Frau Schlotterbeck wohnte in einem alten, ziemlich heruntergekommenen Häuschen am Waldrand, das ringsum von einer hohen Dornenhecke umgeben war. Am Gartentor hing ein Schild mit der Aufschrift:
Witwe Portiunkula Schlotterbeck
Staatl. geprüfte Hellseherin
Kartenlegen, Traum- und Handliniendeutung
Vorhersagen aus Kaffeesatz
Geisterbeschwörung jeglicher Art u.a.m.
Sprechstunde täglich
sowie nach Vereinbarung
Eine Handbreit darunter war eine rot umrandete Warnungstafel angebracht:
Herr Dimpfelmoser zog an der Glocke neben dem Gartentor. Im nächsten Augenblick kläffte drinnen ein Hund los – so wütend, dass der Herr Oberwachtmeister unwillkürlich zurückzuckte und die Hand an den Säbel nahm.
Während er auf die Witwe Schlotterbeck wartete, musste er daran denken, dass es im ganzen Städtchen keinen Menschen gab, der ihren Hund je zu Gesicht bekommen hatte. Sie pflegte ihn tagsüber nämlich in einer Art Ziegenstall einzusperren und ließ ihn nur nachts im Garten umherlaufen. Aber das konnte sie schließlich halten, wie es ihr passte: Hauptsache, sie bezahlte die Hundesteuer für ihn – und das tat sie gewissenhaft.
Herr Dimpfelmoser ließ eine Weile verstreichen, dann läutete er zum zweiten und später zum dritten Mal. War Frau Schlotterbeck nicht zu Hause?
„Ich werde es gegen Abend noch einmal versuchen ..."
Er wollte gerade gehen, da hörte er eine Tür kreischen und Frau Schlotterbeck kam durch den Garten geschlurft.
Eigentlich hätte sie Wabbelbeck heißen müssen, denn alles an ihr war rund und wabbelig, auch das Gesicht mit dem sechsfachen Doppelkinn und den mächtigen Hängebacken. Obwohl es bereits auf vier Uhr nachmittags ging, trug Frau Schlotterbeck einen geblümten Morgenrock, dazu Lockenwickel im Haar und ausgetretene Filzpantoffeln. Sie schnaufte und keuchte bei jedem Schritt wie eine überanstrengte Dampfmaschine.
„Ach, Sie sind's, Herr Oberwachtmeister!" Ihre Stimme klang tief und hohl, als spräche sie durch ein Ofenrohr. „Was verschafft mir die Ehre?"
„Ich hätte mit Ihnen zu reden, Frau Schlotterbeck. Darf ich eintreten?"
„Bitte sehr, kommen Sie nur herein!"
Während sie durch den verwilderten Garten gingen, bellte der Hund von neuem los wie nicht recht gescheit.
„Willst du wohl still sein, Wasti!" Frau Schlotterbeck blickte Herrn Dimpfelmoser verlegen an. „Sie müssen entschuldigen. Wasti regt sich bei jeder Kleinigkeit schrecklich auf."
In Frau Schlotterbecks Wohnstube herrschte geheimnisvolles Halbdunkel, da sie die Vorhänge tagsüber stets geschlossen hielt – nach dem Grundsatz: Zum Hellsehen muss es dunkel sein.
„Bitte, nehmen Sie Platz!"
Frau Schlotterbeck zündete eine Kerze an, die genau in der Mitte des Tisches stand, dessen Platte mit allerlei seltsamen Zeichen bedeckt war: mit Sternen von unterschiedlicher Größe und Form, mit Quadraten und Kreuzen, mit Ziffern und Kreisen und Buchstaben einer fremden Schrift, die Herr Dimpfelmoser nicht lesen konnte.
„Zigarre?"
Sie schob ihm ein flaches Kästchen hin.
„Danke – im Dienst bin ich Nichtraucher."
„Aber Sie haben doch hoffentlich nichts dagegen, wenn ich ..."
Damit entnahm sie dem Kästchen eine dicke schwarze Zigarre, schnupperte daran, biss ihr die Spitze ab, rauchte sie an und begann zu paffen.
„Sie hätten also mit mir zu reden?"
„So ist es."
Herr Dimpfelmoser wollte beginnen ihr auseinander zu setzen, worum es sich handelte, doch Frau Schlotterbeck schnitt ihm das Wort ab.
„Nicht nötig, mein Bester – schauen Sie mal hierher!"
Sie klemmte sich ein Monokel ins rechte Auge und deutete mit dem Finger auf dessen unteren Rand.
„Wozu kann ich schließlich Gedanken lesen? Aber nicht zwinkern, bitte!"
Herr Dimpfelmoser gehorchte, obgleich es ihm Unbehagen bereitete, dass ihm Frau Schlotterbeck sozusagen ins Hirn schaute. Zum Glück war die Sache bald ausgestanden.
„Ich weiß nun, wo Sie der Schuh drückt", sagte Frau Schlotterbeck. „Aber ich kann Sie beruhigen. Kommen Sie morgen früh um halb neun zu mir! Ihnen zuliebe werde ich ausnahmsweise den Wecker auf Viertel nach acht stellen."
„Und Sie meinen ..."
Frau Schlotterbeck stieß eine dicke Rauchwolke aus und nickte.
„Wir machen es mit der Kristallkugel", sagte sie. „Damit können wir jeden einzelnen Schritt Ihrer Freunde von hier aus beobachten, ohne dass Hotzenplotz das Geringste merkt. – Doch nun darf ich Sie bitten mich zu entschuldigen: Ich muss Wasti das Frühstück bringen. Hören Sie nur, wie er jault und winselt, der arme Hund!"