Keiths Reaktion, als er erfuhr, daß die Starter im zweiten Rennen den Graben wie vorgesehen springen würden, grenzte an Raserei.
Henry und ich gingen gerade hinter den Servicezelten entlang, als es zu dem Ausbruch kam (Henry hatte eine undichte Stelle in der neuen Wasserleitung reparieren müssen), und wir eilten einen Serviceweg hinunter zum Ort des Gebrülls und des klirrend zu Bruch gehenden Geschirrs — in den Speiseraum der Strattons.
Die ganze Familie war offensichtlich nach ihrem Sieg zurückgekehrt, um ihren Lunch zu beenden und auf die Siegerin anzustoßen, und hatte typischerweise, aber vielleicht auch zum Glück, keine Außenstehenden hinzugeladen.
Keith, breitbeinig, Schultern zurück, fliegende Mähne, hatte die ganze Tafel umgeworfen und mit dem Arm die aufgereihten Flaschen und Gläser von der Anrichte gefegt. Tischtücher, Messer, Teller, Käse, Champagner, Kaffee, Sahnepuddings, alles lag wirr durcheinander auf dem Boden. Wein ergoß sich aus offenen Flaschen. Die Kellnerinnen hielten sich die Hand vor den Mund, und mehrere Strattons griffen nach Servietten, um sich Speisereste von den Kleidern und Anzügen zu wischen.
«Keith!«schrie Conrad seinerseits erbost, zitternd auf den Beinen, donnernd wie ein Stier vor dem Angriff.»Du Flegel!«
An Victorias cremefarbenem Seidenkostüm lief Kaffee und Bordeaux hinunter.»Ich soll den Pokal überreichen«, rief sie jammernd,»und jetzt seht mich an.«
Marjorie saß ruhig, unbespritzt, in eisigem Zorn. Ivan, neben ihr, sagte:»Also so was, Keith, na hör mal.«
Hannah, der Vanillesauce an den Beinen hinabtropfte, bedachte ihren Vater mit abfälligen Ausdrücken und ebenso ihren Sohn, als der sich umständlich anschickte, ihr zu helfen. In der dünnen Frau, die hinter Ivan saß und ungerührt ihre Bekanntschaft mit einem großen Glas Brandy vertiefte, vermutete ich einstweilen Imogen. Dart war nicht da. Forsyth, mürrisch, aber anscheinend erleichtert, daß einmal jemand anders im familiären Kreuzfeuer stand, bahnte sich einen Weg zum Ausgang auf die Hauptpassage, der sich bei Bedarf mit einer von uns angebrachten Plane verschließen ließ.
Passanten zogen die Plane zur Seite, um zu sehen, woher der Tumult kam. Forsyth drängte sich an ihnen vorbei und sagte den Leuten barsch, sie sollten sich um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern, was sie natürlich nicht taten.
Die ganze Szene war zum Lachen, aber allen Mitgliedern der Familie war unangenehm bewußt, daß nicht weit unter der farcenhaften Oberfläche eine wirklich zerstörerische Gewalt lauerte, die Kernschmelze bei Keith, die sich bisher höchstens darin geäußert hatte, daß er seine Frauen schlug und Lee Morris eine Abreibung verpaßte, aber eines Tages würde sie sich nicht mehr in Schach halten lassen.
Marjorie hielt den Auslöser des Spektakels — die Kopie von Harold Quests Geständnis — offen vor sich.
Keith riß es ihr plötzlich aus der Hand, nahm seiner Frau grob das Brandyglas weg, kippte den Alkohol über das Blatt, zog mit raschem Griff ein Feuerzeug aus der Tasche und steckte den Zettel in Brand. Harold Quests Geständnis flammte hell auf, ringelte sich zu Asche, und triumphierend warf Keith es hin und trampelte darauf herum.
«Das war nur eine Kopie«, sagte Marjorie spröde, bewußt provozierend.
«Ich bringe dich um«, sagte Keith mit aufeinandergebissenen Zähnen zu ihr. Sein Blick ging über sie hinweg und heftete sich auf mich. Die Feindseligkeit nahm zu, ein realistischeres, ein bevorzugtes Ziel war gefunden.»Sie bringe ich um«, sagte er.
In der kurzen darauffolgenden Stille wandte ich mich ab und ging mit Henry hinten hinaus, so daß die armen Kellnerinnen ohne uns den Müll wegräumen mußten.
«Das war nur halbwegs lustig«, meinte Henry nachdenklich.
«Ja.«
«Paß bloß auf. Am Ende bringt er dich wirklich um. Aber wieso? Du hast doch Harold Quest nicht angeschleppt. Du bist auch nicht auf den Hamburger-Trichter gekommen.«
«Nein«, seufzte ich.»Mein Freund Dart Stratton sagt, bei Keith wird der Instinkt von keiner Logik gebremst. Aber das gilt schließlich für die halbe Menschheit.«
«Mörder eingeschlossen«, sagte Henry.
«Wie leicht«, fragte ich,»brennt das Hauptzelt?«
Henry blieb stehen.»Du meinst doch nicht, daß er —? Er ist ganz schön flink mit dem Feuerzeug. Und die angezündete Hecke…«Henry sah verärgert aus, schüttelte dann aber den Kopf.
«Das Zelt hier fängt kein Feuer«, sagte er bestimmt.»Alles, was ich hier verwendet habe, ist feuerhemmend, flammensicher oder brennt nicht, wie die Masten und die
Metallstangen. Früher gab es schwere Katastrophen im Zirkus. Jetzt sind die Vorschriften sehr streng. Das Zelt brennt nicht durch Zufall ab. Durch Brandstiftung — also ich weiß nicht. Aber wir haben ja überall Feuerlöscher verteilt, wie du weißt, und ich hab ein Stück Wasserleitung ins Dach hochgezogen und eine Art primitive Sprinkleranlage installiert. «Er zeigte es mir.»Die Leitung, die dort nach oben geht«, er wies mit dem Finger,»da ist ziemlich viel Druck drauf. Ich habe ein Rohr hochgelegt und es an einen Gartenschlauch angeschlossen, der innen am First entlangläuft. In dem Schlauch sind kleine Löcher. Das Wasser spritzt ganz gut raus.«
«Henry! Du bist ein Genie.«
«Ich hatte gestern ein bißchen Zeit, als du nach London gefahren bist, und ich dachte, noch so ein Unglück wie mit der Tribüne kann die Rennbahn sich nicht leisten. Und weil ich finde, eine gute Vorsichtsmaßnahme zahlt sich immer aus, habe ich diese ganz simple Löschanlage gebaut. Wie lange sie hält, weiß ich nicht. Wenn die Flammen erst mal so hoch schlagen, schmilzt der Schlauch wahrscheinlich. «Er lachte.»Außerdem muß ich oder jemand, der Bescheid weiß, in der Nähe sein und den Hahn aufdrehen. Ich habe ihn mit Klebeband umwickelt und dick Außer Betrieb< draufgeschrieben, damit ihn keiner aufdreht, während die Leute alle drin sind und ihre Räucherlachsbrötchen verdrücken.«
«Mein Gott!«
«Roger und Oliver wissen Bescheid und du jetzt auch.«
«Nicht die Strattons?«
«Nicht die Strattons, denen traue ich nicht.«
Keith hätte den zahlenden Besuchern bestimmt eine Dusche verschafft, um ihnen den Tag zu verderben.
Henry redete weiter, in dem Bemühen, mich zu beruhigen.
«Aber Keith wird nicht wirklich versuchen, dich umzubringen, nachdem er das jetzt in der Öffentlichkeit gesagt hat.«
«Das war nicht öffentlich. Das war die Familie Stratton.«
«Aber ich habe ihn gehört, und die Kellnerinnen auch.«
«Sie würden die Kellnerinnen bestechen und schwören, du hättest dich verhört.«
«Ist das dein Ernst?«
«Ich bin sicher, sie haben so was schon oft gemacht. Vielleicht nicht wegen Mord, aber wegen anderer Delikte bestimmt.«
«Aber… was ist mit der Presse?«
«Die Strattons sind reich«, sagte ich kurz.»Mit dem Geld läßt sich mehr kaufen, als du glaubst. Geld benutzt man, um zu bekommen, was man will.«
«Sieht so aus, ja.«
«Die Strattons wollen keinen Skandal.«
«Sie können doch nicht die Presse schmieren!«
«Und die Quellen, an die sich die Presse wendet? Zum Beispiel jäh erblindete Kellnerinnen mit gesunden Bankkonten?«
«Heute nicht mehr«, widersprach er.»Nicht bei unseren unersättlichen Sensationsblättern.«
«Wer hätte gedacht, daß ich mir mal älter vorkomme als du, Henry? Dann bieten die Strattons eben mehr als die Zeitungen.«
Ich kannte Henry als wendigen, praktischen Kopf, erfinderisch und geradeheraus, doch über sein Privatleben und seinen Hintergrund wußte ich nichts. Henry der Hüne und ich arbeiteten seit etlichen Jahren reibungslos zusammen, auf Distanz, aber immer mit Wertschätzung, wenigstens von meiner Seite aus. Durch Henrys Altwarengeschäfte war ich schon an eine ganze, unverfälschte Adam-Raumeinrichtung herangekommen, an Dutzende von antiken Kaminen und Türrahmen. Henry und ich wickelten unsere Geschäfte telefonisch ab —»Ruf mich mal an…«oder» Ich hab da was entdeckt…«. Hier in Stratton Park verbrachte ich jetzt zum erstenmal so viel Zeit mit ihm, und zufrieden dachte ich, daß sich eine echte Freundschaft daraus ergeben würde.
Wir gingen hinten um das Hauptzelt herum und sahen die Pferde für das zweite Rennen auf dem Weg zur Bahn vorbeikommen. Ich merkte, daß es mir immer besser gefiel, ihnen zuzuschauen, nachdem ich in meinem bisherigen Leben kaum einen Gedanken an sie verschwendet hatte. Stell dir die Welt ohne sie vor, dachte ich: Die ganze Geschichte wäre anders verlaufen. Es hätte keinen Transport auf dem Landweg gegeben. Die Schlachten des Mittelalters hätten nicht stattgefunden. Kein Ritt der sechshundert in das Tal des Todes. Kein Napoleon. Die Seefahrer, die Wikinger und die Griechen, würden vielleicht noch die Welt beherrschen.
Pferde, schnell, stark, zähmbar, hatten genau die richtige Größe gehabt. Ich beobachtete, wie ihre Muskeln sich unter dem gepflegten Haarkleid bewegten; kein Architekt, nirgends, hätte etwas ebenso Funktionales, Effizientes, wunderbar Proportioniertes entwerfen können.
Rebecca ritt vorüber und stellte ihre Bügelriemen ein, alle Aufmerksamkeit nach innen gerichtet, auf den bevorstehenden Wettkampf. Ich hatte nie den Wunsch gehabt zu reiten, doch in diesem Augenblick beneidete ich sie: um ihr Können, ihre Besessenheit, ihr völliges Aufgehen in der physischen — animalischen — Partnerschaft mit einem phänomenalen Wesen.
Man konnte wetten; man konnte Vollblutpferde besitzen, sie trainieren, züchten, malen, sie bewundern, über sie schreiben: In dem Urtrieb, der Erste zu sein, beim Pferd wie beim Reiter, nahm die ganze Industrie ihren Anfang. Rebecca zu Pferd wurde für mich zum Inbegriff des Rennsports.
Henry und ich gingen auf die ehemalige Zirkustribüne und schauten uns das Rennen gemeinsam an. Das ganze Feld sprang die wiederhergestellte Hecke vor dem Graben anstandslos. Rebecca endete weit abgeschlagen, ohne am Endkampf beteiligt zu sein.
Henry sagte, Pferderennen fände er nicht so toll wie Rugby, und verschwand, um seine Sicherheitsvorkehrungen zu überprüfen.
Der Nachmittag verging.»Es gab die üblichen Debakel«, meinte Roger, der immer noch umhersauste.
Ich traf den Rennbahnarzt, als er gerade zwischen den Einsätzen verschnaufte.»Kommen Sie am Donnerstag zu mir«, schlug er vor.»Ich nehme Ihnen mal die Klammern raus. Dann brauchen Sie sich im Krankenhaus nicht die Beine in den Bauch zu stehen.«
«Prima.«
Oliver, im Büro, gab Auskünfte, befaßte sich mit aufgebrachten Trainern und sorgte dafür, daß die Untersuchung eines umstrittenen Sieges im hinteren Büro zwischen Computern, Kopierer und Kaffeemaschine durchgeführt werden konnte.
Im großen und ganzen hatten die Profis, deren Geschäft das Vergnügen aller anderen war, Verständnis für die Behelfsmaßnahmen, doch interessanterweise nahmen sie das wahrhaft erstaunliche Zauberkunststück im Lauf des Tages immer mehr als selbstverständlich hin und fingen an, sich über den engen Waageraum und die mangelhafte Aussicht von der Behelfstribüne zu beklagen.
«Man gibt ihnen ein Wunder von Menschenhand«, klagte Roger,»und sie wollen eins von Gott.«
«So sind die Menschen nun mal.«
«Zum Teufel damit.«
Ich verbrachte einen Teil der Zeit mit Perdita und Penelope, verrückt, von allem losgelöst, und einen Teil mit meinen Söhnen, zurückversetzt in die Rolle des Familienvaters, aber zum Glück kündigte mir niemand mehr mein baldiges Ableben an.
Ich unterhielt mich mit Marjorie, die bei der Preisverleihung für Victoria einsprang, ihre zierliche, aufrechte Gestalt vor der Menge geschützt durch die breiten, fürsorglichen Schultern Conrads und Ivans. Blitzlicht zuckte, ein Handmikrofon rauschte, die siegreichen Besitzer zerflossen, der Trainer sah erleichtert aus, der Jockey gefaßt (sein zehntes Paar Manschettenknöpfe), das Pferd aufgeregt. Eine normale Preisverleihung; ein ungewöhnlicher Tag.
«Lee«, sagte Marjorie — sie wollte gerade zum Hauptzelt zurückgehen, hielt aber inne, als sie mich in der Nähe stehen sah.»Eine Tasse Tee?«
Ich ging gehorsam mit ihr, wenn auch der Teevorschlag bald zugunsten eines hervorragenden Pol Roger aus den Kellern von Stratton Hays revidiert wurde. Sie schickte Conrad und Ivan weg und ging mit mir allein in den gesäuberten Speiseraum, wo die treue Bedienung den Tisch wieder aufgestellt und frisch mit krustenlosen Gurkensandwiches und kleinen Kaffee-Eclairs gedeckt hatte.
Marjorie setzte sich auf einen Stuhl und kam direkt zur Sache.
«Wieviel kostet denn das alles?«fragte sie gebieterisch.
«Was ist es Ihnen wert?«
«Setzen Sie sich, setzen Sie sich. «Sie wartete, bis ich saß.»Sie wissen genau, daß es so gut wie jede Summe wert ist, die Ihr hünenhafter Freund verlangen kann. Wir sind den ganzen Nachmittag mit Komplimenten überschüttet worden. Die Leute mögen das Zelt. Nichts Geringeres als die Zukunft der Rennbahn ist damit gerettet. Wir schlagen vielleicht heute kein bares Geld raus, aber wir haben unschätzbare Sympathien erworben.«
Ich lächelte über ihre kaufmännische Metapher.
«Ich habe Conrad gebeten«, sagte sie ruhig,»nicht an den Rechnungen herumzumäkeln. Oliver Wells ist so beschäftigt, daß ich Sie bitten würde, ihm etwas auszurichten: Für Mittwoch, also übermorgen, habe ich eine Familienversammlung einberufen. Können Sie und Oliver und der Colonel mir noch vorher eine Kostenaufstellung machen?«
«Das müßte gehen.«
«Tun Sie’s«, sagte sie, aber eher überredend als bestimmend.
«Ich habe Conrad gesagt, er soll von unseren Buchhaltern so bald wie möglich eine aktuelle, realistische Bilanz für die Rennbahn erstellen lassen, nicht erst zum Ende des Finanzjahrs. Wir brauchen einen Überblick über unsere derzeitige Lage und müssen uns unbedingt einig werden, wie es weitergehen soll. «Die klare Stimme hielt kurz inne.»Sie haben uns heute demonstriert, daß wir die alte Tribüne nicht so, wie sie war, wiederherstellen sollten. Sie haben uns gezeigt, daß die Leute auf ein neues und ungewohntes Ambiente ansprechen. Wir müssen eine heiter-beschwingte Tribüne bauen. «Ich hörte beeindruckt zu. Vierundachtzig war sie? Fünfundachtzig? Eine zierliche, unbeugsame alte Dame vom Schlag eines Industriemagnaten.
«Kommen Sie zu der Versammlung?«fragte sie, keineswegs sicher.
«Ich denke schon.«
«Und Mrs. Faulds?«
Ich sah sie nüchtern an.»Sie dachte sich, daß Sie sie erkannt haben.«
«Ja. Was hat sie Ihnen gesagt?«
«Nicht sonderlich viel. Vor allem will sie, wenn die Rennbahn sich gewinnbringend betreiben läßt, nicht auf dem Verkauf des Landes bestehen.«
«Gut. «Marjories Erleichterung äußerte sich im kaum merklichen Erschlaffen einiger Gesichtsmuskeln, deren Gespanntheit ich gar nicht wahrgenommen hatte.
«Ich glaube nicht, daß ihr daran liegt, zu der Versammlung zu kommen«, setzte ich hinzu.»Sie hatte in der Zeitung von dem Familienzwist gelesen. Sie wollte nur wissen, wie die Dinge liegen.«
«Die Zeitungen!«Marjorie schüttelte angewidert den Kopf.»Ich weiß nicht, wie die von unseren Auseinandersetzungen erfahren haben. Diese Berichte waren unerhört. Wir können uns keine Zwietracht mehr leisten. Noch weniger können wir uns Keith leisten.«
«Vielleicht«, sagte ich zögernd,»sollten Sie ihn einfach… fallenlassen.«
«O nein«, sagte sie sofort.»Der Ruf der Familie…«
Das Dilemma blieb bestehen; uralt, unauflösbar von ihrem Standpunkt aus.
Am Ende des Tages wanderten die Zuschauer davon und hinterließen tonnenweise Abfall. Das Hauptzelt leerte sich. Die Leute vom Gastroservice packten ihre Stühle und Tische zusammen und verschwanden. Die Nachmittagssonne versank tiefgelb am Horizont, und Henry, Oliver, Roger und ich saßen auf umgedrehten Plastikkästen im Geviert der Club-Bar, tranken Bier aus der Dose und analysierten nachträglich die Veranstaltung.
Die fünf Jungen streiften plündernd umher, auch Toby war wieder mit von der Partie. Die Strattons hatten sich verabschiedet. Draußen luden Pferdetransporter die letzten Sieger und Besiegten ein. Der Druck, die Kämpfe, die Ekstasen waren vorbei. Das unglaubliche Wochenende neigte sich dem Ende zu.
«Und als nächster Streich…«, deklamierte ich wie ein Zirkusdirektor mit weit ausholender Gebärde.
«Gehen wir ins Bett sogleich«, sagte Roger.
Er fuhr mich und die Jungen gutmütig zu unserem Bus, kehrte selbst aber zu den Zuschauerbauten und den Zelten zurück, um die Aufräumarbeiten, das Toreschließen und die Sicherheitsvorkehrungen für die Nacht zu überwachen.
Die Jungen aßen zu Abend und kabbelten sich wegen eines Videos. Ich las gähnend in Carterets Tagebüchern. Alle telefonierten wir mit Amanda.
Carteret schrieb:
Lee hat mich überredet, in eine Spätvorlesung über die Auswirkungen von Bomben und Detonationen auf Gebäude zu gehen (IRA-Anschläge, nicht so sehr Luftangriffe). Eigentlich lahm. Lee hat sich entschuldigt für die mir geraubte Lebenszeit. Er steht irgendwie auf Abbruchhäuser. Ich habe ihm gesagt, daß er hier damit keine Blumentöpfe gewinnen kann. Er meint, es gibt ja auch ein Leben nach der Uni…
«Papa«, unterbrach mich Neil.
«Ja?«
«Ich habe Henry das Rätsel aufgegeben.«»Welches Rätsel?«
«Kennst du den Unterschied zwischen Anker und Anschlag?«
Ich starrte beeindruckt meinen kleinen Sohn mit seinem Supergedächtnis an.»Was hat er gesagt?«
«Er hat gefragt, wer das wissen wollte. Als ich sagte, du, hat er nur gelacht. Er meint, wenn da einer die Lösung kennt, dann bist du das.«
Ich sagte lächelnd:»Das ist wie bei dem Rätsel des Hutmachers in Alice im Wunderland: >Was ist der Unterschied zwischen einem Raben und einem Schreibtisch?< Darauf gibt es keine Antwort.«
«Das ist ein blödes Rätsel.«
«Stimmt. Fand ich auch immer.«
Neil, dessen Vorliebe für Pinocchio den Videostreit (etwa zum zehnten Mal) entschieden hatte, richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf die Nase, die vom Lügen länger wurde. Unter dieser Voraussetzung, dachte ich, hätte Keith die Nase von Cyrano de Bergerac wahrscheinlich auf die Plätze verwiesen.
Carterets Tagebuch:
Der» große «Wilson Yarrow war da und hat Fragen gestellt, um seine Intelligenz herauszustreichen. Was die Profs an dem so toll finden, ist mir schleierhaft. Dauernd geht er ihnen um den Bart. Lee läuft Gefahr, wegen Ketzerei zu fliegen, wenn dem Kollegium seine Ansichten über Gropius zu Ohren kommen. Aber genug davon; so langsam muß ich anfangen mit meinem Referat über den politischen Raum.
Seitenlang ging die Schilderung gesellschaftlicher Ereignisse so weiter, kombiniert mit Nachrichten über den
Fortgang unseres Studiums: nichts mehr über Yarrow. Ich sprang zeitlich zu dem halb zerrissenen Spiralheft vor und las von den Ausrufezeichen wegen des Epsilon-Preises an. So sehr ich auch suchte, es gab offenbar nur noch eine Referenz, dafür aber eine ziemlich vernichtende.
Carteret schrieb:
Wieder Gemunkel über Wilson Yarrow. Er darf sein Diplom fertigmachen! Angeblich ist der Entwurf von jemand anders aus Versehen unter Yarrows Namen in den Epsilon-Wettbewerb gelangt!! Und der alte Hammond meint, einem so hochbegabten Kopf dürfe man wegen eines kleinen Fehlgriffs nicht den Garaus machen! Sagt das nicht alles? Hab mit Lee drüber geredet. Er meint, Entscheidungen kommen von innen. Wer sich einmal für Betrug entscheidet, wird es wieder tun. Und die Folgen? fragte ich. Er meint, Yarrow hat nicht an Folgen gedacht, weil er angenommen hat, daß alles glattgeht. Anscheinend weiß keiner — oder sie behalten’s für sich —, wie das» Versehen «entdeckt worden ist. Der Epsilon wird dieses Jahr nicht verliehen, heißt es. Warum geben sie ihn nicht dem Urheber des Entwurfs, der das Rennen gemacht hat?
Gerade ein brandheißes Gerücht gehört. Der Entwurf war von Mies!!! Gezeichnet 1925, aber nie ausgeführt. Ein peinliches Versehen!!!
Ich las weiter, bis mir von seiner Schrift die Augen schmerzten, aber nirgends hatte Carteret das brandheiße Gerücht bestätigt oder verworfen.
Ein lange zurückliegender, umstrittener Betrug mochte interessant sein, doch selbst Marjorie würde Carterets alte Tagebücher nach so vielen Jahren nicht als hinreichendes
Druckmittel ansehen, zumal seinerzeit keine Klage erhoben worden war. Wer Wilson Yarrow jetzt einen Betrüger nannte, konnte sich eine Verleumdungsklage einhandeln.
Ich sah auch keine Möglichkeit, wie Yarrow einen uralten Skandal, wenn es denn einer war, als Waffe oder Zwangsmittel hätte benutzen können, damit Conrad ihm allein den Auftrag für die neue Tribüne gab.
Seufzend steckte ich die Tagebücher wieder in die Tragetasche, sah mir die letzten fünf Minuten Pinocchio an und brachte meine Brut ins Bett.
Am Dienstag morgen nahmen die Gardners mich und die Jungen mit nach Swindon, wo sie selbst dringende Besorgungen zu machen hatten, und setzten uns vor dem Waschsalon ab, nachdem wir vereinbart hatten, uns bei einem Frisiersalon namens Smiths wieder mit ihnen zu treffen.
Während fast unser ganzer Bestand an Kleidern gewaschen und getrocknet wurde, zogen wir los, um fünf Paar Turnschuhe zu kaufen (ein schwieriges — und kostspieliges
— Unterfangen, denn für die Jungs mußten Farbe, Form und Zierat einfach stimmen, obwohl in meinen Augen die >Igitt, Papa<-Schuhe genausogut aussahen), und danach scheuchte ich sie (mit einem kurzen Zwischenhalt, um eine große Tüte Äpfel zu kaufen) erbarmungslos zum Haareschneiden.
Ihr geschlossener Widerstand gegen diesen Plan schmolz wie Schnee in der Sonne, sobald wir bei Smiths über die Schwelle traten, denn die erste Person, die uns dort entgegenkam, war Penelope Faulds. Die blonde, schlanke junge Penelope, die meine Kinder Hand auf Hand klatschend begrüßte und meine Reife restlos demontierte.
Smiths, das ich mir wegen seines Alters irgendwie ruhig und plüschig vorgestellt hatte, schien ein paar Generatio-nen übersprungen zu haben und war mit Haartrocknern und Rapmusik überzeugend auf trendbewußte Kundinnen und Kunden von heute abgestimmt. Die Frisuren auf den Fotos an der Wand sahen aus wie Formsträucher. Alles blitzte von Chrom und Spiegeln. Junge Männer mit Zöpfen redeten wie Leute aus dem Eastend. Ich kam mir alt vor, und meine Kinder waren selig.
Penelope schnitt ihnen selbst die Haare und befragte mich vorab zu Christophers Anweisung, ihm den Kopf bis auf ein in die Stirn fallendes Büschel seiner Naturlocken so gut wie kahl zu scheren.»Machen Sie so ein Mittelding«, bat ich,»sonst erwürgt mich seine Mutter. Normalerweise geht sie mit ihnen zum Friseur.«
Sie lächelte süß. Ich begehrte sie so schmerzhaft, daß einstürzende Dächer dagegen eine Lappalie waren. Sie schnitt Christophers Locken kurz genug, um ihn zufriedenzustellen, für meine Begriffe schon zu kurz. Es seien seine Haare, meinte er. Sag das deiner Mutter, sagte ich.
Toby bat interessanterweise um einen >normalen< Schnitt kein Ausdruck von Rebellion, was mich irgendwie freute. Ich sah zu, wie Penelope ihm einen Umhang um den Hals band, und fragte sie, ob ihre Mutter da sei.
«Oben«, sagte sie und zeigte mit dem Finger.»Gehen Sie rauf. Sie hat gesagt, sie erwartet Sie. «Sie lächelte. Mein Herz sprang, setzte aus, sprang.»Ich werde Ihre Kinder nicht verunstalten«, versprach sie.»Sie haben so schön geformte Köpfe.«
Ich ging zögernd nach oben, um Perdita zu suchen, und hier, außer Sicht, herrschte noch die alte Ordnung: mit Lockenwicklern gespickte Damen, die unter Trockenhauben saßen und Good Housekeeping lasen.
Perdita, lebhaft in schwarzer Hose und leuchtend rosa Bluse, eine lange Perlenkette um den Hals, führte mich an den großmütterlichen Kundinnen vorbei, die den Mann mit dem Spazierstock anschauten, als gehörte er zu einer anderen Tierart.
«Kümmern Sie sich nicht um meine alten Schätzchen«, frotzelte Perdita und winkte mich in ein geschütztes, chintzbezogenes Privatgemach hinter dem Schönheits studio.»Tanqueray gefällig?«
Gern, sagte ich ein wenig schwach, und sie drückte mir ein großes Glas mit reichlich Gin und etwas Tonic, klirrendem Eis und einer dicken Scheibe Zitrone in die Hand. Viertel nach elf an einem Dienstag morgen. Nun ja.
Sie schloß die Tür zwischen uns und den alten Schätzchen.»Die haben Ohren wie die Fledermäuse, wenn’s um Klatsch geht«, sagte sie munter.»Was möchten Sie wissen?«
Ich sagte zögernd:»Forsyth…?«:
«Setzen Sie sich, mein Lieber«, befahl sie und ließ sich in einen Sessel mit Rosenmuster sinken, dessen Gegenstück sie mir zuwies.
Sie sagte:»Ich habe die ganze Nacht darüber nachgedacht, ob ich Ihnen diese Dinge erzählen soll. Na ja, die halbe Nacht. Mehrere Stunden. William hat immer darauf vertraut, daß ich nicht weitergebe, was er mir erzählt, und ich habe es auch nie getan. Aber jetzt… ich weiß zwar nicht, ob es ihm lieber wäre, ich würde für immer schweigen, aber jetzt hat sich die Lage doch geändert. Jemand hat einen Anschlag auf seine geliebte Rennbahn verübt, und Sie haben die Veranstaltung gestern gerettet, und ich glaube… ich glaube wirklich, daß Sie, um es mit Ihren Worten zu sagen, die Sache nur zu Ende bringen können, wenn Sie wissen, mit wem Sie es zu tun haben, und deshalb denke ich, er hätte nichts dagegen. «Sie trank einen Schluck Gin.
«Ich erzähle Ihnen erst von Forsyth, und dann schauen wir mal.«
«In Ordnung«, sagte ich.
Sie seufzte tief und begann zunächst stockend, wurde im Sprechen aber nach und nach freier und unbefangener.
«Forsyth«, sagte sie,»hatte einen Versicherungsbetrug ausgeheckt, und die Familie mußte tief in die Tasche greifen, sonst hätte sie ihn für Gott weiß wie viele Jahre hinter Gittern besuchen können.«
«Ich dachte mir«, sagte ich langsam,»daß es so etwas sein könnte.«
«William meinte…«Sie unterbrach sich, noch immer ein wenig gehemmt und unsicher, trotz ihres Entschlusses.»Es ist seltsam für mich, Ihnen davon zu erzählen.«
Ich nickte.
«Ich würde kein Wort sagen, wenn er noch am Leben wäre, aber seine Familie kümmert mich nicht so. Ich habe ihm oft gesagt, er sollte sie für ihre Verfehlungen gebührend büßen lassen, aber davon wollte er nichts hören. Der Name Stratton mußte sauber bleiben… eine fixe Idee.«
«Ja.«
«Nun«, sie holte tief Atem,»vor etwa einem Jahr hat Forsyth einen riesigen Bankkredit aufgenommen, für den Ivan — sein Vater — mit dem Gartenzentrum bürgte, und hat einen An- und Verkauf von funkgesteuerten Rasenmähern aufgezogen. Ivan ist zwar kein großer Geschäftsmann, aber er hört wenigstens auf seinen Geschäftsführer, der Gute, und holt sich bei Conrad oder William Rat. früher auch bei William, meine ich… und er läßt regelmäßig seine Bücher prüfen. Aber Forsyth, dieser Besserwisser, hat auf keinen gehört, sondern im Alleingang ein großes Lagerhaus auf Hypothek gekauft und Tausende von Rasenmähern, die angeblich das Gras schneiden konnten, während man sich zurücklehnte und zusah, dabei waren sie schon quasi veraltet, als er den Kaufvertrag unterschrieb, und sie gingen dauernd kaputt. Die Leute, die sie ihm angedreht hatten, haben sich wahrscheinlich krankgelacht, meinte William. Und William sagte, Forsyth habe davon geredet, >den Markt aufzukaufen<, und das sei ein Ding der Unmöglichkeit. Der schnellste Weg zum Bankrott. Da sitzt dann also Forsyth auf seinem Berg von Rasenmähern, die keiner kaufen will, und hat eine gewaltige Hypothek auf dem Buckel, die er sich nicht leisten kann, so daß die Bank seine Schecks platzen läßt und Ivan damit rechnen muß, daß sie sich wegen des Riesendarlehens an ihn halten wird… und was dann passiert ist, können Sie sich denken. «Sie widmete sich ihrem Drink.
«Ein kleines Feuer?«vermutete ich und schwenkte die Eiswürfel in meinem Glas.
«Klein! Das war ein Flammenmeer. Lagerhaus, Rasenmäher, Fernbedienungen, alles in Schutt und Asche. William sagte, jedermann sei davon ausgegangen, daß es Brandstiftung war. Die Versicherung schickte ihre Sachverständigen. Es wimmelte von Polizei. Forsyth brach zusammen und gab William gegenüber alles zu.«
Sie seufzte und schwieg.
«Und was ist dann passiert?«
«Nichts.«
«Nichts?«
«Nein. Es ist kein Verbrechen, den eigenen Besitz anzuzünden. William hat alles bezahlt. Er hat die Versicherung nicht in Anspruch genommen. Er hat die Hypothek auf das Lagerhaus mitsamt Vertragsstrafe bezahlt und das Land, auf dem es stand, verkauft. Um Prozesse zu vermeiden, hat er den Vertragspreis für die elenden Rasenmäher bezahlt. Er hat das Bankdarlehen samt Zinsen zurückgezahlt, damit Ivan nicht mit dem Gartenzentrum dafür einzustehen brauchte. Das alles hat enorm viel gekostet. William ließ die Familie wissen, daß sie wegen Forsyths geschäftlichem Abenteuer und seiner kriminellen Dummheit alle ein wesentlich geringeres Erbe von ihm zu erwarten hätten. Danach hat keiner mehr mit Forsyth geredet. Er hat sich bei William darüber beklagt, und William meinte, es gäbe für ihn nur die Ächtung oder das Gefängnis, und er solle froh sein. Forsyth sagte, Keith habe ihm geraten, das Lagerhaus anzuzünden. Keith behauptete, das sei gelogen. Aber William hat mir gesagt, daß es wahrscheinlich stimmt. Keith rede immer davon, daß sich Dinge durch Feuer beseitigen ließen.«
So wie die Hecke vor dem Graben, dachte ich. Und die Tribüne, durch Sprengladungen?
«Na bitte«, sagte sie, als wäre sie selbst erstaunt über die Unbefangenheit, mit der sie erzählte,»ich habe es Ihnen ja gesagt! Es kommt mir nicht so vor, als ob William neben mir steht und mir sagt, ich soll still sein. Nein… im Gegenteil. Ich glaube, er ist dafür, mein Lieber, wo immer er jetzt sein mag.«
Es lag mir fern, diese Annahme anzuzweifeln. Ich sagte:»Wenigstens war die Geschichte mit Forsyth ein einfacher Betrug. Keine Vergewaltigung, keine Drogen dabei.«
«Ja, Lee, so etwas ist viel schwerer zu vertuschen.«
Ein Unterton in ihrer Stimme, eine leise Belustigung, bewog mich zu fragen:»Aber nicht unmöglich?«
«Sie stiften mich an, gemein zu werden!«
Aber nachdem sie einmal angefangen hatte, machte ihr das Erzählen auch Spaß.
«Ich gebe es nicht weiter«, sagte ich.»Ich werde damit umgehen wie Sie mit dem, was William Ihnen anvertraut hat.«
Ich weiß nicht, ob sie mir glaubte. Ich weiß nicht, ob es mir damit ernst war. Auf alle Fälle ermutigte es sie weiterzureden.
«Nun. da war Hannah.«
«Was war mit ihr?«hakte ich nach, als sie innehielt.
«Sie hat sich zu einer so verbitterten Person entwickelt.«
«Ja, ich weiß.«
«Keine Selbstachtung, Lee, verstehen Sie?«
«Nein.«
«Keith hat sie nie vergessen lassen, daß ihre Mutter sie im Stich gelassen hatte. Die arme Madeline. Madeline hat immer nur geweint und mir gesagt, sie würde alles geben für eine Fehlgeburt, aber wir waren beide jung damals und wußten nicht, wo sie hätte abtreiben können damals mußte man schon jemand kennen, denn der Hausarzt hätte einem nie geholfen. Niemand hätte einer jungen, verheirateten Frau geholfen, ihr erstes Kind loszuwerden. Keith erfuhr, daß sie sich deswegen umgehört hatte, bekam einen furchtbaren Wutanfall und schlug ihr zwei Zähne aus. «Sie nahm einen kräftigen Schluck Gin bei der Erinnerung.»William hat mir erzählt, Keith habe Hannah gesagt, daß ihre Mutter sie abtreiben wollte. Kann man sich das vorstellen? Er wollte, daß Hannah Madeline haßt, und sie hat sie gehaßt. William sagte, Madeline zuliebe habe er sich bemüht, gut zu Hannah zu sein und sie ordentlich zu erziehen, aber dagegen stand Keith mit seinen Einflüsterungen, und laut William war sie nie ein süßes kleines Mädchen, sondern immer schon mürrisch und gehässig.«
«Arme Hannah.«
«Jedenfalls wurde sie trotz einer gewissen Strenge im Gesicht sehr hübsch, aber William sagte, den jungen Männern sei bald die Lust vergangen, wenn sie sie kennenlernten, und sie fühlte sich immer mehr abgelehnt und konnte niemand ausstehen, und dann verliebte sie sich in einen Zigeuner und schlief mit ihm. «Perdita zuckte die Achseln und seufzte.»William sagte, das war noch nicht mal ein richtiger Zigeuner, nur ein wegen Diebstahl vorbestrafter Herumtreiber. William sagte, er habe Hannah nicht verstehen können, aber das war mangelnde Selbstachtung, mein Lieber. Mangelnde Selbstachtung.«
«Ja.«
«Na, und natürlich wurde sie schwanger. Und dieser Zigeuner, der wußte, was gut war, wenn man ihn mit der Nase draufstieß. Er klopfte bei Keith an und verlangte Geld; sonst würde er im Ort verbreiten, daß er Keiths schicke Tochter angestochen hatte, sagte er, und da hat Keith ihn zusammengeschlagen und getreten, und dem Mann ist eine Niere geplatzt.«
Teufel, dachte ich, ich hatte noch Glück gehabt.
«Keith ging zu William. Die drei Söhne haben ihre Probleme immer beim Vater abgeladen. William hat dem Zigeuner Schweigegeld bezahlt, und zwar einen zehnmal höheren Betrag, als der Mann ursprünglich von Keith verlangt hatte.«
«Bitter«, sagte ich.
«So kam Jack auf die Welt, und auch er hatte nicht viel Aussicht, sich gesund zu entwickeln. Hannah ist in ihn vernarrt. Für seine ganze Erziehung ist natürlich William aufgekommen.«
«William hat Ihnen das alles erzählt?«
«O ja, mein Lieber. Nicht so auf einmal, wie Sie es jetzt von mir hören. Nach und nach. Was er im Lauf der Jahre einfach loswerden mußte. Er hatte immer die Nase voll von ihnen, wenn er hierherkam, und er hat sich das von der Seele geredet, und wir haben ein Glas Gin getrunken und — wenn ihm danach war, na ja, Sie wissen schon, Lee —, und dann sagte er, jetzt geht’s mir besser, und fuhr wieder weg.«
Sie seufzte tief über die vergangenen Zeiten.
«Conrad«, sagte sie überraschend,»war vor Jahren mal heroinsüchtig.«
«Das ist nicht wahr!«
Perdita nickte.»Als er jung war. Heute wissen die Jugendlichen, wie überaus gefährlich Drogen sind. Als Conrad zwanzig war, sah er darin ein großes Abenteuer, meinte William. Er war auf der Universität. Er war mit noch einem jungen Mann zusammen, und beide haben gespritzt, und der Freund starb an einer Überdosis. William sagte, es gab einen fürchterlichen Stunk, aber er hat Conrad da rausgeholt und die Sache vertuscht und ihn in einer sehr teuren Privatklinik behandeln lassen. Er hat Conrad veranlaßt, ihm seine Drogenerfahrungen in einem Brief zu schildern — was er sah, was er empfand, wenn er im Tran war. William hat mir nicht gezeigt, was Conrad geschrieben hatte, aber er besaß den Brief noch. Er sagte, Conrad sei geheilt worden und nun er sei stolz auf ihn. Weiterstudiert hat Conrad allerdings nicht. William hat ihn zu Hause auf dem Gut behalten.«
Ah, dachte ich, das also war Marjories Zangengriff. Selbst nach so vielen Jahren würde Conrad nicht wollen, daß diese jugendliche Unbedachtheit bekannt wurde.
Perdita trank ihren Gin aus und goß sich nach.»Für Sie auch noch?«fragte sie.
«Danke, es genügt. Aber bitte erzählen Sie weiter, ich bin fasziniert.«
Sie lachte und redete jetzt ganz zwanglos.»Als Keith ungefähr in dem Alter war, ein gutaussehender junger Kerl, der auf die wirklich bösen Sachen erst noch kommen sollte, hat er mal die Tochter eines Landarbeiters übers Knie gelegt. Ihr den Schlüpfer runtergezogen und den Hintern versohlt. Sie hatte nichts Unrechtes getan. Er sagte, er wollte nur mal wissen, wie das ist. William hat dem Vater ein Vermögen gezahlt — für die damalige Zeit —, damit er nicht zur Polizei ging. Es war allerdings keine Vergewaltigung.«
«Trotzdem übel.«
«Keith war es eine Lehre, meinte William. Danach hat er nur noch seine Ehefrauen geschlagen und vergewaltigt. Dafür konnte man damals noch nicht bestraft werden.«
Das Vergnügen wich plötzlich aus ihrem Gesicht, und aus meinem gewiß auch.
«Tut mir leid, Lee«, sagte sie.»Ich mochte Madeline sehr, aber das liegt alles vierzig Jahre zurück. Und sie ist ja da auch rausgekommen und hat noch mal geheiratet. William sagte, Keith habe ihr nie verziehen, daß sie sich von ihm abgewandt hat.«
Vielleicht weil es mir partout nicht aus dem Kopf ging, sagte ich:»Keith hat gestern gesagt, er bringt mich um. Noch nach vierzig Jahren will er die Rechnung begleichen.«
Sie machte große Augen.»Hat er das so gemeint?«
«Als er es sagte, schon.«
«Aber Lee«, sagte sie,»das müssen Sie ernst nehmen. Der Mann ist gewalttätig. Was wollen Sie dagegen tun?«
Ich sah, daß sie eigentlich mehr interessiert als beunruhigt war, aber für sie ging es ja auch nicht auf Leben und Tod.
«Mein Anblick bringt ihn auf die Palme«, sagte ich.»Ich könnte einfach weggehen. Nach Hause fahren. Hoffen, daß er mich nicht verfolgt.«
«Ich muß sagen, Sie nehmen das ja sehr gefaßt, mein Lieber.«
Ich hatte die halbe Nacht wachgelegen und darüber nachgedacht, aber ich antwortete ihr beiläufig.»Das liegt wohl daran, daß es so unwirklich erscheint. Ich meine, es ist nicht gerade Usus, die Möglichkeit der eigenen Ermordung zu erörtern.«
«Stimmt auch wieder«, gab sie zu.»Tja… und fahren Sie nun?«
Darauf konnte ich ihr nicht antworten, weil ich es noch nicht wußte. Ich mußte Rücksicht auf die fünf Kinder nehmen, und ich fand, ihnen zuliebe sollte ich möglichst jeder weiteren Konfrontation aus dem Weg gehen. Keiths wahnhafter Haß auf mich war in seinen heftigen Tritten überdeutlich zum Ausdruck gekommen, und jetzt war ein Angriff aus seiner Sicht auch noch gerechtfertigt, hatte ich doch die Entlarvung des Harold Quest mit herbeigeführt und Quests Geständnis Marjorie zukommen lassen. Ich hatte ihn ihr ausgeliefert: Dafür wollte er mich töten. Tief im Innern glaubte ich, daß er es versuchen würde, und wider Willen hatte ich Angst vor ihm.
Ich konnte wahrscheinlich dafür sorgen, daß den Jungen ihr Vater erhalten blieb, indem ich die Arena verließ.
Ich konnte… weglaufen. Es war unrealistisch, acht Tage in der Woche standhaft sein zu wollen, wie ich Toby schon gesagt hatte. Es wäre klug abzureisen.
Das Dumme war, daß ich zwar gern gegangen wäre, daß aber der Teil von mir, der letztlich die Entscheidungen traf, nicht gehen konnte.
«Ich wünschte«, sagte ich heftig,»ich könnte es so hal-ten wie die Strattons und durch Erpressung dafür sorgen, daß mich Keith in Frieden läßt.«
«Was für ein Gedanke, Lee!«
«Leider ist das nicht drin.«
Sie legte den Kopf schräg, sah mir ins Gesicht und dachte über meine Idee nach.
«Ich weiß nicht, ob es Ihnen viel nützt, mein Lieber«, sagte sie langsam,»aber da könnte Conrad was haben.«
«Inwiefern? Was meinen Sie?«
«Ich habe keine Ahnung, was es genau war«, sagte sie,»aber William hatte etwas, womit er Keith in den letzten Jahren in Schach halten konnte. Nur hat er darüber ausnahmsweise nicht alles erzählt. Ich würde sagen, er hat sich zu sehr für Keith geschämt auf einmal. Schon wenn sein Name fiel, ist er zusammengezuckt. Eines Tages meinte er dann, es gäbe Sachen, von denen er nicht wollte, daß sie jemals bekannt werden, auch nach seinem Tod nicht, nur Conrad — als seinen Erben, wenn Sie verstehen, Lee — müßte er in diese Dinge einweihen, damit er bei Bedarf darauf zurückgreifen könne. So bedrückt wie an dem Tag hatte ich ihn noch nie erlebt. Als er das nächste Mal zu mir kam, fragte ich ihn danach, aber er mochte noch immer nicht weiter darauf eingehen. Er sagte nur, er wollte Conrad ein versiegeltes Kuvert geben mit ganz genauen Anweisungen, ob und wann es zu öffnen sei, und er sagte, er habe immer sein Bestes für die Familie getan. Sein Allerbestes.«
Gerührt hielt sie inne.»Er war so ein Schatz, wissen Sie.«
«Ja.«
Die Geheimnisse waren heraus. Perdita weinte ein paar Tränen der Zuneigung und war offensichtlich mit sich im reinen. Ich stand auf, küßte sie auf die Wange und ging nach unten, um meine frisch geschorenen Kinder einzusammeln.
Sie sahen toll aus. Penelopes Freude über das gelungene Werk riß mich völlig hin. Die Jungen lachten mit ihr, mochten sie sehr, und ich, der sich nach ihr verzehrte, bezahlte für das Haareschneiden (obwohl sie protestierte), dankte ihr und verließ mit meinen Söhnen widerstrebend das Geschäft.
«Können wir da noch mal hingehen, Papa?«fragten sie.
«Irgendwann mal«, versprach ich und dachte bei mir:»Warum nicht?«und» Vielleicht liebt sie mich ja auch «und überlegte, daß auch die Kinder sie mochten, und verfing mich in einem Wust hoffnungsloser Selbstrechtfertigungen, bereit, meine unbefriedigende Ehe, um deren Bestand ich im Zug neulich noch gebetet hatte, glatt hinzuschmeißen.
Die Gardners holten uns ab und brachten uns mit den gereinigten Sachen, den Äpfeln, den neuen Turnschuhen und den Haarschnitten zurück zur Rennbahn und zum normalen Leben.
Am Abend telefonierten wir mit Amanda. Acht Uhr, und ihre Stimme schwer von Schlaf.
Ich verbrachte eine unglückliche, lange Nacht in Gedanken an meine Verpflichtungen und Begierden, aber auch an Keith und die Schurkereien, die er möglicherweise ausheckte. Wie konnte ich mich gegen ihn wehren? Ich dachte über Angst und den nötigen Mut nach und fühlte mich überfordert, der Situation nicht gewachsen.