Am nächsten Morgen brach Hotzenplotz auf, um Kasperl und Seppel zu fangen. Wieder trug er die Polizeiuniform – nur dass diesmal in seinem Gürtel die Pfefferpistole und sieben Messer steckten. Das Ersatzfernrohr und ein paar handfeste Stricke hatte er auch dabei.
Hinter den Ginsterbüschen am Waldrand bezog er Posten.
„Hier bleibe ich liegen und warte, bis sie vorbeikommen", schwor er sich, „Irgendwann kommen sie ganz bestimmt vorbei. Das habe ich so in der Nase, verdammt noch mal – und bis jetzt ist auf meine Nase noch immer Verlass gewesen!"
Er beobachtete durch das Fernrohr die Landstraße. Nirgends ein Mensch zu erspähen.
Die Sonne schien Hotzenplotz auf den Kopf, eine Fliege summte um seinen Helm. Um nicht versehentlich einzuschlafen, nahm er von Zeit zu Zeit eine Prise Schnupftabak.
„Man sollte es nicht für möglich halten, wie einen vierzehn Tage im Spritzenhaus aus der Übung bringen!", knurrte er.
„Früher konnte ich stundenlang auf der Lauer liegen und trotzdem bin ich nicht schläfrig geworden ..."
Mit einem Mal gab es ihm einen Riss. Auf der Landstraße näherten sich zwei wohl bekannte Gestalten. Die eine, das sah er im Fernrohr ganz deutlich, trug eine rote Kasperlmütze, die andere einen grünen Seppelhut.
Mit einem Schlag war der Räuber Hotzenplotz pudelwach.
„Habe ich nicht gewusst, dass sie hier vorbeikommen werden?", brummte er. „Sind vermutlich beim Fischen gewesen, die beiden. Seppel trägt eine Angelrute über der Schulter und Kasperl ein Netz ... Übrigens hängt in dem Netz etwas drin. Scheint was Schweres zu sein ... Eine Flasche vielleicht? Ja, zum Schinder, das ist eine Flasche – jetzt sehe ich's ganz genau. Ob da Rum drin ist? Oder Birnengeist?"
Hotzenplotz spürte, wie ihm das Wasser im Mund zusammenlief. Trotzdem bewahrte er kaltes Blut und machte sich sprungbereit. Er ließ Kasperl und Seppel auf wenige Schritte herankommen. Dann brach er mit vorgehaltener Pfefferpistole aus dem Gebüsch hervor.
„Hände hoch – oder es knallt!"
Kasperl und Seppel ließen das Angelzeug fallen und hoben die Hände. Plötzlich fing Kasperl zu lachen an.
„Sie sind von der Polizei und jagen uns einen solchen Schreck ein? Was soll denn das?!"
Hotzenplotz hielt ihm die Pfefferpistole unter die Nase.
„Schau mir mal ins Gesicht und denk dir den Helm und den roten Kragen weg! Jetzt vergeht dir das Lachen, wie?"
Kasperl verdrehte die Augen und Seppel klapperte mit den Zähnen; sie hatten es vorher gründlich geübt.
„S-sie s-sind d-das?", stotterte Kasperl.
„Ja, ich bin das, hö-hö-hö-höööh! Überrascht euch das etwa?"
Hotzenplotz deutete mit dem Pistolenlauf auf die Flasche in Kasperls Netz.
„Woher habt ihr die?"
„Aus dem St-tadtb-bach gefischt. Es ist eine ... eine Fla..."
„Warum sprichst du nicht weiter? Her damit! Wollen mal sehen, was drin ist!"
Hotzenplotz ließ sich die Flasche geben, beguckte sie gründlich von allen Seiten und meinte kopfschüttelnd:
„Wenn mich nicht alles täuscht, ist das Ding versiegelt. Und hier klebt ein Zettel drauf, wie ich sehe ..."
Der Zettel trug eine Aufschrift in großen, ein wenig verschnörkelten Buchstaben:
FLASCHENPOST
WICHTIGE MITTEILUNG AN DIE POLIZEI!
ÖFFNEN DURCH NICHTPOLIZEIBEAMTE STRENG VERBOTEN!
Hotzenplotz grinste und rieb sich das Kinn.
„Was verboten ist, reizt mich doppelt. Ich werde die Flasche natürlich öffnen."
„Das dürfen Sie nicht!", rief Kasperl. „Sie sind ja kein Polizeibeamter!"
Hotzenplotz lachte ihn schallend aus.
„Willst du mir etwa Vorschriften machen? Sieh mal, wie rasch das geht!" Er zog seinen Säbel und hackte die Flasche mit einem kurzen Schlag in der Mitte durch.
Ein zusammengerolltes Papier fiel heraus. Er bückte sich, hob es auf, überflog es – und sah auf den ersten Blick, dass äußerste Vorsicht geboten war.
„Umdrehen!", herrschte er Kasperl und Seppel an. „Augen zu! Ohren zuhalten!"
Jetzt erst begann er den Brief aus der Flasche zu lesen, von dem er nicht ahnen konnte, dass Großmutter ihn in Kasperls Auftrag geschrieben hatte:
Werter Her Dimpfelmoser!
In der Todesstunde vertraue ich dieser Flaschenpost ein Geheimnis. Alle Reichtümer an Geld und Gold, die ich im Lauf meines langen Lebens zusammengehamstert habe, liegen im Spritzenhaus unseres Städchens vergraben. Sie werden gebeten, sie polizeilich sicherzustellen und an die armen Leute zu verteilen. Sonst finde ich keine Ruhe im Grab.
Ein unbekannt
bleiben wollender
jedoch reuiger Sünder
Der Schatz ist verzaubert. Er muss bei Vollmond gehoben werden, sonst geht es schief.
Hotzenplotz rieb sich die Augen und zwickte sich in die Nase. Kein Zweifel, er träumte nicht!
Die Nachricht vom Geld- und Goldschatz im Spritzenhaus ließ ihn für eine Weile alles vergessen, was ringsum geschah. Kasperl und Seppel machten sich das zunutze und rannten davon. Hotzenplotz merkte es einige Augenblicke zu spät.
„Halt!", rief er. „Stehen bleiben, verdammt noch mal – stehen bleiben!"
Für einen Schuss aus der Pfefferpistole waren sie zu weit weg und nachlaufen wollte er ihnen nicht. Wozu auch? Für diesmal konnten ihm Kasperl und Seppel gestohlen bleiben. Im Augenblick gab es Dinge, die tausendmal wichtiger waren.
„Ob das stimmt, was da auf dem Zettel steht?", überlegte er.
Warum sollte es eigentlich nicht stimmen? Immerhin war die Flaschenpost ja versiegelt gewesen.
Er rollte den Brief zusammen und steckte ihn in die Hosentasche.
„Ich werde der Sache mit dem vergrabenen Schatz auf den Grund gehen", nahm er sich vor. „Das soll mir mit Hilfe des Spritzenhausschlüssels nicht schwer fallen. Außerdem haben wir heute Vollmond, das trifft sich ja."
Dass er mit äußerster Vorsicht zu Werke gehen musste, verstand sich von selbst. Er wollte sich recht viel Zeit lassen und die Umgebung des Spritzenhauses sorgfältig auskundschaften, bevor er hineinging.
„Sicher ist sicher", dachte er. „Wenn ich Glück habe, bin ich morgen ein reicher Mann und kann es mir leisten, die Räuberei an den Nagel zu hängen. Hoffen wir, dass nichts dazwischenkommt!"