber jeweils ihren Inhalt, um zu sehen, was zuunterst lag, und so stieß ich schließlich auf einen gewöhnlichen braunen Umschlag, auf dem nur das Wort >Conrad< stand.

Ich zog ihn unter einem Packen ähnlicher Umschläge hervor, die alte, längst abgelaufene Versicherungspolicen enthielten. Der >Conrad<-Umschlag war aufgeschnitten. Ich sah ohne Aufregung hinein, da ich mittlerweile überzeugt war, daß ich mich an Strohhalme geklammert hatte, daß alles wirklich Wichtige wohl doch woanders verwahrt wurde. Ich zog ein einzelnes Blatt Papier mit einer kurzen handgeschriebenen Notiz hervor. Da stand:

Conrad,

hier der Umschlag, von dem ich Dir erzählt habe.

Sei vorsichtig damit. Wissen ist gefährlich.

S.

Ich sah mir den braunen Umschlag näher an. Er barg ein weiteres braunes Kuvert, kleiner und ungeöffnet, aber dik-ker, mit mehr als nur ein, zwei Bogen Papier drin.

Entweder war es das, was ich suchte, oder nicht. Auf jeden Fall wollte ich es mitnehmen, und um meinen Diebstahl selbst vor Dart geheimzuhalten, versteckte ich den offenen Umschlag samt Brief und geschlossenem Umschlag in meiner Kleidung: genau gesagt in meinem engen Slip, direkt am Unterleib.

Ich blickte mich um, ob die Schachteln alle geschlossen waren und aussahen wie vorher, dann ging ich hinaus zu Conrads Schreibtisch, um die Tribünenpläne in die Mappe zu legen und sie wieder zurückzustellen, die Schranktür abzuschließen und unentdeckt das Feld zu räumen.

Das Foto von Rebecca und das Tonband lagen auf den Plänen. Stirnrunzelnd öffnete ich noch einmal den Reißverschluß meiner Hose und legte das Foto mit dem Gesicht nach innen an meinen Bauch, so daß die glänzende

Bildfläche von dem größeren braunen Umschlag fest angedrückt wurde und beides mir nicht an den Beinen herunterrutschen konnte.

In dem Augenblick hörte ich plötzlich Stimmen in der Eingangshalle, nah und näher kommend.

«Aber Vater«, drang Darts Stimme laut und verzweifelt zu mir herein,»ich möchte, daß wir uns den Zaun oben am Wald ansehen — «

«Jetzt nicht, Dart«, sagte Conrads Stimme.»Warum warst du denn nicht auf der Versammlung?«

Großer Gott, dachte ich. Ich schnappte mir das Tonband, steckte es in meine Hosentasche und beugte mich über die Tribünenpläne, als wären sie das einzige im Leben, was mich interessierte.

Conrad stieß die Tür des Zimmers auf, und in sein bis dahin freundliches Gesicht trat erst ein überraschter, dann ein erboster Ausdruck, wie nicht anders zu erwarten, wenn jemand einen Unbefugten in seinem Allerheiligsten vorfindet.

Schlimmer noch; hinter ihm kam Keith.

Conrad sah auf seinen offenen Schrank, in dem das Licht noch brannte, und auf mich, an seinem Schreibtisch. Seine stierartigen Züge verfinsterten sich, die schweren Augenbrauen zogen sich zusammen, der Mund wurde ein harter Strich.

«Erklären Sie bitte!«verlangte er in vernichtend scharfem Ton.

«Es tut mir sehr leid«, sagte ich betreten. Ich legte die Pläne in ihre Mappe und klappte sie zu.»Rechtfertigen kann ich mich nicht. Ich kann nur um Verzeihung bitten. Ich bitte Sie vielmals um Entschuldigung.«

«Das genügt nicht!«Er war sehr aufgebracht, fast außer sich vor Ärger, obwohl er im Gegensatz zu Keith längst nicht bei jedem Anlaß aus der Haut fuhr.»Dieser Schrank war abgeschlossen. Ich schließe ihn immer ab. Wie haben Sie ihn aufbekommen?«

Ich antwortete ihm nicht. Der abgefeilte Schlüssel steckte noch im Schlüsselloch. Das Ganze war mir entsetzlich peinlich, und das sah er mir bestimmt auch an.

In einer Anwandlung echten Zorns packte er meinen Stock, der auf dem Schreibtisch lag, und hob ihn, als wollte er mich schlagen.

«Aber nein, Conrad«, sagte ich.»Nicht.«

Er zögerte, den Arm erhoben.»Wieso nicht? Was soll mich hindern? Sie haben es verdient.«

«Das ist nicht Ihre Art.«

«Aber meine«, sagte Keith laut. Er entriß den Stock unsanft seinem nichts dagegensetzenden Zwillingsbruder und schlug heftig nach meinem Kopf.

Ich hob in einer reflexhaften Abwehrbewegung den Arm, fing den Stock mit der Hand ab und zog ihn mit mehr Kraft, als Keith vermutet hatte, zu mir her. Er hielt ihn fest, bis er das Gleichgewicht verlor und vornüberkippte, und ließ ihn nur los, um sich mit beiden Händen auf der Schreibtischplatte abzustützen.

Alle drei, Conrad, Keith und Dart, sahen verblüfft aus, aber an diesem Morgen hatte ich in der Tat wieder etwas von meiner alten Kraft in mir gespürt, wie eine steigende, vertraute, willkommene Flut. Sie hatten sich an meine Schwäche gewöhnt und waren auf etwas anderes nicht gefaßt gewesen.

Ich stützte mich dennoch auf den Stock; und Keith richtete sich auf, und seine Augen versprachen mir den Tod.

Ich sagte zu Conrad:»Ich wollte mir die Pläne ansehen.«»Aber wieso?«

«Er ist Architekt«, sagte Dart, um mich zu verteidigen, aber ich wünschte, er hätte es nicht getan.

«Bauunternehmer«, widersprach sein Vater.

«Beides«, sagte ich kurz.»Es tut mir sehr leid. Wirklich. Ich hätte Sie fragen sollen, anstatt hier einzubrechen. Ich bin bestürzt… untröstlich…«Und das war ich auch, aber ich empfand weder Reue, noch war ich eigentlich beschämt.

Conrad unterbrach meine Katzbuckelei und sagte:»Woher wußten Sie denn, wo die Pläne sind?«Er wandte sich Dart zu.»Woher hat er das gewußt? Den Schrank kann er nicht von allein gefunden haben. Der ist praktisch unsichtbar.«

Dart, der so unglücklich aussah, wie mir selbst zumute war, kam um den Schreibtisch herum und blieb einen Schritt hinter meiner linken Schulter stehen, fast als suche er Schutz vor dem sich zusammenbrauenden väterlichen Gewitter.

«Du hast ihm gesagt, wo er suchen muß«, hielt Conrad empört seinem Sohn vor.»Du hast es ihm gezeigt!«

Dart sagte schwach:»Ich dachte, es spielt keine Rolle. Was ist schon dabei?«

Conrad starrte ihn mit offenem Mund an.»Wie soll ich dir das erklären, wenn du es nicht weißt? Aber Sie«, er wandte sich an mich,»ich fing gerade an zu denken, wir könnten Ihnen trauen.«

Er zuckte hilflos die Achseln.»Schert euch raus, alle beide, ihr widert mich an.«

«Nein«, wandte Keith ein,»woher weißt du, ob er nicht was gestohlen hat?«Er blickte sich im Zimmer um.»Du hast doch lauter Gold und Silber hier. Das ist ein Dieb.«

Dreimal verfluchter Keith, dachte ich mit unterdrücktem Schrecken. Ich hatte etwas Besseres als Gold entwendet und gedachte es auch zu behalten. Obwohl ich wieder mehr bei Kräften war, konnte ich mir über den Ausgang einer handgreiflichen Auseinandersetzung, zwei gegen einen, nicht sicher sein. List, sagte ich mir, war die einzige Chance.

Ich reckte mein bisher verschämt zurückgenommenes Kinn vor. Ich setzte ein möglichst unbekümmertes Gesicht auf. Ich lehnte den Stock gegen den Schreibtisch, zog den Reißverschluß der Freizeitjacke herunter, die so lange über dem Stuhl in Rogers Büro gehangen hatte, zog sie aus und warf sie Conrad zu.

«Durchsuchen Sie sie«, sagte ich.

Er fing das Stoffbündel auf. Keith riß die Jacke an sich und ging die Taschen durch. Kein Silber, kein Gold. Nichts Gestohlenes.

Ich hatte mein weites kariertes Flanellhemd an. Ich knöpfte die Manschetten und die vorderen Knöpfe auf, schälte mich aus dem Hemd und warf es Conrad zu.

Mit bloßem Oberkörper stand ich da. Ich lächelte. Ich zog den Reißverschluß meiner Hose herunter und schnallte meinen Gürtel auf.

«Jetzt die Hose?«fragte ich Conrad leichthin.»Schuhe? Socken? Sonst noch was?«

«Nein. Nein. «Er war verwirrt. Er bedeutete mir, den Reißverschluß wieder zuzumachen.»Ziehen Sie Ihr Hemd wieder an. «Er warf es mir herüber.»Sie mögen nicht vertrauenswürdig sein — ich gebe zu, ich bin enttäuscht —, aber ein Langfinger sind Sie nicht. «Er wandte sich an Keith.»Laß ihn gehen, Keith. Such woanders Streit. Nicht in diesem Zimmer.«

Ich zog mein Hemd an und knöpfte es zu, ließ es aber wie eine Jacke über die Hose hängen.

Dart sagte geknickt:»Entschuldige, Vater.«

Conrad winkte ab. Dart schob sich um den Schreibtisch herum und blickte argwöhnisch zu Keith, der noch meine Jacke in der Hand hielt.

Ich folgte Dart, langsam hinkend, mit dem Gehstock als Stütze und Schutz.

Conrad sagte scharf:»Ich möchte Sie nie wieder sehen, Mr. Morris.«

Ich senkte schuldbewußt den Kopf.

Keith hielt meine Jacke fest.

Ich würde sie nicht zurückverlangen. Geh nicht zu weit; die kleinste Erschütterung konnte den Vulkan zum Ausbruch bringen. Ich war schon froh, unbehelligt an die Tür zu kommen, und schlich hinaus auf den Flur und huschte ihn geduckt entlang, in Conrads Wertschätzung so tiefstehend wie eine Küchenschabe.

Ich wagte nicht zu atmen, bis wir aus dem Haus waren, doch kein zorniges Brüllen hielt uns zurück. Dart warf sich in seinen Wagen, neben dem jetzt der Jaguar von Keith stand, und wartete ungeduldig, bis ich herangehum-pelt war.

Er stieß ein gequältes» Puh «der Erleichterung aus, als sein Motor ansprang und wir auf die Straße fuhren.»Mein Gott, war der wütend.«

«Sie sind ja ein schöner Wachtposten«, sagte ich bitter.»Wo blieb denn mein Warnsignal?«

«Ja, also hören Sie, es tut mir sehr leid.«

«Haben Sie geschlafen?«

«Nein… nein, gelesen hab ich.«

Mir ging ein Licht auf.»Sie haben in der verfluchten Zeitschrift über Haarausfall gelesen!«»Na ja, ich…«Beschämt grinsend gab er es zu.

Es war nicht mehr zu ändern. Die Hupzeichen hätten mir Zeit gegeben, mich von Conrads Privatgemach in das unschuldige Bad am Hintereingang zurückzuziehen. Daß man mich sozusagen beim Griff in die Kasse ertappt hatte, war nicht nur ein unangenehmes Erlebnis, es würde Conrad womöglich auch veranlassen, den Inhalt der Schachteln zu überprüfen. Die Folgen konnten verheerend sein.

«Sie haben so lange gebraucht«, meckerte Dart.»Was hat Sie denn so aufgehalten?«

«Hab mich nur umgesehen.«

«Und sie sind mit Keiths Wagen gekommen«, sagte Dart.»Ich hatte nach Vaters Wagen Ausschau gehalten.«

«Aber wohl eher flüchtig.«

«Sie sahen furchtbar schuldbewußt aus«, sagte Dart vorwurfsvoll, um mir den Schwarzen Peter zuzuschieben.

«So hab ich mich auch gefühlt.«

«Aber daß Keith gleich denkt, Sie würden stehlen. «Er schwieg.»Als Sie Ihr Hemd ausgezogen haben… also ich wußte ja, daß Sie einen Teil der Tribüne ins Kreuz gekriegt haben, aber diese ganzen Klammern und Prellungen… das muß doch weh tun.«

«Jetzt nicht mehr«, seufzte ich. In der brenzligen Situation hatte ich nicht daran gedacht, daß er hinter mir stand.»Vor allem die Wunden an den Beinen haben mir das Gehen erschwert, aber es wird schon wieder.«

«Sie haben Keith erschreckt, als Sie den Stock abgefangen haben.«

Ich hatte ihn vorsichtiger gemacht, dachte ich bedauernd, denn von meinem Standpunkt aus war das vielleicht gar nicht günstig.

«Wo wollen wir hin?«fragte Dart. Er war am Tor auto-matisch in Richtung Rennbahn abgebogen.»Zurück zu Gardners?«

Ich versuchte mich zu konzentrieren, einen halbwegs klaren Kopf zu bekommen. Ich sagte:»Wissen Sie, ob Rebecca heute reitet?«

Er antwortete, als ob die Frage ihn verwirrte:»Nein, ich glaube nicht. Sie war ja auf der Versammlung.«

«Ich muß mit Marjorie sprechen«, sagte ich.»Und ich muß nach Stratton Hays.«

«Ich kann Ihnen nicht folgen.«

«Gut, aber bringen Sie mich hin?«

Er lachte.»Bin ich jetzt Ihr Chauffeur?«

«Fahren können Sie besser als Wache halten.«

«Verbindlichen Dank.«

«Oder leihen Sie mir doch Ihren Wagen.«

«Nein«, sagte er.»Ich fahre Sie. Das Leben wird nicht langweilig, wenn Sie dabei sind.«

«Also zuerst zu den Gardners.«

«Ja, Sir.«

In der Gardnerschen Küche nahm Mrs. Gardner meine Rückkehr mit freundlicher Bestürzung auf und meinte, ich hätte ihr zwar fünf Köche ausgeliehen, aber für nicht mal eine Stunde, und das sei zu wenig. Ich bot ihr den Service für einige weitere Stunden an. Einverstanden, sagte sie.

«Schreien Sie aber, wenn es Ihnen zuviel wird«, bat ich sie.

«Seien Sie nicht albern. Ich habe die Jungen gern hier. Und außerdem sagt Roger, ohne Sie stände jetzt sein Job auf der Kippe und wir wären krank vor Sorgen.«

«Meint er wirklich?«

«Er weiß es.«

Dankbar und ein wenig getröstet ließ ich Dart in der Küche zurück, ging zum Bus hinüber und legte dort, in der guten alten Fahrkabine, das Tonband in das Kassettenfach des Radios ein.

Wie sich herausstellte, war es die Aufnahme eines Anrufs über Funktelefon: teuflisch einfach, so etwas abzuhören, wenn man mit einem Peilsender in der Nähe der Transmitterstation lauerte.

Mich hatte das willkürliche Abhören privater Gespräche, die so gern der Öffentlichkeit präsentiert wurden, seit jeher bedenklich gestimmt: Wer belauschte schon tagaus, tagein andere Leute und nahm ihre Unterhaltung auf Band auf in der Hoffnung, marktfähige Geheimnisse mitzubekommen? Hier war es offenbar geschehen.

Das Gespräch fand statt zwischen einer Stimme, die man vorläufig Rebecca zuordnen konnte, und einem Mann mit südostenglischem Akzent, kein Cockney, aber Knacklaute bei jedem D, T oder C in der Wortmitte. Stratton hörte sich bei ihm wie» Stra-on «an. Rebecca wie» Rebe-ah.«

«Rebe-ah Stra-on?«sagte die Männerstimme.

«Ja.«

«Was haben Sie für mich, Liebes?«

«Wieviel ist es wert?«

«Das Übliche.«

Nach einer kurzen Pause sagte sie leise:»Ich reite Soapstone im fünften, der hat keine Chance, er ist nicht richtig fit. Sichern Sie sich bei Catch-as-catch gut ab, der ist kaum zu halten und wird hoch gesetzt werden.«

«Das war’s?«

«Ja.«

«Danke. Liebes.«

«Wir sehen uns auf der Bahn.«»An gleicher Stelle«, stimmte der Mann zu.»Vor dem ersten.«

Das Band klickte und lief stumm weiter. Grimmig drückte ich es heraus, steckte es wieder ein und kletterte nach hinten, in den Hauptteil des Busses. Ich öffnete den Reißverschluß meiner Hose und nahm das Hochglanzfoto und den Packen gefährlichen Wissens heraus.

Dem Kuvert entnahm ich den dicken braunen Umschlag und schnitt ihn mit einem Messer auf. Im Innern war noch ein Umschlag, weiß diesmal, und wieder ein kurzer Brief von William Stratton, dem dritten Baron, an seinen Sohn Conrad, den vierten.

Er lautete:

Conrad,

diese Angelegenheit bedrückt mich über die Maßen.

Denk immer daran, daß Keith zu meinem Leidwesen

lügt. Ich habe die Wahrheit herausgefunden, und jetzt

weiß ich nicht, wie ich sie gebrauchen soll. Du mußt entscheiden. Aber sei vorsichtig.

S.

Besorgt schnitt ich den weißen Umschlag auf und las den recht ausführlichen Inhalt, und danach zitterten meine Hände.

Mein Nichtgroßvater hatte mir endgültig einen Weg gezeigt, mit Keith fertig zu werden.

Ich stellte die Briefe wieder in ihrer ursprünglichen Form zusammen und verschloß den äußeren braunen Umschlag mit Klebeband, damit ihn niemand versehentlich öffnen konnte. Dann saß ich, den Kopf in die Hände gestützt, eine Zeitlang da und machte mir klar, daß Keith mich, wenn er wüßte, was ich gefunden hatte, auf der Stelle umbringen würde und daß ich vor einem ungeahnten Dilemma stand, wenn ich mich vor ihm schützen wollte.

Gefährliches Wissen. Nicht gefährlich: tödlich.

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