Vier Tage später wartete Delia, bis Agathon mit mürrischer Miene im Auftrag des Königs fortrannte, dann ging sie zum großen Doppelportal der Villa auf der Ortygia, öffnete es und trat ins Freie.
Alles war ganz einfach: mach das Portal auf und geh auf die Straße hinaus. Du hast keinen Grund, warum dir das Blut in den Ohren dröhnt, redete sie sich ein. Und auch das Schwindelgefühl, das ihre ersten Schritte auf der Straße verlangsamte, war überflüssig. Ihr Unternehmen barg keinerlei Gefahr. Nur - bisher hatte sie so etwas noch nie getan.
Noch nie war sie ohne Begleitung durch diese Tür gegangen. Noch nie war sie, ohne es jemandem zu sagen, zu einem Treffen gegangen, das der ganze Haushalt mißbilligen würde.
Es war einfach schockierend. Eigentlich sollte sie es sein lassen, selbstverständlich, aber seit dieser Vorführung konnte sie einfach nicht mehr so tun, als ob ihr Interesse an Archimedes dem entsprach, was eine Gönnerin für einen zukünftigen, nützlichen Staatsdiener empfand. Diese Haltung war wie Wasser im Sand versickert. Das Ausmaß ihrer Selbsttäuschung ärgerte sie maßlos, und doch war anfangs sicher nicht alles nur Schauspielerei gewesen. Bei ihrer ersten Begegnung hatte sie dieser Mann schlicht und einfach beeindruckt, was sich inzwischen gründlich geändert hatte. Wie lächerlich! Ganze dreimal hatte sie ihn gesehen, hatte zweimal mit ihm geredet und einmal mit ihm musiziert und - kam sich vor, als ob sie es ihr ganzes Leben bedauern würde, wenn sie ihn nicht festhielt.
Sie hatte ihm eine Nachricht gesandt: Ich muß unbedingt mit dir reden. Komm morgen zur zehnten Stunde an den Arethusa-Brunnen. Alles Gute. Als Adresse hatte sie »An Archimedes, den Sohn des Phidias, in der Katapultwerkstatt« angegeben, hatte den Brief mit einem Siegel Hierons - davon gab es mehrere im ganzen Haus -versehen und ihn in einem Paket mit weiteren Briefen des Königs versteckt, die in Kürze in der ganzen Stadt verteilt werden sollten. Alles war erschreckend einfach gewesen und war es immer noch: Am Ende des Arbeitstages waren die Straßen auf der Ortygia so voll wie eh und je. Unauffällig schlenderte sie in ihrem weiten Leinenmantel mit vielen anderen die Straße hinunter. Um ihr Gesicht zu verbergen, hatte sie sich eine Mantelecke brav über den Kopf gelegt. Natürlich hatte niemand versucht, sie am Verlassen des Hauses zu hindern. Schließlich hätte sich auch niemand träumen lassen, daß sie so etwas tun würde: ein Stelldichein mit einem jungen Mann zu vereinbaren - einfach liederlich und schamlos und unredlich.
Beim ersten Gedanken an diese Möglichkeit hatte sie versucht, ihn gewaltsam aus ihrem Kopf zu verbannen. Wie heimtückisch, egoistisch und illoyal von ihr, die vielen Wohltaten ihres Bruders mit herzloser Undankbarkeit und Schande zu vergelten! Die eigene Schwester des Königs hat sich einem Ingenieur an den Hals geworfen, würde man sich zuflüstern. Sie nahm sich selbst das Versprechen ab, so etwas nicht zu tun. Sie liebte Archimedes nicht - ja, sie kannte ihn kaum. Sicher könnte sie auch ohne ihn leben!
Und doch und doch. Ihn nicht zu kennen, das war irgendwie der schlimmste Gedanke. Ihr kam es vor, als wäre sie ihr Leben lang dieselben Gassen entlanggegangen und hätte nun von einem Hügel aus urplötzlich einen unbekannten, atemberaubenden Ausblick entdeckt. Vielleicht entpuppte sich das neue Viertel bei näherer Betrachtung als genauso eng und schmal wie die alten Straßen, aber das würde sie erst wissen, wenn sie es selbst erforscht hatte. Und genau dieses Nichtwissen nagte an ihr: einen Adeligen oder einen König zu heiraten, Kinder zu bekommen und alt zu werden und nie zu wissen, was sie versäumt hatte.
Schließlich faßte sie folgenden Entschluß: Wahrscheinlich würde sie bei näherem Kennenlernen entdecken, daß sie ihn nicht besonders mochte. Dann könnte sie heimgehen und sich in ihr Schicksal fügen, vielleicht nicht zufrieden, aber wenigstens gelassen und ohne die verrückte Hoffnung, daß alles viel besser hätte sein können. So ein kleiner, unbedeutender Ungehorsam lohnte sich doch sicher für ihren Seelenfrieden, oder? Und außerdem würde sie mit diesem Mann nichts anfangen. Er würde es nicht wagen, ihre Situation auszunutzen. Man würde ein wenig miteinander plaudern, und dann würde sie merken, wie dumm sie gewesen war, und würde wieder heimgehen.
So hatte sie sich in ihrem ganzen Leben noch nicht gefürchtet. Trotzdem marschierte sie weiter entschlossen auf den Arethusa-Brunnen zu.
Sie hatte den Brunnen aus drei Gründen gewählt: Erstens lag er in der Nähe der Königsvilla, zweitens nicht weit von der Katapultwerkstatt entfernt und drittens in einer kleinen Parkanlage, die genügend Schutz für ein Gespräch unter vier Augen bot und gleichzeitig doch so offen war, daß sie sich sicher fühlte. Archimedes würde nicht wie ein wildgewordener Satyr über sie herfallen, sobald sie mit ihm allein war, davon war sie zutiefst überzeugt. Andererseits hatte man sie immer wieder vor der Lasterhaftigkeit der Männer und den Gefahren eines unanständigen Benehmens gewarnt. Nun wollte sie sichergehen, daß im Notfall jemand ihre Schreie hören würde. Prüfend musterte sie beim Betreten des Gartens alle Besucher, die sie vielleicht zu Hilfe rufen müßte: Unter einer Dattelpalme teilten sich zwei Gardesoldaten kameradschaftlich ein Getränk, mehrere Mädchen saßen in der Nähe eines Myrthestrauchs auf dem Boden, und unter einer Rosenlaube küßte sich ein Liebespaar. Die Mädchen waren sicher alle Huren, denn anständige Mädchen saßen in der Öffentlichkeit nicht so herum. Aber sie war ja genauso. Aus Schutz vor neugierigen Blicken zog sie sich den Mantelsaum noch weiter über den Kopf.
Der Brunnen selbst bestand aus einem langen, rechteckigen Bek-ken, dessen dunkles Wasser von Pinien überschattet wurde. Lautlos quoll das süße Naß aus der Tiefe hervor. An den flachen Stellen standen hohe, gefiederte Papyrusrispen, ein Geschenk des Ägypters Ptolemaios. Es war der einzige Platz in ganz Europa, wo Papyrus wuchs. Hinter der einen Seite des Beckens ragte die Stadtmauer auf und an deren Ende blickte, weiß und lieblich, eine Statue der Nymphe Arethusa auf ihren Brunnen herab. Der Statuensockel war mit Blumengirlanden bekränzt, und aus dem Wasser funkelten Münzen herauf - Opfergaben an die Schutzherrin von Syrakus.
Auch hier hielten sich mehrere Leute auf, aber sie hatte nur Augen für einen: einen großen, jungen Mann, der sich über den Beckenrand beugte und gedankenversunken eine Ansammlung von Ästen betrachtete, die auf der Wasseroberfläche schwammen. Er war ganz in Schwarz gekleidet und hatte die Haare zum Zeichen der Trauer kurz geschoren. Sein Mantel wirkte schwer, war also vermutlich aus gutem Stoff, allerdings auch voller Staubflecken. Gerade zog er wieder den Saum durch den Matsch. Das Wasser spiegelte sich flirrend in seinem länglichen Gesicht. Als er ihren Blick auf sich spürte, schaute er sich prüfend um. Seine Augen sind honigfarben, dachte sie und hielt den Atem an.
Archimedes lächelte entzückt, stand auf und - verhedderte sich im Mantelsaum, auf den er getreten war. Sofort fiel der Mantel zu Boden und lag, halb im Wasser, halb im Matsch, zu seinen Füßen. »Ach, beim Zeus!« rief er und starrte ihn hilflos an. Seine schwarze Tunika war sogar noch staubiger als der Mantel.
Er hatte schon vermutet, daß sie ihm die Nachricht geschickt hatte, obwohl sie keine Unterschrift trug. Alles Gute - dieselbe Nachricht hatte sie ihm auch durch Marcus bestellen lassen. Den ganzen Tag über hatte er während seiner Arbeit am Hundert-Pfünder in der Katapultwerkstatt mit wachsender Begeisterung an dieses Treffen gedacht. Am Morgen hatte er seinen Mantel mitgebracht, weil er unbedingt würdevoll aussehen wollte. Zu seinem großen Erstaunen hatte er ihn am Tagesende schäbig und staubig auf dem Werkstattboden wiedergefunden. Jetzt war der Mantel völlig ruiniert, er hatte sich zum Narren gemacht, und die schöne Schwester des Königs betrachtete ihn mit ihren dunklen Augen unter einem weißen Leinenschleier heraus.
Dann lachte Delia. Eigentlich konnte er es nicht leiden, wenn man ihn auslachte, aber für solch ein Lachen hätte er sich eine Maske aufgesetzt und bei einer Komödie mitgespielt. Mit einem reumütigen Grinsen hob er den Mantel auf und wrang das feuchte Ende aus. »Entschuldige«, sagte er und wollte eigentlich schon hinzufügen: »Ich hatte nicht vor, mich vor dir auszuziehen«, aber dieser Satz war absolut unpassend. Gleichzeitig entsprach er aber auch so haargenau dem, was er am liebsten getan hätte, daß er darüber restlos verwirrt wurde und errötete.
»Ich wünsche gute Gesundheit«, sagte sie höflich.
»Gute Gesundheit!« antwortete er und versuchte, den zerknitterten Mantel glattzustreichen. Schließlich gab er auf, faltete ihn einfach zusammen und legte ihn sich über die Schulter. Sein Versuch, würdevoll auszusehen, war gescheitert, also gab es auch keinen Grund mehr, damit weiterzumachen. Außerdem war es für einen Mantel sowieso zu heiß. »Ich, ähem.«, fing er an.
»Seht!« sagte sie beschwörend mit einem Seitenblick auf das bunte Grüppchen, das sich neben dem Brunnen ausruhte. »Können wir irgendwohin gehen, wo es ruhiger ist?«
Mit schnellen Schritten entfernte sie sich vom Brunnen, und er lief hinterher. Überall waren Leute. Schließlich hatten sie einmal den kleinen Garten umrundet, bis sie sich für einen relativ ruhigen Fleck unter einem wilden Wein im Schatten der Stadtmauer entschieden. Da es keine Bänke gab, breitete Archimedes seinen Mantel auf dem Boden aus und setzte sich auf das nasse Ende. Schmutziger konnte er schließlich nicht mehr werden. Nervös setzte sich Delia neben ihn, schob wieder ihren Mantel vors Gesicht und betrachtete ihre Hände auf den Knien. Sie hatte ihre Entschuldigung für dieses Treffen ganz genau vorformuliert. Sie hatte ihm über seinen Sklaven eine Warnung geschickt und war überzeugt, daß sie der Sklave bestellt hatte, obwohl sie es ihm untersagt hatte. »Ich. wollte mit dir reden«, sagte sie atemlos. »Ich muß etwas erklären.« Sie schluckte und riskierte einen verstohlenen Blick zu ihm hinüber.
Er nickte. Er hatte ihre Absicht schon vermutet. Sie hatte ihn gewarnt, er solle mit seinem Vertrag vorsichtig sein, aber in Wahrheit hatte ihm der König gar keinen Vertrag angeboten. Allerdings war sein Vater erst vier Tage tot, und es wäre ungebührlich gewesen, mitten in der tiefsten Trauerzeit geschäftliche Verhandlungen mit ihm aufzunehmen. Hieron hatte persönlich am Begräbnis von Phidias teilgenommen, hatte aber weder ein Wort über eine Ingenieursstelle verloren, noch über das Geld, das Archimedes zurückgewiesen hatte. Also, Delia war gekommen, um ihrer Warnung einen Rat hinterherzuschicken. Die Vorstellung, daß sie seine Stütze im Hause ihres Bruders war, machte Archimedes glücklich. In Gedanken hatte er mit der köstlichen Möglichkeit gespielt, daß ihre Gefühle vielleicht noch etwas tiefer gingen. Aber dann hatte er diese Idee wieder verworfen. Absolut unwahrscheinlich.
»Ich hatte befürchtet, daß dich Hieron mit irgendeinem Teil deines Vertrags binden möchte. Deshalb habe ich dir diese Nachricht geschickt«, fuhr Delia fort. »Aber ich habe mich geirrt. Ich hätte zu deinem Sklaven gar nichts sagen dürfen. Aber er war einfach da, und so bot sich die Gelegenheit dazu. Hoffentlich habe ich dich nicht beunruhigt.« Wieder warf sie ihm einen scheuen Blick zu.
Er runzelte die Stirn. »König Hieron will mich also in meinem Vertrag zu nichts verpflichten?« fragte er.
Sie holte tief Luft. Sie mußte ihn wegen Hieron beruhigen, das war das mindeste, was sie zur Sühne für ihre persönliche Illoyalität tun konnte. »Er wird dir keine bezahlte Stelle als königlicher Ingenieur geben, weil er meint, dir wäre es lieber, wenn er dich für deine jeweilige Tätigkeit gut bezahlen würde. Er meint, daß du jede Stelle, die er dir gibt, irgendwann einmal als Gefängnis empfinden würdest. Also, du siehst, ich lag ziemlich daneben und hätte besser gar nichts gesagt. Ich hätte wissen müssen, daß Hieron nichts. Ungerechtes tun würde.« Aus Schuldgefühl über ihr eigenes Benehmen bekam ihre Stimme einen warmen Unterton.
»Aber ich dachte .«, fing er an, dann hielt er inne. Die Stirnfalten vertieften sich. »Ich verstehe das nicht. Was will der König eigentlich von mir?«
»Du mußt doch wissen, daß du etwas ganz Besonderes bist«, sagte sie. »Als Ingenieur, meine ich.«
Die Stirn blieb gerunzelt. »In Mathematik bin ich besser.«
Da mußte sie an das Schiff denken und wie es über über die Gleitbahn gerutscht war. Sie lachte. »Dann mußt du auf diesem Gebiet ganz außergewöhnlich sein! Die ganze Stadt spricht über deine Vorführung.«
Das stimmte, Agathon hatte es berichtet. Die ganze Stadt redete über den Mann, der eigenhändig ein Schiff bewegt hatte, und fügte im gleichen Atemzug hinzu, daß derselbe Mann nun ganz erstaunliche Katapulte zur Verteidigung von Syrakus bauen werde. Der Gedanke an die Fähigkeiten von Archimedes war für die bedrohten Bürger ein Trost.
Archimedes machte eine ungeduldige Handbewegung. »Ein Flaschenzug ist doch nichts Neues! Aber ich habe ein paar mathematische Berechnungen gemacht, die noch niemand zuvor gemacht hat.« Er kaute auf einem Daumen herum.
»Und was?« fragte sie.
Hoffnungsvoll schaute er sie an. »Verstehst du etwas von Geometrie?«
Sie zögerte. Ihr war unbehaglich zumute. »Ich kann die Haushaltsbücher führen.«
Er schüttelte den Kopf. »Das ist Arithmetik.«
»Ist das so etwas anderes?«
Er schaute sie an. Beinahe hätte sie verärgert reagiert, aber dann begriff sie, daß sein Blick nichts mit Abscheu vor ihrer Dummheit zu tun hatte und schon gar nichts mit dem herablassenden Zerbrich-dir-nicht-dein-hübsches-Köpfchen-Blick, mit dem sie der Regent Leptines viel zu oft bedachte. Auch ein Stotterer schaute so, der plötzlich das dringende Bedürfnis nach Sprechen verspürt. Es war der Ausdruck einer leidenschaftlichen Sehnsucht nach Verständnis und zugleich ein Ausdruck des hoffnungslosen Wissens, daß es das nicht geben würde. »Arithmetik ist ein natürliches System«, sagte er, »aber die Geometrie hat der Gott der Philosophen erfunden, um die Welt zu kreieren. Rom, Karthago, Syrakus - im Angesicht der Geometrie sind wir alle nur das.« Er schnippte mit den Fingern. »O Gott, was für eine göttliche, wunderschöne Materie!«
Aufmerksam betrachtete sie sein Gesicht, die Linie der Wangenknochen und die strahlenden Augen. Wie von Ferne begriff sie, daß genau diese »göttliche Materie« ihn für sie so faszinierend gemacht hatte - oder besser gesagt, ihr Spiegelbild in der Musik. Absolut rein und unmenschlich präzise, bereicherte sie die Welt einfach durch ihre pure Existenz. Und sie, Delia, hatte schon immer mehr begehrt, als die eigene Welt ihr freiwillig anbot.
»Dann haben dir die Götter ein großartiges Geschenk gemacht«, sagte sie, hin und her gerissen zwischen Bewunderung und Neid.
»Ja«, antwortete er ernst und ohne Zögern, dann fuhr er verlegen fort: »Du solltest dir jemanden suchen, der es dir beibringt. Ich würde mich gerne anbieten, aber ich tauge nicht dafür. Ich habe es probiert - mein Vater hat mich immer zur Unterstützung bei seinen Schülern geholt, aber sie haben gemeint, ich würde sie nur verwirren.« Seine Hände verkrampften sich um die Knie. Er mußte wieder an die Geduld denken, die sein Vater mit diesen Schülern gehabt hatte. Bilder an die vorgeschriebenen Opfer, die er in den letzten Tagen am Grabmal seines Vaters dargebracht hatte, tauchten auf. Dabei wollte er gar nicht an seinen Vater denken. Das war auch der Grund gewesen, warum er sich völlig auf Katapulte konzentriert hatte. Aber nun war das Thema doch da, und er scheute davor zurück. »Ich hatte nicht vor, dich zu langweilen, gnädige Dame. Bedauerlicherweise verstehe ich nicht, weshalb du mich hierhergebeten hast, nur um mir zu sagen, daß dein Bruder faire Verhandlungen mit mir führen möchte. Hat er dich geschickt?«
Mit weit aufgerissenen Augen schaute sie ihn an, dann wurde sie rot. »Nein«, sagte sie.
»Dann verstehe ich nicht.«, fing er an, aber nach einem Blick zu ihr hinüber tat er es doch. Sie saß da und beobachtete ihn mit ängstlichen Augen und schamroten Wangen. Nur ihr hocherhobener Kopf deutete auf eine entschlossene Haltung hin. Hieron hatte sie nicht geschickt. Allein und tiefverhüllt war sie gekommen, um sich insgeheim mit ihm zu treffen. Eigentlich hätte er sich darüber wundern sollen, hatte es aber nicht getan. Mit einem Schlag nahm die flüchtige, selbstlose Sympathie, die er für sie empfunden hatte, eine kristallklare Form an, deren Kanten so scharf waren, daß sie verletzen konnten.
»Es tut mir leid«, sagte er ergriffen und verängstigt zugleich. »Ich war dumm. Ich.«
Dann wußte er nicht mehr, was er sagen sollte, und so schauten sie sich nur an. Inzwischen waren beide knallrot geworden. Im Hinterkopf hörte er es warnend dröhnen: »Glücklicherweise hast du dich aufs Flötespielen beschränkt! Die Götter mögen verhüten, daß zwischen dir und der Schwester des Königs etwas passiert!« Was würde ein Tyrann einem Mann antun, der seine Schwester verführt hat?
Was würde die Schwester tun, wenn er sie zurückwies? Alte Sagen schwirrten ihm durch den Kopf: Bellerophon und Hippolytos -beide hatten Königinnen abgewiesen und waren hinterher von ihnen zu Unrecht der Vergewaltigung bezichtigt worden. Wenn er Delia so anschaute, konnte er zwar kein Wort davon glauben - und doch war die Situation an und für sich schon unvorstellbar. Und die Sagen waren nicht aus der Welt zu schaffen, ob er ihnen Glauben schenkte oder nicht.
»Du darfst nicht glauben, daß ich das Vertrauen meines Bruders mißbrauchen möchte«, sagte sie plötzlich wild entschlossen. »Hieron hat mich immer nur freundlich behandelt, und ich würde ihm nie Schande bereiten.« Sie brach ab. Sie wußte ganz genau, daß sie längst das Vertrauen ihres Bruders mißbraucht und den ersten Schritt getan hatte, um seinem Haus Schande zu bereiten. Bis jetzt war es nur ein kleiner Schritt gewesen, aber dieses Treffen hatte ihr Herz nicht im geringsten von seiner Narretei heilen können, im Gegenteil. »Ich wollte dich doch nur besser kennenlernen«, fuhr sie noch verunsicherter fort. Plötzlich erkannte sie, daß sie ihm sogar noch schändlicher mitspielte als Hieron. Selbst durch ihr bisheriges Verhalten konnte sie ihn tief verletzen, seine Karriere vernichten und seinen guten Ruf ruinieren. Der König bat ihn mit größter Güte behandelt, und zum Dank dafür hat er dann versucht, die Schwester des Königs zu verführen! Verführung war ein Verbrechen, und sie verlangte sogar noch von ihm, daß er die Strafe des Verführers riskierte, ohne wenigstens die entsprechende Belohnung erhalten zu haben. Schamlos! Egoistisch! Herzlos! Sie wandte sich ab. Vor Scham zerriß es ihr fast das Herz. Scham, wohin sie nur schaute. Sie zog ihren Schleier nach vorne, um die heißen Tränen zu verbergen, die ihr aus den Augen quollen.
Einen Augenblick schaute er sie nur an - die Tränen, die Verwirrung. Dann vergaß er - wie üblich -, daß sie die Schwester des Königs war, und ergriff ihre verkrampfte Hand. Ein hoffnungsloser Blick traf ihn aus ihren nassen, roten Augen. Ein Kuß schien die natürlichste Sache der Welt zu sein. Und das tat er dann auch. Es war, als ob er den Urgrund aller Dinge gefunden hätte, die Lösung des Rätsels, es war, als ob er nach Hause gekommen wäre. Ein ganzer Notenregen fiel taktgenau auf einen Schlag, und zwei Tonlagen verschmolzen in völliger Harmonie.
Sie löste sich zuerst, schob ihn mit dem Handgelenk zurück, schlang die Arme um sich und versuchte, ihr inneres Chaos in schlüssige Emotionen zu bündeln. »Oh, ihr Götter!« rief sie verzweifelt.
»Tut mir leid«, meinte er betreten. Es war eine Lüge. Ihm tat nichts leid. Er freute sich riesig und fühlte sich geschmeichelt. Er hatte Angst und hätte am liebsten nichts damit zu tun gehabt. Und ganz tief drinnen war noch etwas, was alles noch viel komplizierter machte: Delia hatte ihn verzaubert. Dieses kluge, stolze, entschlossene Mädchen mit den wunderschönen, schwarzen Augen und einem herrlich geformten, warmen Körper, der in seinem eigenen ein unerhörtes Prickeln hinterlassen hatte. Er wollte nicht nur mit ihr schlafen, sondern danach gemeinsam mit ihr im Bett sitzen und reden und lachen und Flöte spielen. Wie bei einem neuen Theorem eröffnete sie ungeahnte, weit verzweigte Möglichkeiten, eine ganze Stufenleiter logischer Zusammenhänge aus wenn und dann bis zum abschließenden was zu beweisen war.
Leider war es um die meisten Möglichkeiten nicht gut bestellt. Nach einem Moment fügte er zweifelnd hinzu: »Hältst du es wirklich für ratsam, daß wir uns besser kennenlernen?«
»Nein«, sagte sie, halb lachend, halb schluchzend. »Ich halte es für ziemlich dumm.«
Aber, aber, sagte etwas in ihrem Blut, aber ich will dich. Ich will, daß du mich noch einmal küßt, ich will dein Gesicht berühren und dir mit den Fingern über die Haare streicheln. Deine Augen sind wie Honig, weißt du das? Aber, dich ruinieren und Hieron Schande bereiten - nein.
»Ich dachte, es würde mich überzeugen, daß ich’s nicht will«, gestand sie kläglich, »aber es kam anders.«
Er seufzte. Nein, sie war nicht Phaedra und er nicht Hippolytos. Er mußte wieder an das Lied denken, das er nach der Fertigstellung des »Begrüßers« auf dem Weg zu ihrer Tür gesummt hatte. Die flehentliche Bitte an Aphrodite um die Liebe dieses Mädchens. Offensichtlich hatte ihn die Göttin erhört. Die das Lachen liebt, so nannte man Aphrodite, aber ihr Sinn für Humor schien ins Schwarze zu gehen. Wenn doch sein Vater noch lebte! Nicht daß er mit Phidias darüber hätte reden können - bei den Göttern, nein! -, aber wenigstens wäre dann sein Herz frei von diesem schmerzhaften Verlust und dem Bedürfnis, Trost zu finden. »Und was machen wir jetzt?« fragte er. Aber kaum hatte er den Satz ausgesprochen, erkannte er, wie tödlich schwach es war, ihr die Entscheidung zu überlassen. Andererseits war ihm völlig klar, was sie tun sollten, auch wenn es nichts mit dem zu tun hatte, was er tun wollte.
Sie war schon immer stolz auf ihre Willensstärke gewesen. Vielleicht war sie nicht so elegant und majestätisch wie ihre Schwägerin und nicht so bescheiden und charmant wie die Mädchen, mit denen sie unterrichtet worden war, dafür besaß sie Charakterstärke. »Wir sollten tun, was klug ist«, sagte sie bestimmt und -bedauerte es sofort. Ein Blick auf ihn sagte ihr, daß auch er es bedauerte. Sie streckte die Hand aus und legte sie auf sein Gesicht. Sofort küßte er sie wieder. Genau das hatte sie gewollt, auch wenn es nicht klug war.
Kurze Zeit später verließ sie den Garten. Entschlossen hatte sie alle Pläne für ein Wiedersehen abgelehnt. Und doch dachte sie schon längst wieder darüber nach, wie einfach alles zu arrangieren wäre. Und bereits jetzt hegte sie den Verdacht, daß die Klugheit nicht siegen würde.
Nur acht Tage später tauchten die Römer vor den Toren von Syrakus auf - zwölf Tage nach dem Begräbnis von Phidias.
Archimedes hatte den Großteil der Zwischenzeit mit dem Bauen von Katapulten verbracht. Selbst während seiner Vorbereitung für die Vorführung war er immer wieder in der Werkstatt aufgetaucht, und nach dem Begräbnis begrub er sich buchstäblich in Arbeit. Er wollte weder an seinen Vater noch an seine eigene Zukunft denken und schon gar nicht an das Netz, in das er sich gemeinsam mit Delia immer mehr verstrickte. Sie hatte ihm eine Nachricht geschickt, um ein zweites Stelldichein zu arrangieren. Ich darf nicht gehen, hatte er sich gesagt, und war dann doch aufgetaucht. Sogar zu früh. Vom Arethusa-Brunnen aus waren sie zu einem ruhigen Platz in der Nähe des Apollon-Tempels spaziert, wo sie sich hingesetzt und Flöte gespielt hatten. Das heißt, sie hatte ihre Flöten mitgebracht. Und natürlich hatten sie sich geküßt. Insgesamt war alles ganz unschuldig und lieb gewesen, und er hatte keine Ahnung, was daraus werden sollte. Vermutlich nichts Gutes. Solange er aber jeden wachen Moment nur an Katapulte dachte, mußte er nichts befürchten.
Früher war es in der Werkstatt ruhig gewesen, aber in den letzten zwölf Tagen war Hektik ausgebrochen. Man hatte zusätzlich Handwerker aus der Armee abkommandiert, die beim Nageln und Sägen helfen sollten. Kaum waren die Entwürfe fertig, wurden die Katapulte auch schon zusammengebaut - immer zwei gleichzeitig, das eine von Archimedes, das andere von Eudaimon. Seit dem gelungenen Test des »Begrüßers« hatte sich der alte Katapultingenieur mürrisch und abweisend verhalten. Allerdings ging er jedem möglichen Streit aus dem Wege und konzentrierte sich ganz auf die Kopie der archimedischen Entwürfe: einen Ein-Talenter wie den »Begrüßer« und zwei Hundert-Pfünder. Archimedes kam regelmäßig hinzu und prüfte, ob die Maße der Kopien stimmten. Jede fertige Kopie brachte ihm zehn Drachmen ein.
Kallippos hatte als Oberingenieur die gesamte Verantwortung für die Verteidigungsanlagen der Stadt. Das hieß in erster Linie, daß er Stützpfeiler oder Brüstungen für die Mauern bestellte und Anweisungen gab, wo die Katapulte aufzustellen waren. Die Kopie des »Begrüßers« kam zusammen mit zwei Hundert-Pfündern aufs Eurya-lus-Fort, ein anderer Hundert-Pfünder ans Südtor mit Blickrichtung auf die Sümpfe. Als Archimedes mit dem Zwei-Talenter anfing, kam Kallippos hinzu, um sich angesichts der tatsächlichen Größe für den zukünftigen Stellplatz zu entscheiden. In Wirklichkeit fiel die Maschine nicht ganz so mächtig aus, wie ihr Konstrukteur ursprünglich befürchtet hatte. Man hatte das Bohrloch lediglich um fünf Finger Breite erweitern müssen, was insgesamt einer Vergrößerung von rund einem Viertel entsprach.
»Das können wir beinahe überall aufstellen«, erklärte Kallippos nach einem prüfenden Blick auf den elf Meter langen Ladestock mitten auf dem Werkstattboden. »Zum Beispiel im Hexapylon, im Stockwerk unter dem >Begrüßer<.«
»Wir könnten ihn ja >Gute Gesundheit< nennen«, lautete der listige Vorschlag des Vorarbeiters Elymos. »So wie in >Willkommen in SyrakusKlatsch!
Die übrigen Handwerker lachten, und auch Kallippos lächelte. »Und den Drei-Talenter, den nennen wir dann >Schönen Gruß« fragte er Archimedes.
Archimedes blinzelte. Er hatte sich in Gedanken gerade vorzustellen versucht, ob das Katapult im Stockwerk unter dem »Begrüßer« Platz hätte. »Vermutlich«, sagte er, »aber schau mal, ich, äh, schätze, wir werden eine größere Plattform brauchen. Nicht für die Maschine, aber für die Männer, die sie bedienen. Der Hof liegt tief unten. Die Plattform befindet sich zwar auf Bodenhöhe, aber um hinaufzukommen, muß man immer noch ein paar Stufen steigen. Die, äh, Munition wird schwer sein. Zur Beförderung werden wir einen Aufzug brauchen. Und beim Hochziehen werden die Männer Platz zum Stehen brauchen und dann.« Er zögerte, sah sich um, fand ein Hölzchen und kauerte sich hin, um auf dem schmutzigen Boden alles aufzuzeichnen, was die Katapultmannschaft benötigte.
Aufmerksam schaute Kallippos zu, dann kauerte er sich daneben und warf Bemerkungen ein wie zum Beispiel: »Der Hauptstützbalken vom Dach ist ungefähr hier« und »Du kannst den Kran nicht aufs Dach stellen; unter Beschuß viel zu exponiert.« Nach einer kleinen Weile nahmen die Handwerker rings um die beiden Ingenieure wieder ihre Arbeit auf. Wütend bellten die Ingenieure ein paar Befehle, daß niemand auf ihre Skizzen treten dürfe. Letztlich gaben sie es aber auf und zogen sich in einen ruhigeren Teil der Werkstatt zurück, wo sie ihre Pläne mit Kreide an die Wand zeichneten. Nach den Kränen waren Feuerbögen und Außenwerke an der Reihe, und als der Oberingenieur endlich aufbrach, schüttelte er Archimedes herzlich die Hand und erklärte: »Ich werde mich darum kümmern.« Als Archimedes die beiden fertigen Zwei-Talenter zum Hexapylon hinausbegleitete, fand er den größten Teil seiner vorgeschlagenen Änderungen bereits fertig vor.
Am selben Tag kamen die Römer an. Als das Fuhrwerk mit dem Katapult vor dem Fort anhielt, schwirrten erregte Gerüchte durch die Garnison. Soeben war ein Kundschafter mit der Meldung heraufgaloppiert, daß eine riesige Römerarmee heranrücke. In wenigen Stunden wären sie da.
Natürlich hatte es immer wieder neue Nachrichten gegeben, seitdem Hieron in die Stadt zurückgekehrt war. Kurz nachdem die Syra-kuser Messana verlassen hatten, hatten die Römer einen Ausfall gewagt und die restlichen Belagerer, die Karthager, angegriffen. Den Karthagern war es, wie zuvor den Syrakusern, gelungen, den Angriff abzuwehren. Und anschließend hatten sie sich, genau wie die Syra-kuser, zum Rückzug entschlossen. Sie hatten keine Lust, die Belagerung ohne die Unterstützung ihrer Verbündeten fortzusetzen. Die Römer waren noch kurze Zeit in Messana geblieben. Offensichtlich waren sie sich nicht einig, ob sie den Karthagern oder den Syrakusern nachsetzen sollten. Als sie sich endlich entschieden hatten, marschierten sie direkt nach Süden, Richtung Syrakus.
Die Römer verfügten über zwei besonders verstärkte Legionen -zehntausend Mann -, und dazu kam noch die Armee ihrer Verbündeten, der Mamertiner, die allein fast so stark war wie die syrakusische Armee. Die Syrakuser waren zahlenmäßig unterlegen und standen einem Feind gegenüber, der für seine Härte und Disziplin berühmt war. Deshalb hatten sie auch nicht die geringste Absicht, sich aufs offene Schlachtfeld zu begeben. Von draußen überschwemmten Flüchtlinge aus Höfen und Dörfern die Stadt. Was sie von ihrem Hab und Gut tragen konnten, brachten sie mit und jammerten, weil sie gezwungenermaßen ihre Ernte im Stich lassen mußten. Aber wie Hieron gesagt hatte: die Hoffnung von Syrakus ruhte auf seinen Mauern und - seinen Katapulten.
Der Hauptmann des Hexapylon freute sich riesig, Archimedes wiederzusehen. »Das ist der Zwei-Talenter?« fragte er, sobald das Fuhrwerk zum Stehen gekommen war. »Gut, gut! Seht zu, daß ihr’s rechtzeitig hinaufbringt, damit wir den Römern bei ihrer Ankunft gute Gesundheit wünschen können, ha!« Und damit gab er Anweisung, daß Männer helfen sollten, das Katapult auf seine vorgesehene Plattform zu bewegen.
Dank der begeisterten Helferschar und den Kränen von Kallippos, waren die Katapultteile rasch an Ort und Stelle. Erst später stellte Archimedes zu seinem Erstaunen fest, daß er nicht einmal selbst am Seil hatte ziehen müssen. Er war mitten im Zusammenbauen, da kam Hieron mit einem Trupp Gardesoldaten an. Sofort ging er auf die Plattform hinauf und schaute Archimedes stumm beim Einfädeln der Flaschenzüge zu. Archimedes mußte sich wie wild konzentrieren, um den vor Interesse funkelnden Augen aus dem Weg zu gehen.
»Wird es genausogut funktionieren wie die anderen?« fragte der König, als der Ladestock auf seiner Lafette fixiert war.
»Hm?« machte Archimedes, der gerade an der Hebeschraube herumfummelte. »Oh. Ja. Obwohl, wird vielleicht nicht ganz die Reichweite des >Begrüßers< haben.« Er lief am Ladestock entlang zum Auslöser und zielte am Schlitten entlang. Plötzlich fuhr er mit einem Ruck hoch. Auf der Straße nach Norden war ein riesiger Schatten aufgetaucht - ein Schatten, der in der grellen Mittagssonne glitzerte, die sich an Tausenden von Speerspitzen brach. Schockiert schaute er den König an.
Hieron erwiderte seinen Blick und nickte. »Ich denke, sie werden zuerst ihr Lager aufschlagen, bevor sie unseren Widerstand testen«, sagte er. »Du mußt dich also mit dem Stimmen nicht abhetzen.«
Aber die Römer waren ungeduldig. Der Hauptteil der Armee machte auf den Feldern nördlich des Epipolaeplateaus halt und begann sich einzugraben, während sich eine kleinere Gruppe deutlich sichtbar auf der Straße versammelte. Die Männerscharen formierten sich zu zwei quadratischen Blöcken, vor denen eine unregelmäßige Reihe weiterer Soldaten in Aufstellung ging.
Hieron, der zur Schießscharte hinaussah, schnaubte bestürzt.
»Zwei Bataillone?« Seine Frage war an niemanden direkt gerichtet. »Zwei - wie nennen sie es? - Manipel? Nur knapp vierhundert Mann. Was denken die sich eigentlich dabei?«
Wie zur Antwort setzten sich die beiden Blöcke Richtung Syrakus in Bewegung, der eine links und der andere rechts von der Straße. »Entdeckt irgend jemand mit besseren Augen als ich einen Herold oder irgendwelche Friedenssignale?« erkundigte sich der König mit lauter Stimme.
Niemand sah irgendein Zeichen, daß die Römer zum Reden gekommen waren.
Hieron seufzte und starrte die beiden Manipel noch eine Weile mit verächtlicher Miene an, dann sagte er: »Na schön« und schnalzte mit den Fingern. »Laßt die Männer Aufstellung nehmen«, befahl er seinem Stab. »Ich möchte ihnen ein paar Dinge mitteilen.«
Die syrakusischen Soldaten stellten sich ordentlich in Reih und Glied im Innenhof des Forts auf und wandten die Gesichter der nach hinten offenen Katapultplattform zu, wo der König stand. Die reguläre Besatzung des Hexapylons bestand aus einer einzigen Reihe von Fußvolk, also sechsunddreißig Mann. Dazu kamen noch Diener, Laufburschen und der übliche Anhang. Der König hatte noch vier weitere Reihen mitgebracht. Aber die Menge, die sich nun versammelt hatte, betrug weit über dreihundert. Da begriff Archimedes, daß inzwischen noch Männer aus den Einheiten auf der Mauer dazugestoßen sein mußten, während er mit dem Katapult beschäftigt gewesen war. Hieron hatte dort, wo man mit dem ersten Angriff rechnete, einige Streitkräfte konzentriert - allerdings nicht zu viele. Schließlich mußten rundum auf vierundzwanzig Kilometer Mauerlänge Syrakuser in Alarmposition stehen und ständig die Spannung ihrer Katapulte prüfen und Nachschub für die Munition ordnen. Wer konnte schon wissen, welchen Weg die Römer einschlagen würden?
Hieron schritt zum Rand der Plattform und schaute auf die Helmreihen vor sich hinaus. Alle hatten zum besseren Zuhören die Bak-kenklappen hochgeschlagen. Nach einem scheuen Blick über die Reihen fühlte sich Archimedes fehl am Platz, ging zu »Gute Gesundheit« zurück und widmete sich wieder seiner Arbeit an den Sehnen. Entgegen dem Ratschlag des Königs, hatte er das Katapult in Windeseile feuerfertig gemacht, nun mußte man es nur noch stimmen. Er kletterte mit dem Drehkreuz auf den Ladestock.
»Männer«, rief der König mit kräftiger, klarer Stimme, »die Römer haben beschlossen, uns ein paar von ihren Kerlen herzuschik-ken, um zu testen, ob wir Zähne haben. Wir werden sie so nahe herankommen lassen, wie sie wollen, und dann werden wir so fest zubeißen, daß sich ihre Freunde bei diesem Spektakel vor Angst in die Hosen machen werden.«
Die Soldaten brüllten zustimmend und donnerten mit ihren Speerenden auf den Boden. Archimedes wartete, bis der Lärm verebbt war, dann schlug er das zweite Sehnenbündel an.
»Gut!« sagte Hieron. Der Ton verstummte. »Also tut nichts, was sie zu früh erschrecken könnte! Kein Gebrüll und absolute Feuerpause, bis ich das Kommando gebe. Und wenn sie dann schön nahe sind, werden wir ihnen ein herzliches Willkommen bereiten. Vermutlich wißt ihr ja, daß wir hier ein paar neue Katapulte stehen haben, die speziell zur Begrüßung der Römer gebaut wurden. Das eine heißt der >Begrüßer< und das andere sagt >Gute Gesundheit!<. Wenn dir ein Zwei-Talenter gute Gesundheit wünscht, fehlt dir hinterher nichts mehr!«
Wieder brüllten sie, aber diesmal vor Lachen. Irritiert schaute sich Archimedes um und versuchte dann wieder, die Sehnen anzuschlagen.
»Ich möchte, daß ihr sie zerschmettert1.« schrie der König und drosch mit der Faust durch die Luft. »Sobald die Katapulte ihre Arbeit getan haben, können die Burschen, die mit mir heraufgekommen sind, hingehen und die Einzelteile einsammeln und sie hierherbringen. Und wenn möglich, will ich Gefangene sehen. Aber die Hauptaufgabe ist heute, daß wir dem Feind zu verstehen geben, was ihn bei einem Angriff auf Syrakus erwartet. Verstanden?«
Als Antwort brachen die Männer in Kriegsgeschrei aus, ein wildes Heulen, das sie unmittelbar vor dem Nahkampf ausstießen: Ala-la! Hieron riß die Arme über den Kopf, daß sein Purpurmantel nur so flatterte, und schrie: »Sieg für Syrakus!« Entnervt setzte Archimedes das Drehkreuz ab. Hieron wandte sich von den jubelnden Truppen ab und drehte sich zu Archimedes um. »Hoffentlich ist es auch wirklich feuerbereit?« fragte er wieder mit normaler Stimme.
»Das wäre es schon«, meinte Archimedes empört, »wenn du nur still sein würdest!«
Hieron grinste und bedeutete ihm mit einer entschuldigenden Handbewegung, er solle weitermachen. Ein Mann aus der Katapultmannschaft schlug die bereits fixierten Sehnen an, woraufhin Archimedes seine eigenen Sehnen anriß. Zu tief. Er zog die Sehnen anderthalb Umdrehungen an, riß sie erneut an und nickte dem Katapultmann zu. Während der erste Ton noch nachhallte, schnalzte der Mann einen scharfen, dumpfen Ton heraus. Beide Noten verschmolzen in der Stille zu einem einzigen, tiefen und tödlichen Ton.
»Es ist fertig!« sagte Archimedes atemlos. Der König lächelte kurz, nickte und ging weg, um vom Tor aus zuzusehen.
Nervös tätschelte Archimedes »Gute Gesundheit«, dann ging er zur offenen Schießscharte hinüber, um seinerseits zuzusehen. Nur vage registrierte er die Katapultbewegungen neben sich, als die neue Mannschaft versuchsweise die Position von Winden und Hebeschraube am vorrückenden Feind ausprobierte. Auf den Feldern jenseits der Mauer rückten die Römer langsam, aber stetig über den Hügel auf die Mauern von Syrakus vor.
An der Grenze der Katapultreichweite sah sich der Feind mit einem tiefen Graben und einer Böschung konfrontiert. Einen Augenblick zögerten sie, denn stemmten sie ihre Schilde über die Köpfe und trampelten nacheinander in den Graben hinunter und auf der anderen Seite wieder hinauf. Ihre Schilde waren rot bemalt. Die Männer wirkten bei ihrem Abstieg wie ein Schwarm von Leuchtkäfern.
Archimedes hörte, wie jemand hinter ihm heraufkam. Als er sich prüfend umdrehte, erkannte er Straton. »Oh«, meinte er nur vage und wandte sich wieder dem Aufmarsch der Römer zu.
»Tut mir leid, daß ich deine Vorführung verpaßt habe«, sagte der Wachsoldat so beiläufig, als ob sie sich am Marktplatz getroffen hätten. »Leider hat mich der Hauptmann gerade an dem Tag die Latrinen reinigen lassen.«
Verblüfft schaute Archimedes ihn an, aber Straton grinste nur. »Ich hatte mit ein paar Kameraden aus meiner Einheit gewettet, daß du’s schaffst, und dann gab’s deswegen ein bißchen Zoff. Der Hauptmann kann Zoff nicht ausstehen. Trotzdem habe ich mit dir und deinem Schiff einen ganzen Monatslohn verdient. Und nun bin ich hier, um mich zu bedanken.«
Archimedes zuckte verlegen die Schultern. »Warum haben die Leute gedacht, daß es unmöglich ist? Ich verstehe das nicht. Schließlich gibt es schon seit Jahrhunderten Flaschenzüge.« Seine Augen wurden wie von einem Magneten von den Römern angezogen. Inzwischen waren sie längst innerhalb der Katapultreichweite angelangt und ähnelten mehr Menschen und weniger Insekten. »Wie nahe will sie König Hieron denn herankommen lassen?« fragte er.
»Du hast’s doch selbst gehört!« erwiderte Straton überrascht. »So nahe, wie sie nur wollen! Schau, man hat sie hier heraufgeschickt, damit sie uns aus der Nähe anschauen und herausfinden, was wir zur Verteidigung aufbieten können. Wahrscheinlich haben sie Befehl, sich beim ersten Schuß unsererseits zurückfallen zu lassen. Diese Idioten haben schon jeden Sicherheitsabstand unterschritten - und das auch noch in loser Formation.«
Archimedes kaute an seinem Daumennagel herum. Auch die Absenkung eines Katapults hatte Grenzen: Wenn die Römer zu nahe waren, wären sie innerhalb des Feuerbogens. »Und was passiert, wenn sie die Mauern stürmen?« fragte er.
»Das denke ich nicht«, antwortete Straton. »Wenn diese Kerle auch nur die geringste Ahnung von Katapulten hätten, wären sie nie so nahe herangegangen wie jetzt. Und du brauchst ’ne Menge Erfahrung, bis du deine Füße davon überzeugst, daß es sicherer ist, auf den Feind zuzurennen als von ihm weg. Aber wenn sie schon so dumm sind und es unbedingt ausprobieren wollen - wir haben genug Leute hier, um sie auszulöschen.«
Endlose Minuten standen beide da und starrten auf die Schildreihen hinunter, die immer näher rückten: zwei Blöcke in offener Formation, zwölf Mann tief, mit einer Doppellinie als Vorderfront. Inzwischen konnte man erkennen, daß es sich bei den vordersten Männern um leichtbewaffnete Plänkler handelte, die lediglich mit ein paar Wurfspeeren sowie Helm und Schild bewaffnet waren. Dagegen trugen die Männer im Glied Brustpanzer und schwerere Stoßlanzen. Vor jedem Einzelblock schimmerten die Standarten, vergoldete Adler auf hohen Stangen. Die langen, scharlachroten Banner daran zitterten, während sich die Standartenträger vorsichtig über den unebenen Boden bewegten. »Idioten!« flüsterte Straton. »Kapieren die gar nichts?«
Vielleicht waren die Römer Idioten, aber die Stille auf den Mauern machte sie eindeutig nervös. Ihr Marschtempo wurde immer langsamer. Schließlich hielten sie an.
Archimedes spürte einen Luftzug an seiner Schulter. »Gute Gesundheit« senkte die Schnauze. Er trat von der Schießscharte zurück und ging am Ladestock des Katapults entlang zur neuen Mannschaft hinüber. Insgesamt waren es drei: einer zum Laden, einer zum Feuern und ein Helfer. Alle drei grinsten. Dann ließ der Mannschaftsführer, ein zäher Mann, der zwanzig Jahre älter war als Archimedes, den Auslöser los und trat beiseite. »Willst du dein neues Katapult ausprobieren, Obermechaniker?«
Bei diesem Spitznamen blinzelte Archimedes, nickte aber und ging zum Fuß des Katapults, um am Ladestock entlangzupeilen. Die Maschine war bereits ausgerichtet und geladen. Durch die Schußöffnung starrte er direkt auf die Luft über einem römischen Standartenträger. Der Mann war gerade mal knapp hundert Meter entfernt. Archimedes konnte den sandfarbenen Bart unter dem Wolfsfell ausmachen, das er sich über seinen Helm gebunden hatte. Der Standartenträger hatte seinen Schild gesenkt, während er sich mit einem Mann mit rotem Helmbusch unterhielt. Unter den Augen von Archimedes passierten die leichtbewaffneten Truppen die beiden Männer und fielen in die Formationslücken der schweren Infanterie zurück. Eines stand fest: Die Römer hatten beschlossen, daß sie weit genug vorgestoßen waren und sich nun zurückziehen sollten. Genau auf diesen Moment schien Hieron gewartet zu haben. Von oben und die Stadtmauer entlang gellten Befehle, dann knallten plötzlich Katapultarme gegen die Ladestockplatte. Die Luft wurde dunkel vor Geschossen. Sofort hob der Standartenträger wieder seinen Schild über den Kopf. Aus dem darüberliegenden Stockwerk bellte dumpf der »Begrüßer« auf und dann - nur noch Schreie.
»Jetzt, Herr!« sagte der Katapultführer ungeduldig. »Jetzt!«
Archimedes fummelte am Abzug herum.
Die Stimme von »Gute Gesundheit« war tiefer als die des »Be-grüßers«, ein furchterregendes Bellen, das in einem Eisenknall endete. Der Stein flog viel zu schnell, um ihn mit den Augen zu verfolgen. Und dann - lag der Standartenträger am Boden und das Geschoß fegte durch die Reihen hinter ihm wie eine Harpune durchs Wasser. Schreie - sie waren so nahe, daß die Schreie deutlich die höhnischen Hoppiarufe übertönten, mit denen die Katapultmannschaft ihr Ziel in die Knie sinken sah. Archimedes taumelte zurück, starrte aber noch immer am Ladestock entlang zur Katapultöffnung und zur Schießscharte hinaus. Der Körper des Standartenträgers lag rücklings verkrümmt auf der Erde. Oben war alles rot. Er hatte keinen Helm mehr - nein, keinen Kopf! Der zwei Talente schwere Stein hatte ihm den Kopf abgerissen und war dann auf seiner Todesspur weitergefegt, auf alles zu, was hinter dem ersten Mann in der Schußlinie stand.
»Schnell!« brüllte der Katapultmann und wand bereits wieder die Sehnen zurück. »Nachladen!«
Seine beiden Helfer hatten den Kran bereits vorbereitet. Ein neuer Stein wurde eingepaßt. Auf dem Stockwerk über ihnen brüllte der »Begrüßer« erneut auf. Bei einem scheuen Blick an der Schußlinie entlang entdeckte Archimedes eine neue Reihe Gefallener im römischen Manipel. Allerdings war sie diesmal nicht so lang. Nach dem vierten, fünften Opfer schien dem Ein-Talenter die Luft auszugehen. Aber als er die Augen hob, sah er, daß auch die hinteren Reihen einbrachen. Die kleinen, weitreichenden Skorpione entlang der Mauerbrüstung attackierten mit ihren Pfeilen systematisch den Schwanz des Römerheeres. Die Römer suchten noch immer unter ihren Schilden Deckung, aber die Katapultbolzen durchschlugen Holz, Leder und Bronze genauso wie Fleisch und Knochen. Von den oberen Forttürmen feuerten die leichteren Steinschleudern eine Salve nach der anderen. Zehn, fünfzehn, ja sogar dreißig Pfund schwere Geschosse donnerten mit brutaler Gewalt in die mittleren Reihen. Unter dem Dauerbeschuß von vierzig Katapulten fielen die Römer wie Gras vor der Sense.
Archimedes hatte nur wenige Sekunden hinausgeschaut. Neben ihm bellte »Gute Gesundheit« schon wieder auf. Wieder zog sich eine blutige Furche von vorne nach hinten durch das Römerheer. Neue Schreie übertönten das andauernde Heulen und endlose Dröhnen der Katapultarme gegen die Ladestockplatten. »Nachladen!« brüllte der Katapultführer aus Leibeskräften. Stöhnend wurde die Sehne wieder zurückgewunden.
Drunten auf dem Feld warfen die Römer jetzt ihre Schilde weg und rannten davon, so schnell es ging. Aber noch im Fliehen folgte ihnen der Todessturm und mähte sie nieder.
»Oh, ihr Götter!« flüsterte Archimedes. Noch nie in seinem Leben hatte er gesehen, wie jemand getötet wurde.
Auch Straton starrte zur Schießscharte hinaus. Sein Gesicht war zu einem Grinsen verzogen, das mehr an ein Zähnefletschen erinnerte. Seine Faust hob und senkte sich im Gleichklang mit dem Dröhnen der großen Katapulte. »Willkommen in Syrakus, ihr barbarischen Arschlöcher«, murmelte er. »Gute Gesundheit!« Plötzlich richtete er sich auf und zog die Backenklappen seines Helms herunter. »Zeit zum Einsammeln der Überreste«, sagte er und rannte leichten Schritts die Stufen hinunter, um sich seiner Einheit anzuschließen. Als er ging, bellte »Gute Gesundheit« schon wieder auf.
Archimedes verließ die Katapultplattform und setzte sich auf die Stufen. Sobald er die Augen schloß, sah er den kopflosen Leib des Standartenträgers liegen. Was war mit dem sandfarbigen Bart passiert? Über den ganzen Stein verteilt - oh, Apollon! - genau wie das Gehirn und das Blut des Mannes. Sein Katapult!
Plötzlich Trompetengeschmetter und dann erklang der hohe, süße Ton eines Sopran-Aulos, der die Männer zum Gefecht blies. Das Gebell der Steinschleudern verstummte. Nur noch die Pfeilgeschütze schossen dröhnend die fliehenden Römer ab. Aber von den Syraku-sern war kein Kriegsgeschrei zu hören. Es war, wie Hieron versprochen hatte: die Römer waren bereits zerschmettert. Die Syrakuser mußten nur noch die Einzelteile einsammeln. Und schließlich verstummte auch das Stottern der Skorpione.
Von den knapp vierhundert Römern, die gegen die Stadt vorgerückt waren, kehrten vielleicht fünfundzwanzig Mann in ihr Lager zurück. Ungefähr weitere dreißig ergaben sich den Syrakusern. Sie hatten sich zu Boden geworfen, um nicht erschossen zu werden. Vierundfünfzig weitere Gefangene mußten in die Stadt getragen werden. Ihre Verletzungen waren so stark, daß sie nicht mehr laufen konnten. Und der Rest war - tot.
Hieron ging durchs Hexapylon und gratulierte seinen Männern. Als er zur Plattform von »Gute Gesundheit« kam, war die neue Katapultmannschaft gerade dabei, die Sehnen zu lockern. Dauerspannung würde die Maschine überlasten, und außerdem war klar, daß die Römer am heutigen Tag keinen weiteren Sturmangriff versuchen würden. Der neue Ingenieur des Königs war spurlos verschwunden.
»Wo ist Archimedes?« fragte Hieron und schaute sich stirnrunzelnd um.
»Heimgegangen, königlicher Herr«, sagte der Katapultführer und kletterte vom Ladestock. »War ein bißchen grün um die Nase. Meiner Meinung nach hat er noch nie so ein Ding in Aktion gesehen. Außerdem war er hier sowieso fertig.«
»Aha«, sagte der König. Die Stirnfalten vertieften sich.
»Das kann ihn doch nicht erschüttert haben!« protestierte der Helfer verblüfft. »Schließlich hat er die Maschine gebaut. Er muß doch gewußt haben, was sie anrichtet.«
»Zwischen Wissen und Wissen ist ein Unterschied«, stellte Hieron leise fest. »Jeder Reiter weiß zum Beispiel, daß es gefährlich ist, bergab zu galoppieren. Trotzdem gibt es jede Menge Reitersoldaten, die’s ständig tun, weil es so kühn und schneidig aussieht. Ich kannte mal einen, der hat dabei ein Pferd getötet und sich dreifach den Arm gebrochen. Anschließend hatte er begriffen, daß es gefährlich war.«
»Und er hat’s nie wieder getan?« fragte der Katapulthelfer erwartungsvoll.
Der König warf ihm einen scharfen Blick zu. »Er konnte sich nie wieder zum Galoppieren überwinden. Mußte sogar die Reiterei verlassen. Zwischen Wissen und Wissen ist eben doch ein Unterschied.« Dann fiel sein Blick auf »Gute Gesundheit«. Die Stirnfalten verschwanden. »Ich habe schon bemerkt, daß diese Maschine genauso gut funktioniert wie ihr Bruder.«
Der Katapultführer seufzte zufrieden und tätschelte die neue Maschine. »Königlicher Herr«, sagte er, »es ist die beste, die ich je bedient habe. Ich weiß ja nicht, was du dem Burschen dafür bezahlst, aber du solltest die Summe verdoppeln. Bis sie außer Reichweite waren, konnten wir fünfmal feuern. Es war so einfach, wie wenn man mit der Schlinge auf Amseljagd geht. Drei unmittelbare Treffer, ein Teiltreffer, ein Fehlschuß. Die Reichweite beträgt ungefähr hundertzwanzig Meter. Wahrscheinlich hat dieses Schätzchen dreißig oder vierzig Feinden für immer gute Gesundheit gewünscht. Königlicher Herr, eine Maschine wie diese.«
»Ich weiß«, sagte Hieron. »Gut gemacht! Wir haben dem Feind ein, zwei Dinge über Syrakus beigebracht, was?«
Als er die Rede an seine Männer beendet und Anweisungen zur Bewachung der Römer und zur Behandlung der Gefangenen gegeben hatte, ging Hieron wieder zum Torturm zurück, von dem aus er den Sturmangriff beobachtet hatte, und kletterte ins oberste Stockwerk hinauf. Ein einzelner Skorpion kauerte dort verlassen. Sein Schütze war bereits gegangen und hatte zuvor für die Nacht die Sehnenspannung gelockert. Der König starrte zur Schießscharte hinaus zu den Römern hinüber, die sich inzwischen für die Nacht komplett verschanzt hatten. Anschließend drehte er sich um und schaute in die entgegengesetzte Richtung hinaus, auf die Stadt Syrakus.
Von diesem Blickwinkel aus lag der Großteil der Stadt im Schutze des Epipolae-Plateaus versteckt. Nur die Ortygia schob sich in ein leuchtendblaues Meer hinaus, und nach Süden hin konnte er das Seetor und den Flottenhafen erkennen. Rot-weiß schimmerte der Athene-Tempel herüber, während sich die vornehmen Häuser auf der Ortygia als grüne Flecken abzeichneten. Auf der Hafenseite war der Arethusa-Brunnen als leuchtend dunkelgrünes Areal zu erkennen. Die Luft flimmerte in der Nachmittagshitze und ließ die Stadt unwirklich und so wunderschön erscheinen wie eine Traumstadt auf einer Wolke bei Sonnenuntergang.
Hieron stieß einen langen Seufzer aus. Er spürte, wie sich allmählich die heiße, krankmachende Anspannung in ihm löste. Er setzte sich auf die Türschwelle und stützte das Kinn auf die gefalteten Hände. Seine herrliche Stadt, sein Syrakus. In Sicherheit - wenigstens momentan.
Er haßte das Töten. Voller Entsetzen hatte er die beiden römischen Manipel an die Stadt heranrücken sehen. Ihm war sofort klargewesen, was er ihnen antun würde. Jetzt dachte er an das selbstzufriedene Gesicht des römischen Oberbefehlshabers Appius Claudius und schluckte einen Klumpen puren Hasses hinunter. Diese vierhundert Männer auszuschicken, war haarsträubende Dummheit gewesen. Claudius hätte besser ein paar Späher im Schutze der Dunkelheit geschickt - oder mehrere tausend Mann in geschlossener Formation mit Belagerungsgeräten. Aber von Mechanik hatten die Römer keine Ahnung, und als echte Römer gaben sie das nur ungern zu. Vermutlich würde Claudius den fehlgeschlagenen Sturmangriff den Männern in die Schuhe schieben, die dabei gefallen waren. Zu wenig tapfer! Zu wenig entschlossen! Zu wenig vernünftig! Werft die Überlebenden aus dem Lager und gebt ihnen Gersterationen statt Weizen! Der General irrte, und die Männer mußten dafür büßen - so war es bei den Römern Brauch.
Vermutlich hatte es Claudius eilig, einen Sieg zu erringen, deshalb hatte er sofort Sturmangriff befohlen. Er war Konsul, vom römischen Volk in das höchste und mächtigste Amt gewählt - allerdings nur für ein Jahr, und davon war bereits mehr als die Hälfte vorbei. Vermutlich hatte man sich für einen Angriff auf Syrakus statt auf eine Karthagerstadt entschieden, weil sich Claudius eingebildet hatte, er könne schneller eine Stadt erobern, als ein großes, afrikanisches Reich besiegen. Und er wollte doch unbedingt im Triumph heimkehren. Appius Claudius, der Eroberer von Syrakus! Dann könnte er sich eines herrlichen Sieges rühmen und bekäme einen Triumphzug zu seinen Ehren. Zweifelsohne hatte man auch für Hieron längst einen Platz bei dieser Parade reserviert: zu Fuß und in Ketten, gleich hinter dem Triumphwagen.
Appius Claudius und der restliche Claudier-Clan waren die eigentlichen Urheber des Krieges auf Sizilien gewesen. Hieron sammelte regelmäßig Gerüchte aus Italien und wußte daher, daß der römische Senat sogar gegen den sizilianischen Feldzug gewesen war. Damals hatte Rom mit Karthago einen Friedensvertrag geschlossen, und die Senatoren hatten das Verhalten der Mamertiner ganz und gar nicht gebilligt. Eine römische Garnison, die sich in Rhegium ähnlich scheußlich aufgeführt hatte, war von ihren eigenen, empörten Landsleuten erschlagen worden. Aber eine Fraktion unter Vorsitz der Claudier hatte die Expansion des römischen Machtbereiches nach Süden favorisiert und auf das Mißtrauen der Römer gegenüber Karthago gesetzt. Damit war es ihnen gelungen, eine Versammlung des römischen Volkes zur Unterstützung dieses dreist-aggressiven Vorgehens zu überreden.
»Habgierige, törichte, eingebildete Ignoranten!« sagte Hieron laut und biß sofort die Zähne zusammen. Der Haß auf Appius Claudius führte zu nichts. Vielleicht würde er sich vor diesem Mann sogar einmal demütigen müssen. Inzwischen mußte auch Claudius begriffen haben, daß Syrakus keine Stadt war, die man quasi als Vorspeise vernichten konnte, ehe man zum eigentlichen Krieg überging. Vielleicht bot er nun sogar vernünftige Friedensbedingungen an, um nicht mit leeren Händen nach Hause gehen zu müssen. Hieron mußte sich darauf einstellen, jedes realistische Angebot anzunehmen, selbst für den Preis, daß Claudius einen Sieg für sich beanspruchte und seine Parade bekam. Syrakus konnte weder allein mit Rom fertigwerden, noch sich auf Karthago verlassen. Wegen dieser beiden unabänderlichen Tatsachen waren ihm die Hände gebunden. Haß war zwecklos. Selbst die Götter waren Sklaven der Notwendigkeit.
Vielleicht würde das römische Volk nun seine Entscheidung für einen Krieg bedauern. Vor Messana hatte Syrakus es schon einmal gedemütigt und nun erneut. Die Männer, die dort draußen ihr Lager aufgeschlagen hatten, würden nicht vergessen, daß sie mit eigenen Augen mitansehen mußten, wie ihre Kameraden abgeschlachtet wurden. Daß sie aufgeben und heimgehen würden - diese Hoffnung wäre zuviel verlangt. Rom hatte noch nie einen einmal erklärten Krieg aufgegeben. Aber vielleicht wäre der nächste römische Oberbefehlshaber kompromißbereiter, selbst wenn Claudius stur blieb.
Wieder mußte Hieron an die Römer denken, die im Katapultfeuer gefallen waren, und an den zwei Talente schweren Stein, wie er seine Blutbahn durch die Reihen fetzte. Das mußte sie doch erschreckt haben, oder? Selbst Hieron war entsetzt gewesen, obwohl er auf der richtigen Seite gestanden war! Vielleicht konnte er es arrangieren, daß ein paar Römer den Drei-Talenter zu Gesicht bekamen -falls er funktionierte.
Falls er diesen Drei-Talenter noch rechtzeitig bekommen würde. Der Ingenieur war ganz grün um die Nase heimgegangen. Hieron konnte verstehen, wie er sich fühlte. Genauso hatte er sich auch gefühlt, als er seinen ersten Mann getötet hatte. Er hatte zwei Monate gebraucht, um darüber hinwegzukommen - soweit das überhaupt ging. Noch immer wachte er manchmal nachts auf und sah das Gesicht des Söldners vor sich und spürte sein heißes, klebriges Blut auf den Händen. Jeder Mensch konnte die Nerven verlieren. Jener Reitersoldat, der bergab galoppiert war, hatte es nie überwunden. Sollte er Archimedes folgen und versuchen, ihm im Gespräch über seine Krise hinwegzuhelfen? Nein. Wenn dieser Mann unter Druck weitere Todesapparate erfinden müßte, würde sich die Abneigung, die er inzwischen gegen diese Maschinen empfand, auch auf den König übertragen. Da war es besser, ihn in Ruhe zu lassen. Archimedes war sich über die Bedeutung seiner Arbeit im klaren. Seine Antwort auf das Geld hatte es bewiesen. Wenn es irgendwie ging, würde er sich selbst zu dieser Aufgabe durchringen.
Hieron seufzte. Auch auf ihn warteten am Fuße dieser Treppe jede Menge Aufgaben. Trotzdem blieb er noch eine Weile länger allein oben auf dem Turm sitzen und schaute auf seine schimmernde Stadt hinaus.