Am anderen Morgen um acht brachen Kasperl und Seppel auf. Wer sie mit ihrer Blechkanne losziehen sah, musste meinen, sie gingen zum Brombeerpflücken. Doch in der Kanne befand sich das Lösegeld. Es stimmte auf Heller und Pfennig, sie hatten es fünfmal nachgezählt. Herr Dimpfelmoser begleitete sie bis zur nächsten Straßenecke.
„Also macht's gut – und verlasst euch drauf, dass ich euch raushole, wenn was schief geht!"
„Wird schon nicht!", meinte Kasperl.
Nun trennten sich ihre Wege. Die beiden Freunde mussten zum alten Steinkreuz im Wald, Herr Dimpfelmoser begab sich zur Witwe Schlotterbeck. Wieder musste er einige Male klingeln und wieder brach Wasti in wildes Gekläff aus. Hatte Frau Schlotterbeck etwa verschlafen?
Endlich kam sie und öffnete: barfuß in Schlappen, ein gehäkeltes Betthäubchen auf dem Kopf, über dem Nachthemd ein Wolltuch mit langen Fransen.
„Kommen Sie nur, es ist alles vorbereitet!"
Auf dem Tisch in der abgedunkelten Wohnstube brannte bereits die Kerze. Daneben ruhte auf einem Kissen aus schwarzem Samt eine kokosnussgroße, bläulich schimmernde Kugel von Bergkristall.
„Nicht anfassen!", warnte Frau Schlotterbeck. „Bei der geringsten Erschütterung trübt sie sich und es kann Stunden, ja sogar Tage dauern, bis man sie wieder verwenden kann."
„Und wozu ist sie gut?", fragte Oberwachtmeister Dimpfelmoser.
„Sie können mit ihrer Hilfe alles beobachten, was sich an jedem beliebigen Ort im Umkreis von dreizehn Meilen ereignet – vorausgesetzt, es geschieht unter freiem Himmel."
Sie setzte sich an den Tisch und fasste das Kissen mit der Kristallkugel vorsichtig an zwei Ecken, dann fragte sie:
„Haben Sie eine Ahnung, wo Kasperl und Seppel jetzt ungefähr sein könnten?"
Herr Dimpfelmoser warf einen Blick auf die Taschenuhr.
„Zehn vor neun ... Jetzt müssten sie unweit der Stelle sein, wo die Brücke über den Moosbach führt."
„Schön, das genügt mir – wir werden sie bald gefunden haben."
Mit spitzen Fingern drehte Frau Schlotterbeck Kissen und Kugel einige Male hin und her.
„Das Einstellen dauert immer am längsten", meinte sie. „Dafür geht es dann, wenn das Ziel gefunden ist, von allein weiter ... Aber wer sagt's denn! Da haben wir ja die Moosbachbrücke – und wenn mich nicht alles täuscht, tauchen dort hinten im Wald schon Kasperl und Seppel auf."
„Wirklich?", fragte Herr Dimpfelmoser.
Frau Schlotterbeck nickte und zog ihn am Ärmel zu sich heran.
„Kommen Sie hierher, an meinen Platz. Es wird besser sein, wenn Sie die beiden von jetzt an selber beobachten. Aber nicht an den Tisch stoßen, sonst ist alles verpatzt!"
Herr Dimpfelmoser gab höllisch Acht. So behutsam wie diesmal hatte er sich sein Lebtag an keinen Tisch gesetzt.
„Bravo!", sagte Frau Schlotterbeck. „Und nun blicken Sie fest in die Kugel – was sehen Sie?"
Zunächst sah Herr Dimpfelmoser bloß einen bläulichen Schimmer in der Kristallkugel, doch allmählich begann sich ein Bild darin abzuzeichnen, das rasch immer klarer wurde – und richtig, nun konnte er Kasperl und Seppel erkennen, wie sie gerade über die Brücke gingen. Auch hörte er ihre Schritte und wenn er die Ohren spitzte, verstand er sogar, was sie miteinander redeten.
„Nun, wie finden Sie das, mein Bester?", fragte Frau Schlotterbeck. „Habe ich Ihnen zu viel versprochen?"
Herr Dimpfelmoser war ehrlich begeistert.
„Ich finde es großartig!", rief er. „Hotzenplotz würde vor Wut aus der Haut fahren, wenn er wüsste, dass Kasperl und Seppel durch Ihre Kristallkugel polizeilich beobachtet werden!"