Archimedes fand heraus, daß es letztendlich doch möglich war, den Endzweck eines Katapultes zu kennen und es trotzdem zu bauen. Der Trick war, jeden einzelnen Konstruktionsschritt unabhängig von allen anderen zu erledigen und sich auf die technischen Probleme zu konzentrieren, ohne auf das Endprodukt zu achten.
Nicht daß die technischen Probleme interessant gewesen wären. Für einen Drei-Talenter mußte man den Durchmesser des Bohrlochs lediglich um Dreifingerbreiten erweitern, was einer Vergrößerung um insgesamt drei Fünfundzwanzigstel entsprach. Sicher, zum Rechnen eine umständliche Zahl, aber noch keine schwierige. Wenn er über seine Arbeit glücklicher gewesen wäre, hätte er sich ein neues Drehsystem ausgedacht. Das wußte er genau. Aber das alte erfüllte seinen Zweck noch voll und ganz.
Was ihn am meisten bei der Arbeit an einem neuen, noch größeren Katapult beunruhigte, war die Art und Weise, wie jeder in der Werkstatt ständig grinste. Selbst Eudaimon. Der alte Ingenieur kam herauf, während er gerade die Ausmaße ausarbeitete, scharrte mit den Füßen und räusperte sich ein paarmal, um auf sich aufmerksam zu machen. Dann bat er ihn - ganz bescheiden! - um die Pläne für »Gute Gesundheit«, »da ich es auf Wunsch des Königs kopieren soll«. Archimedes suchte ihm seine Notizen heraus und gab noch ein paar Erklärungen dazu. Eudaimon nickte und schrieb sich selbst einiges auf, aber dann meinte er grinsend: »Hätte mir nie träumen lassen, daß ich je ’nen Zwei-Talenter baue, was? Bau als nächstes mir zuliebe ein wahres Prachtstück, Obermechaniker! « Damit trabte er mit den Notizen in der Hand davon. Archimedes konnte nur noch bestürzt hinter ihm herschauen.
Eines stand fest: Um dem Vorgehen des Königs ein Ende zu setzen, genügte es nicht, wenn man es nur durchschaut hatte. Archimedes war sich nicht sicher, was er dagegen tun sollte, ja, er war sich nicht einmal sicher, ob er etwas dagegen tun wollte. Wie er auf seinen wachsenden Ruhm reagieren würde, hing davon ab, ob er nach Alexandria ging oder in Syrakus blieb. Und diese Frage hatte er innerlich noch nicht entschieden. Beide Möglichkeit hatten ihr Für und Wider, aber es waren und blieben zwei grundverschiedene Dinge, die er nicht ausbalancieren konnte. Er fand Hieron viel interessanter als König Ptolemaios - aber das Museion befand sich in Alex-andria. Seine Familie war hier, seine besten Freunde dort. Und immer wieder drängte sich Delias Bild dazwischen und verwirrte ihn vollends. Sie schickte ihm keine Nachricht mehr, um ein Stelldichein zu arrangieren, und er wußte nicht recht, ob er am Boden zerstört oder erleichtert sein sollte. Er hatte keine Ahnung, was er mit ihr anfangen sollte, noch weniger als mit Alexandria. Rein instinktiv wollte er alles vertagen. Schließlich schien es keinen dringenden Grund zu geben, weshalb er sich sofort entschließen müßte. Alles, was mit Delia geschah oder auch nicht, lag allein in ihren Händen. Und was Alexandria betraf - ganz sicher würde er seine Heimatstadt Syrakus nicht im Stich lassen, solange der Feind vor ihren Toren stand. Das Problem Alexandria konnte er beruhigt liegenlassen, bis er Zeit und Kraft dafür übrig hatte.
Das einzige Problem war nur, daß andere Leute dies nicht so sahen. Zwei Tage, nachdem er mit dem Bau des neuen Katapultes begonnen hatte, erhielt Philyra eine Einladung in die königliche Villa, um mit der Schwester des Königs ein wenig zu musizieren. Diese herablassende Haltung von königlicher Seite machte sie zutiefst mißtrauisch. Trotzdem ging sie hin, aber als Archimedes am selben Abend heimkam, fand er eine tobende Schwester vor und daneben eine ruhige, aber energische Mutter.
»In Wahrheit wollte sich die Schwester des Königs nur über dich unterhalten!« erklärte ihm Philyra empört. »Und die Königin war auch da und meinte, der König hätte versprochen, dich reich zu machen! Medion, was geht hier vor? Warum hast du uns kein Wort davon erzählt?«
Archimedes schnappte nach Luft und stammelte ein paar Entschuldigungen. Er wäre so beschäftigt gewesen und das Haus noch immer in Trauer, und außerdem wäre ihm der Zeitpunkt nicht günstig genug erschienen. Aber noch während er sich abzappelte, wurde ihm klar, warum er tatsächlich die Machenschaften des Königs für sich behalten hatte: Er wußte ganz genau, daß weder Mutter noch Schwester nach Alexandria gehen wollten. Weshalb sollte er mit ihnen darüber streiten, wenn sogar er sich vielleicht zum Bleiben entschließen würde? Und was Delia betraf - nun, damit würden sie ganz gewiß nicht einverstanden sein, oder?
»Mein Liebling«, sagte Arata mit einer stillen Entschlossenheit, die wesentlich schwerer zu ertragen war als Philyras Zorn. »Du darfst uns solche Sachen nicht über Dritte herausfinden lassen. Seit deiner Rückkehr von Alexandria ist der Tyrann wie ein Verliebter hinter dir her. Er hat Leute ausgeschickt, die Erkundigungen über dich eingezogen haben, er hat dich in sein Haus eingeladen und dir riesige Geldsummen angeboten. Er hat Komplimente über dich fallenlassen, wo sie andere Leute garantiert hören konnten.«
»Genausogut hätte er >Archimedes ist schön< an die Wände schreiben lassen können!« warf Philyra erbost ein, beruhigte sich aber wieder nach einem warnenden Seitenblick ihrer Mutter.
»Erwartest du, daß wir das nicht merken?« fuhr Arata fort. »Glaubst du, wir machen uns keine Sorgen, wenn du uns nichts erzählst?«
»Tut mir leid!« rief Archimedes hilflos. »Mama, es gab nie einen Grund zur Sorge. Ich hätte dir doch gesagt, wenn es irgendeinen Grund dafür gegeben hätte.«
»Was will der König von dir?« wollte Arata wissen.
»Nur daß ich Maschinen baue«, protestierte ihr Sohn. »Es ist nur so, daß ich ein paar Dinge mache - ich dachte, sie wären so selbstverständlich, daß sie zuvor schon andere Leute gemacht hatten. Aber jetzt stellt sich heraus, daß es ganz neue Dinge sind, und da meint der König - nun, wißt ihr, keiner hat bisher ein Drei-TalenterKatapult gebaut oder ein Verbundsystem aus Flaschenzügen oder eine Hebeschraube. Also hat Hieron schätzungsweise doch recht.«
»Das Ganze hat aber schon begonnen, bevor du irgend etwas gebaut hast«, sagte Arata argwöhnisch.
»Nun«, erwiderte Archimedes, »Hieron ist ein schlauer Mann. Er weiß genug, um zu begreifen, wie wichtig Mathematik für den Maschinenbau ist. Kaum hatte er von mir gehört, kam ihm deshalb auch der Gedanke, daß ich ein außergewöhnlicher Ingenieur sei. Schätzungsweise hat er mich nur um diese Vorführung gebeten, um zu prüfen, ob er recht hatte. Er ist ein guter König, denn er weiß ganz genau, welche Bedeutung Ingenieursarbeiten für die Sicherheit und das Wohlergehen von Städten haben. Deshalb möchte er, daß ich für ihn arbeite. Und als Gegenleistung hat er Reichtum und Ehre versprochen. Siehst du? Kein Grund zur Sorge.«
Arata schaute ihrem Sohn unverwandt in die Augen. »Das ist noch nicht alles«, folgerte sie.
Sie hatte immer gewußt, wenn er sie zu täuschen versucht hatte. Die zerbrochenen Töpfe, an denen der Wind schuld gewesen war, der Küchenmörser oder die Webstuhlgewichte, die er sich zuerst für eine Maschine ausgeborgt und dann angeblich nie angefaßt hatte -mit nichts hatte er sie zum Narren halten können. Seufzend hob er beide Hände zum Zeichen seiner Niederlage. »Er will mich unbedingt in Syrakus halten. Mama, letzte Nacht habe ich ihm genau dieselbe Frage gestellt wie du eben mir. Und da hat er zugegeben, daß er meinen Ruf bewußt aufgeblasen hat, um mir das Fortgehen möglichst schwer zu machen. Er glaubt, Ptolemaios würde mir über kurz oder lang Reichtum, Ehre und eine Stelle im Museion anbieten.«
Lange Zeit herrschte Stille. Langsam lief Arata rot an. »Bist du so gut?« fragte sie schließlich. Vor Stolz blieb ihr fast die Luft weg. So gut, daß selbst Könige um seine Dienste buhlten?
»Ja«, stimmte Archimedes zu, »wenigstens glaubt es Hieron. Ich kann das nicht beurteilen. Für mich sind Flaschenzugsysteme immer noch selbstverständlich. Ich bin sicher, wenigstens Ktesibios hätte an sie gedacht.«
Auch Philyra hatte ein knallrotes Gesicht bekommen, allerdings in ihrem Fall nicht vor Stolz. »Du wirst doch nicht wieder nach Alexandria gehen!« rief sie.
»Ich weiß es nicht«, sagte Archimedes ehrlich. »Bis dieser Krieg vorbei ist, werde ich nirgendwohin gehen, also, warum sollen wir uns jetzt darüber den Kopf zerbrechen?«
Aber sein Ausweichmanöver stand unter schlechten Vorzeichen, denn sofort fing Philyra zu jammern an, sie wolle nicht nach Alexandria. Außerdem - und das war noch viel schlimmer - war sie felsenfest überzeugt, daß auch er nicht gehen dürfe, wenn er wirklich so gut war, wie der König glaubte. Sie meinte, das wäre Verrat an Syrakus. Und daran änderte sich auch nichts, als ihr Archimedes erzählte, daß Hieron genau mit dieser Reaktion gerechnet hatte. Sie liebte ihre Stadt und war erbost darüber, daß er überhaupt daran denken konnte, sie im Stich zu lassen.
Arata war gefaßter und bereit, eine Diskussion zu verschieben, die möglicherweise nie relevant wurde. Aber auch sie machte deutlich, daß sie Syrakus nicht verlassen wolle. Daraufhin deutete Archimedes vorsichtig an, Philyra könnte im Fall der Fälle einen Syrakuser heiraten und Arata bei ihr leben, während er selbst nach Ägypten ginge. Aber auch dies beruhigte die aufgebrachten Gemüter nicht. Wie ihre Tochter fand es auch Arata nicht richtig, wenn ihr Sohn die Stadt verlassen würde. Allerdings war sie viel zu friedliebend, um diesen entscheidenden Punkt anzusprechen, ehe er relevant wurde.
Als Arata diplomatisch vorschlug, sie sollten jetzt etwas zu Abend essen, wurde der Streit endlich vorübergehend beigelegt, flammte aber nach der Mahlzeit sofort wieder auf. Zum Zeichen des Friedens versuchten sie, ein wenig gemeinsam zu musizieren, aber dann sagte Philyra während des Lautestimmens zu ihrem Bruder: »Übrigens, die Schwester des Königs liebt dein Flötenspiel.« Als sie sah, wie er vor Entzücken strahlte, erstarrte sie förmlich.
»Ach, Medion!« platzte Philyra heraus, der wieder ein Punkt klargeworden war. »Du wirst mir doch nicht etwa erzählen wollen, daß auch sie sich für Ingenieursarbeit interessiert?«
»Nein«, sagte Archimedes ausweichend, »für Auloi. Sie ist sehr gut, stimmt’s?«
»Wann hast du sie denn schon spielen gehört?«
»Im Hause des Königs. Sie war im Garten, und.«
Philyra sprang auf die Beine und hob die Laute, als ob sie ihn damit schlagen wollte. »Auch davon hast du nie etwas erwähnt! Du gehst hin und machst Sachen, die unser aller Leben verändern, und dann denkst du anscheinend, wir hätten nicht einmal das Recht, dies zu erfahren!«
»Aber ich habe doch gar nichts gemacht!« protestierte Archimedes matt. »Ich habe mich mit Delia doch nur ein paarmal unterhalten!«
»Delia! Oh, Zeus! Warum erkundigt sie sich dann ständig nach dir?«
Verblüfft warf Arata Archimedes einen beunruhigten Blick zu und rief: »Medion! Willst du damit andeuten, daß die Schwester des Königs.«
Archimedes floh in den Oberstock und vergrub sich in Rechenaufgaben auf dem Abakus.
Er war erleichtert, als ihn Dionysios am folgenden Abend zum Essen einlud. Damit konnte er den Fragen zu Hause entrinnen, aber dann stellte sich heraus, daß sich auch Dionysios über Alexandria unterhalten wollte und - über Philyra.
»Tut mir leid, daß ich dieses Thema zu einem solchen Zeitpunkt anspreche«, meinte der Hauptmann entschuldigend, als sie sich in der Arethusa zu Tische legten. »Ich weiß, dein Haus trägt immer noch Trauer, und außerdem ist da ja auch noch der Krieg. Aber ich habe gehört, daß du deine charmante Schwester mit einem Alexandriner verheiraten möchtest. Deshalb habe ich mir gedacht, ich gebe besser mein Angebot ab, bevor’s zu spät ist.«
Archimedes verschluckte sich derart an einem Mundvoll Thunfisch, daß man ihm auf den Rücken klopfen und einen Becher Wasser bringen mußte. Als er wieder Luft bekam, erklärte ihm der Hauptmann allen Ernstes, daß es seine Pflicht sei, in Syrakus zu bleiben. »Selbstverständlich würde ich mir nie erlauben, dir vorzuschreiben, mit wem du deine Schwester verheiraten sollst«, fuhr Dionysios fort, »aber als loyaler Bürger muß ich dich beschwören, daß du unsere schöne Stadt nicht verläßt. Der König.«
»Wer hat dir gesagt, daß ich meine Schwester mit einem Alexandriner verheiraten will?« unterbrach ihn Archimedes.
Dionysios war überrascht. »Ich glaube, dein Sklave hat so etwas zu einem meiner Männer gesagt«, gestand er. »Stimmt’s denn nicht?«
»Es hat nie irgendeinen Alexandriner gegeben«, antwortete Archimedes nachdenklich. »Mein Freund Conon und ich, wir beide haben zwar immer von einer brüderlichen Verbindung zwischen uns geredet, aber er stammt aus Samos. Und wir haben nie. das heißt, ich habe davon nie etwas zu Hause erzählt. Ach, bei den Göttern, sag das bloß nicht weiter! Ich habe mit meiner Schwester schon Schwierigkeiten wegen anderer Dinge, die ich ihr nicht erzählt habe. Wenn sie nun meint, ich hätte versucht, sie mit einem Ausländer zu verheiraten, ohne das vorher mit ihr zu besprechen, zieht sie mir die Kitha-ra über den Schädel. Du willst sie heiraten? Ist das wirklich dein Ernst?«
Offensichtlich war es so, denn Dionysios zählte sofort seine Qualitäten auf: seinen Rang, seine Aussichten, seinen Besitz. Er entschuldigte sich für seine mangelhafte Kinderstube. Er stamme aus armen Verhältnissen und hätte sich stückweise nach oben gearbeitet. An Heirat hätte er bisher nie gedacht. Erst seit der letzten Beförderung hätten sich seine finanziellen Verhältnisse so verbessert, daß er nun als gute Partie dastehe. Allerdings habe er bereits im Süden etwas Land erworben und besitze ein Drittel eines Handelsschiffes. Außerdem hege er die berechtigte Hoffnung, daß er nach dem Kriege gut gestellt sein werde. Der König halte große Stücke auf ihn, und bei der Armee werde er respektiert. Philyra sei ihm schon zweimal aufgefallen: im Haus von Archimedes und dann bei der Vorführung. Er finde sie äußerst charmant. Übrigens habe er erfahren, daß sie musikalisch sei. Er habe doch schon immer die Musik geliebt und wolle unbedingt ein Mädchen heiraten, mit dem er seine Begeisterung teilen könnte. Sollte er das große Glück haben und sie gewinnen, dann würde er sie selbstverständlich mit allem Respekt behandeln, der der Schwester eines Mannes wie Archimedes zustehe.
Erstaunt hörte ihn Archimedes an. Der Gedanke an eine Heirat Philyras schien genauso unvorstellbar wie die Tatsache, daß er derjenige sein sollte, der über den zukünftigen Mann entscheiden müßte. Mal angenommen, sie war tatsächlich im heiratsfähigen Alter und er tatsächlich der Haushaltsvorstand - selbst dann schien alles unvorstellbar. Darauf hatten ihn die Tagträumereien mit seinem Freund Conon nicht vorbereitet. Und dann noch Dionysios! Er mochte den Mann ganz gut leiden - ein angenehmer, intelligenter und fähiger Umgang mit einer schönen Stimme. Und alles, was er über seine Zukunftsaussichten erzählt hatte, war hundertprozentig wahr. Davon war er überzeugt. Aber wollte er wirklich so einen Mann zum Bruder? Und angenommen, seine Entscheidung wäre falsch, und Dionysios würde Philyra unglücklich machen? Wie könnte er unter diesen Umständen eine derartige Entscheidung treffen?
»Ich kann dir nicht sofort eine Antwort geben«, sagte er, als der Hauptmann endlich innehielt und nur noch dasaß und ihn ängstlich anblinzelte. »Wie gesagt, das Haus trägt noch Trauer. Es wäre sicher nicht in Ordnung, wenn meine Schwester heiraten würde, solange sie noch wegen des Begräbnisses kurze Haare hat.«
»Natürlich«, sagte Dionysios hastig, »aber - danach?«
»Ich muß unbedingt darüber nachdenken.« Einen Augenblick saß er ganz still da und versuchte sich vorzustellen, wie Mutter und Schwester auf diese Nachricht reagieren würden. In Aratas Augen wäre der Hauptmann der Ortygia-Garnison sicher eine gute Partie. Trotzdem würde auch sie ihn gerne persönlich kennenlernen, ehe sie sich zu einem Ja entschloß. Philyra würde sicher begeistert sein. Sie wird zwar gar nicht gerne von zu Hause weggehen, dachte er, aber der Gedanke, daß ein solcher Mann um ihre Hand angehalten hatte, würde sie faszinieren. Und dann käme - das Abwägen. Sie würde mehr über Dionysios wissen wollen. Er schaute dem Hauptmann in seine ängstlichen Augen und erklärte plötzlich: »Ich weiß ja nicht, wie du über Frauen denkst, aber ich hatte schon immer das Gefühl, daß sie genauso begabt sind wie die Männer, zumindest was den Alltag betrifft. Meine Schwester ist ein sehr vernünftiges Mädchen. In Wirklichkeit sind sie und meine Mutter viel besser in der Lage, praktische Angelegenheiten zu regeln, als ich. Ich weiß nicht, was du davon hältst.« Seine Augen ließen nicht von Dionysios. Viele Männer würden es lächerlich finden, daß er sich seine Entscheidungen von seinen Frauen vorschreiben ließ. Ihm war klar, daß er durch dieses Geständnis Dionysios mit einem Test konfrontiert hatte, und
überlegte, was der andere wohl sagen würde, um zu bestehen.
Dionysios, der fähige Soldat und erfahrene Offizier, wurde rot. »Als ich deine Schwester bei der Vorführung gesehen habe, habe ich mir schon gedacht, daß sie vermutlich zu dieser Art gehört«, murmelte er. »Sie wirkte so selbstbewußt und fröhlich. Sag ihr und deiner Mutter, daß. ich sie mit allem Respekt grüßen lasse.«
Archimedes nickte. Eines war ihm jetzt klar: Hätte Dionysios auch nur im geringsten an Philyras Verhalten Anstoß genommen, dann hätte er sich gegen diese Heirat gestellt, selbst wenn Philyra dafür gewesen wäre. Aber nun würde er im Gespräch mit seiner Schwester sogar noch die guten Seiten von Dionysios herausstreichen. Dionysios war bereit, auf Philyra zu hören, und er mochte ihre selbstbewußte, fröhliche Art - er hatte bestanden.
»Also versteifst du dich nicht auf diesen Alexandriner oder Sa-mier oder was immer er ist?« fragte der Hauptmann hoffnungsvoll.
Archimedes schüttelte den Kopf. »Philyra hat bereits betont, daß sie Syrakus nicht verlassen möchte.«
Trotzdem stellte er sich in Gedanken wehmütig das strahlende Mondgesicht von Conon aus Samos vor. In Alexandria hatte er mit Conon viele Stunden in billigen Schänken zugebracht, wo sie ihre Berechnungen auf Tische oder Wände geschrieben hatten. Sie hatten sich über die mathematischen Fehler der anderen Leute krumm gelacht und sich gegenseitig Witze erzählt, die sonst keiner verstand. Immer hatte einer dem anderen zuerst seine Neuentdeckungen erzählt, und dabei hatte es nie enttäuschte Gesichter gegeben. Wie erwartet war immer alles enthusiastisch aufgenommen worden. Ihre Unterschiede hatten die Freundschaft nur noch beflügelt. Conon war klein und dick und liebte Essen und Trinken und Tanzen, aber sobald es musikalisch wurde, sang er ständig falsch. Er war reich und stammte aus einer vornehmen Familie, deshalb hatte er seinem Freund häufig Geld geborgt. Ungefragt und oft unbemerkt, hatte er es ihm in die Tasche geschoben. Archimedes hatte keine Ahnung, wie hoch die Summe letztlich gewesen war. Dafür hatte er Conon ein Diopter gebaut, ein astronomisches Zielgerät, das Conon später mehr geschätzt hatte als seinen anderen Besitz. Conon hatte mit seinen pummeligen Patschhänden kein Geschick zum Basteln, dafür sprang sein Geist eidechsenflink zwischen den Sternen herum.
Conons Familie hätte nie einer Heirat mit Philyra zugestimmt, selbst wenn Philyra einverstanden gewesen wäre. Aber er und Conon hatten einander sowieso wie Brüder geliebt. Am besten beließ man es dabei.
Dionysios grinste. »Viel Glück deiner loyalen Schwester! Hoffentlich planst auch du nicht, wegzugehen.«
Archimedes murmelte irgend etwas Unverständliches und widmete sich wieder seinem Essen.
»Verzeihung?« meinte der Hauptmann höflich, aber hartnäckig. »Das habe ich nicht verstanden.«
Archimedes unterbrach das Essen und sagte: »Schau mal, wie kann ich über etwas Versprechungen machen, was ich, von heute aus gesehen, in drei oder fünf Jahren tun werde? Bis dahin könnten wir alle schon tot sein! Ich habe nicht vor, zu gehen, solange ich zum Katapultebauen benötigt werde. Warum könnt ihr euch nicht damit zufriedengeben? «
Aber auch Dionysios konnte dieses Thema genausowenig übergehen wie Philyra. Um einen Mann, den er zum Schwager haben wollte, nicht zu beleidigen, ging er äußerst vorsichtig vor. Trotzdem fühlte er sich »als loyaler Bürger« verpflichtet, Archimedes zum Bleiben in Syrakus zu überzeugen. Über seinen taktvollen Versuchen ging das restliche Essen zu Ende. Als der Kellner zum Tischabdek-ken kam, hatte Archimedes die Nase restlos voll.
Nachdem die Teller abgeräumt waren, wurden wieder die Flötenmädchen der Arethusa hereinkomplimentiert. Aber Dionysios löste sich sofort von dem hübschen, jungen Ding, das sich ihm an den Hals geworfen hatte. »Ich habe morgen Frühdienst«, sagte er. Sein Seitenblick auf Archimedes verriet allerdings, daß er sich genierte, es vor den Augen eines Mannes, bei dem er gerade um die Hand seiner Schwester angehalten hatte, mit einer Hure zu treiben. »Aber vielleicht mein Freund.?« Aus dem Blick wurde eine Frage.
Plötzlich wollte Archimedes nichts lieber, als sich betrinken und mit dem Flötenmädchen schlafen, um vor den Fragen zu fliehen und Delia zu vergessen und seinen makellos präzisen, überaktiven Verstand im Alkohol zu ertränken. »Ja!« sagte er und streckte die Hand nach dem Mädchen aus.
Sofort kam sie herüber und setzte sich verführerisch auf seine Knie. »Du bist Archimedes, stimmt’s?« sagte sie mit rauchiger Stimme und streichelte seine Wange. »Der, den sie den Obermechaniker nennen?«
»Sag das nicht zu mir!« erklärte er verzweifelt. Sie hielt einen Satz Flöten in der Hand, aber noch ehe sie mit dem Spielen anfangen konnte, nahm er sie ihr weg: »Hier! Ich werde dir etwas zeigen, das sich vielmehr lohnt als Katapulte.«
Im Haus am Löwenbrunnen verbrachte ein nervöser Marcus den ersten Teil des Abends. Er argwöhnte, was wirklich hinter der Einladung von Dionysios steckte, und schon der Gedanke daran machte ihn krank. Sein Abwehrversuch schien den Hauptmann nur erst recht zu sofortigem Handeln angestachelt zu haben. Wie würde Archimedes darauf reagieren?
Nach dem Abendessen setzten sich Arata und Philyra in den Hof, um in der kühlen Dämmerung zu musizieren. Die zarten, klaren Saitenklänge beruhigten Marcus, und die Verzweiflung, die ihn in den vergangenen drei Tagen bedrückt hatte, wurde ein wenig erträglicher. Sein Besuch im Steinbruch hatte kein Nachspiel gehabt. Die römische Armee lagerte noch immer vor dem Nordtor, vermutlich plante sein Bruder zusammen mit seinem Freund die gemeinsame Flucht, aber hier im Hause ging das Leben weiter wie immer. Er war sich des familiären Streites wohl bewußt, aber gleichzeitig wußte er auch ganz genau, daß der Streit eigentlich nur an der Oberfläche tobte und nicht im geringsten die tiefe Zuneigung berührte, die alle Familienmitglieder miteinander verband. Während er im Hofe schweigend der Musik lauschte, empfand er das Haus als einen noch reicheren und ruhigeren Ort zum Leben als je zuvor.
Dabei war längst alles in Bewegung geraten. Die Familie war auf dem Weg zu Reichtum und Einfluß, Philyra würde heiraten und fortziehen, und er - er würde auch gehen, irgendwohin.
Als Arata zu Bett gegangen war und Philyra ihre Laute wegpackte, tauchte Marcus neben ihr auf und nahm die Kithara, die sie bereits in ihren Kasten gepackt hatte. »Danke!« sagte sie, ohne ihn anzusehen.
Er zuckte die Schultern. »Herrin«, begann er unglücklich, hielt aber dann inne, weil er nicht wußte, was er zu ihr sagen sollte.
Irgend etwas in seiner Stimme beunruhigte sie. Sie hob den Kopf zu ihm hoch und versuchte, sein Gesicht in der hereinbrechenden Nacht zu sehen. »Was ist?«
»Du - du glaubst doch nicht noch immer, daß ich Archimedes in Alexandria bestohlen habe, oder?« fragte er.
Sie starrte ihn an, sein ernster Ton verblüffte sie. Sie hatte ihre Verdächtigungen fast schon vergessen. Seit dem Tode ihres Vaters war eine Menge Geld hereingekommen, um das sich Marcus sehr sorgfältig gekümmert hatte. Ständig brachten Boten ganze Säcke voll Münzen von der Königsvilla herunter - insgesamt bisher hundertachtzig Drachmen für Katapulte und dazu noch die Ausgaben für das Begräbnis. Archimedes warf kaum einen Blick darauf. Die Buchführung blieb Marcus und ihr überlassen. Bei dieser Frage des Sklaven wurde ihr klar, wie peinlich genau er jeden Obolos abgerechnet hatte. »Nein«, sagte sie, wobei sie sich vor sich selbst schämte. Falls jemand ihren Bruder in Alexandria betrogen haben sollte, dann gewiß nicht Marcus.
»Da bin ich aber froh«, sagte er leise. »Ich möchte nicht, daß du schlecht von mir denkst. Egal, was passiert, ich habe diesem Hause nie auch nur im geringsten schaden wollen, bitte glaube mir.«
»Egal, was passiert?« wiederholte Philyra beunruhigt. »Was meinst du damit?«
»Ich - habe nur an den Krieg gedacht, Herrin. Ich weiß, da draußen sind meine Landsleute, aber sie sind hierhergekommen, weil man ihnen Lügen erzählt hat. Und ich will nicht - Philyra, falls sie hereinkommen sollten, würde ich kämpfen, um dich zu verteidigen.«
Gerührt beugte sie sich hinüber und legte einen Moment ihre Hand auf seine. »Danke, Marcus«, sagte sie, dann richtete sie sich auf, nahm ihre Laute und erklärte mit Nachdruck: »Aber sie werden nicht hereinkommen! Die Gunst der Götter ist mit Syrakus!«
»Ich bete, daß es wahr ist«, sagte er.
Er trug ihr die Kithara nach oben und schaute zu, wie sie in ihr Zimmer ging: ein schlanker Schatten in schwarzer Trauerkleidung im dunklen Hause. Anschließend ging er wieder hinunter und setzte sich in den Hof. Er preßte die Hand, die sie berührt hatte, gegen seine unrasierte Wange. Seine Gefühle schnürten ihm die Kehle zu. Es hatte keinen Sinn, er war doch nur ein Stück Besitz. Und trotzdem wünschte er sich, daß er tatsächlich für sie kämpfen könnte: Er würde sie vor seinen Landsleuten retten und in Sicherheit bringen und ihr Mut machen, während sie sich an ihn klammerte, und - es hatte keinen Sinn. Wenn doch nur ihr Bruder heimkäme und ihm erzählen würde, was er Dionysios geantwortet hatte.
Stundenlang wartete er im dunklen Innenhof und schaute den Sternen zu. Endlich war an der Tür ein leises Klopfen zu hören. Marcus zog sich hoch und machte eilends auf. »Herr.«, setzte er an.
»Marcus!« flüsterte sein Bruder und drückte ihn mit einem Arm fest an sich. Neben ihm huschte Quintus Fabius wie Rauch durch die Tür.
Beinahe hätte Marcus vergessen, daß dies die erste Nacht war, in der er mit ihnen rechnen konnte. Er stolperte rückwärts, dann verschloß er hastig hinter ihnen die Tür und verriegelte sie. »Ist man euch gefolgt?« flüsterte er und mußte die Frage sofort auf latinisch wiederholen.
Fabius war derjenige, der antwortete. »Nein«, sagte er, »allerdings mußten wir einen Wachtposten töten. Sie werden den Knaben sicher noch vor dem Morgen vermissen, und dann werden sie nach uns suchen. Du sagtest, du könntest uns helfen, aus der Stadt zu kommen. Hoffentlich schaffst du’s heute nacht!«
»Ja«, erwiderte Marcus bestürzt. Welchen Wachtposten hatten sie getötet? Den jungen Mann? Den Anführer? Oder einen von den anderen, die gelacht und Luftkämpfe aufgeführt hatten, während sie die Namen der Katapulte seines Herrn aufgesagt hatten? Getötet, zweifelsohne mit seinem Messer. Als er das Messer dort gelassen hatte, hatte er gewußt, daß es dazu kommen konnte, aber er hatte gehofft. »Sprecht ganz leise«, befahl er. »Schließlich wollt ihr doch niemanden wecken. Gaius, wie geht’s dir?«
»Tut weh«, antwortete Gaius, »aber ich halt’s aus. Der Griechendoktor hat genau gewußt, was er tat.« Wieder streckte er die Hand aus und drückte den Arm seines Bruders. »Welche Pläne hast du, um uns herauszuschaffen?«
»Habt ihr immer noch das Seil, das ich euch gegeben habe?«
Schemenhaft ein doppeltes Kopfschütteln. »Wir haben es an der Mauer hängen lassen«, flüsterte Fabius.
»Dann werde ich ein neues besorgen«, sagte Marcus.
Plötzlich klopfte es wieder leise an die Haustür.
»Ich bin verloren!« rief Marcus, zog Gaius rasch zur Tür des Eßzimmers hinüber und schob ihn hinein. »Verstecken!« befahl er, als Fabius an ihm vorbeiglitt.
Es klopfte zum zweiten Mal, diesmal lauter. Marcus machte hinter den beiden Flüchtlingen die Eßzimmertür zu. Gerade als er hinüberging, um die Tür zur Straße aufzumachen, rief Archimedes von draußen: »Marcus!«
»Entschuldigung, Herr«, sagte er und öffnete die Tür. »Ich war eingeschlafen.«
Archimedes wankte unsicher herein und sackte auf der Bank an der Wand zusammen. Er roch nach Wein und billigem Parfüm. Marcus machte die Tür wieder zu. »Du gehst besser ins Bett«, erklärte er seinem Herrn.
»Noch nicht«, sagte Archimedes. »Mir geht da eine Melodie im Kopf herum, die ich mir unbedingt einprägen will, bevor ich sie wieder vergesse. Hol meine Flöten.« Sein Redeschwall klang ziemlich undeutlich. Mit Entsetzen erinnerte sich Marcus an diese Stimmung. Immer wenn sein Herr so fröhlich betrunken war, versuchte er, seiner Umgebung die ganze Nacht über Geometrie beizubringen.
»Herr?«
»Meine Flöten! Sopran und Tenor.«
»Aber, Herr, es ist doch schon nach Mitternacht! Die Nachbarn.«
»Ach, beim Zeus! Sollen sie aufwachen, ist doch nur Musik!«
Marcus blieb stehen, wo er war. Er war sich der Gegenwart von Gaius und Fabius, die im Eßzimmer am Boden kauerten, so intensiv bewußt, als ob die ganze Nacht ein einziger Felsbrocken wäre, in dem er mit ihnen, erstarrt vor Furcht, eingemeißelt war. Voller Entsetzen merkte er, daß er ihnen nicht traute. Gaius würde nie einen Eid brechen, das wußte er, aber Fabius? Der Mann hatte etwas Hartes, Tödliches an sich. Er hatte den Katapultbauer, dessen sich die Stadt gerühmt hatte, umbringen wollen. Und nun saß Archimedes betrunken und nichtsahnend hier bei sich zu Hause. In einem unbewachten Augenblick wäre es für Fabius ein leichtes, herauszuschleichen und - was war eigentlich mit dem Messer passiert?
»Marcus!« sagte Archimedes ungeduldig. »Muß ich sie selbst holen gehen?«
Gute Götter und Göttinnen, dachte Marcus, sind die Flöten etwa im Eßzimmer? »Nein, Herr!« sagte er hastig. »Ich hole sie.«
Im Eßzimmer konnte er Gaius und Fabius mit Mühe erkennen. Sie kauerten genau dort, wo er es sich vorgestellt hatte, direkt in der Nähe des Fensters. Er tastete auf der Truhe nach den Flöten, konnte sie aber nicht finden.
»Marcus, hast du einem der Männer von Dionysios erzählt, daß ich Philyra mit Conon verheiraten will?« rief Archimedes vom Hof herein.
»Schon möglich«, antwortete Marcus. Es hatte keinen Zweck, er mußte eine Lampe anzünden. Schwitzend vor Angst tastete er herum und fand eine, die normalerweise auf dem Tisch stand.
»Warum hast du das gesagt?« fragte Archimedes. »Du weißt doch, Conons Vater hätte nie zugestimmt.«
»Aber du hast doch selbst immer davon geredet«, sagte Marcus und suchte geistesabwesend nach dem Feuerstein zum Lampenan-zünden. »Ich dachte, weil wir doch jetzt reich sind, vielleicht.«
»Nein«, sagte Archimedes, »nein, er muß doch nächstes Jahr dieses Mädchen aus Samos heiraten. Daran hättest du wirklich denken müssen. Und außerdem weißt du genau, daß Philyra nicht von Syrakus weg will. Du hättest gar nichts sagen dürfen. Wenn sie herausbekommt, daß ich auch nur mit dem Gedanken gespielt habe, sie an jemanden in Alexandria zu verheiraten, wird sie toben. Und Dionysios war auch ganz schön aufgebracht darüber. Weißt du, was er gemacht hat? Er hat selbst um Philyras Hand angehalten!«
Marcus erstarrte, zwang sich dann aber mit zitternden Händen dazu, ein Licht anzuzünden. Der Lampendocht fing sofort Feuer und tauchte den Raum in ein warmes, gelbes Licht, das sich in den Augen der beiden Männer unter dem Fenster widerspiegelte. Jetzt sah man auch, daß Fabius auf einer Wange blutverschmiert war und in der Hand das Messer hielt. Marcus schüttelte den Kopf und bedeutete dem Mann mit verzweifelten Gesten, er solle das Messer wegstek-ken. Dann schaute er sich im Zimmer nach den Flöten um, die aber nirgends zu sehen waren. »Herr, wo sind denn deine Flöten?« fragte er besorgt.
»Ich weiß es nicht«, antwortete Archimedes und gähnte. »Mach schnell und such sie!«
Marcus ging mit der Lampe in den Hof zurück. »Welche Antwort hast du Dionysios gegeben?« fragte er.
Sein Herr lümmelte in Trauerkleidung, aber ohne Mantel, breitbeinig auf der Bank herum und hatte sich einen Petersilienkranz ganz nach hinten auf die geschorenen Haare geschoben. Petersilie galt als Heilmittel gegen Trunkenheit, aber in diesem Fall hatte sie wohl versagt. »Keine«, sagte Archimedes. »Ich werde es Philyra überlassen. Obwohl er vielleicht keine schlechte Partie wäre.«
»Aber Philyra ist doch noch ein Mädchen!« beschwor ihn Marcus. Selbst jetzt noch fand er die Zeit, sich den Kopf zu zerbrechen, ob sie vielleicht die Meinung ihres Bruders teilen könnte. »Und von einer Sechzehnjährigen kannst du doch keine vernünftige Entscheidung über ihre Zukunft erwarten.«
Archimedes lachte laut auf. »Ach, bei Apollon! Marcus, du weißt doch nur allzugut, daß du von mir nicht einmal eine vernünftige Entscheidung darüber erwarten kannst, was wir auf dem Markt einkaufen sollen! Wie kannst du glauben, daß ich in der Lage wäre, für Philyra einen Ehemann zu suchen, wenn ich nicht einmal Oliven einkaufen kann?« Er zog die Knie an und schlang die Arme herum. »Philyra wird eine wesentlich vernünftigere Entscheidung treffen, als ich es je könnte. Die vernünftige Philyra. Marcus, du hältst doch Geometrie für absoluten Blödsinn, stimmt’s?«
»Nein.«
»Nein? Aber das hast du doch bisher immer getan. Wenn du die Gelehrten ins Museion gehen sahst, hast du normalerweise ein Gesicht gezogen wie ein. wie ein Bankier, der zuschauen muß, wie ein Erbe sein Vermögen verschleudert. Soviel Intelligenz einfach in die Luft verpufft! Ganz tief drinnen teilt Dionysios deine Meinung. Bei unserer ersten Begegnung hat er zwar das Loblied auf Alexandria angestimmt und es das Haus der Aphrodite genannt, aber heute abend hat er mir immer nur aufgezählt, was ich Syrakus schuldig sei. Ich glaube, meine Flöten liegen vielleicht bei mir im Zimmer.«
»Ich werde sie holen«, krächzte Marcus hilflos. Er stellte die Lampe neben seinen Herrn in der Hoffnung, daß ihn ihr Licht ein wenig beschützen würde, dann rannte er drei Stufen auf einmal nach oben und stürmte ins Schlafzimmer. Unter der grauen Fensteröffnung zeichnete sich die Kleidertruhe als schwarzer Kasten ab. Er tastete sich daran entlang. Zuerst fand er den gekerbten Abakusrahmen und dann einen Stapel glatter Holzschachteln - die Flötenschatullen. Er fühlte sich wie nach einem Schwall frischer Luft während eines Sandsturmes. Klopfenden Herzens schnappte er sich alle Schachteln und rannte wieder hinunter.
Archimedes saß noch immer still auf der Bank, drehte im Lampenschein eine Hand hin und her und beobachtete, wie sich Licht und Schatten auf seiner Handfläche abwechselten. Marcus machte einen Moment die Augen zu. Vor Erleichterung fühlte er sich ganz matt.
Sofort stürzte sich Archimedes auf die Auloi und suchte eifrig nach der Sopran- und nach der Tenorflöte. Dann schob er die Rohrblätter hinein, regulierte die Metallringe und stürzte sich ohne ein weiteres Wort in eine komplizierte Melodie.
Zuerst war es ein Tanz, ein rasches, fröhliches Tremolo auf der Sopranflöte, begleitet von einem schnellen, regelmäßigen Takt in der Tenorflöte. Ein Reigen, ein Reihentanz, eine Melodie, um auf der Straße zu tanzen. Aber dann veränderte sie sich unter seinen schnellen Fingern. Der Rhythmus wechselte in die Sopranflöte, und plötzlich übernahm die Tenorflöte mit beunruhigenden Tempiwechseln die Melodie. Sie beschleunigte und wurde wieder langsamer. Beinahe klang es, als würde sie aus dem Takt geraten, aber dann fing sie ihn im letzten Moment plötzlich doch wieder ein. Ohne Vorwarnung wechselte die Tonart, die Melodie wurde klagend und bekam einen Unterton, der die Dunkelheit widerspiegelte. Die Unruhe wuchs. Was zuerst schon schnell gewesen war, verwandelte sich nun in einen Höllentanz. Hals über Kopf schossen die Töne über einem Chaos von Dissonanzen dahin, Tenor und Sopran kämpften miteinander, ein Gewirr von Noten hetzte hintereinander her, haarscharf am Desaster vorbei. Doch auf einmal gingen alle Noten ineinander über und bildeten eine einzige Harmonie: jene wahre Harmonie, die es in der griechischen Musik so selten gab. Zwei Töne sangen einen Akkord, der in Schauern den Rücken hinabrieselte. Und ihre Melodie klang traurig und langsam. Das Tanzthema kehrte zurück, aber jetzt als Marsch, als langsamer Abschiedsmarsch. Die Harmonie wurde einstimmig und erklang leise in die Nacht hinaus, bis sie sich schließlich ganz sanft in Stille auflöste.
Lange Zeit herrschte Schweigen. Markus merkte, daß er keine Ahnung hatte, wie lange das Musikstück gedauert hatte, denn während der ganzen Zeit hatte er an nichts anderes gedacht. Archimedes betrachtete blinzelnd die Flöten in seinen Händen, als ob er vergessen hätte, wozu sie dienten.
»Mein Schatz«, erklang Aratas Stimme aus einem Fenster im Oberstock, »dies hat ein Gott geschickt, aber vielleicht wissen es die Nachbarn trotzdem nicht zu schätzen. Und außerdem solltest du längst im Bett sein.«
»Ja, Mama«, rief Archimedes sofort, zog die Rohrblätter aus den Auloi und legte die Instrumente wieder in ihre Schachteln zurück. Dann stand er auf und fuhr mit der Hand durch seine struppigen Haare.
»Was war das?« fragte Marcus mit erschütterter Stimme.
Archimedes zögerte. »Ich denke, es war ein Abschiedslied für Alexandria«, antwortete er abwesend. »Aber die Entscheidung eilt ja nicht.« Er schwankte über den Hof, und dann hörte Marcus die Treppe knarren, als er zu seinem Bett hinaufkletterte.
Marcus setzte sich auf die Bank und blieb eine kleine Weile bebend dort sitzen. Endlich fiel ihm auf, daß die Lampe rußte, und er blies sie aus.
Geräuschlos öffnete sich die Tür zum Eßzimmer, die beiden Flüchtlinge schlüpften heraus. »Beim Jupiter!« flüsterte Fabius. »Ich dachte schon, der junge Narr würde nie mehr aufhören zu spielen!«
»Sei bloß still!« flüsterte Gaius wütend zurück. »Götter und Göttinnen, dieser Junge kann vielleicht Flöte spielen!«
»Für Konzerte ist jetzt keine Zeit!« antwortete Fabius. »Wenn wir zur Stadt hinaus wollen, müssen wir jetzt gehen!«
»Schscht!« machte Marcus. »Laßt erst den Haushalt zur Ruhe kommen.«
Gaius setzte sich auf die Bank. Marcus spürte die straffe Leinenschlinge, die den gesplitterten Arm seines Bruders stützte. Schweigend saßen sie beisammen. Jeder spürte die Körperwärme des anderen in der warmen, milden Nacht. Marcus mußte an früher denken: Acht Jahre alt war er damals gewesen, und sein Vater hatte ihn geschlagen. Und Gaius war genauso neben ihm gesessen - ohne Körperkontakt. Sein Vater hatte ihn grün und blau geschlagen, und jede Berührung hätte zusätzlich weh getan. Aber bereits die Gegenwart seines Bruders hatte ihn getröstet. Jetzt brach sich die Liebe, die er immer für seinen Bruder empfunden hatte und die unter seiner eigenen Schande und Verwirrung wie ein unterirdischer Fluß dahingetrieben war, ihre Bahn. Und mit ihr kam die Trauer, blind und ver-störend, daß ein Wiedersehen nur unter solchen Umständen möglich war.
Im Hause war alles still, ganz still. Falls sich die Nachbarn durch das Konzert gestört gefühlt hatten, hatten sie beschlossen, nichts dazu zu sagen, und waren wieder schlafen gegangen. Endlich erhob sich auch Marcus und ging in die Vorratskammer neben der Küche. Archimedes hatte während seiner Kindheit Maschinen gebaut. In der Vorratskammer standen noch immer die Ergebnisse seiner Experimente herum. Hier gab es genügend Seile. Es hatte eine Zeit gegeben, in der jede Maschine eine Art Kran wurde. Marcus nahm alle Seile und steckte sie in einen großen Weidenkorb, den er sich über die Schulter schlang. Dann fügte er noch eine Winde und einen kleinen Holzanker hinzu, die zu einem Flaschenzug gehört hatten. Bestens gerüstet ging er wieder in den Hof hinaus. »In Ordnung«, flüsterte er, »wir können gehen.«
Als er den Türriegel zurückschob, bemerkte er aus dem Augenwinkel heraus einen schwachen Widerschein. Bei einem schnellen Blick zurück sah er, wie Quintus Fabius das Messer prüfte. Er zitterte. Aber dann redete er sich ein, daß dieser Mann letztlich doch seinen Eid gehalten hatte, und trat ins Freie.
Die Hintergassen der Achradina lagen dunkel und verlassen unter den Sternen. Ein Wachhund schlug an, als sie vorbeigingen, verstummte dann aber wieder. Marcus führte die beiden Männer rasch durch das Straßengewirr und anschließend einen schmalen Pfad hinauf, der in Zickzacklinien die Anhöhe zur Epipolae überwand. Schließlich kamen sie gegenüber dem Tychetempel auf dem Hochplateau heraus. Aus Ehrerbietung vor der Glücksgöttin küßte er seine Finger und trabte dann rechts an ihrem Tempel vorbei. Rasch hatten sie die letzten Hütten des Tycheviertels hinter sich gelassen und bahnten sich nun einen Weg durch das dürre Gestrüpp des Höhenzugs.
»Wo gehen wir hin?« fragte Fabius, der plötzlich neben ihm auftauchte, und dank der unbewohnten Gegend die Gelegenheit zum Reden ergriff.
»Ich habe vor, euch an der Seemauer herunterzulassen, dort, wo das Plateau ins Landesinnere abbiegt«, antwortete Marcus. »Da ihr keine Flotte habt, stehen dort nicht sehr viele Wachen. Die Mauer verläuft oben an den Steilklippen, aber wir haben ja genügend Seile. Unten am Fuß müßt ihr dann ein bißchen über zerborstene Felsen klettern, aber sobald ihr die überwunden habt, müßt ihr euch nur immer nach Norden und ein wenig ins Landesinnere hinein halten, dann kommt ihr zu eurem Lager.«
»Du redest immer von >euch<«, stellte Fabius fest. »Eigentlich sollte es doch >wir< heißen, oder?«
»Nein«, antwortete Marcus gelassen. »Nicht, solange ihr Syrakus belagert.«
»Marcus!« rief Gaius, der jetzt gleichfalls nach vorne kam. »Du kommst mit uns!«
»Nein.«
»Du bist ein Römer!« protestierte Fabius verärgert. »Du gehörst nicht hierher!«
»Ich bin ein Sklave«, sagte Marcus barsch. »Ein Römer wäre bei Asculum gestorben.«
»Hör auf!« schrie Gaius. »Asculum ist lange vorbei. Du bist in Panik geraten, aber schließlich warst du ja auch erst sechzehn und hattest nur eine dreiwöchige Ausbildung. Eigentlich hättest du noch gar nicht bei der Legion sein dürfen. Ich war derjenige, der dich mitgenommen hat. An diesem Vorfall bin ich mehr schuld als du.«
»Lügner«, sagte Marcus müde. »Du weißt genau, daß ich derjenige war, der unbedingt mitkommen wollte. Ich wollte nicht mit Vater zu Hause bleiben. Ich war derjenige, der fortgelaufen ist, genauso wie ich mich später entschieden habe, am Leben zu bleiben.«
»Du hast diesem Flötenspieler erzählt, eine Sechzehnjährige könne unmöglich eine vernünftige Entscheidung über die Zukunft treffen«, sagte Fabius. »Warum nimmst du dich selbst davon aus?«
»Du sprichst Griechisch?« fragte Marcus erstaunt.
»Ein bißchen.«
»Asculum ist Vergangenheit«, sagte Gaius, um wieder auf das Thema zurückzukommen. »Du kannst jetzt wieder zurück.«
»Um meine Strafe anzutreten?« wollte Marcus wissen.
»Nein!« sagte Gaius und faßte ihn an der Schulter. »Um heimzukommen. Ich bin sicher, daß man dich begnadigen wird. Die Sache ist doch schon so lange her, und außerdem hast du’s dadurch wettgemacht, daß du uns zur Flucht verholfen hast. Du kannst zum Konsul gehen und ihm beichten, was du über die Verteidigungsmaßnahmen von Syrakus weißt. Er wird dir Amnestie gewähren, ganz sicher.«
»Ach ja?« fragte Marcus bitter. Derselbe Gedanke war ihm auch schon gekommen. »Aber was ist, wenn ich ihm nicht erzähle, was ich über die Verteidigungsmaßnahmen von Syrakus weiß? Was passiert dann?«
»Warum solltest du’s ihm nicht erzählen?«
»Weil ich niemandem helfen werde, Syrakus zu erobern«, sagte Marcus entschieden. »Mögen mich die Götter vernichten, wenn ich’s tue!«
»A-aber Marcus!« stotterte Gaius ungläubig.
»Ihr seid diejenigen, die hier nichts zu suchen haben!« rief Marcus und attackierte ihn wütend. »Siehst du das denn nicht ein? Rom und Karthago haben beide ihr Machtgebiet erweitert. Keiner traut dem anderen. Schon lange haben sie zum Krieg gerüstet. Schön! Das macht ja alles noch Sinn, aber jetzt verbündet sich Rom mit Messana und greift Syrakus an! Was ist daran sinnvoll?«
»Der Senat und das Volk von Rom haben sich nach reiflicher Überlegung dafür entschieden«, erklärte Fabius tadelnd. »Glaubst du, du weißt es besser als sie?«
»Ja!« behauptete Marcus. »Ich kenne Syrakus, während ihr mir selbst bestätigt habt, daß es das römische Volk nicht tut. Irgend so ein Bandit spuckt eine dreiste Lüge über Syrakus aus, und das große römische Volk schnappt danach wie ein Hund! Meiner Meinung nach hat Rom seit Beginn dieses Krieges nicht mehr gewußt, was es tat, wie ein General, der euer Manipel gegen die Katapulte geschickt hat. Tut mir leid, Gaius, aber es ist wahr.«
»Marcus«, beschwor ihn Gaius, »Marcus, du mußt mit uns kommen. Den Wachtposten wird wieder einfallen, daß du zu uns gekommen bist, und dann werden sie vermuten, daß du derjenige warst, der uns geholfen hat. Wenn du hierbleibst, werden sie dich kreuzigen!«
»Du hast wirklich keine Ahnung von Syrakus«, erklärte ihm Marcus empört. »Die Karthager kreuzigen. Die Griechen enthaupten oder töten durch Gift. Aber ich glaube nicht, daß sie das tun werden, keines von beiden. Niemand weiß, daß ich dich gesehen habe. Und was die Wachtposten betrifft, so habe ich mich lediglich im Steinbruch umgesehen. Mein Herr ist gut bekannt und eine Vertrauensperson. Sein guter Ruf wird mich beschützen. Und selbst wenn man mich erwischt - hörst du, Gaius! -, selbst wenn man mich erwischt, bin ich bereit, die Strafe zu bezahlen.
Ich habe einmal meinen Posten verlassen und mußte damit leben. Ich habe meinen Platz im Leben zerstört und mich wie ein Hund in die Sklaverei geflüchtet. Jetzt ist mein Platz hier. Ich werde meinen Posten nicht zum zweiten Mal verlassen.«
»Ach, ihr Götter und Göttinnen!« rief Gaius aufgeregt. »Marcus, das kannst du nicht machen! Ich dachte, du wolltest mit uns kommen! Wenn ich gewußt hätte, daß du bleiben willst, hätte auch ich nie einen Fluchtversuch unternommen!«
»Na und?« antwortete Marcus. »Ich habe dir gesagt, du sollst es nicht tun. Ich habe dir gesagt, daß es besser für dich wäre, wenn du bleibst, wo du bist. Du hast es nicht gewollt. Aber niemand hat mich gezwungen, dir zu helfen, es war meine eigene, freie Entscheidung. Wenn ich mit den Konsequenzen leben kann, warum dann du nicht?«
»Ich mußte bereits einmal mit deinem Tod auf meinem Gewissen leben! Zwing mir das nicht noch einmal auf! Du mußt mit uns kommen!«
»Nein.«
»Beim Jupiter!« rief Fabius nach einer gewissen Pause. »Und das alles wegen Syrakus. Was hatte der Sohn deines Herrn über die Alexandriner gesagt?« Er wiederholte den Satz auf Griechisch mit schwerem Akzent: »Soviel einfach in die Luft verpufft!«
Da blieb Marcus stehen und musterte ihn stirnrunzelnd. »Der Sohn meines Herrn?« fragte er.
»Na, dann eben der Neffe«, sagte Fabius, »oder sein Liebhaber, wenn er’s denn sein sollte. Ich weiß ja, daß diese Griechen eine gewisse Neigung haben. Der Flötenspieler.«
»Du hast also nicht begriffen, wer er war!« rief Marcus. Jetzt war er hundertprozentig überzeugt, daß ihn sein instinktiver Argwohn doch nicht getrogen hatte. Wenn Fabius begriffen hätte, wer dort gesessen war, hätte Archimedes sterben müssen.
»Also, wer war’s denn dann?« fragte Fabius ungeduldig.
»Mein Herr und Meister«, sagte Marcus mit Befriedigung und ging wieder weiter.
»Dieser Knabe}« sagte Gaius erstaunt.
»Er ist zweiundzwanzig«, antwortete Marcus. »Ursprünglich wurde ich an seinen Vater verkauft.«
»Aber du hast doch gesagt - und im Fort haben sie’s auch gesagt
- und da dachte ich.« Gaius brach ab. Plötzlich lachte er schallend los. »Oh, beim Jupiter! Ich habe ihn mir immer als alten Mann mit schrecklichen Augen und weißem Bart vorgestellt! Ein furchterregender Magier, dachte ich. Ich habe mich schon gewundert, was dieser geschwätzige, junge Flötenspieler im selben Hause zu suchen hatte!«
Plötzlich überflutete Marcus eine neue Welle der Liebe zu seinem Bruder. Er stimmte in sein Lachen ein. »Furchterregender Magier?«
Gaius wedelte wegwerfend mit seiner gesunden Hand. »Du hast gesagt, er könne die Sandkörner zählen und das Wasser bergauf fließen lassen. Für mich klingt das wie Magie.«
Wieder lachte Marcus. »Das ist es eigentlich auch«, sagte er. Plötzlich hätte er seinem Bruder am liebsten alles erzählt, was er seit seiner Versklavung gesehen und getan hatte. »Auch für mich hat die Wasserschnecke noch immer etwas Magisches, obwohl ich beim Bau geholfen habe. Gaius, das ist diese Maschine, die das Wasser bergauf fließen läßt, eine Art - nein, du mußt sie gesehen haben, wirklich, erst dann kannst du es richtig einschätzen. Es ist.«
Plötzlich hörte Gaius zu lachen auf. »Marcus, komm mit uns!« wiederholte er. »Bitte!«
»Gaius, wenn ich mitkomme, werde ich sterben«, antwortete Marcus kläglich. »Das weißt du ganz genau.«
»Wirst du nicht! Nicht wenn du als loyaler Römer zurückkehrst, der uns zur Flucht verholfen hat.«
»Und zum Beweis dafür müßte ich Syrakus verraten! Und das werde ich nicht tun, dafür verdanke ich dieser Stadt zuviel.«
»Was kannst du schon einer Stadt verdanken, wo du Sklave warst?«
Marcus zuckte die Schultern. Er dachte an die Musik, an die Familienkonzerte, an die öffentlichen Aufführungen, die er im Dienste der Familie gehört hatte, und an die Theaterstücke. Und dann waren da die Menschen - Nachbarn, die anderen Haussklaven, Arata, Archimedes. Und Philyra. Aber darüber hinaus gab es noch etwas: das ungeheuere Ausmaß einer Welt, die er nur am Rande gestreift hatte, der stetige Ideenstrom, der an ihm vorbeigeflogen war, unbegreifbar und verwirrend, aber im Rückblick doch eine Erweiterung seines Horizontes. Er hatte seine Sklaverei gehaßt und tat es noch immer -aber alles übrige konnte er nicht bedauern.
»Mehr als ich erklären kann«, sagte er leise. »Jeder Versuch, darüber zu sprechen, ist wie der Versuch, die Dinge in ein winziges Hohlmaß zu pressen - ich kann es nicht. Aber, Gaius, glaube mir, wenn ich Syrakus verraten würde, würde ich den letzten Funken Ehre und Loyalität zerstören, der in mir noch übrig ist. Verlang das bitte nicht von mir.«
Gaius berührte sachte seine Schulter. »Dann bete ich zu allen Göttern«, flüsterte er, »daß du recht hast und daß dich niemand verdächtigt. Marcus, wenn man dich tötet, weil du mir geholfen hast, dann. weiß ich nicht, was ich tun werde.«