15

In diesem Sommer griffen die Römer Syrakus nicht mehr an. Nach dem Austausch der Gefangenen kehrten sie nach Messana zurück, wo die Truppen den Winter verbrachten, während Appius Claudius nach Rom ging.

Er wurde nicht wiedergewählt. Bei seiner Rückkehr hatten sich die Berichte, wie sehr die Armee unzufrieden mit ihm gewesen war, bereits in ganz Rom verbreitet. Man empfing ihn kühl, ohne jede Ehrung und Dank. Keiner der beiden Konsuln, die im Januar gewählt wurden, gehörte der Partei der Claudier an.

Trotzdem kam man zu dem Schluß, daß die beiden Legionen in Sizilien in Anbetracht der schwierigen Situation nicht ausreichten. Weitere sechs Legionen mit Spezialverstärkung wurden ausgehoben. Im Frühling brachen beide Konsuln mit ihren riesigen Armeen nach Sizilien auf. Nach ihrer Landung in Messana proklamierten sie günstige Bedingungen für jede sizilianische Stadt, die Syrakus im Stich lassen würde. Daraufhin fielen alle Kolonien sowie sämtliche Freunde und Verbündeten auf der Insel ab.

Im Frühsommer traf das vierzigtausend Mann starke Römerheer vor Syrakus ein, belagerte die Stadt und riegelte sie von der Landseite her gänzlich durch Wall und Graben sowie eine Mauer aus Erde und Holz ab. Griechische Ingenieure aus den unterworfenen Städten Tarentum und Kroton konstruierten Belagerungsmaschinen: Wandeltürme und Leitern, Enterhaken und Katapulte, außerdem sogenannte Schildkröten, bewegliche Karren mit dicken Dächern, die darunter nach allen Seiten offen waren und massive Rammböcke schützen konnten. Im Hochsommer versuchten die Belagerer, Syrakus zu erstürmen.

Die Niederlage war verheerend. Den ganzen vorigen Sommer über hatte Hieron die syrakusischen Verbündeten um Nachschub gebeten: Getreide, um die Stadt während einer Belagerung ernähren zu können, sowie Holz, Eisen und Haare zum Bau von Verteidigungswaffen. Ägypten und Rhodos, Korinth und Kyrene hatten reagiert. Im neuen Jahr war die Stadt noch unangreifbarer als je zuvor. Rings um die Stadtmauern hatte man in Katapultreichweite zusätzliche Gräben ausgehoben, damit die Angreifer ihre schwerfälligen Belagerungsmaschinen zuerst einen steilen Abhang hinunterkarren mußten und dann wieder hinauf und erneut hinunter. Und das alles unter dem Dauerbeschuß der syrakusischen Katapulte. Und dieser Beschuß hatte eine Wucht, wie es sich die Ingenieure der romanisierten Griechen Italiens nie hatten träumen lassen. Riesige Steine zerschmetterten die Schildkröten und warfen die Belagerungstürme um. Bei dem Versuch, sie wieder aufzurichten, fielen die Männer unter einem Bolzenhagel. Brandsätze krachten in die zerstörten Maschinen und setzten sie in Brand. Die Rammböcke kamen gar nicht erst in die Nähe der Mauern, sondern wurden wie Käfer auf den Anhöhen des Epipolae zerdrückt und von den flüchtenden Angreifern im Stich gelassen. Die Syrakuser nahmen Hunderte von Römern gefangen, die verwundet oder in den Maschinenwracks eingesperrt waren.

Nach dem Angriff beriet sich der ältere der römischen Konsuln, Manius Valerius Maximus, mit seinem Amtskollegen und den ranghöchsten Ratgebern. Zur besseren Anschauung ließ er einen der syrakusischen Katapultsteine zu sich ins Zelt rollen. Er wog über zweihundert Pfund. Die Römer starrten ihn entsetzt an.

»Mir ist zu Ohren gekommen«, sagte der tarentinische Oberingenieur ehrfurchtsvoll, »daß Archimedes von Syrakus, der Ingenieur König Hierons, angeblich Drei-Talenter baut. Ich dachte, diese Geschichten wären übertrieben.«

»Anscheinend nur knapp daneben getippt«, sagte Valerius Maximus, »wie unser Angriff.«

Der Taraser hatte keine Ahnung, was er der syrakusischen Artillerie entgegensetzen sollte, und außerdem hatte er Angst. Selbst wenn es einer Belagerungsmaschine tatsächlich gelingen sollte, in die Nähe der Stadtmauern zu kommen, war es durchaus denkbar, daß ein Mann, der Drei-Talenter bauen konnte, noch weit schlimmere Dinge bereit hielt. Die Römer überlegten, ob es eine Möglichkeit gäbe, die Stadt vom Meer zu blockieren, kamen aber zu dem Schluß, daß schon ein Versuch sinnlos war. Außer den wenigen Schiffen der italienischen Griechen und den Transportkähnen, die sie über die Meerenge gebracht hatte, hatten sie keine Flotte. Dagegen besaßen die Syrakuser zur Verteidigung ihrer Schiffahrt achtzig Kriegsschiffe mit Zwischendecks. Und diese Anzahl war garantiert, denn die Syrakuser selbst hatten ihre Flotte im vergangenen Sommer stolz vor ihren römischen Gefangenen zur Schau gestellt.

Aber eine andere Nachricht war aus römischer Sicht noch viel beunruhigender: General Hanno, der Karthagergeneral in Sizilien, war nach Afrika zurückbeordert und anschließend vom Karthagischen Senat vor Gericht gestellt und wegen seiner Untätigkeit zum Kreuzestod verurteilt worden. Inzwischen kursierten Gerüchte, daß Karthago Söldnertruppen anwarb und den Krieg allen Ernstes vorantreiben wollte.

»Wir müssen mit Hieron von Syrakus Frieden schließen«, folgerte Maximus. »Der Hauptfeind ist Karthago, aber solange wir ein feindliches Syrakus im Rücken haben, können wir nicht mit den Karthagern kämpfen. Und eines ist klar: Wir können Syrakus nicht mit Gewalt in die Knie zwingen. Seit Beginn des Krieges hat Karthago Syrakus keinerlei Unterstützung zukommen lassen. Vielleicht ist Hieron bereit, sein Bündnis aufzugeben.«

Niemand hatte etwas gegen diese geänderte Taktik einzuwenden. Die Gerüchte von syrakusischen Grausamkeiten fanden in der breiten Öffentlichkeit kaum mehr Widerhall. Denn die römischen Gefangenen, die man letztes Jahr freigelassen hatte, lobten König Hieron in den höchsten Tönen.

Am nächsten Morgen schickte Maximus einen Herold nach Syrakus, um König Hieron um eine Unterredung zu bitten. Der König war sofort damit einverstanden. Auf der Ebene unterhalb des Eurya-lus-Forts trafen der römische Konsul und der griechische Monarch zusammen. Zu seiner Überraschung mußte Maximus feststellen, daß Hieron ein angenehmer und vernünftiger Mann war. Laut Appius Claudius hatte er ein verschlagenes, kriegslüsternes Monster erwartet.

Die Verhandlungen erstreckten sich über drei Tage. Sobald sich Rom auf einen Kampf eingelassen hatte, hatte es die Angewohnheit, nichts anderes als die völlige Unterwerfung seines Gegners zu akzeptieren. Und auch wenn es sonst seine Besiegten durchaus großzügig behandelte, so forderte es von seinem neuen »Verbündeten« doch immer, daß er Truppen zum Kampf für Rom zur Verfügung stellte. Dies war genau die Bedingung, die Hieron am entschiedensten ablehnte. Wenn Syrakuser kämpfen und sterben sollten, dann nur für ihre eigene Stadt und nicht für Fremde. Syrakus würde souverän und unabhängig bleiben, oder der Krieg ginge weiter. Syrakus konnte nicht auf einen Sieg hoffen, aber andererseits konnten auch die Römer weder darauf hoffen, es zu schwächen, noch konnten sie es sich leisten, diese Stadt zu ignorieren. Endlich gab Rom nach vielem Zögern nach und schloß einen Vertrag, wie es ihn noch nie vorher geschlossen hatte.

Rom erkannte nicht nur die Unabhängigkeit von Syrakus an, son-dern garantierte der Stadt außerdem das Recht, das ganze östliche Sizilien zu regieren. Ein Gebiet, das von Tauromenion, knapp südlich von Messana, bis Helorus auf der Südspitze der Insel reichte. Damit behielt Syrakus faktisch das gesamte Territorium, das es schon vor dem Krieg besessen hatte, einschließlich sämtlicher Städte, die kürzlich zu Rom übergelaufen waren. Das ganze Land wurde zur kriegsfreien Zone erklärt, das heißt, es war selbst gegen die Angriffe der Mamertiner, dieser miesesten Verbündeten Roms, geschützt. Dagegen erklärte sich Syrakus für seinen Teil bereit, den Römern Nachschub für einen Feldzug gegen die Karthager in Sizilien zu liefern und im Laufe von fünfundzwanzig Jahren eine Kriegsentschädigung von hundert Silbertalenten zu zahlen. Der jüngste Schub römischer Gefangener wurde ohne Lösegeld zurückgegeben.

Der Vertrag wurde mit einem Austausch von Eiden und Opfern an die Götter besiegelt. Beide Seiten feierten das Ereignis mit Festen und ehrlicher Erleichterung. Rom konnte sich nun auf Karthago konzentrieren, und Syrakus war nach gefährlicher Fahrt im friedlichen Hafen eingelaufen.

Während sich die Römer zur Rückkehr nach Messana rüsteten und dazu ihre Belagerungsmaschinerie abbauten, gingen zwei Männer der Zweiten Legion zu ihren Tribunen und baten um die Erlaubnis, sich in die Stadt begeben zu dürfen, um eine Schuld zu begleichen. Da der eine ein Centurio der Legion war und der andere sein Stellvertreter, wurde die Erlaubnis gewährt. So stiegen Quintus Fabius und Gaius Valerius langsam die Straße zu jener Stadt hinauf, die sie im Jahr zuvor bei Nacht verlassen hatten.

Es war ein Morgen im August, und ringsherum lag das Land ausgedörrt in der Sommersonne. Auf den offenen Feldern zirpten laut die Zikaden, die Straße war weiß vor Staub. Fabius klopfte sich seinen Centuriostab aus Rebenholz beim Gehen gegen den Oberschenkel. Eigentlich hatte er gar nicht mitkommen wollen, aber Gaius brauchte einen Dolmetscher. Auf eine schlecht zu definierende, schuldbewußte Art war er Gaius verpflichtet, denn er hatte ihm Kummer bereitet. Fabius war im Laufe des vergangenen Jahres sehr rasch befördert worden und hatte die Vorteile, die sich daraus ergaben, dazu benutzt, um auch Gaius hinter sich durch die Ränge zu schleifen. Und schuld daran war auch hier wieder dieses merkwürdig dunkle Pflichtgefühl.

Sie hatten das Epipolae-Tor des Euryalus-Forts erreicht, wo sie die syrakusischen Wächter mißtrauisch musterten. Nachdem ihnen Fabius in unbeholfenem Griechisch ihren Auftrag erklärt hatte, durften sie passieren, mußten aber zuvor ihre Waffen am Tor deponieren. Einer der Wachsoldaten begleitete sie in die Stadt hinein. Der Friede war noch ganz neu, und außerdem traute man ihnen nicht, schon gar nicht, wenn es um ein ganz bestimmtes Haus ging, das sie als Ziel angegeben hatten.

Sie überquerten das Kalksteinbuschland des Plateaus, ließen die Hütten des Tycheviertels hinter sich und stiegen von der Anhöhe in die Marmorpracht der Neapolis hinab. Beide warfen einen scheuen Blick zu den Klippen hinüber, die zu ihrer Linken über dem Theater aufragten. Unter dieser Plateaukante lagen die Steinbrüche. Aber ihr Begleiter führte sie durch die Neapolis zur Zitadelle der Ortygia hinauf.

Das Haus, nach dem sie suchten, lag auf der Nordseite der Ortygia, nicht weit von der Seemauer entfernt. Es war ein großes Haus, das man erst vor kurzem frisch bemalt hatte, denn auf der Vorderseite prangte ein leuchtend rot-weißes Muster, das weder von der Sonne ausgebleicht noch vom Staub überzogen war. Der Wachsoldat vom Euryalus klopfte an die makellose Tür.

Gaius Valerius stand auf der sonnigen Eingangsstufe und hörte der Erklärung des Wachsoldaten und den zweifelnden Antworten eines jungen Türhüters zu. Das alles ging in jener rasend schnellen, musikalischen Sprache vor sich, die er nicht verstehen konnte. Er hatte dieses Treffen unbedingt gewollt, aber jetzt wunderte er sich, warum er sich überhaupt die Mühe gemacht hatte. Wegen Marcus. Was hatte Marcus davon? Was hatte irgend jemand davon? Trotzdem klammerte er sich an das kleine Päckchen, das er mitgebracht hatte, und fragte Fabius: »Was soll diese Verzögerung?«

»Der Sklave meint, sein Herr sei bei der Arbeit und möchte dabei nicht gern gestört werden«, antwortete Fabius. Dann warf er eine Bemerkung in das intensive Gespräch zwischen dem Sklavenjungen und dem Wachsoldaten ein. Beide drehten sich um und schauten ihn an. Der Sklave blinzelte, dann zuckte er die Schultern, trat zurück und machte für sie die Tür auf.

»Was hast du gesagt?« erkundigte sich Gaius, während er eine kühle Marmorhalle betrat.

»Daß wir lediglich ein Eigentum seines Herrn zurückgeben möchten«, sagte Fabius.

Der Knabe ging vor ihnen her. Zuerst kamen sie durch eine Säulenhalle, die einen Garten umschloß, der nach der Hitze der Straße grün und kühl wirkte, dann ging es durch einen schmalen Gang in eine zweite Säulenhalle hinein, vorbei an Küche und Garten, bis sie zu einer Werkstatt kamen, die wie ein Teil eines ganz anderen Hauses wirkte. Der Boden bestand aus gestampftem Lehm, und an den Wänden stapelten sich bis oben hin Holzblöcke. Mitten im Raum stand eine mehr als halb mannshohe, unheimliche Holzkiste, die mit Blei beschlagen war. Auf der einen Ecke lag ein Becken mit zwei großen, sauberen Löchern, während sich auf der übrigen Oberfläche Leder-, Holz- und Knochenreste sowie ein Schmiedebalg verteilten. Das Gerät machte einen verlassenen Eindruck, egal, wofür es gedacht war. Die einzige Person im Raum war ein junger Mann, der ganz in der Nähe auf einem niedrigen Schemel kauerte, intensiv in eine Schatulle mit hellem Sand starrte und dabei auf einem Zirkelgelenk herumkaute. Gaius hate ihn zwar schon einmal Flöte spielen hören, hatte aber noch nie sein Gesicht gesehen. Trotzdem wußte er sofort, wer es war: der Zauberer, der die Sandkörner zählen konnte und das Wasser bergauf fließen ließ, die Zusatzarmee von Syrakus, der ehemalige Herr seines Bruders.

»Herr«, sagte der Sklavenjunge mit großem Respekt. Man hatte ihn erst im vorigen Winter gekauft, und er hatte vor seinem neuen Herrn noch Ehrfurcht.

Archimedes hob die Hand, was soviel wie Warte-eine-Minute bedeuten sollte, und starrte weiter auf das Muster im Sand.

Der Junge schaute die Besucher an und zuckte hilflos die Schultern.

Gaius räusperte sich, dann rief er: »Archimedes?«

Archimedes gab eine genuschelte Antwort an seinem Zirkel vorbei, doch dann erstarrte er plötzlich. Mit einem freudigen Lächeln auf dem Gesicht riß er den Kopf hoch. Einen Augenblick sah sich Gaius einem hellbraunen Augenpaar gegenüber, das ihn voller Erwartung anschaute. Dann wurde die Freude schwächer, die Augen nahmen einen verblüfften Ausdruck an.

»Ach«, sagte Archimedes, stand auf und warf noch einmal einen Blick auf seine unterbrochene Berechnung und dann auf die Besucher. Diesmal war die Frage deutlich zu hören.

»Entschuldige uns«, sagte Fabius steif, »ich bin Quintus Fabius, ein Centurio der Zweiten Legion, und das ist Gaius Valerius. Wir sind gekommen, um Archimedes, den Sohn des Phidias, zu sprechen.«

»Du bist der Bruder von Marcus!« rief Archimedes, während er den zweiten Mann musterte. Inzwischen konnte er die familiäre Ähnlichkeit entdecken, die breiten Schultern und die störrische Kinnlinie. Allerdings war Gaius Valerius zierlicher und blonder als sein Bruder. »Du bist mir in meinem Hause willkommen, und ich wünsche dir gute Gesundheit! Als du meinen Namen riefst, dachte ich einen Augenblick, es wäre Marcus. Du klingst genau wie er.«

Gaius starrte ihn an. Als sich Fabius seinem Begleiter zuwandte und übersetzte, war Archimedes überrascht. Irgendwie hatte er erwartet, daß der Bruder von Marcus Griechisch sprechen würde.

Gaius nickte, dann machte er einen Schritt vorwärts und streckte Archimedes eine längliche, schmale Schatulle hin, die in ein schwarzes Tuch gewickelt war. »Ich bin gekommen, um dies zurückzugeben«, sagte er leise. »Ich glaube, es hat dir gehört.«

Archimedes starrte die Schatulle an. Er erkannte ihre Form wieder und wußte gleichzeitig mit kalter, qualvoller Trauer, daß etwas geschehen war, von dem er gehofft hatte, es würde nicht geschehen. Aber es war geschehen und noch dazu vor langer Zeit. Selbst als die Übersetzung beendet war, und Gaius noch einen Schritt vorwärts machte und ihm zum zweiten Mal die Schatulle anbot, nahm er sie nicht.

»Marcus ist tot«, sagte er kategorisch und schaute von der verhüllten Flötenschatulle hoch, direkt in die Augen des Bruders.

Hier gab es nichts mehr zu übersetzen. Gaius nickte.

Archimedes nahm die Flötenschatulle und setzte sich auf seinen Schemel. Zuerst zerrte er an den Knoten herum, die die Hülle festhielten, dann biß er die Kordeln durch und zerriß sie. Er wickelte die Schatulle aus, öffnete sie und nahm seinen Tenoraulos heraus. Das Holz fühlte sich trocken an, und als er an dem Metallring drehte, quietschte er steif. Noch immer steckte ein Rohrblatt im Mundstück. Die Klemme war angelaufen und hatte auf der trockenen, grauen Seite einen grünen Fleck hinterlassen. Er löste die Klemme und zog das Rohrblatt heraus, dann rieb er das Mundstück mit dem Tuch sauber, in das die Schatulle eingewickelt gewesen war. Während seine Hände genau wußten, was sie taten, war sein Herz verwirrt und wie betäubt.

»Ich spiele nicht«, sagte Gaius. »Und ich wollte nicht, daß sie für immer stumm bleibt.«

Archimedes nickte. Er spuckte auf das Mundstück und rieb es nochmals ab, dann legte er das Instrument in seinen Schoß und wischte sich mit dem nackten Arm übers Gesicht. Erst jetzt merkte er, daß er weinte. Sein Blick wanderte zu Gaius zurück. »Dein Bruder war ein außergewöhnlicher Mensch«, sagte er, »ein Mensch von großer Integrität. Ich hatte gehofft, er würde noch leben.«

Gaius verzog vor Schmerz das Gesicht. »Er starb letztes Jahr, am Tag, nachdem ihn dein Volk zurückgegeben hat. Appius Claudius hatte ihn zum fustuarium verurteilt.«

Beim letzten Wort zögerte Fabius, er konnte es nicht übersetzen. »Man hat ihn zu Tode geprügelt«, ergänzte er schließlich.

»Hieron hat mir erzählt, daß Marcus den Konsul beleidigt hat«, sagte Archimedes elend. »Er sagte, er hätte noch mit Marcus geredet, bevor er ihn zurückgeschickt hat, und hätte ihn beschworen, jede erdenkliche Lüge zu erzählen, um sein Leben zu retten. Aber im Lügen war Marcus nie sehr gut.«

»Er war ein echter Römer«, stimmte ihm Gaius stolz zu.

Die braunen Augen bohrten sich in seine, verständnislos und zornig. »Ach? Die Leute, die ihn umgebracht haben, haben sich selbst als echte Römer bezeichnet. Wenn sie welche waren, dann war er es nicht.«

»Appius Claudius ist kein Mensch, geschweige denn ein Römer! « rief Gaius erregt.

»So einfach kannst du ihn nicht abtun!« antwortete Archimedes. »Das römische Volk hat ihn gewählt und ist ihm gefolgt. Und jetzt zwingen seine Nachfolger meine Stadt, für einen Krieg zu bezahlen, den er und seine Freunde begonnen und uns aufgezwungen haben, für einen Krieg, der noch nicht vorbei ist. Rom hat ihn nicht verstoßen, und auch du kannst es nicht! Deine Landsleute haben Marcus ermordet. Ihr Götter! Barbaren!«

Gaius zuckte zusammen, während Fabius, der soeben die letzten Bemerkungen übersetzte, lediglich eine verächtliche Miene zog. Der Wachsoldat vom Euryalus war die ganze Zeit hinter ihnen gestanden und hatte die beiden Römer mit gezücktem Speer im Auge behalten. Jetzt grinste er. Archimedes schaute wieder auf die Flöte hinunter und versuchte, sich zu beruhigen. Er betastete das trockene Holz und dachte daran, wie Marcus es gestreichelt hatte. Marcus hatte nie die Zeit gehabt, richtig Flötenspielen zu lernen. Verschwendung, Verschwendung, was für eine törichte Verschwendung!

»Ich habe meinen Bruder geliebt«, sagte Gaius langsam, »und ich wollte.«

Er zögerte. Er wußte nicht, wie er mit diesem Mann reden sollte. Ihm wäre es lieber gewesen, wenn Archimedes der weißbärtige Wei-se aus seiner Phantasie gewesen wäre. Dann hätte er gewußt, wie er sich verhalten sollte. Dieser junge Mann, dieser Ausländer, der wütend seine Landsleute verdammte, verwirrte ihn und brachte ihn durcheinander. Er mußte wieder an die beiden Stimmen im dunklen Innenhof des Hauses in der Achradina denken: diese hier, rasch, vom Alkohol verzerrt, fragend und befehlend zugleich; und dann die andere Stimme, die jetzt stumm war. Schon damals hätte er nicht sagen können, welche Verbindung zwischen den beiden bestand, welche Emotionen dahintersteckten. Und jetzt wußte er es immer noch nicht. Wieder trat er einen Schritt vor und sank vor der Gestalt auf dem Schemel in die Hocke. Er versuchte, ihm in die Augen zu schauen. Insgeheim war er über die erzwungenen Pausen wütend, denn nach jedem Gedanken mußte er abwarten, bis Fabius seine Worte in verständliche Begriffe umgesetzt hatte. Er sehnte sich nach einer direkten Unterhaltung.

»Ich hatte letztes Jahr nicht viel Zeit, um mit Marcus zu reden«, sagte er. »Ganz kurz während unserer Flucht, und dann noch ein bißchen vor und nach der Gerichtsverhandlung. Trotzdem hat er ein wenig von Ägypten erzählt und von dir und deinem Haushalt und über, über griechische Dinge. Mechanik, Mathematik - alles Dinge, von denen ich nichts verstehe. Ich kenne nur einen Bruchteil, wie er in seinen letzten Lebensjahren war, und wüßte es doch gerne. Ich habe ihn verloren, als er sechzehn war. Beinahe die Hälfte seines Lebens fehlt mir. Bitte, erzähle mir, was du kannst. Ich bitte dich um diesen Gefallen, als Bruder eines Mannes, der dein Sklave war und für den du anscheinend eine gewisse Sympathie empfunden hast.«

Archimedes seufzte. Er betastete noch immer die Flöte. »Was soll ich sagen? Er war, wie du gesagt hast, mein Sklave, und die meiste Zeit, die ich ihn gekannt habe, habe ich ihn einfach als selbstverständlich hingenommen. Man fragt keinen Sklaven, was er denkt oder fühlt, man erwartet von ihm einfach nur, daß er mit seiner Arbeit zurechtkommt. Als ich ungefähr neun Jahre alt war, hat ihn mein Vater gekauft. Wir haben hundertachtzig Drachmen für ihn bezahlt -das war während des Pyrrhuskrieges. Sklaven waren damals billig. Wir hatten zu der Zeit einen Weinberg und brauchten einen Arbeiter, der bei der Weinlese helfen sollte. Außerdem gab es da noch einen Bauernhof. Zum Großteil wurden die Pächter allein damit fertig, aber während der Erntezeit haben wir, wie es sich gehört, zu helfen versucht. Das hat dann alles dein Bruder gemacht und außerdem die schweren Arbeiten im Haus. Gelegentlich hat er auch mal bei den Nachbarn ausgeholfen. Marcus haßte sein Sklavendasein - ich denke, das habe ich immer gewußt -, aber sonst glaube ich nicht, daß er unglücklich war. Er hat bei uns im Hause gelebt, mit mir und meinen Eltern und meiner Schwester und unseren anderen Sklaven. Mein Vater war ein sanftmütiger Mensch und ein guter Herr. Dein Bruder schien nichts gegen seine Arbeit zu haben, und andere Dinge haben ihm sogar Spaß gemacht. Wir haben viel musiziert, und wenn wir in Konzerte und ins Theater gingen, haben wir Marcus meistens zum Tragen der Sachen mitgenommen, weil wir wußten, daß er die Musik gern hat. Genau wie die Maschinen - ja, die hat er auch gemocht. Ich habe sie gebaut, und er hat sich sehr dafür interessiert. Er hat beim Hämmern und Sägen geholfen und hat selbst Vorschläge gemacht: hat mir erklärt, daß der nächste Kran in halber Höhe einen Feststeller brauchte, und so weiter. Und wenn ich dann herausgefunden hatte, wie das gehen könnte, hat er darüber gelacht. So haben wir allmählich gelernt, uns gegenseitig zu mögen.

Als ich neunzehn war, hat mir mein Vater Marcus gegeben, und dann sind wir beide für drei Jahre nach Alexandria gegangen. Ich war kein guter Herr. Wenn Marcus sagte: >Herr, wir haben kein Geld mehr<, dann habe ich nur >ach, ja< gesagt und die Sache vergessen. Er mußte klären, wie wir ohne Geld leben sollten. Er war sehr einfallsreich und immer erstaunlich ehrlich. Wenn er Geld aus meinem Beutel nahm - das mußte er, weil ich ständig vergaß, ihm welches zu geben -, hat er mir immer erklärt wieviel und wofür, auch wenn ich nie darauf geachtet habe. Er hat mich auch immer daran erinnert, wem ich noch Geld schuldig war. Außerdem hat er eigenhändig die Kleidung geflickt und Sandalen gebastelt. Zum Ausgleich für unsere täglichen Gebrauchsgegenstände hat er dann für die Geschäftsleute dies und jenes erledigt. Er hat sich nie beklagt, obwohl ihm Alexandria nicht gefallen hat. Zumindest hatte ich diesen Eindruck. Er hat mir immer zugeredet, wir sollten doch nach Hause gehen. Aber im letzten Jahr habe ich in Ägypten eine Maschine zum Wasserschöpfen entworfen, und da hat er mir einmal erzählt, daß ihm der Bau dieser Maschine mehr Spaß gemacht hätte als alle anderen Arbeiten, die er je getan hat.«

»Die Wasserschnecke«, sagte Gaius.

Bei diesem Wort lächelte Archimedes. Der griechische Begriff brauchte keine Übersetzung. »Es überrascht mich nicht, daß er dir davon erzählt hat. Er hat diese Maschine geliebt. Wir haben sie nicht recht lange gebaut, dann hatte ich die Nase voll davon. Er war deswegen wütend auf mich und hat mir ständig erklärt, wir könnten mit diesen gottverdammten Dingern ein Vermögen machen. Den Sinn von Geometrie hat er nie eingesehen - jedenfalls hat er es mir gegenüber nicht eingestanden.«

»Offensichtlich hat er.« Gaius zögerte. Der Satz »oft sagen müssen, was du tun sollst« lag ihm schon auf den Lippen, aber er hatte Angst, ihn zu beleidigen, und sagte statt dessen: ». dir offen seine Meinung gesagt.«

Archimedes schnaubte. »Er hat immer offen seine Meinung gesagt. Dafür ist er ja auch gestorben, oder?« Wieder wanderte sein Blick zu der Flöte, dann fuhr er fort: »Als der Krieg ausbrach, kamen wir nach Hause. Er war über den Krieg. unglücklich. Wir hatten keine Ahnung, daß er Römer war. Wenn ihn einer gefragt hat, hat er immer behauptet, er wäre Sabiner oder Marser oder Samnite oder sonst etwas, dennoch wußten wir, daß ihn einiges an Rom band. Trotzdem hat er immer wieder geschworen, daß er nie etwas tun würde, was der Stadt oder unserem Hause schaden könnte.« Archimedes hielt inne, dann fügte er hinzu: »Selbstverständlich hätte er Rom freiwillig noch weniger Schaden zugefügt. Und du weißt ja, wie schnell er sich bereit erklärt hat, euch zu helfen. Aber danach hat er immer wieder betont, wie leid es ihm täte, daß er mein Vertrauen mißbraucht hätte. Es hat ihm unendlich weh getan, daß ihr bei eurer Flucht einen Mann getötet habt - einen braven Mann und einen Freund.« Er hob den Kopf und schaute Fabius unvermittelt an. »Wenn du dieser Fabius bist, der in jener Nacht bei ihm war, so sollst du folgendes wissen: Er hat gesagt, es wäre falsch gewesen, daß er dir ein Messer gegeben hat. Und außerdem hat er gesagt, er hätte geglaubt, daß du mich getötet hättest, wenn du gewußt hättest, wer ich bin.«

Fabius erwiderte stumm seinen Blick. Den letzten Zusatz übersetzte er nicht. »Es war unsere Pflicht, wenn möglich zu entfliehen«, sagte er schließlich. »Und was das andere betrifft, ja, ich hätte dich getötet. Wir hatten von deinen Katapultbauten gehört, und ich habe mir schon gedacht, daß du den Römern teuer zu stehen kommen wirst. Wie es ja dann auch war. Wegen dir und deinen Katapulten sind viele Männer tot, und der Friede, den wir erreicht haben, hat uns wenig gebracht. Ich will damit nicht sagen, es sei falsch gewesen, daß du deine Stadt verteidigt hast, aber genauso richtig wäre es gewesen, wenn ich meine verteidigt hätte.«

»Niemand hatte Rom angegriffen«, wies ihn Archimedes kalt zurecht. »Dein Argument stellt den Rüpel auf dieselbe Stufe wie das Opfer, das zurückschlägt. Das ist meiner Meinung nach ein Trugschluß. Genausowenig begreife ich, wie dein Konsul das Todesurteil über einen tapferen und loyalen Mann damit rechtfertigen konnte, daß er lediglich frei seine Meinung geäußert hat.«

Gaius hatte diesem unverständlichen Wortwechsel angespannt zugehört, jetzt räusperte er sich nervös. Fabius übersetzte wieder, ab der Klage gegen den Konsul. Gaius Valerius ließ betreten die Schultern hängen und schaute weg, eine Geste, die Archimedes plötzlich schmerzhaft an seinen Bruder erinnerte.

»Der Konsul war ein schwacher, wütender Mann«, sagte Gaius. »Sobald er herausgefunden hatte, wer Marcus war, hat er ihn verhaften und vor Gericht stellen lassen. Er selbst war Richter und oberster Ankläger in einer Person. Niemand hätte Marcus für den Vorfall bei Asculum zum Tode verurteilt, nicht einmal damals. Zu diesem Zeitpunkt war er sechzehn und erst seit drei Wochen bei der Legion! Aber unser Vater hatte uns beigebracht, harte Strafen zu erwarten, und Marcus ist sich selbst gegenüber immer hart gewesen. Er war überzeugt, daß er den Tod verdient hatte, also war er auch darauf gefaßt. Aber selbst Claudius konnte sich nach so vielen Jahren nicht mehr auf Asculum berufen. Sein Hauptanklagepunkt lautete, Marcus habe den römischen Namen entehrt. Weil er die Sklaverei akzeptiert und weil er gesagt hatte, die Römer hätten Syrakus zu Unrecht angegriffen.«

»Und er wollte nicht lügen und sagen, sie hätten recht gehabt?« fragte Archimedes resigniert.

Gaius nickte matt. »Ich glaube, er hatte es vor, aber als es dann soweit war, wurde er wütend und hat es doch nicht gesagt. Der Konsul hatte ihm auch noch andere üble Dinge unterstellt.«

Als ihn Archimedes mit gerunzelter Stirn anschaute, fuhr Gaius zögernd fort: »Er hätte sich den Griechen als Strichjunge verkauft. König Hieron und, unter anderem, auch dir.« Archimedes lief vor Zorn rot an. Hastig fuhr Gaius fort: »Alles dumme Anschuldigungen, aber seine Wut war der einzige Weg, um sie zu widerlegen. Also ist er wütend geworden und hat nicht gelogen, und dann hat ihn der Konsul zum Tode verurteilt.«

Gaius streckte die Hand nach der Flötenschatulle aus und holte etwas daraus hervor: einen dicken, schwarzen Flakon von der Größe einer Kinderfaust. Er war leer. »Ich war sehr froh, daß er das gehabt hat«, fuhr er ganz leise fort. »Die Legionen wußten, daß Marcus unschuldig war, keiner wollte zuschlagen. Da aber die Prügelstrafe vollzogen werden mußte, hätte alles nur noch länger gedauert. Als sie ihn morgens aus dem Zelt holen wollten, wo sie ihn eingesperrt hatten, war er bereits tot. Er hatte das hier bei sich, das und die Flöte. Beides Geschenke von dir?«

Archimedes schüttelte den Kopf. »Nur die Flöte«, sagte er nüchtern. »Das da kam von Hieron. Er hat mir erzählt, daß er es Marcus gegeben hatte, für alle Fälle.«

Gaius schaute ihn verblüfft und zweifelnd an, dann fuhr er mit einem Finger über den Flakonrand. »Ein Geschenk vom König von Syrakus? Dafür bin ich dem König zu Dank verpflichtet. Trotzdem begreife ich nicht, woher König Hieron Marcus gekannt hat und warum er sich die Mühe gemacht hat.«

»Er kannte deinen Bruder durch mich«, antwortete Archimedes. »Außerdem sollte Marcus auf seinen Wunsch hin nach dem Kriege wieder nach Syrakus kommen, um sein Lateindolmetscher zu werden. Das wäre eine gute Stellung gewesen, die sehr gut zu Marcus gepaßt hätte. Hieron hat mir davon erzählt. Deine Nachricht wird auch ihm weh tun.« Archimedes erhob sich, wobei er die Flöte vorsichtig mit beiden Händen festhielt. »Es ist Verschwendung, und nichts als Verschwendung. Ich weiß nicht, was dein Volk der Welt noch antun wird.«

Auch Gaius stand auf und senkte den Kopf mit einer Bewegung, die weder Ja noch Nein bedeutete. »Marcus war ein Römer«, sagte er, »und ich würde dich darum bitten, Herr, daß du auch uns so siehst. Aber ich möchte mich nicht mit dir streiten. Ich bin dir dankbar, daß du so freundlich warst, mit mir zu sprechen, und auch dankbar für die Güte, mit der du meinen Bruder zu seinen Lebzeiten behandelt hast. Er hat dich tief bewundert.«

Archimedes schüttelte zornig den Kopf. »Erst als es zu spät war, habe ich begriffen, wie außergewöhnlich dein Bruder war«, sagte er. »Ich habe mir selbst viel Schuld zuzuschreiben. Hoffentlich tröstet es dich ein wenig, wenn du weißt, daß er sich sogar als Sklave den Respekt seiner Mitmenschen erworben hat.« Er zögerte und versuchte nachzudenken, ob es noch etwas gäbe, was er sagen sollte. Dann fiel ihm ein, daß seine Besucher seit ihrem Lager einen weiten Weg zurückgelegt hatten. Er erkundigte sich, ob sie etwas Wein wollten.

Sie bedankten sich und meinten, sie würden tatsächlich gerne etwas Kaltes zu trinken haben. Als Archimedes in den Hauptteil des Hauses hinübergehen wollte, deutete Fabius auf die bleibeschlagene Kiste mitten in der Werkstatt und fragte unsicher: »Was ist das für eine Maschine? Eine neue Art von Katapult?«

»Das mögen sämtliche Götter und Helden verhüten!« rief Archimedes leidenschaftlich.

Noch nie hatte er von einer Sache so die Nase voll wie von Katapulten. Längst hatte er den Überblick verloren, wie viele er gebaut hatte: Ein-Talenter, Zwei-Talenter, Drei-Talenter, DreieinhalbTalenter und Vier-Talenter. Dazu noch Pfeilgeschütze mit besonders großer Reichweite und besonders großen Bolzen. Dagegen waren ihm die Außenarbeiten an den Wehrmauern direkt wie eine Erleichterung vorgekommen. Die häßliche, kleine Überraschung, die er sich zusammen mit Kallippos für jede Belagerungsmaschine ausgedacht hatte, die in die Nähe der Mauer kam, war ihm wie eine Komödie vorgekommen, die im Theater einen Tragödienzyklus beendet. Falls der Krieg weitergehen sollte, gab es noch eine lange Liste von Dingen, die man tun konnte, solange es Zeit und Vorräte erlaubten. Deshalb war er unendlich froh, daß er ihnen entrinnen konnte - wenigstens für kurze Zeit. Er war genauso erleichtert über den Frieden gewesen wie jeder andere in der Stadt. »Das ist ein Wasseraulos«, erklärte er Fabius glücklich, »oder besser gesagt, es wird einer sein, sobald ich damit fertig bin.«

»Ein was?« fragte Fabius verwirrt. Archimedes strahlte. »Eine Wasserorgel. Schau her, erst füllt man den Tank mit Wasser und dann legt man diese Halbkugel hinein.« Er löste das Becken mit den Löchern von der einen Tankkante und hielt es kopfüber in die leere Zisterne. »Und dann führt man von oben einen Schlauch hier in diese Öffnung, und ein zweiter führt dann hier wieder heraus. Diese Öffnung bleibt verschlossen, bis sich auf Tastendruck die Ventile öffnen - die Ventile sind der schlaueste Teil - und man mit Hilfe des Blasebalgs Luft hineinpumpt. Das Wasser drückt die Luft zusammen. Und wenn man sie dann durch die Pfeifen hinausläßt, entsteht ein richtig lauter Ton.« Damit stellte er das Becken wieder auf die Tankkante. »Ich warte noch auf die Pfeifen vom Bronzeschmied.«

»Aber wozu ist das gedacht?« fragte Fabius.

»Es ist ein Musikinstrument«, sagte Archimedes verblüfft. »Ich habe doch schon gesagt, daß es ein WassenWos ist, oder? Meine Frau wünscht sich einen.«

»Ein Musikinstrument!« rief Fabius und schüttelte verwundert den Kopf. »Also hat der Friede den Größten aller Ingenieure so weit geschwächt, daß er nun statt Katapulte zum Vergnügen von Frauen Flöten baut!«

Einen Augenblick starrte ihn Archimedes völlig verständnislos an, dann wurde er wütend. »Geschwächt?« wiederholte er zornbebend. »Katapulte sind dumme, gottverhaßte Holzbrocken, die Steine werfen, um Leute zu töten! Hoffentlich muß ich mein ganzes Leben lang nie mehr eines dieser schmutzigen Geräte anfassen! Das hier wird zum Ruhme Apollons und der Musen mit einer Stimme wie Gold singen. Das hier ist einem Katapult so haushoch überlegen wie. wie.« Er suchte hilflos nach einem Vergleich, dann deutete er ungeduldig auf den Abakus. »Wie das da einem Schwein!«

»Aber ich habe auch keine Ahnung, was das da ist!« sagte Fabius belustigt.

»Eine Berechnung des Verhältnisses zwischen einem Zylindervolumen und einer eingeschlossenen Kugel«, antwortete Archimedes mit kalter Präzision. Er ging darauf zu und betrachtete es stirnrunzelnd. »Oder jedenfalls ein Rechen versuch.« Der Ansatz des Problems und die Lösung dazu hatten sich ihm entzogen.

»Und welchen Nutzen hat das?« fragte Fabius, der ebenfalls herüberkam und die eingeritzten Zeichnungen im Sand anstarrte: endlos mit Buchstaben beschriftete Kugeln und Zylinder; Buchstaben, die an der Seite in unerschöpfliche Rechnungen übergingen, Buchstaben auf Kurven, auf Geraden, auf Gleichungen und Ungleichungen. So viel Intelligenz, dachte er, und alles einfach in die Luft verpufft!

»Das braucht keinen Nutzen zu haben«, erklärte Archimedes, während er noch immer auf sein Diagramm hinunterschaute. In seinem Kopf stieg ein Kreis auf der Achse des Zylinders empor, dessen Höhe mit dem Kreisdurchmesser identisch war, dann drehte er sich im Mittelpunkt um sich selbst und wurde zur Kugel - perfekt, perfekter als alles andere auf der Erde. »Es existiert einfach so.« Er studierte seine Berechnungen und erkannte, daß sie ihn ins Leere führten. Da hob er ein flaches Holzstück auf und strich damit sorgfältig die Sackgasse glatt.

»Was hast du gesagt?« erkundigte sich Gaius auf Lateinisch. Fabius hatte kein Wort von der Wasserorgel übersetzt. Er hatte keine Ahnung, was ein »Ventil« war oder was mit »Luftdruck« gemeint war, und außerdem hegte er den Verdacht, daß es in der lateinischen Sprache dafür keine Wörter gab.

»Die Kiste in der Mitte des Raumes gehört zu einem Musikinstrument«, sagte Fabius. »Ich habe gesagt, von Katapulten zu dem hier wäre es ein trauriger Abstieg. Das hat er als Beleidigung aufgefaßt und gemeint, Musik wäre etwas Edleres als der Krieg, und das hier«, er deutete auf die Sandschatulle, »sei noch edler als alles andere.«

Während die Sackgasse im Sand verschwand, erkannte Archimedes plötzlich den Pfad, der über den sich drehenden Kreis zur Wahrheit führte. Atemlos angelte er mit dem Fuß nach dem Schemel und hob seinen Zirkel auf. »Nur eine Minute«, sagte er zu seinen Besuchern. »Ich habe gerade etwas gesehen. Geht einstweilen ins Haus und trinkt etwas. Ich komme gleich.«

Verblüfft schauten ihn die beiden an, aber er nahm sie schon längst nicht mehr wahr. Der Zirkel hinterließ im Sand präzise Berechnungen, denen seine Augen mit höchster Konzentration und Freude folgten. Zum ersten Mal in seinem Leben spürte Fabius, wie die Fundamente seiner sicheren Überzeugungen ins Wanken gerieten. Dieser Verstand war nicht auf Luft gebaut. Plötzlich war es ganz still geworden, etwas füllte den Raum und ließ ihm die Haare auf den Armen zu Berge stehen. Und dieses Etwas existierte nicht zum Nutzen der Menschen. Schwindelerregend verschob sich der Blickwinkel, und er überlegte, welchen Nutzen wohl er für ein Universum darstellte. Unsäglich verängstigt zog er den Kopf ein und wich zurück.

Als Delia mehrere Stunden später in die Werkstatt kam, saß Archimedes auf dem Boden, hatte den Kopf gegen den Schemel gelehnt und betrachtete liebevoll den Abakus. »Liebster?« sagte sie zärtlich.

Er hob den Kopf und strahlte sie an. »Es beträgt drei zu zwei!« erklärte er ihr.

Sie kam herüber, kniete sich neben ihn und legte ihm einen Arm um die Schultern. Seit Januar waren sie verheiratet, und inzwischen hatte sie allmählich das Gefühl, als ob sie die Verwaltung ihres Besitzes sehr gut bewältigen könnte. Aber Geometrie würde sie wohl nie verstehen. »Du meinst das Verhältnis?« fragte sie und versuchte, wenigstens etwas Interesse zu zeigen.

Er nickte und deutete mit der Hand auf das Gewirr aus Rechnungen. »Am Ende ist alles ganz perfekt«, staunte er. »Nach all dem -eine rationale Zahl. So genau, so. perfekt!«

Er war so glücklich, daß sie ihn nur schweren Herzens stören wollte, aber nach einer Weile sagte sie dann doch: »Ich habe gehört, vor kurzem wären zwei Römer hier gewesen. Was haben sie gewollt?«

Das Glücksgefühl verschwand. Aufgeregt blickte er sich um. »Bei den Göttern! Und ich habe gesagt, ich wäre in einer Minute bei ihnen. Sind sie.?«

»Sie sind schon vor längerer Zeit gegangen«, sagte Delia knapp. »Melais hat erzählt, sie hätten mit dir geredet, aber dann wärest du hinter deinem Abakus verschwunden. Also hat er ihnen etwas zu trinken gegeben, und dann sind sie gegangen. Was haben sie gewollt?«

Traurig erzählte er es ihr und zeigte ihr die mißhandelte Flöte. »Gaius Valerius hat zwar nur einiges über seinen Bruder wissen wollen«, fügte er zum Abschluß hinzu, »aber ich habe ihn trotzdem gemocht. Er war ganz wie Marcus, sehr offen und ehrenwert. Der andere, Fabius, war ein echter Römer. Er dachte, der Weg von Katapulten zur Musik wäre ein Abstieg!« Wütend rieb er an einem Rostfleck auf der Rohrblattklemme herum. »Marcus hat mir einmal erzählt, Musik wäre für die Römer kein Thema, mit dem man sich ernsthaft auseinandersetzen sollte. Er meinte, sein Vater hätte ihn verprügelt, wenn er um Flötenunterricht gebeten hätte. Trotzdem wollte er es lernen, aber sie haben ihm nicht die Gelegenheit dazu gegeben.«

Wieder legte sie den Arm um ihn und dachte dabei an den Sklaven, der damals im dunklen Garten gesessen war und der Musik gelauscht hatte. Sie konnte sich nicht an sein Gesicht erinnern, aber es tat ihr leid, daß er tot war. Am meisten tat es ihr für Archimedes leid, aber ein wenig auch um des Sklaven selbst willen. »Ich bete, daß die Erde leicht auf ihm ruhen möge«, sagte sie.

Er drehte sich zu ihr, legte beide Arme um sie und küßte sie. Danach hielt er sie fest und spürte ihre warme Gestalt an seiner Brust -ein Trost gegen jeden Kummer. Als er bei Hieron um sie angehalten hatte, hatte er nicht gewußt, daß man für eine Frau so empfinden konnte, wie er es jetzt tat. Vom ersten Tag ihrer Ehe an hatte sie ihn erstaunt. Und inzwischen kam es ihm so vor, als wäre sie in all jenen Dingen am besten, wo er versagte, als wäre sie seine zweite Hälfte, wie das zweite Bein eines Zirkels oder ein zweites Flötenpaar.

Selbst im Krieg und während der Belagerung waren sie so glücklich gewesen, sogar trotz aller Katapulte.

Voll Schmerz dachte er an den toten Marcus und wie man ihn verbrannt hatte. Er dachte an den Rauch, der vom Scheiterhaufen hoch in den Himmel über Syrakus stieg. Vielleicht hatte er ihn sogar gesehen und nicht gewußt, was es war. Er hatte ja sogar zu Lebzeiten Marcus’ nicht sehr viel wahrgenommen.

Marcus hatte sein Bestes gegeben, um allen seinen Verpflichtungen ehrenhaft nachzukommen, und er war an ihren Widersprüchen klaglos gestorben. Dagegen stand ihm, der auch kein besserer Mensch war, alles offen, um sich selbst glücklich zu machen. Welche Formel konnte diese Figuren ins Gleichgewicht bringen? Seufzend warf Archimedes einen Blick auf das kleine Rätsel hinunter, das er gelöst hatte - das perfekte Verhältnis, das ihm schon gar nicht mehr so überragend erschien.

Und doch, das Verhältnis war noch immer perfekt. Perfekt und -bekannt. Es blieb als Ganzes in seinem Kopf zurück. Ohne jeden unmittelbaren Nutzen ruhte es in seiner bloßen Existenz. Wie die Seele. Aber im Gegensatz zur Seele hatte man es verstanden.

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