Kapitel 8

Wissen Sie, was?«sagte Roger zu mir.

«Was denn?«

Wir standen ein wenig von den Polizisten entfernt auf dem Asphalt, die Trümmer noch vor Augen.

«Ich glaube, unser Sprengmeister hat einen größeren Bums verzapft, als er eigentlich wollte.«

«Wie meinen Sie das?«

Er sagte:»Es ist komisch mit hochexplosiven Stoffen. Die sind oft unberechenbar. Sie waren nicht mein Fachgebiet bei der Armee, aber natürlich machen die meisten Soldaten damit Bekanntschaft. Man neigt immer dazu, mehr Sprengstoff zu nehmen, als die Aufgabe erfordert, damit es auch ja wirklich hinhaut. «Er lächelte flüchtig.»Ein Kollege von mir sollte mal eine Brücke sprengen. Nur ein Loch reinblasen, um sie außer Betrieb zu setzen. Er hat die erforderliche Sprengstoffmenge überschätzt, und das ganze Ding zerstob zu feinstem Brückenpulver, das der Fluß wegspülte. Nichts blieb übrig. Alle fanden, er habe seine Sache glänzend gemacht, aber im stillen lachte er darüber. Auch ich hätte nicht gewußt, wieviel man braucht, um solch einen Schaden hier am Tribünenbau anzurichten. Und ich halte es für wahrscheinlich, daß der oder die Täter nur die Treppe demolieren wollten. Ich meine, wie sorgfältig die Wände im Treppenhaus belegt worden sind. Wenn die ganze Tribüne hätte zerstört werden sollen, warum dann nicht mit einer einzigen großen

Ladung? Wesentlich einfacher. Die Chance, beim Anbringen entdeckt zu werden, viel geringer. Verstehen Sie, was ich meine?«

«Ja.«

Er sah mir in die Augen.»Hören Sie«, sagte er verlegen,»es geht mich zwar nichts an, aber wäre es nicht besser, Sie würden sich in Ihrem Bus langlegen?«

«Ich gehe schon, wenn es sein muß.«

Er nickte.

«Ansonsten«, sagte ich,»ist es besser, man beschäftigt sich mit anderen Dingen.«

Das ließ er gelten.»Aber sagen Sie mir Bescheid.«

Plötzlich waren die Strattons rings um uns. Dart sagte mir ins Ohr:»Conrads Architekt ist auch da. Jetzt gibt es Zunder!«Ich sah ihm seine koboldhafte Freude an.»Hat Keith sie wirklich getreten?« fragte er.»Ivan meinte, ich hätte das Beste um Sekunden verpaßt.«

«Pech aber auch. Wo ist der Architekt?«

«Der Mann da neben Conrad.«

«Und das ist ein Erpresser?«

«Weiß der Himmel. Fragen Sie Keith.«

Er wußte ebensogut wie ich, daß ich Keith nichts fragen würde.

«Ich nehme an, Keith hat das erfunden«, sagte Dart.»Er lügt wie gedruckt — ein wahres Wort kommt ihm nicht über die Lippen.«

«Und Conrad? Lügt der auch?«

«Mein Vater?«Dart faßte das nicht als Verunglimpfung auf.»Mein Vater sagt aus Prinzip die Wahrheit. Oder aus mangelnder Einbildungskraft. Suchen Sie es sich aus.«

«Die Zwillinge am Scheideweg«, sagte ich.

«Zum Kuckuck, wovon reden Sie?«

«Erzähl ich Ihnen später.«

Marjorie sagte gerade unheildrohend:»Wir brauchen keinen Architekten.«

«Finde dich mit den Tatsachen ab«, bat Conrad.»Die Zerstörung geht doch durch und durch. Das ist ein Geschenk des Himmels, denn es gibt uns die Möglichkeit, etwas Sinnvolles zu bauen.«

Etwas Sinnvolles bauen. Die Wörter hallten im Gedächtnis wider. Etwas Sinnvolles bauen, das war eine Devise, die ein Dozent an der Uni uns bis zum Überdruß vorgebetet hatte.

Ich blickte vorsichtig zu Conrads Architekt und stellte mein geistiges Auge sechzehn Jahre zurück. Conrads Architekt, so dämmerte mir langsam, war wie ich Student an der Bauakademie der Architectural Association gewesen: älterer Jahrgang, Eliteschüler, ein vielversprechender Mann. Ich erinnerte mich an sein Gesicht und seine glänzenden Aussichten, und ich hatte seinen Namen vergessen.

Roger ließ uns stehen, um sich in den Konflikt zwischen Marjorie und Conrad einzuschalten, obwohl er als Verwalter da auf verlorenem Posten stand. Conrads Architekt nickte ihm kühl zu; er sah Roger offenbar als Kritiker, nicht als Verbündeten.

Dart winkte zu den Trümmern hin und fragte mich:»Was sollten sie Ihrer Meinung nach tun?«

«Meiner Meinung nach?«

«Ja.«

«Meine Meinung interessiert sie nicht.«

«Mich aber.«

«Ich finde, sie sollten alles dransetzen, herauszufinden, wer das getan hat und warum.«»Dafür ist doch die Polizei da.«

«Soll das heißen, daß die Familie es nicht rausfinden will?«

Dart sagte bestürzt:»Können Sie durch Wände sehen?«

«Wieso will es keiner wissen? Mir scheint das gefährlich.«

«Marjorie tut einfach alles, um die Angelegenheiten der Familie geheimzuhalten«, sagte Dart.»Sie ist schlimmer als Großvater, und der hätte jeden Preis gezahlt, damit der Name Stratton sauber bleibt.«

Keith mußte sie eine schöne Stange Geld gekostet haben seit den Zeiten meiner Mutter, dachte ich und überlegte flüchtig auch wieder, was Forsyth, den sie so ängstlich ausgrenzten, wohl getan haben mochte.

Dart sah auf seine Uhr.»Zwanzig vor zwölf«, sagte er.»Ich bin hier allmählich bedient. Was halten Sie vom

Mayflower?«

Nach einiger Überlegung sagte ich ja zum Mayflower und folgte Dart unauffällig zu dem sechs Jahre alten grünen Granada mit den rostigen linksseitigen Kotflügeln. Harold Quest hatte offenbar nichts gegen Abgänge. Wir fuhren ungehindert hinüber in das nachempfundene 17. Jahrhundert, wo Dart sich ein kleines Bier spendieren ließ und ich zusätzlich fünfzehn dick mit Käse, Schinken, Tomate und Lauch belegte Brote sowie ein Kilo Eiskrem bestellte.

«So viel Hunger können Sie doch nicht haben!«rief Dart aus.

«Ich muß fünf Mäuler stopfen.«

«Guter Gott. Hatte ich vergessen.«

Wir tranken das Bier, während wir auf die Sandwiches warteten, und dann fuhr er uns gutmütig durch den hinteren Eingang wieder auf die Rennbahn und hielt bei Rogers Haus, vor dem Bus.

Neben dem Haupteinstieg des Busses befand sich ein kleines Außenfach, in dem ich vor langer Zeit eine Glocke wie bei einem Milchwagen angebracht hatte. Dart sah belustigt zu, wie ich sie jetzt herausklappte und Sturm läutete.

Die Cowboys kamen von der Prairie heim, hungrig, trocken, ohne Fehl, und setzten sich auf Kisten und Hauklötzer, um ihr Mittagsbrot im Freien einzunehmen. Ich blieb mit dem Gehgestell stehen. Für die Jungen ein inzwischen gewohnter Anblick, den sie als selbstverständlich hinnahmen.

Sie hatten eine Festung aus Ästen und Stöcken gebaut, sagten sie. In dem Fort saß die US-Kavallerie (Christopher und Toby), und draußen waren die Indianer (alle anderen). Die Indianer waren (natürlich) die Guten, und sie hätten gern das Fort gestürmt und ein paar Skalps erbeutet. List und Tücke seien gefragt, meinte Häuptling Edward. Alan Rotfeder war sein bewährter Kundschafter.

Dart, der auch ein Sandwich aß, bezeichnete Neils grelle Kriegsbemalung (Mrs. Gardners Lippenstift) als einen Sieg der politischen Korrektheit.

Keiner von ihnen wußte, was er meinte. Ich sah, wie Neil die Worte stumm mit den Lippen formte, um sie zu speichern und später danach zu fragen.

Wie die Heuschrecken verputzten sie das Mayflower-Essen, und da mir der Augenblick günstig erschien, sagte ich zu ihnen:»Gebt Dart doch mal das Rätsel mit dem Pilger auf. Das interessiert ihn bestimmt.«

Christopher begann entgegenkommend:»Ein Pilger kam zu einer Weggabelung. Ein Weg führte in die Sicherheit, der andere in den Tod. An beiden Wegen stand ein Wächter.«

«Es waren Zwillinge«, sagte Edward.

Christopher nickte und erzählte weiter.»Der eine Zwilling sagte immer die Wahrheit, und der andere log immer.«

Dart wandte den Kopf und starrte mich an.

«Es ist ein sehr altes Rätsel«, sagte Edward, als müsse er sich entschuldigen.

«Der Pilger durfte nur eine Frage stellen«, sagte Toby.

«Eine einzige. Und um lebend davonzukommen, mußte er herausfinden, welcher Weg in die Sicherheit führt. Was hat er also gefragt?«

«Er hat gefragt, welcher Weg der sichere ist«, sagte Dart bedächtig.

Christopher sagte:»Welchen Zwilling hat er gefragt?«

«Den wahrheitsliebenden.«

«Aber woher sollte er denn wissen, wer von ihnen die Wahrheit sprach? Sie sahen beide gleich aus. Sie waren Zwillinge.«

«Conrad und Keith sehen nicht gleich aus«, sagte Dart.

Die Kinder verstanden den Einwand nicht und drängten weiter. Toby hakte nach:»Welche Frage hat der Pilger gestellt?«

«Hab keinen blassen Schimmer.«

«Denken Sie nach«, befahl Edward.

Dart drehte sich zu mir um.»Retten Sie mich!«sagte er.

«Das hat der Pilger aber nicht gesagt«, belehrte Neil ihn genüßlich.

«Wißt ihr es alle?«

Fünf Köpfe nickten.»Papa hat es uns gesagt.«

«Dann sollte der Papa es mir auch sagen.«

Aber Christopher übernahm das Erklären.»Der Pilger durfte nur eine Frage stellen, also ging er zu einem der

Zwillinge und sagte: >Wenn ich deinen Bruder frage, welcher Weg aus der Gefahr herausführt, welchen Weg wird er mir weisen?<«

Christopher schwieg. Dart sah verdutzt aus.»Das war’s?«fragte er.

«Das war’s. Also, was hat der Pilger gemacht?«

«Nun, er… ich geb mich geschlagen. Was hat er gemacht?«

Sie rückten nicht mit der Sprache heraus.

«Ihr seid vom Teufel geritten«, meinte Dart.

«Einer von den Zwillingen war ein Teufel«, sagte Edward,»und der andere war ein Engel.«

«Das hast du dir gerade ausgedacht«, warf ihm Toby vor.

«Na, und? Dadurch wird es doch interessanter.«

Mit einem Mal waren sie alle das Rätsel leid und zogen nach alter Gewohnheit los, zurück zu ihrem Phantasiespiel.

«Herr des Himmels!«rief Dart aus.»Das ist verdammt noch mal nicht fair.«

Ich lachte leise in mich hinein.

«Was hat denn nun der Pilger gemacht?«

«Knobeln Sie es aus.«

«Sie sind genauso schlimm wie Ihre Kinder.«

Dart und ich setzten uns wieder in seinen Wagen. Er legte das Gehgestell auf die Rückbank und meinte:»Keith hat Sie wirklich bös erwischt, was?«

«Nein, das war die Explosion. Das Dach ist eingestürzt.«

«Und auf Sie gefallen. Habe ich schon gehört.«

«Von den Schulterblättern abwärts«, bestätigte ich.»Hätte schlimmer kommen können.«»Na klar. «Er ließ den Motor an und fuhr den Serviceweg entlang.»Also, was hat der Pilger gemacht?«

Ich lächelte.»Er hat sich von einem der Zwillinge sagen lassen, welche Straße die sichere sei, und ist dann die andere entlanggegangen. Denn seine Frage war so formuliert, daß beide Zwillinge ihm die Straße zum Tod zeigen würden.«

Er überlegte nur kurz.»Wieso?«

«Fragt der Pilger den ehrlichen Zwilling, welchen Weg aus der Gefahr sein Bruder ihm weisen würde, dann muß der ehrliche Zwilling, der ja weiß, daß sein Bruder immer lügt, auf den Weg zeigen, der in den Tod führt.«

«Da komme ich nicht mit.«

Ich erklärte das Ganze noch einmal.»Und«, sagte ich,»wenn es sich trifft, daß der Pilger den verlogenen Zwilling fragt, welchen Weg aus der Gefahr sein Bruder weisen würde, dann antwortet der Lügenbold, der weiß, daß sein Bruder die Wahrheit sagen würde, mit der Unwahrheit. Auch der verlogene Bruder zeigt also auf den Weg, der in den Tod führt.«

Dart verfiel wieder in Schweigen. Schließlich sagte er:»Verstehen Ihre Söhne das?«

«Ja. Sie haben es szenisch durchgespielt.«

«Zanken die sich niemals?«

«Doch, natürlich. Aber sie sind so oft umgezogen, daß sie außerhalb der Familie kaum Freundschaften geschlossen haben. Sie halten zusammen. «Ich seufzte.»Das wird sich auch bald ändern. Christopher ist für die Hälfte ihrer Spiele schon zu alt.«

«Schade.«

«Das Leben geht weiter.«

Dart brachte sein rostiges Gefährt sacht auf dem Behelfsparkplatz vor Rogers Büro zum Stehen.

Ich sagte zögernd:»Waren Sie gestern morgen wirklich mit dem Wagen hier, wie Harold Quest behauptet?«

«Nein. «Dart nahm die Frage nicht übel.»Und zwischen acht und halb neun war ich effektiv zu Hause im Bad beschäftigt, weil ich nämlich — und lachen Sie jetzt bloß nicht, ich erzähle das sonst keinem — einen neuen Kopfhautvibrator habe, der den Haarausfall bremsen soll.«

«Schlangenöl«, sagte ich.

«Verflucht, Sie sollten doch nicht lachen.«

«Ich lache ja auch nicht.«

«Ihre Mundwinkel zucken.«

«Jedenfalls glaube ich Ihnen schon der Haare wegen«, sagte ich,»daß Sie gestern morgen um zwanzig nach acht nicht mit Ihrer Klapperkiste voller Sprengschnur und Plastiksprengstoff auf die Rennbahn gekommen sind.«

«Tausend Dank.«

«Die Frage ist, ob sich jemand ohne Ihr Wissen Ihren Wagen ausgeliehen haben könnte. Ginge es vielleicht, daß der Sprengstoffexperte oder die Polizei den Wagen einmal auf Nitratspuren prüfen?«

Er sah entgeistert aus.»Das kann nicht Ihr Ernst sein!«

«Irgend jemand«, erläuterte ich,»hat gestern Sprengstoff zu der Treppe im Tribünenbau geschafft. Verlegt wurde das Ganze wahrscheinlich nach sieben, als der Nachtwächter gegangen war. Da war es inzwischen taghell. Aber da wir Karfreitag hatten, war das Gelände verlassen bis auf Harold Quest und seine Kumpel am Eingang, und wieweit man denen trauen kann, weiß ich nicht.«

«Die verlogenen Zwillinge«, sagte Dart.

«Mag sein.«

Ich versuchte mir den unbekümmerten Dart mit seinem Bauchansatz und dem schütteren Haar, der ironischen Geistesart und dem trägen Kern als jemand vorzustellen, der sich dazu hinreißen ließ, eine Tribüne in die Luft zu jagen. Unmöglich. Aber sein Auto verleihen? Es ohne Trara zu einem nicht näher bezeichneten Zweck verleihen — das bestimmt. Es in dem Wissen verleihen, daß es für eine Straftat herhalten sollte? Ich hoffte nicht. Und doch hätte er zugelassen, daß ich den verschlossenen Schrank im Arbeitszimmer seines Vaters aufbreche. Er hatte mich dorthin gefahren und mir den Weg zu jeder Schandtat geebnet. Mein Rückzieher hatte ihn dann überhaupt nicht gekümmert.

Ein laxer Sinn für Recht und Unrecht oder eine tiefe Entfremdung, die er gewohnheitsmäßig verbarg?

Ich mochte Dart; seine Gesellschaft war anregend. Von den Strattons war er der normalste. Fast hätte man sagen können, eine Rose unter Brennesseln.

Ich fragte beiläufig:»Wo ist denn Ihre Schwester Rebecca heute? Eigentlich hätte ich erwartet, daß sie hier ist und richtig schnurrt vor Zufriedenheit.«

«Sie reitet in Towcester«, sagte er kurz.»Hab ich in der Zeitung gesehen. Es freut sie sicher riesig, daß die Tribüne hinüber ist, aber ich habe sie seit Mittwoch nicht gesprochen. Sie hat, glaub ich, mit Vater geredet. Am Montag reitet sie hier eins von seinen Pferden. Das hat gute Aussichten auf einen Sieg, von daher würde sie den Renntag sicher nicht mit Dynamitzündeleien aufs Spiel gesetzt haben, falls Sie das annehmen.«

«Wo wohnt sie?«fragte ich.

«Lambourn. Rund zehn Meilen von hier.«

«Pferdeland.«

«Pferde sind die Luft, die sie atmet. Echt verrückt.«

Häuserbauen war die Luft, die ich atmete. Für mich war es erfüllend, Ziegel auf Ziegel zu setzen, Stein auf Stein: etwas Totes zum Leben zu erwecken. Ich hatte Verständnis für ganz auf ein Ziel gerichtete Energien. Ob zum Guten oder zum Schlechten, ohne sie tut sich auf der Welt nicht viel.

Die anderen Strattons kamen vorn um die Tribüne herum und brachten Conrads Architekten mit. Die Polizei und der Sprengstoffexperte siebten offenbar sorgfältig vom Rand her die Trümmer durch. Der schnauzbärtige Gutachter kratzte sich am Kopf.

Roger kam zu Darts Wagen herüber und fragte, wo wir gesteckt hätten.

«Wir haben die Kinder verköstigt«, sagte ich.

«Aha! Nun, die Ehrenwerte Marjorie möchte Sie auseinandernehmen. Äh…«Er besann sich auf mehr Zurückhaltung, weil Dart dabei war.»Mrs. Binsham möchte Sie in meinem Büro sprechen.«

Ich kletterte steifbeinig auf den Asphalt hinaus und stakste los. Roger kam an meine Seite.

«Lassen Sie sich nicht von ihr fertigmachen«, sagte er.

«Nein. Keine Sorge. Wissen Sie zufällig, wie dieser Architekt heißt?«

«Bitte?«

«Conrads Architekt.«

«Der heißt Wilson Yarrow. Conrad sagt Yarrow zu ihm.«

«Danke.«

Ich blieb abrupt stehen.

Roger sagte:»Was ist los? Schlimmer geworden?«

«Nein. «Ich sah ihn geistesabwesend an, was ihn erst recht beunruhigte. Ich fragte:»Haben Sie jemandem von den Strattons gesagt, daß ich Architekt bin?«

Er war verblüfft.»Nur Dart. Dem haben Sie es selbst gesagt, wissen Sie noch? Wieso? Spielt das eine Rolle?«

«Erzählen Sie es keinem«, sagte ich. Ich machte eine Kehrtwende zurück zu Dart, der ausstieg und mir entgegenkam.

«Was gibt’s?«sagte er.

«Nichts weiter. Aber… haben Sie zufällig gegenüber jemandem aus Ihrer Familie erwähnt, daß ich gelernter Architekt bin?«

Er dachte stirnrunzelnd zurück. Roger, der zu uns trat, sah völlig verwirrt aus.»Was liegt daran?«

«Ja«, wiederholte Dart,»was liegt daran?«

«Ich möchte nicht, daß Conrad es erfährt.«

Roger protestierte.»Aber Lee, warum denn nicht?«

«Der Mann, den er dabeihat, Wilson Yarrow, er und ich haben an derselben Schule studiert. Irgendwas ist mit ihm…«Ich stockte und dachte angestrengt nach.

«Was soll mit ihm sein?«wollte Roger wissen.

«Das ist ja das Dumme, ich komme nicht mehr drauf. Ich kann es aber leicht rauskriegen. Nur würde ich das lieber klären, ohne daß er davon erfährt.«

«Wollen Sie damit sagen«, fragte Dart,»daß er die Tribüne gesprengt hat, um den Auftrag für ihren Neubau zu bekommen?«

«Gott«, sagte Roger.»Das nenne ich voreilige Schlüsse ziehen.«

«Es ist Keiths Meinung. Er hat das gesagt.«

«Ich glaube, die wissen nur, daß Sie vom Bau sind«, sagte Roger nachdenklich zu mir,»und mit Verlaub, im Augenblick sehen Sie auch genauso aus.«

Ich warf einen Blick auf mein weites kariertes Hemd und

die ausgebeulten, abgewetzten Arbeitsjeans, und es war mir nur lieb, daß er recht hatte.

«Kennt er Sie nicht auch«, fragte Roger,»wenn Sie auf dieselbe Schule gegangen sind?«

«Nein. Ich war mindestens drei Jahrgänge hinter ihm und nicht besonders auffällig. Er war ein leuchtender Stern. Ein anderes Firmament. Ich glaube nicht, daß wir je miteinander gesprochen haben. Solche Leute sind zu sehr mit ihren eigenen Angelegenheiten beschäftigt, um sich die Namen und Gesichter der jüngeren Semester zu merken. Und es war ja nicht vorige Woche. Vor siebzehn Jahren habe ich mich da eingeschrieben.«

Wenn sich zwei Architekten kennenlernten, eröffneten sie das Gespräch in aller Regel mit der Frage:»Wo haben Sie studiert?«Und an der Antwort wurden vorgefaßte Meinungen festgemacht.

Die Bauschule in Cambridge etwa stand am ehesten für behutsames Bewahren, die in Bath für Substanz vor Schönheit und das Macintosh in Glasgow für schottischen Nationalstolz. Wer an einer dieser Schulen studiert hatte, wußte, wie seine Studiengenossen eingestellt waren. Man verstand den Fremden auf Grund der gemeinsamen Erfahrungen.

Die Architectural Association, Alma mater von Yarrow und mir, brachte hauptsächlich innovative Ultramodernisten hervor, die in die Zukunft blickten und raffinierte Wohnma-schinen aus Glas errichteten. Der Geist Le Corbusiers regierte, auch wenn die Schule selbst am Bedford Square in London stand — eine terrassenförmig angelegte, wohlproportionierte georgianische Villa, die oft im Widerspruch zu den in ihr gehaltenen Vorlesungen zu stehen schien.

Die immer hell erleuchteten Fenster der Bibliothek strahlten abends auf den dunklen Platz hinaus, feierten gleichsam das Licht der Erkenntnis, und wenn selbstzufriedene Studentenstars einer gewissen Arroganz zuneigten, dann war die herausragende Qualität und Gründlichkeit des Unterrichts vielleicht eine Entschuldigung dafür.

Da die Schule weitgehend außerhalb des staatlichen Er-ziehungs- und Bildungssystems stand, wurde sie von der öffentlichen Hand kaum gefördert und hauptsächlich von zahlenden Studenten besucht. So kam es auch, daß der Zustrom einheimisch-englischer Künstlertypen mit den Jahren nachließ, während die Zahl der Sprößlinge wohlhabender Griechen, Nigerianer, Amerikaner, Iraner und Hongkong-Chinesen allmählich zunahm, und mir schien, ich hatte durch den Verkehr mit ihnen viel gelernt und verdankte diesem Kontakt ungewöhnliche Freundschaften.

Der äußerst praxisbezogene, zuweilen auch metaphysische Unterricht hatte mir vor allem das angewandte Wissen Le Corbusiers und humanistische Tendenzen vermittelt, und ich würde es in den Hallen der Mutter, die mich genährt hatte, nie zu Ehren bringen: Wer alte Ruinen wiederherstellt, erwirbt sich keinen Nachruhm.

Dart fragte neugierig:»Haben Sie einen Titel?«

Ich zögerte.»Bitte? Ja, hab ich. A. A. Dipl., das steht für Diplom der Architectural Association. Der Allgemeinheit sagt es vielleicht nichts, aber für andere Architekten, auch für Yarrow, ist es ziemlich aufschlußreich.«

«Hört sich an wie Anonyme Alkoholiker, die Plastikbomben legen.«

Roger lachte.

«Halten Sie den kleinen Scherz unter Verschluß«, bat ich, und Dart sagte, er könne sich vielleicht dazu durchringen.

Mark, Marjories Chauffeur, stieß zu uns und erklärte uns mißbilligend, ich ließe Mrs. Binsham warten. Sie sitze im Büro und wippe mit dem Fuß.

«Sagen Sie ihr, ich bin unterwegs«, sagte ich, und Mark ging, um es auszurichten.

«Dieser wackere Mann verdient das Viktoriakreuz«, grinste Dart,»für hervorragende Tapferkeit. «Ich ging hinter Mark her.»Genau wie Sie«, rief Dart mir nach.

Marjorie mit ihrem steifen Rücken war in der Tat verärgert, aber wie sich herausstellte, nicht über Mark oder mich. Der Chauffeur war auf einen Spaziergang geschickt worden. Ich wurde aufgefordert, Platz zu nehmen.

«Ich möchte eigentlich lieber stehen.«

«Ach ja, ich vergaß. «Sie musterte mich kurz vom Hemd bis zu den Jeans, als wüßte sie mich wegen meiner wechselnden Erscheinung nicht recht einzuordnen.

«Sie sind, glaube ich, Bauunternehmer«, begann sie.

«Ja.«

«Nun, nachdem Sie sich den Schaden an der Tribüne jetzt näher angeschaut haben — was sagt der Bauunternehmer dazu?«

«Zur Wiederherstellung in der alten Form?«

«Natürlich.«

Ich sagte:»So sehr ich Ihren Wunsch verstehe, ich hielte das offen gestanden für einen Fehler.«

Sie war eigensinnig.»Aber es ließe sich machen?«

Ich sagte:»Der ganze Bau könnte sich als unstabil erweisen. Das Gebäude ist alt, wenn auch, zugegeben, gut gearbeitet. Es könnten aber Risse entstanden sein, die man noch nicht sieht, und zweifellos haben sich neue Belastungen ergeben. Sind die Trümmer erst entfernt, könnten weitere Gebäudeteile einstürzen. Man müßte alles abstützen. Es tut mir wirklich leid, aber ich würde Ihnen raten, alles abzureißen und ganz neu zu bauen.«

«Das möchte ich nicht hören.«»Ich weiß.«

«Ließe es sich denn wieder so aufbauen, wie es war?«

«Natürlich. Die Pläne und Zeichnungen sind ja alle noch hier im Büro. «Ich hielt inne.»Aber es wäre eine verpaßte Gelegenheit.«

«Sagen Sie bloß, Sie halten es mit Conrad?«

«Ich halte es mit niemandem. Ich sage Ihnen nur ehrlich, daß Sie die alte Tribüne im Hinblick auf moderne Ansprüche enorm verbessern könnten, wenn Sie sie neu entwerfen ließen.«

«Mir gefällt aber der Architekt nicht, den Conrad uns aufzwingen will. Ich verstehe ihn nur zur Hälfte, und Sie werden es nicht glauben, aber der Mann benimmt sich herablassend.«

Und ob ich das glaubte.»Er wird schon noch einsehen, daß das ein Fehler ist«, sagte ich lächelnd.»Falls Sie sich übrigens doch für einen Umbau der Tribüne entscheiden sollten, wäre es ratsam, in Architekturzeitschriften einen Wettbewerb auszuschreiben und die eingehenden Pläne einer Jury vorzulegen, die Sie bestimmen könnten. Dann hätten Sie eine Auswahl. Sie wären nicht an Wilson Yarrow gebunden, der vom Rennsport, wie der Colonel mir versichert, keinen Schimmer hat. Man würde noch nicht einmal einen Sessel kaufen, ohne sich probehalber reinzusetzen. Die Tribünen müssen bequem sein und gut aussehen.«

Sie nickte nachdenklich.»Sie wollten sich mal über diesen Yarrow informieren. Haben Sie das getan?«

«Bin dabei.«

«Und Keiths Schulden?«

«Ich arbeite dran.«

Sie schnaubte ungläubig, nicht ganz zu Unrecht.»Ich nehme an«, setzte sie, um Fairneß bemüht, hinzu,»daß es Ihnen schwerfällt herumzulaufen.«

Ich zuckte die Achseln.»Auch die Feiertage sind ein Problem. «Ich überlegte kurz.»Wo wohnt Keith?«

«Über seinem Wert.«

Ich lachte. Marjorie schmunzelte über ihre eigene Schlagfertigkeit.

Sie sagte:»Er wohnt im Wittibhaus auf dem Gut. Es wurde für die Witwe des ersten Barons gebaut, und da sie gern geprotzt hat, ist es ziemlich groß. Keith tut, als ob es ihm gehört, aber er wohnt da zur Miete. Jetzt, wo mein Bruder tot ist, fällt es natürlich an Conrad.«

Ich fragte zögernd:»Und. welche Einkünfte hat Keith?«

Marjorie mißbilligte die Frage, antwortete aber nach einiger Überlegung; schließlich hatte sie mir die Rolle in dem Spiel selbst zugeteilt.

«Seine Mutter hat ihn sichergestellt. Sie war vernarrt in ihn; er war ein hübsches Kind, und auch als junger Mann sah er gut aus. Sie ließ ihm alles durchgehen. Conrad und Ivan waren immer plump und ungeschickt und haben ihr nie Freude gemacht. Sie starb vor ungefähr zehn Jahren. Damals hat Keith sein Geld geerbt, und ich würde meinen, er hat es verbraten.«

Ich überlegte ein wenig und fragte:»Wer ist der Vater von Jack?«

«Das geht Sie nichts an.«

«Es tut nichts zur Sache?«

«Natürlich nicht.«

«Wettet Keith auf Pferde? Was spielt er? Karten? Backgammon?«

«Vielleicht finden Sie das ja raus. Mir erzählt er selbstverständlich nichts davon.«

Ich wußte nur eine Möglichkeit, mir Einblick in Keiths Angelegenheiten zu verschaffen, und auch die war problematisch. Als erstes würde ich mir einen Wagen leihen und ihn fahren müssen, wo mir doch schon das Gehen schwerfiel. Laß dir zwei, drei Tage Zeit, dachte ich. So bis Dienstag.

«Was fängt Keith mit seiner Zeit an?«fragte ich.

«Er sagt, er hat einen Job in der Londoner City. Den hatte er vielleicht mal, aber jetzt ist das bestimmt gelogen. Er lügt ja dauernd. Im übrigen ist er fünfundsechzig. Rentenalter, wie man sagt. «Sie rümpfte mehr oder weniger die Nase.»Wer Verpflichtungen hat, pflegte mein Bruder zu sagen, der geht nie in Rente.«

Ob man sich zur Ruhe setzte, blieb einem zwar nicht immer selbst überlassen, aber wozu streiten? Nicht jeder war ein Baron mit ererbtem Titel, abhängigen Geschwistern und väterlicher Einstellung. Nicht jeder besaß Geld genug, um Karren zu schmieren und Wogen zu glätten. Mein Nichtgroßvater, dachte ich, mußte bei all seinen Schwächen ein netter Mensch gewesen sein; meine Mutter hatte ihn ja auch gemocht, und Dart ebenfalls.

«Wie steht’s mit Ivan?«fragte ich.

«Ivan. «Ihre Brauen hoben sich.»Wie meinen Sie?«

«Er hat ein Gartencenter?«

Sie nickte.»Mein Bruder hat ihm fünfzig Morgen Land geschenkt. Vor Jahren schon, als Ivan noch jung war. Er versteht sich aufs Pflanzen, Säen, Aufziehen. «Nach einer Pause fuhr sie fort:»Man braucht nicht hochintelligent zu sein, um ein zufriedenes, redliches Leben zu führen.«

«Aber Glück braucht man dazu.«

Sie musterte mich und nickte.

Da sie keine Fragen mehr an mich zu haben schien, fragte ich sie, ob sie die Gehaltsschecks für Roger und Oliver unterschreiben könne.

«Was? Ja, das habe ich ihm doch gesagt. Der Colonel soll mich bei Gelegenheit noch mal daran erinnern.«

«Ich hab sie hier«, sagte ich und zog den Umschlag aus meiner immer noch über dem Stuhl hängenden Jacke.»Haben Sie was zum Schreiben?«

Resigniert kramte sie einen Stift aus ihrer großen Handtasche, nahm die Schecks aus dem Umschlag und setzte ihren Namenszug exakt, ohne Schnörkel auf die dafür vorgesehene Linie.

Ich sagte schüchtern:»Um Ihnen die Mühe künftig zu ersparen, könnte der Vorstand doch auch Conrad, Ivan oder Dart die Zeichnungsbefugnis für Schecks geben. Dazu müßten sie nur ihre Unterschrift bei der Bank hinterlegen. Es kommen bestimmt noch eine Menge Sachen — und nicht nur Gehaltsschecks — auf Sie zu, die unterschrieben werden müssen. Der Colonel braucht Vollmachten, wenn er verantwortlich handeln soll.«

«Sie scheinen sich ja gut auszukennen!«

«Ich kenne mich mit Geschäften aus. Ich habe eine GmbH.«

Sie runzelte die Stirn.»Also gut. Alle drei dann. Genügt das?«

«Am besten unterschreiben je zwei aus dem Vierervorstand. Dann sind Sie abgesichert, und die Ehrlichkeit des Colonels kann von Keith oder Rebecca nicht mehr ange-zweifelt werden.«

Sie wußte nicht, ob sie verärgert oder belustigt sein sollte.»Sie haben ja im Handumdrehen unsere Stratton-Seelen bloßgelegt, was?«

Bevor ich antworten konnte, wurde unerwartet die Bürotür aufgestoßen, und Keith und Hannah kamen herein.

Ohne sich um meine Anwesenheit zu kümmern, beklagten sie sich lautstark bei Marjorie, daß Conrad mit seinem Architekten rede, als wären die neuen Pläne eine ausgemachte Sache.

«Er sagt schon wenn«, nörgelte Keith,»nicht falls. Ich bin absolut gegen dieses blödsinnige Vorhaben, und du mußt es unterbinden.«

«Tu das doch selbst«, entgegnete seine Tante bissig.»Du schlägst viel Lärm, Keith, aber du bringst nichts zustande. Und da du und Hannah schon mal hier seid, könnt ihr euch ruhig bei Mr. Morris dafür entschuldigen, daß ihr ihn angegriffen habt.«

Keith und Hannah warfen mir gleichermaßen böse Blik-ke aus schmalen Augenschlitzen zu. Für sie stellte es sich wohl so dar, daß sie ihr eigentliches Ziel nicht erreicht hatten, weil Marjorie und Ivan zufällig dazwischengekommen waren. Ich war immer noch da, immer noch auf den Beinen, ein für allemal das Symbol der unerträglichen Abneigung und Zurückweisung, die sie erlebt hatten. Daß ihr Haß irrational war, änderte nichts. Irrationaler Haß ließ weltweit Bäche von verfemtem Blut entstehen — obwohl nur Frankreich in seinem patriotischen Schlachtruf ausdrücklich zu Metzeleien aufgefordert hat und die Marseillaise noch heute das Gedankengut von 1792 hochhält.

Damals war das verfemte Blut österreichischer Herkunft gewesen. Zwei Jahrhunderte später gediehen Blutsfehden rund um den Globus. Im Büro des Verwalters von Stratton Park roch es förmlich nach Blutsfehde. Durch meine bloße Anwesenheit hatte ich bei Keith und Hannah Gefühle geweckt, die sie nicht unter Kontrolle hatten, und es kam mir keineswegs so vor, als wäre die Sache erledigt. Nur Marjorie stand in diesem Augenblick zwischen mir und der Fortsetzung ihres Vorhabens vom frühen Vormittag. Ironisch dachte ich bei mir, daß sich jeder große und normalerweise kräftige Schwächling eine standhafte Leibwache in den Achtzigern zulegen sollte.

Marjorie wartete nur kurz auf die Entschuldigung, die niemals kommen würde, und ich für mein Teil konnte auf Entschuldigungen gern verzichten, wenn sie nur einsahen, daß auch mit noch so viel Stratton-Geld eine Anklage wegen Mordes nicht abzuwenden sein würde.

Mord am Halbbruder. Mord am Sohn der Exfrau. Wie auch immer.

Amöbengleich folgten Strattons auf Strattons, als wären sie Bestandteile eines Gruppenorganismus, und Conrad stieß mit Jack und Ivan zu uns, verstärkt durch den Fremdkörper Wilson Yarrow und vervollständigt durch Dart, der schalkhaft amüsiert aussah, sowie durch Roger, der sich Mühe gab, nicht aufzufallen. Wieder war die Gesellschaft zu groß für den Raum.

Wilson Yarrow kannte mich nicht. Ich warf nur einen flüchtigen Blick auf ihn, aber er nahm mich noch weniger wahr. Seine Aufmerksamkeit wurde weitgehend von Conrad beansprucht, dem es keine Ruhe gelassen hatte, daß Keith mit Marjorie hinter einer geschlossenen Tür sprach.

Äußerlich war an Wilson Yarrow weniger sein Aussehen bemerkenswert als seine Haltung. Das rötlichbraune Haar, die lange, schmalschultrige Gestalt und das breite, schwere Kinn hinterließen keinen bleibenden Eindruck. Aber wie er den Kopf in den Nacken legte, um von oben herunterschauen zu können, das prägte sich ein.

Herablassend hatte ihn Marjorie genannt. Überzeugt von seiner Überlegenheit, dachte ich, und nicht mal ein Hauch von Bescheidenheit, um es zu bemänteln.

Conrad sagte:»Wilson Yarrow ist der Ansicht, wir sollten das Gelände räumen und sofort mit dem Wiederaufbau beginnen, und ich habe diesem Vorschlag zugestimmt.«

«Mein lieber Conrad«, sagte Marjorie mit ihrer Einfrierstimme,»so etwas zu entscheiden steht dir nicht zu. Dein Vater war berechtigt, derartige Entscheidungen zu treffen, weil ihm die Rennbahn gehört hat. Jetzt gehört sie uns allen, und bevor irgend etwas unternommen wird, muß die Mehrheit unseres Vorstandes damit einverstanden sein.«

Conrad sah gekränkt aus und Wilson Yarrow gereizt; er hielt die alte Dame offenbar für eine unbedeutende Quertreiberin.

«Fest steht nur«, fuhr Marjorie mit ihrer kristallklaren Aussprache fort,»daß wir eine neue Tribüne brauchen.«

«Nein!«warf Keith ein.»Wir verkaufen!«

Marjorie beachtete ihn nicht.»Ich bin sicher, daß Mr. Yarrow ein sehr tüchtiger Architekt ist, aber bei etwas so Wichtigem wie neuen Zuschauerbauten wäre ich doch dafür, daß wir in einer von Architekten gelesenen Zeitschrift einen Wettbewerb ausschreiben und Pläne und Vorschläge von allen Interessenten kommen lassen, damit wir verschiedene Möglichkeiten prüfen und unsere Wahl treffen können.«

Conrad war ebenso entrüstet wie Yarrow.

«Aber Marjorie — «, setzte Conrad an.

«Das wäre doch das normale Verfahren, nicht wahr?«fragte sie treuherzig.»Ich meine, man würde doch nicht mal einen Sessel kaufen, ohne verschiedene Modelle nach Aussehen, Komfort und Zweckmäßigkeit zu vergleichen, oder?«

Sie streifte mich mit einem kurzen, ausdruckslosen Blick. Zweimal bravo, dachte ich.

«Als Vorstandsmitglied«, sagte Marjorie,»stelle ich den Antrag, daß wir eine Auswahl von Vorschlägen für eine

Tribüne einholen, und selbstverständlich ist auch Mr. Yarrows Vorschlag uns willkommen.«

Totenstille.

«Möchtest du den Antrag unterstützen, Ivan?«regte Marjorie an.

«Ach so. Ja. Vernünftig. Sehr vernünftig.«

«Conrad?«

«Na hör mal, Marjorie…«

«Nimm Vernunft an, Conrad«, drängte sie. Conrad wand sich. Yarrow blickte wütend.

Keith sagte unerwartet:»Du hast recht, Marjorie. Ich stimme dafür.«

Sie sah überrascht aus, doch obwohl sie sich genau wie ich gedacht haben mochte, daß es Keith nur darum ging, den Wiederaufbau zu behindern, kam sein Beistand ihr gerade recht.

«Angenommen«, sagte sie nüchtern.»Colonel, könnten Sie sich vielleicht nach einer geeigneten Zeitschrift für die Ausschreibung erkundigen?«

Roger sagte, das könne er bestimmt und er werde es tun.

«Ausgezeichnet. «Marjorie umfing mit ruhigem Blick die aus der Fassung gebrachte Person, die den Fehler begangen hatte, sich herablassend zu benehmen.»Wenn Sie Ihre Pläne fertig haben, Mr. Yarrow, werden wir sie uns gerne anschauen.«

Er sagte mit zusammengebissenen Zähnen:»Lord Stratton hat sie schon.«

«So?«Conrad wand und krümmte sich unter dem gleichen ruhigen Blick.»Aber Conrad, ich glaube, die würden wir uns dann doch alle gern mal ansehen, hm?«

Stratton-Köpfe nickten mit unterschiedlichen Graden der Heftigkeit.

«Sie liegen bei mir zu Hause«, teilte er ihr widerwillig mit.»Ich könnte sie dir wohl mal vorbeibringen.«

Marjorie nickte.»Heute nachmittag, ja? Um vier. «Sie sah auf ihre Armbanduhr.»Du meine Güte! Höchste Zeit, daß wir zu Mittag essen. Was für ein anstrengender Morgen. «Sie stellte sich auf ihre kleinen Füße.»Colonel, da unser Speiseraum auf der Tribüne vermutlich außer Betrieb ist, könnten Sie vielleicht dafür sorgen, daß wir am Montag irgendwo ein passendes Plätzchen haben. Ich nehme an, die meisten von uns sind dabei.«

Wieder sagte Roger schwach, er werde sich darum kümmern. Marjorie trat gütig nickend ab, ganz die große alte Dame, begab sich in Marks treusorgende Obhut, und der fuhr sie davon.

Mehr oder minder sprachlos gingen auch die anderen, Conrad zusammen mit einem wütenden Yarrow, und Roger und ich blieben als einzige auf dem still gewordenen Kampffeld zurück.

«So ein alter Drachen!«sagte Roger bewundernd. Ich gab ihm seine Gehaltsschecks. Er schaute auf die Unterschrift.

«Wie haben Sie denn das angestellt?«sagte er.

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