12

Beim nächsten Morgengrauen weckte Agathon den König mit der Nachricht, Dionysios, der Sohn des Chairephon, sei soeben angekommen und bitte um Audienz.

»Bankettsaal«, befahl Hieron kurz und bündig. »Sag ihm, ich bin in einer Minute bei ihm.«

Eine Minute später erschien der König barfuß und spärlich bekleidet im Bankettsaal, wo ihn der Hauptmann der Ortygia-Garnison in Habtachtstellung neben der Tür empfing. Dionysios machte einen zerknitterten, übermüdeten Eindruck wie einer, der sich den Großteil der Nacht um die Ohren geschlagen hat. Sein Gesichtsausdruck verhieß nichts Gutes.

»Setz dich«, sagte Hieron, wobei er seinen angestammten Platz auf der Liege im Mittelpunkt einnahm und auf den Platz zu seiner Rechten deutete. »Was ist los?«

Dionysios ignorierte die Einladung zum Hinsetzen und sagte statt dessen ohne Umschweife: »Vergangene Nacht sind zwei römische Gefangene geflohen. Meine Truppen hatten sie bewacht. Ich übernehme die volle Verantwortung.«

Hieron musterte ihn, dann seufzte er. »Wurde jemand verletzt?«

Dionysios verzog das Gesicht. »Ein Wachsoldat wurde ermordet - Straton, der Sohn des Metrodoros, ein guter Mann, einer meiner Besten. Ich hatte ihn zur Beförderung vorgesehen. Seine Familie habe ich bereits informiert.«

Hieron blieb einen Augenblick stumm, dann sagte er schließlich: »Möge die Erde leicht auf ihm ruhen! Schildere mir den genauen Vorgang, soweit du ihn kennst, und - Hauptmann? Ich werde entscheiden, wer hier verantwortlich ist, nicht du. Also, setz dich endlich, oder ich verrenke mir noch das Genick.«

Dionysios setzte sich steif. »Ungefähr eine Stunde nach Mitternacht«, sagte er, »fiel dem Posten im mittleren Abschnitt der Steinbruchmauer auf, daß sich Straton, der im westlichen Teil Wache hatte, nicht auf seinem Platz befand. Als er hinüberging, um ihn zu suchen, fand er ihn mit durchschnittener Kehle oben auf der Mauer liegen. Neben ihm hing auf der Vorderseite der Mauer ein Seil herunter. Sofort schlug der Wachtposten Alarm, woraufhin der verantwortliche Reihenführer im Steinbruch - ein gewisser Hermokrates, Sohn des Dion - konsequent die Wachen auf der Mauer verdoppelt und einen Eilboten zu mir geschickt hat. Er selbst überprüfte persönlich die Gefangenen, von denen die meisten tief und fest schliefen. Die Hüttenposten waren wach und an ihren Plätzen. Lediglich aus der mittleren Hütte fehlten zwei Leute: Gaius Valerius und Quintus Fabius, zwei schwere Fußsoldaten aus demselben Manipel. Fabius war wohl eine Art Offizier - tesserarius, so lautet meiner Meinung nach der Titel.«

»Wachkommandant«, übersetzte Hieron, »der niederste Unteroffiziersrang innerhalb einer Centurie.«

»Die beiden fehlenden Männer waren direkt nebeneinander gelegen«, fuhr Dionysios fort. »Valerius war verwundet - hatte den Arm und mehrere Rippen gebrochen - und deshalb nicht angekettet, während Fabius in Fußeisen lag. Irgendwie hat er es geschafft, sie loszuwerden. Vermutlich hat er sie einfach von den Füßen gestreift, denn sie lagen noch völlig unversehrt an Ort und Stelle. Die Hüttenposten meinten, die Fesseln wären schon alt gewesen und der Gefangene so geschmeidig wie eine Schlange. Hinter der Stelle, wo die beiden gelegen hatten, waren an der Hüttenwand zwei Bretter durchgesägt und anschließend wieder eingefügt worden. Hermokrates hat die Hütte durchsuchen lassen und die Säge unter einer Matratze versteckt gefunden.« Dionysios holte das Beweisstück aus einer Mantelfalte und legte es auf den königlichen Eßtisch: ein ganz gewöhnliches, eisernes Sägeblatt, um das anstelle eines Griffes ein Stück Stoff gewickelt war. Hieron nahm es hoch, prüfte es und legte es dann wieder hin. Der Hauptmann fuhr fort: »Als ich ankam, hat Hermokrates gerade die anderen Gefangenen verhört. Sie behaupten, nichts von der Flucht bemerkt zu haben, obwohl es offensichtlich ist, daß wenigstens ein paar von ihnen etwas gemerkt haben müssen. Ich hatte zwei Reihen Soldaten mitgebracht, die ich sofort auf die Suche nach den Flüchtigen geschickt habe, aber inzwischen war so viel Zeit verstrichen, daß sie ihre Flucht gut zu Ende führen konnten. Hermokrates hat nicht sofort alle Straßen durchkämmen lassen. Und obwohl wir keine Spur von ihnen gefunden haben, möchte ich hiermit klarstellen, daß ich seine Entscheidung voll und ganz unterstütze. Denn anfänglich kannte er weder das wahre Ausmaß der Fluchtaktion, noch hatte er genügend Männer, um gleichzeitig den Steinbruch zu sichern und die Straßen zu durchsuchen.«

»Ich teile diese Ansicht«, sagte Hieron. »Hast du die Hauptmänner in den Forts auf der Stadtmauer informiert?«

»Das habe ich sofort nach meiner Ankunft im Steinbruch erledigt.

Inzwischen müßten sie jeden im Auge haben, der die Stadt verlassen möchte.«

»Gut. Dann halten sich die beiden Männer aller Wahrscheinlichkeit nach noch immer in der Stadt auf. Vermutlich verstecken sie sich bei demjenigen, der ihnen die Säge, das Seil und die Waffe gebracht hat, die sie gegen diesen armen Wachsoldaten eingesetzt haben. Wer hat mit den Gefangenen Kontakt gehabt?«

Dionysios zuckte müde die Schultern. »Du, ich, ihre Wachen, dein Leibarzt. Mehr weiß ich nicht. Du weißt ja, daß ursprünglich die Garnison des Hexapylons für sie verantwortlich war. Ich habe mit meinen Männern erst gestern übernommen. Allerdings kann ich mir nicht vorstellen, daß Hauptmann Lysias nachlässig gewesen ist. Aber da wäre trotzdem noch eine Sache.« Er zog ein zusammengeknotetes Stück Stoff aus seiner Börse, legte es auf den Tisch und knüpfte es auf. Zum Vorschein kam eine Silbermünze. »Einer der Wachen behauptet, die hätte ihm Valerius gestern gegeben und ihn gebeten, Öl zu kaufen. Der Posten hat mit ein bißchen Kleingeld das Öl gekauft, die Münze aber hat er behalten und sie mir dann letzte Nacht ausgehändigt.«

Hieron hob die Münze auf und prüfte sie eingehend. Auf der Rückseite waren eine Krone und ein Blitz abgebildet, während von der Vorderseite das Profil von Ptolemaios IL samt Stirnband lächelte. »Überraschend«, sagte Hieron mit neutraler Stimme, dann fügte er mit einem milden Blick auf Dionysios hinzu: »Gehe ich recht in der Annahme, daß dein Wachsoldat ebenfalls überrascht war? Schließlich hat er dir die Münze ja ausgehändigt.«

Dionysios nickte. »Er hat gesagt, er hätte einige Bemerkungen gemacht, als man ihm die Münze angeboten hatte. Daraufhin hätte der Gefangene ihm erklärt, daß sie genausoviel wiege wie die sizi-lianischen.«

»Was natürlich auch stimmt«, sagte Hieron. »Allerdings kommt diese Münze in den Händen eines Römers nicht gerade häufig vor.« Er legte die Münze wieder hin. »Vielleicht hat das ja nichts zu bedeuten«, fügte er nach einer Weile hinzu. »Falls ein Römer eine derart seltene Münze bekommt, könnte ihn das vielleicht dazu veranlassen, sie als Glücksbringer zu behalten. Vielleicht hat er sie als eine Art Talisman um den Hals getragen und erst dann ausgegeben, als man ihm sein übriges Geld bei der Gefangennahme abgenommen hatte. Vielleicht hat er unbedingt etwas Öl kaufen wollen, damit sein Freund die Ketten besser abstreifen konnte.«

»Ach, beim Zeus!« rief Dionysios verblüfft, dem an der Bitte nach Öl nichts Merkwürdiges aufgefallen war. Öl wurde wie Seife verwendet, und so hatte er es mit dem verständlichen Bedürfnis in Verbindung gebracht, daß sich selbst ein Gefangener waschen möchte.

Hieron lächelte ihn verkniffen an. »Andererseits könnte sie aus derselben Quelle stammen wie das Seil. Ich nehme an, du hast überprüft, ob einer deiner Männer vor kurzem in Ägypten gewesen ist. Befinden sich italienische Söldner darunter? Oder Griechen aus einer der Städte in Italien?«

»Zwei sind Taraser«, gestand Dionysios, »aber ich kann mir nicht vorstellen - das heißt, ich weiß, daß wenigstens der eine ein fanatischer Romgegner ist. Das hat uns schon immer Probleme bereitet.«

»Überprüfe trotzdem ihre Herkunft«, befahl der König. »Vergewissere dich, ob möglicherweise Erpressung dahintersteckt. Und noch etwas: Überprüfe, ob irgend jemand zwar den Steinbruch besucht hat, aber nicht die Gefangenen.«

»Was?« fragte der Hauptmann überrascht.

»Die Säge hat keinen Griff«, betonte Hieron. »Würde ein Mann, der eine Säge einschmuggelt, bewußt eine ohne Griff wählen? Ich behaupte, es ist viel wahrscheinlicher, daß der Griff abgenommen wurde, um das Werkzeug durch einen Spalt in der Wand schieben zu können.«

»Beim Zeus!« rief Dionysios zum zweiten Mal mit großen Augen. »Ein Mann ist mir bereits bekannt, der den Steinbruch besucht hat und nicht die Gefangenen. Aller Wahrscheinlichkeit nach hat er nichts damit zu tun, aber vielleicht haben andere den gleichen Auftrag vorgeschoben.«

»Und welcher Auftrag war das?«

»Steine für besonders große Katapulte«, sagte der Hauptmann. »Lysias hat mir erzählt, daß Archimedes seinen Mitarbeiter herumgeschickt hat, um zu testen, welcher Steinbruch die beste Munition für den Drei-Talenter liefern könnte.«

Hieron fuhr herum und starrte Dionysios alarmiert mit weit aufgerissenen Augen an. »Ach, ihr Götter!« rief er.

»Was ist los?« fragte Dionysios überrascht. »Es war tatsächlich der Sklave von Archimedes. Dein Arzt war gleichzeitig da und hat den Mann erkannt, hat Lysias gesagt.«

Hieron schüttelte den Kopf und klatschte in die Hände. Agathon tauchte mit mürrischem Gesicht im Türrahmen auf. »Nimm eine halbe Reihe Soldaten aus den Wachbaracken«, befahl der König, »und begib dich eilends zum Haus von Archimedes in der Achradina. Ich glaube, du weißt, wo es liegt. Es handelt sich um zwei entflohene Kriegsgefangene, die sich vielleicht dort verstecken. Bring die Hausbewohner in Sicherheit und durchsuche dann das Haus nach den Gefangenen. Die Bürger müssen absolut höflich behandelt werden. Bitte Archimedes, er soll hier heraufkommen. Und falls dieser italienische Sklave von ihm in der Nähe ist, schick ihn, unter Bewachung, ebenfalls mit. Beeil dich! Lauf!«

Der erstaunte Agathon nickte mit dem Kopf und eilte davon. Hieron erhob sich und kaute angespannt auf seinem Daumen herum. Bestürzt starrte ihn Dionysios an.

»Königlicher Herr!« rief er. »Du wirst doch nicht denken, daß Archimedes.«

»Besagter Sklave ist ein Latiner«, sagte Hieron. »Und außerdem war er in Ägypten. Hätte Archimedes tatsächlich einen Spezialstein für seinen Drei-Talenter gebraucht - und mir ist nichts dergleichen berichtet worden! -, dann hätte er sicher einen Mann aus der Werkstatt auf die Suche geschickt. Bisher war er nämlich immer übervorsichtig und hat genau diesen Sklaven von allen strategisch wichtigen Dingen ferngehalten.«

»Woher weißt du.«, begann Dionysios matt.

»Weil ich’s überprüft habe!« schnauzte ihn Hieron an. »Der Sklave behauptet, ein Samnite zu sein, was offensichtlich eine Lüge ist. Er ist schon seit dreizehn Jahren in Syrakus - mit anderen Worten, seit dem Pyrrhuskrieg. Damals hat man eine ziemlich große Anzahl Latiner und auch andere römische Verbündete versklavt. Möglicherweise hat er unter den Gefangenen Bekannte entdeckt und sich bereit erklärt, ihnen zur Flucht zu verhelfen, wenn sie ihm ihrerseits helfen würden, wieder als freier Mann nach Hause zu kommen. Beim Herakles, hoffentlich irre ich mich! Hoffentlich finden wir nicht auch noch Archimedes wie diesen armen Wachsoldaten mit durchschnittener Kehle vor!«

»Er war letzte Nacht mit mir zusammen«, sagte Dionysios matt. »Ich hatte ihn in die Arethusa zum Essen eingeladen. Ich. wollte ihn fragen, ob ich seine Schwester heiraten könnte. Als ich fortging, hat er noch mit einem Mädchen Flöte gespielt. Das war ungefähr eine Stunde vor Mitternacht.«

»Hoffentlich hat sie ihn bis zum Morgengrauen beschäftigt!« sagte der König und setzte sich wieder.

»Warum sollte Archimedes einen Sklaven behalten, wenn er wußte, daß er nicht loyal ist?« fragte Dionysios.

»Sei doch nicht dumm!« meinte Hieron ungeduldig. »Der Mann hat seiner Familie dreizehn Jahre lang gedient und ihn nach Alexandria begleitet. Offensichtlich ist ihm nie der Gedanke gekommen, daß der Kerl nicht loyal sein könnte! Aber genauso offensichtlich hat er aus irgendwelchen Gründen der Nationalität dieses Sklaven nicht getraut. Um jeden patriotischen Gewissenskonflikt von vornherein auszuschließen, hat er ihn deshalb ausschließlich zu Diensten innerhalb des Haushaltes verpflichtet. Was hätte er denn sonst tun sollen? Schließlich schickst du keinen Menschen, der seit deiner Kindheit zum Haushalt gehört hat, ohne guten Grund in die Steinbrüche!« Erschöpft rieb sich der König übers Gesicht, dann schaute er wieder Dionysios an. »Hoffentlich habe ich unrecht«, wiederholte er düster.

Marcus war erst eine halbe Stunde wieder im Haus, als die Wache an die Tür klopfte.

Er war im Morgengrauen zu Hause angekommen. Nachdem er durch die Tür geschlüpft war, die er vorsichtshalber nicht verriegelt hatte, hatte er seinen Werkzeugkorb verstaut und war dann, wie immer, direkt an seine erste Tagesarbeit gegangen: ans Latrinenreinigen. Mitten bei dieser Arbeit hörte er das Klopfen und dann die aufgeregt schrille Stimme von Sosibia, die einem Mann Antwort gab. Einen Augenblick blieb er wie erstarrt an Ort und Stelle stehen und hörte zu, dann erhob er sich, wusch sich sorgfältig die Hände und trat in den Innenhof hinaus, wo sich bereits der restliche Haushalt versammelte.

Archimedes war aus dem Tiefschlaf völlig verkatert aufgewacht und stolperte mit Kopfschmerzen die Treppe herunter. Er hatte in seiner schwarzen Tunika geschlafen, die nun völlig verknittert war. Ihm war übel. Verblüfft musterte er Agathon und den Anführer der halben Reihe aus der Ortygia. Sie erklärten ihm, daß während der Nacht zwei römische Gefangene entflohen waren und sich vielleicht irgendwo in seinem Hause versteckt hätten.

»Wo?« fragte er empört. »Das Haus ist nicht gerade groß, da sollten wir zwei Römer doch bemerkt haben.«

»Herr, wir sollen es auf Anweisung des Königs durchsuchen«, sagte der Reihenführer. »Er war um deine Sicherheit besorgt.«

»Ist ja lächerlich! Du siehst doch selbst, daß hier außer meinem eigenen Haushalt niemand ist!«

Der Reihenführer überblickte prüfend die kleine Gruppe im Hof, die seine Männer in die verschiedenen Türöffnungen gescheucht hatte. Schließlich wanderte sein Blick wieder zu dem zerzausten Hausherrn zurück. »Trotzdem bin ich zur Durchsuchung verpflichtet«, sagte er. »Einer deiner Sklaven kann hierbleiben und uns den Grundriß des Hauses erklären, aber die übrigen Bewohner sollten zu einem Nachbarn gehen, damit ihnen nichts passiert. Glaube mir, Herr, wir haben strikte Anweisungen, keine Unordnung zu hinterlassen.«

»Beim Zeus!« rief Archimedes empört.

»Ich bin überzeugt, daß uns Euphanes gern aufnehmen wird«, meinte Arata beschwichtigend. Sie hatte sich in der Hast einen Mantel als Schleierersatz gegriffen und stand neben Philyra in der Tür zur Werkstatt.

Archimedes machte den Mund auf, um etwas zu antworten, aber Agathon erklärte ihm barsch: »Der König wünscht, daß du sofort zu einer Unterredung mitkommst.«

Archimedes drehte sich um und funkelte ihn wütend an. »Nein«, erklärte er rundheraus, »delischer Apollon, allein diese Anmaßungl Jagt da meine Familie aus unserem eigenen Haus und erwartet, daß ich angelaufen komme, wenn er in die Hände klatscht! Wenn Hieron meint, ich sei sein Privatbesitz, dann wird er mich bald von einer anderen Seite kennenlernen!«

Arata schnappte nach Luft und ließ den Schleier fallen. Der königliche Türhüter lief vor Empörung knallrot an und richtete sich zu seiner vollen, wenn auch nicht besonders eindrucksvollen, Größe auf.

Aber noch ehe er etwas sagen konnte, schlug Archimedes erneut wütend zu. »Das ist mein Haus, und ich habe dich nicht hereingebeten! Hinaus!«

Der Reihenführer schaute Agathon ratsuchend an, aber der brachte nur ein Stottern heraus. Da wanderte sein Blick wieder zu Archimedes zurück. Ihm fiel ein, wie sehr der König diesen Mann geehrt hatte, und er beschloß, daß jetzt eine versöhnliche Taktik angebracht war. »Herr«, sagte er, »dies alles geschieht aus Sorge um deine Sicherheit, und nicht weil.«

»Auf Anweisung des Königs soll ihm ferner dein Diener Marcus unter Bewachung vorgeführt werden«, erklärte Agathon, der seine Stimme wiedergefunden hatte.

»Das ist.«, setzte Archimedes an, aber dann schaute er zu Marcus hinüber und brach ab. Obwohl das Gesicht des Sklaven regungslos und starr wie eine Tonmaske war, wußte er sofort, daß die angedeutete Anklage wahr war. Verwunderlich war nur, daß er sich weder verwirrt noch überrascht zeigte. Der Reihenführer erzählte noch immer etwas von der königlichen Sorge um seine Sicherheit.

Mit erhobener Hand gebot Archimedes Schweigen. Der Reihenführer hielt inne. Plötzlich herrschte eine Stille, die wie ein fallender Stein immer schwerer wurde. Er und Marcus schauten einander an. »Sind sie hier?« fragte er schließlich. Die Worte tropften in die Stille.

»Nein«, antwortete Marcus mit rauher Stimme. »Laß sie suchen.«

Archimedes betrachtete ihn noch einen Moment lang. Als Marcus ihm in die Augen schaute, spürte er zum ersten Mal, daß er die volle Aufmerksamkeit seines Herrn hatte. Bisher hatte er immer nur vage etwas hinter oder neben ihm fixiert. Erst jetzt konzentrierte sich die geballte geistige Energie, die sich hinter diesen Augen verbarg, voll und ganz auf jenen Platz im stillen Hof, wo er stand. Im Vergleich dazu wirkt die Schußöffnung eines Drei-Talenters geradezu harmlos, dachte er.

»Waren sie hier?« fragte Archimedes ruhig.

Marcus zögerte, dann - nickte er. »Letzte Nacht«, flüsterte er. »Als du von deinem Essen zurückkamst, waren sie schon da. Sie haben sich im Eßzimmer versteckt, bis es wieder ruhig war. Jetzt sind sie weg.« Dem ganzen Haushalt zuliebe, besonders aber für das Mädchen, das ihn erstaunt und schockiert zugleich beobachtete, richtete er sich auf und fuhr fort: »Einer davon ist mein Bruder. Ich habe ihm geholfen, weil ich dazu verpflichtet war, aber zuvor hat er mir schwören müssen, daß niemandem in diesem Hause auch nur ein Haar gekrümmt wird. Er hat mich beschworen, mit ihm zu fliehen, aber ich habe es abgelehnt. Ich wollte nicht am Angriff auf Syrakus beteiligt sein. Ich bin bereit, die Folgen meiner Tat auf mich zu nehmen.«

»Wo sind sie?« wollte der Reihenführer wissen.

»Schon nicht mehr in der Stadt«, antwortete Marcus stolz. »Inzwischen müßten sie bereits wieder in ihrem eigenen Lager sein. Du kannst so viel suchen, wie du willst, du wirst sie nicht mehr finden.«

»Du wirst mit uns kommen, wie es der König befohlen hat«, sagte der Reihenführer. Sofort senkte Marcus zustimmend den Kopf.

»Ich werde - auch mitkommen«, sagte Archimedes heiser.

Er ging über den Hof zu seiner Mutter, nahm sie in die Arme und küßte ihre Wange. »Mach dir keine Sorgen«, erklärte er ihr. »Die Männer sollen ruhig das Haus durchsuchen. Allerdings wäre es meiner Ansicht nach unsinnig, Euphanes zu dieser morgendlichen Stunde zu belästigen. Bleib hier und vergewissere dich, daß sie nichts mitnehmen. Und sieh zu, daß sie nicht frech werden.« Sein Blick wanderte von Arata zum Reihenführer hinüber. Was nun kam, war an die ganze Truppe gerichtet: »Schließlich sind wir keine unbedeutenden Leute.«

Sie überließen den Reihenführer seiner Hausdurchsuchung und brachen Richtung Ortygia auf: Agathon, Archimedes und Marcus. Letzterer ging zwischen zwei Wachleuten, aber auf Drängen von Archimedes nicht gefesselt. Obwohl Agathon keinen Ton sagte, drückte jeder Muskel an seinem kerzengeraden Rücken und jeder Seitenblick aus seinem säuerlich verkniffenen Gesicht seine totale Mißbilligung aus. Während Marcus mit gesenktem Kopf schweigend dahinging, spürte er jeden einzelnen dieser Blicke wie ein Fingerschnalzen auf seinem Gesicht. Aber noch mehr schmerzten ihn die unglücklichen, besorgten Blicke von Archimedes.

Als sie zur Villa des Königs kamen, fanden sie Hieron und Dionysios noch immer im Bankettsaal vor. Bei ihrem Eintritt sprang der König hoch und strahlte Archimedes an. »Dir gute Gesundheit und Dank den Göttern!« rief er, während er zum Händeschütteln herüberkam. »Verzeih mir, falls ich dich unnötigerweise gestört haben sollte, aber.«

»Der Sklave hat bereits gestanden«, unterbrach ihn Archimedes barsch. »Er sagt, er habe die beiden Gefangenen letzte Nacht aus der Stadt geschmuggelt.«

Hieron wandte sich zu Marcus. Noch immer lagen Spuren des Lächelns, das er Archimedes geschenkt hatte, auf seinen Lippen, aber die Augen hatten längst einen völlig anderen Ausdruck angenommen. »Wie?« fragte er.

Marcus räusperte sich. »Ich habe sie an der Stelle abgeseilt, wo die Seemauer ins Landesinnere abbiegt. Auf diesem Abschnitt gibt es nur einen Wachtposten, und der ist nicht heruntergekommen, um die ebenerdige Katapultplattform zu überprüfen. Da kein Mond schien, mußten wir lediglich abwarten, bis er außer Reichweite war.« Er schaute Archimedes an. »Ich habe mir den Kran ausgeborgt, den du gebaut hast, als ich das letzte Mal das Dach neu gedeckt habe. Den mit der Winde, mit der man Sachen festhalten kann. Weißt du noch? Wir haben sie an der Schießscharte verankert, und dann habe ich Gaius im Ziegelkorb abgeseilt. Er hatte sich einen Arm und mehrere Rippen gebrochen und hätte unmöglich selbst am Seil hinunterklettern können. Fabius ist einfach hinter ihm hergerutscht. Dann habe ich den Korb wieder hochgezogen, die Winde abgemacht und bin nach Hause gegangen.«

»Warum?« fragte der König sanft. Seine klaren, dunklen Augen ruhten mit einem undurchschaubaren Ausdruck auf Marcus.

Marcus straffte die Schultern. »Einer der entflohenen Männer ist mein Bruder. Gaius Valerius, Sohn des Gaius, aus dem Stammtribus der Valerien«

»Ein römischer Bürger«, sagte der König.

»Ja«, sagte Marcus, »auch ich war einmal Römer.« Er warf einen kurzen Blick auf die verschiedenen Gesichter, die ihn umringten: das mißbilligende des Türhüters, Archimedes’ wie vom Donner gerührt und unglücklich, Dionysios und die beiden Wachen waren wütend und verwirrt und der König - undurchschaubar. Es hatte keinen Sinn, irgend etwas zu verheimlichen, also konnte er genausogut weitersprechen. Selbst ohne sein Geständnis hätten sie gewußt, was er getan hatte. Man hatte die Wache zu ihm geschickt, also mußte sich jemand an seinen Besuch im Steinbruch erinnert haben. »Ich habe zufällig gesehen, wie man die Gefangenen in die Stadt marschieren ließ. Dabei habe ich Gaius wiedererkannt, und auch er hat mich gesehen. Ich konnte ihn nicht einfach so gehen lassen. Er war verwundet, und - ich konnte ihn nicht mit dem Gedanken fortlassen, daß ich alles vergessen hätte, was ich einmal gewesen war. Also bin ich am nächsten Tag zu ihm gegangen, um mit ihm zu reden. Aber das wißt ihr ja schon. Fabius, der zweite Mann, lag direkt neben Gaius und hat unser Gespräch mitgehört. Deshalb mußte ich auch ihn beteiligen.«

»Ich weiß noch nichts davon«, sagte Archimedes wie betäubt.

»Das stimmt«, bestätigte Marcus und schaute wieder zum König zurück. »Königlicher Herr, vermutlich hast du es ja schon gemerkt, aber ich kann es nur bestätigen: Archimedes hatte von der ganzen Sache keine Ahnung. Ich habe ihm nicht einmal erzählt, daß ich Römer war.« Er wandte sich wieder an seinen Herrn. »Herr, ich habe der Wache im Steinbruch erzählt, daß ich dein Sklave bin und du mich geschickt hättest, um zu prüfen, welcher Steinbruch das beste Material für den Drei-Talenter liefern würde. Sie haben mich sofort hineingelassen. Dann bin ich zur Hütte hinaufgegangen und habe mit Gaius durch die Wand geredet. Er hat mich gebeten, ihm bei der Flucht zu helfen. Ich habe ihm erklärt, daß er am jetzigen Ort besser aufgehoben sei, aber er hat’s nicht geglaubt. Man hat ihnen eine Menge dummer Geschichten über dich erzählt, königlicher Herr«, fügte er, zu Hieron gewandt, entschuldigend hinzu.

»Wirklich?« fragte Hieron. »Und welche dummen Geschichten?«

Marcus zögerte, aber der König sagte: »Bitte! Ich werde dich nicht dafür tadeln, wenn du ihre Worte wiederholst. Ich würde es nur liebend gerne wissen.«

»Sie haben dich mit Phalaris von Akragas verwechselt«, sagte Marcus peinlich berührt. »Sie haben mir erklärt, du würdest Menschen bei lebendigem Leibe in einem Bronzestier kochen. Und dann haben sie noch behauptet, du hättest Leute pfählen lassen.«

»Ts, ts«, machte Hieron. »Gibt es jemand Speziellen, den ich gekocht oder gepfählt haben soll, oder habe ich meine Opfer wahllos ausgesucht?«

»Meines Wissens sollst du deine Gegner gekocht haben«, sagte Marcus, der immer verlegener wurde. »Und ihre Frauen und Kinder hast du gepfählt. Wenn ich mich recht erinnere, war von Hunderten die Rede. Ich habe Gaius erklärt, alles sei nur erlogen, aber, wie gesagt, er hat es mir vermutlich nicht richtig geglaubt. Sein Freund hat mir erklärt, ich sei schon ganz griechisch geworden. Dabei haben sie weder von Griechen eine Ahnung, geschweige denn von Syrakus.«

»Ich pfähle also Kinder, ja?« sagte Hieron nachdenklich. »Bei den Göttern! Na schön, mach weiter. Du hattest dich also verpflichtet, deinem Bruder und seinem Freund bei der Flucht zu helfen. Du hast ihnen Geld, eine Säge, ein Stück Seil und irgendeine Waffe gegeben.«

»Ein Messer«, sagte Marcus, »ja. Ich hatte gehofft, sie würden es nicht benutzen, aber ich habe gehört, daß sie’s doch getan haben. Es tut mir leid um den Mann, egal, wer’s war.«

»Er hieß Straton, der Sohn des Metrodoros«, sagte der König. »Ich glaube, du hast ihn gekannt.« Dieser Punkt hatte sich herausgestellt, während er mit Dionysios gewartet hatte.

Kreidebleich starrten ihn Archimedes und Marcus an. »Straton?« fragte Marcus entsetzt. »Aber - es waren doch gar nicht die Einheiten von der Ortygia, die.«

»Ich erhielt gestern das Kommando über die Gefangenen«, sagte Dionysios kalt. »Straton hatte vergangene Nacht am westlichen Mauerende Dienst. Sie haben ihm die Kehle durchgeschnitten.«

»Oh, ihr Götter!« stöhnte Marcus und schlug die Hände vors Gesicht. Er konnte die Augen nicht mehr ertragen, die ihn beobachteten. Die ganze, lange, schlaflose Nacht und die Anspannung des vorausgegangenen Tages holten ihn mit voller Wucht ein. Gleich würde er in Tränen ausbrechen. Straton! Kein namenloser Wachsoldat, sondern ein Mann, den er gekannt hatte. Ein gutmütiger Spielertyp, ein Kerl, der gerne Witze gemacht hatte, ein Mann mit dem gleichen ehrlichen Lebenshunger wie er selbst.

»Du hast ihn gemocht«, tönte leise die Stimme des Königs.

Marcus nickte hinter seinen Händen. »Ich. ja, ich mochte ihn. Er war ein Mann, der ein langes Leben verdient hätte. Oh, ihr Götter! Ich hätte ihnen nie etwas anderes als Geld geben dürfen! Gaius hat gesagt, er hätte keinen Fluchtversuch unternommen, wenn er gewußt hätte, daß ich nicht mitkommen wollte.«

»Und warum bist du nicht mit ihnen gegangen?« fragte der König. »Weshalb bist du überhaupt hier? Schließlich erwartet man nicht, einen römischen Bürger als Sklaven vorzufinden. Ich hatte vermutet, du wärest lediglich ein römischer Verbündeter und hättest jemanden wiedererkannt, der dir helfen könnte. Aber offensichtlich ist die ganze Situation wesentlich komplizierter.«

Marcus senkte die Hände. »Sie ist nicht kompliziert«, erklärte er bitter. »Ich habe mich beim Pyrrhuskrieg zu den Legionen gemeldet. Beim Angriff der Epiroten vor Asculum bin ich in Panik geraten, habe meinen Schild weggeworfen und bin gerannt. Danach habe ich behauptet, ich wäre kein Römer, um nicht zurückgeschickt zu werden.«

»Aha«, sagte Hieron mit einem empörten Unterton.

»Das verstehe ich nicht!« rief Archimedes. »Warum.«

»Die Römer töten Männer, die von ihren Posten desertieren«, sagte der König. »Sie reißen dem unglücklichen Deserteur die Kleider vom Leib und stellen ihn vor seinen Kameraden auf, die ihn dann mit Stöcken und Steinen zu Tode prügeln sollen. Sie betrachten dies als großartigen Ansporn zur Tapferkeit, was es zweifelsohne auch ist

- falls man bereit ist, für Tapferkeit einen derart hohen Preis zu bezahlen.« Hieron trat näher an Marcus heran und schaute ihm prüfend ins Gesicht. Er kam ihm so nahe, daß Marcus seinen heißen Atem fühlen konnte. Leider war er zwischen den Wachen eingeklemmt und konnte nicht zurückweichen. Unter diesem prüfenden Blick fühlte er sich an diesem Morgen zum ersten Mal wirklich als Gefangener.

»Aber trotz ihrer Einstellung sind sie gar nicht immer so verses-sen darauf, derart scharfe Strafen zu verhängen«, fuhr der König fort. »Männer, die nur aus Panik fliehen, kommen normalerweise mit einer Prügelstrafe davon. Und außerdem ist Asculum lange her. Meiner Ansicht nach hättest du nach so langen Jahren im Exil eigentlich zurückkehren können.«

»Sie hätten von mir Informationen über die Verteidigungsanlagen von Syrakus verlangt«, sagte Marcus. Seine Stimme klang flach, er fühlte sich wie erschlagen. Wer würde ihm glauben? Er hatte den Feinden von Syrakus ein Messer gegeben, das sie benutzt hatten, um einen Bürger zu töten. Wie konnte er danach noch behaupten, er wäre loyal? Trotzdem fuhr er fort: »Wenn ich mich geweigert hätte, sie ihnen zu geben, hätten sie mich getötet.«

»Und du hättest dich geweigert?«

»Ja!« Todesmatt raffte sich Marcus mit letzter innerer Kraft auf und starrte in diese undurchdringlichen Augen. »Ob du es glaubst oder nicht, ich hätte mich geweigert. Syrakus hat sich gegenüber dem römischen Volk nichts zuschulden kommen lassen, also hat auch Rom keinen Anlaß, es anzugreifen. Was mich betrifft, so hat mir diese Stadt ein Überleben ermöglicht. Daß es das Leben eines Sklaven war, war nicht ihre Schuld. Außerdem hat sie mir Dinge gegeben, von denen ich nicht einmal gewußt hatte, daß es sie gibt. Ich stehe in ihrer Schuld, eine Schuld, die ich nie durch Unrecht bezahlen werde. Mögen mich die Götter vernichten, wenn ich’s doch tun sollte - und mögen die Götter Syrakus gewogen sein und ihr die Siegeskrone schenken!«

»Dieses Gebet hätte ich am allerwenigsten von einem Römer erwartet«, bemerkte Hieron trocken. »Trotzdem hast du dem Mord an einem ihrer Verteidiger Vorschub geleistet und damit dieser Stadt bereits Unrecht zugefügt.« Er ging zu seiner Liege am Tisch zurück und setzte sich. »Laßt uns zu den Ereignissen der letzten Nacht zurückkehren. Bist du zum Steinbruch gegangen, um deinem Bruder und seinem Freund über die Mauer zu helfen?«

»Er war bei mir im Haus«, warf Archimedes dazwischen. »Wenn er fort gewesen wäre, hätten wir ihn abends vermißt. Außerdem hat er mich hereingelassen, als ich heimkam. Das war noch mehrere Stunden vor Mitternacht.«

»Er hat behauptet, sie wären schon dagewesen«, sagte Agathon. »Im Versteck.«

Marcus nickte und zählte noch einmal wie betäubt die Tatsachen auf: »Sie waren kurz vor Archimedes angekommen. Ich hatte ihnen gesagt, sie sollten, wenn möglich, zum Haus kommen, und zwar ab der dritten Nacht, nachdem ich mit ihnen gesprochen hatte. Ich ließ sie schwören, daß sie keinem Bewohner ein Haar krümmen durften.« Schaudernd fiel ihm wieder ein, wie Fabius mit dem Messer in der Hand und mit glitzernden Augen und blutiger Wange unter dem Eßzimmerfenster gekauert war. Aber es gab keinen Grund, warum er das dem König gegenüber erwähnen sollte.

»Königlicher Herr«, beschwor ihn Archimedes, »dieser Mann gehört mir.«

»Fraglich«, antwortete Hieron. »Anscheinend ist er römischer Bürger, er dürfte also gar kein Sklave sein. Marcus - Valerius, so heißt er schätzungsweise. Sohn des Gaius, aus dem Stammtribus der Valerien. «

»Mein Vater hatte ihn ganz legal erworben«, beteuerte Archimedes hartnäckig. »Er ist schon lange in meiner Familie und hat sich bis heute immer vertrauenswürdig erwiesen. Selbst jetzt hätte er sich nie unloyal verhalten, wenn er sich nicht durch eine ältere Bindung zu seinem Bruder verpflichtet gefühlt hätte. Er hat sich geweigert, seine eigene Sicherheit durch Verrat an der Stadt zu erkaufen, und ist hiergeblieben, um die Folgen seines Vergehens zu ertragen.«

»Tatsächlich?« fragte der König. »Oder hat er nur gehofft, daß man ihn nicht erwischt?«

»Ich hatte tatsächlich gehofft, daß man mich nicht erwischt«, warf Marcus rasch ein. »Trotzdem hatte ich mich im Falle eines Falles darauf eingestellt, die Folgen zu ertragen. Ich bin auch jetzt bereit dazu, mein König.« Er wünschte, sie würden endlich Schluß machen.

»Und was glaubst du, woraus diese Folgen bestehen?« bohrte Hieron weiter.

Schweigend starrte ihn Marcus an. Das runde Gesicht mit den strahlenden Augen war immer noch undurchschaubar. »Du wirst mich zum Tode verurteilen müssen«, sagte er. Er war stolz, wie ruhig es sich anhörte.

»Aha, Tod!« rief der König, lehnte sich auf die Liege zurück, legte die Beine hoch und überkreuzte sie. »Phalaris von Akragas, bin ich das? Weißt du, Archimedes, ich habe mich schon immer über diesen Bronzestier gewundert. Geht das technisch überhaupt? Ich meine nicht das Gießen einer hohlen Statue, sondern den ganzen Rest: daß man die Schreie der Opfer zu einem Stiergebrüll verzerrt hat.«

Archimedes blinzelte. »Technisch ist es möglich, Klänge zu verzerren, ja, natürlich. Aber.«

»Also könnte es diese Statue doch gegeben haben? Was für eine Schande. Keine Angst, ich werde dich nicht bitten, mir eine zu bauen! Marcus Valerius, wofür sollte ich dich zum Tode verurteilen? Ein braver Mann ist wegen deines Verhaltens gestorben - aber du hast ihn nicht selbst getötet, ja, du hast eindeutig seinen Tod nicht gewollt und warst bei dem Mord nicht anwesend. Man könnte dir höchstens anlasten, daß du eine Mordwaffe zur Verfügung gestellt hast, was aber üblicherweise nicht als Kapitalverbrechen gewertet wird. Es ist auch kein Kapitalverbrechen, wenn man einen Verwandten aus dem Gefängnis befreit. Und sonst hast du dir, soweit ich weiß, nichts zuschulden kommen lassen. Gewiß, du hast das Vertrauen deines hervorragenden Herrn mißbraucht und sein Haus in Gefahr gebracht, aber er scheint eher dazu zu neigen, für dich zu bitten, als dich anzuklagen. Und da ich nicht Phalaris von Akragas bin, werde ich dich auch nicht wegen Verbrechen zum Tode verurteilen, für die du vor Gericht eine leichtere Strafe erhalten würdest.

Deine Vergehen sind zwar keine Kapitalverbrechen, wiegen aber dennoch schwer. Welche Strafe du dafür verdienst, hängt allerdings von deinem Status ab. Und der ist, wie gesagt, fraglich. Du behauptest, ein römischer Bürger zu sein. Archimedes behauptet, du seist sein Sklave. Wenn du als Sklave deinen Herrn getäuscht, deine Stadt verraten und dem Mord an einem Bürger Vorschub geleistet hast, müßte man dich auspeitschen und zur Arbeit in die Steinbrüche schicken. Hingegen bist du als Römer ein Staatsfeind. Damit hängt deine Behandlung einzig und allein von der militärischen Oberhoheit von Syrakus ab, mit anderen Worten - von mir.« Er schaute sich prüfend im Raum um, ob irgendeiner damit nicht einverstanden war. Als sein Blick Archimedes traf, hielt er einen Moment inne.

»Ich ziehe meine Ansprüche auf diesen Mann zurück«, sagte Archimedes leise mit unsicherer Stimme. »Oder ich werde ihn nötigenfalls freilassen. Er ist in deinen Händen, mein König.«

Zum Zeichen seines Einverständnisses senkte Hieron den Kopf. »Ich denke, es genügt, wenn du deine Ansprüche zurückziehst. Möchtest du eine Entschädigung für ihn? Wieviel hat er gekostet?«

»Ich will keine Entschädigung.«

Erneut ein Nicken, dann wandte sich der König wieder an Marcus: »Marcus Valerius, Sohn des Gaius, vom Stammtribus der Vale-rier in der Stadt Rom, du hast zwei Landsleuten zur Flucht aus dem Gefängnis verholfen, wo man sie eingesperrt hatte. Meines Erachtens ist es nur recht und billig, wenn du ihren Platz im Gefängnis einnimmst und dann mit deinen Mitbürgern, die bewaffnet gefangengenommen wurden, mit oder ohne Lösegeld ausgetauscht oder entlassen wirst. Solltest du der Meinung sein, daß ich dich auf diese Weise schließlich doch noch zum Tode verurteilen und dein eigenes Volk zu deinem Henker machen würde, dann möchte ich hinzufügen, daß du, soweit es mich betrifft, Appius Claudius gerne über die Verteidigungsmaßnahmen von Syrakus berichten kannst. Nichts, was du erzählst, könnte diese großartige Stadt verletzen. Vielleicht könnte es ihr sogar helfen. Ich hatte sogar tatsächlich geplant, deinen Mitgefangenen genau diese Verteidigungsanlagen zu zeigen, als Heilmittel gegen die Verachtung, die der Konsul offensichtlich uns gegenüber hegt.

Und nun zu Straton, dem Sohn des Metrodoros: Er ist unter den Händen der Feinde von Syrakus gestorben. Hiermit verfüge ich, daß er ein Staatsbegräbnis bekommt und seine Familie finanziell so versorgt wird, als ob er im Kampf gefallen sei. Denn wie alle, die bei der Verteidigung der Stadtmauern sterben, ist auch er während seines Wachdienstes für diese Stadt gefallen.«

Hieron hielt inne und musterte prüfend die Anwesenden. Archimedes neigte sofort den Kopf. Dionysios zögerte und wollte offensichtlich Einwände erheben, aber nach einem Seitenblick auf Archimedes verzichtete er. Jetzt nickte auch Hieron befriedigt. »Bringt den Gefangenen anstelle seines Bruders in den Steinbruch«, befahl er den beiden Wachsoldaten. »Hauptmann Dionysios, was den Verantwortlichen für diesen Vorfall betrifft, so widerspreche ich voll und ganz deiner Annahme. Im nachhinein können wir feststellen, daß nicht genügend Wachen im Steinbruch waren. Wir haben uns zu sehr auf die Wunden der Gefangenen verlassen. Nimm eine weitere halbe Reihe und verbessere die Situation. Agathon, bitte Nikostratos hierher. Er soll ein paar Briefe schreiben. Ich muß unbedingt die Wache an der Seemauer verdoppeln. Archimedes.« Der König zögerte. »Vielleicht möchtest du zum Frühstück bleiben?«

Archimedes schüttelte den Kopf.

»Dann betrachte, bitte, mein Haus als das deinige. Vielleicht möchtest du dich noch vor dem Heimgehen ein wenig ausruhen und sammeln.«

Die Wachen brachten Marcus hinaus, der ruhig mitging. Nur sein Gesicht, auf dem sich Scham und Verwirrung widerspiegelten, woll-te ganz und gar nicht zu einem Mann passen, der soeben gehört hatte, daß er aus der Sklaverei befreit und seinen eigenen Leuten zurückgegeben wird. Auch Dionysios ging mit ihm, um die Sicherheitsmaßnahmen für den Steinbruch neu zu regeln. Der Sekretär Nikostratos kam herein, um Hierons Briefe entgegenzunehmen, und Archimedes ging in den Garten hinaus. Er war froh über die Gelegenheit, sich ausruhen und besinnen zu können, ehe er sich wieder auf die Straße wagte. Der ganze Vorfall hatte ihn doch mehr erschüttert und verwirrt, als er es je für möglich gehalten hätte.

Als Delia auf dem Weg zum Frühstück in den Garten kam, saß er neben dem Brunnen und kräuselte das Wasser mit seinen Fingern. Abrupt blieb sie stehen, hielt die Luft an und beobachtete ihn eine Minute stumm.

Seit Hieron seinem außergewöhnlichen Ingenieur Reichtum und Ehre versprochen hatte, hatte eine Möglichkeit in ihr Form angenommen, die sie bisher vollkommen verworfen hatte. Sie hatte nicht gewußt, was sie damit anfangen sollte. Ihr Bruder wollte Archimedes auf alle Fälle in Syrakus halten, aber das hieß noch lange nicht, daß er deswegen seine eigene Schwester mit einem Lehrerssohn aus der Mittelschicht verheiraten wollte. Und dieses Wissen machte sie todunglücklich. Trotzdem flüsterte ihr ein unzuverlässiger Teil ihres Gehirns immer wieder hinterlistig ein, daß Hieron vielleicht unter Zwang doch so eine Heirat akzeptieren würde, auch wenn er sie eigentlich nicht haben wollte. Wenn sie zum Beispiel ihre Liebe zu Archimedes erklären würde, und wenn dann Archimedes damit drohen würde, er würde nach Alexandria gehen, falls Hieron seine Zustimmung zu dieser Verbindung verweigern würde.

Es war wie mit den geheimen Stelldicheins: Sie hätte nie darüber nachdenken dürfen. Sie war ihrem Bruder durch ihre Heirat einen politischen Vorteil schuldig. Es war das einzige, wie sie die vielen Geschenke erwidern konnte. Außerdem hatte er jeden nur möglichen Vorteil verdient. Hieron hatte eine Stadt übernommen, die von den Pyrrhuskriegen erschüttert war, eine bankrotte Stadt, die ihre Flotte und ihre Schätze verloren hatte, eine Stadt, deren Bürger in Aufruhr waren und deren Armee meuterte. Er hatte sie zusammengeschweißt und wieder stark und reich gemacht. Dies war bereits eine außerordentliche Leistung, aber für die Tatsache, daß alles ohne Gewalt oder Ungerechtigkeit vonstatten gegangen war, gab es in der gesamten Geschichte von Syrakus noch keine Parallele. Sie wußte, was sie tun müßte, sie hatte es schon immer gewußt: Sie mußte Archimedes erklären, daß sie einander nicht mehr treffen durften, und sich dann in ihr Schicksal fügen. Aber schon beim bloßen Gedanken an ihn verspürte sie keinen Funken Resignation mehr.

Aber die andere Idee war genauso entsetzlich: Sie ging zu Hieron und gestand ihm, was sie getan hatte und noch tun wollte, und mußte dann seinen Zorn ertragen oder, was noch viel schlimmer war, seinen verständnislosen Schmerz.

Außerdem hatte sie keine Ahnung, ob Archimedes sie heiraten wollte. Manchmal hatte sie das Gefühl, er würde sie lieben, dann aber wieder kam es ihr vor, als ob er sie als schamlose Person verachten müsse. Die Art, wie sie sich ihm an den Hals geworfen hatte, war ja auch wirklich schamlos gewesen! Ob er tatsächlich vorhatte, nach Alexandria zu gehen? Wollte sie die Fessel sein, die ihn an Syrakus band? Sie hatte Angst, ihn wiederzusehen, Angst, daß er ihren unmöglichen Vorschlag zurückweisen würde.

Schließlich hatte sie beschlossen, sich mit seiner Schwester zu unterhalten. Vielleicht konnte sie auf diese Weise herausbekommen, was er über sie dachte. Aber genau das war eine Katastrophe gewesen. Anscheinend hatte Philyra noch gar nichts von ihr gehört, weder im Guten noch im Bösen, und obendrein hatte sie sie nicht gemocht. Der Grund dafür war ihr nicht recht klar, aber vermutlich hatte es, wie sooft bei ihr, daran gelegen, daß sie das Gespräch falsch geführt hatte. Königin Philistis war mit dieser Einladung ganz und gar nicht einverstanden gewesen, obwohl sie zugeben mußte, daß daran absolut nichts ungebührlich gewesen war. Während des Besuches von Philyra war sie die ganze Zeit über im Zimmer gewesen und hatte jedesmal die Stirn gerunzelt, wenn der Name Archimedes fiel. Philistis war mit Archimedes insgesamt nicht einverstanden. Sie hielt ihn für einen eingebildeten, jungen Mann, der längst mit mehr Respekt behandelt wurde, als ihm gebührte, und dem es nicht zustand, ihren Mann am Ende eines besonders aufreibenden Tages zu belästigen und ihm dann auch noch Betrug zu unterstellen. Nur weil Hieron die Beziehung zu diesem Mann unbedingt aufrechterhalten wollte, machte Philistis das Spiel mit, aber trotzdem konnte sie ihn nicht leiden.

Und jetzt war Archimedes persönlich hier. Zerknittert und müde starrte er traurig ins Brunnenbecken, während rings um ihn das frühe Morgenlicht zarte Schatten durch die Blätter des Gartens warf.

Als Delia vortrat, schaute er auf. Er war nicht überrascht, sondern blinzelte sie nur zerstreut an. In Gedanken war er immer noch bei

dem, was er dort im Wasser betrachtet hatte.

»Gute Gesundheit!« sagte sie und bemühte sich, ihre Stimme ruhig zu halten. »Was führt dich so früh hierher?«

Bei dieser Bemerkung machte er eine Grimasse, zog die Schultern hoch und stand auf. »Nichts Angenehmes«, erzählte er unglücklich, »mein Sklave Marcus hat zwei römischen Gefangenen bei der Flucht geholfen. Einer der Wachsoldaten wurde dabei getötet, ein Mann, den ich kannte, ein guter Mann.«

»Ach, bei den Göttern!« rief sie betroffen, dann fügte sie rasch hinzu: »Ich bin überzeugt, daß dir mein Bruder keinerlei Schuld am Verhalten deines Sklaven gibt.«

Er schüttelte den Kopf, aber seine verkrampfte Haltung blieb unverändert. »Er wird anstelle der Gefangenen eingesperrt - Marcus, meine ich -, obwohl Hieron angedeutet hat, man würde ihn mit den anderen Römern austauschen oder freilassen. Ich - schäme mich.«

»Du bist doch nicht schuld daran, wenn ein Sklave etwas Böses tut!«

Er schüttelte den Kopf. »Damit hat es gar nichts zu tun! Ich habe Marcus zuvor noch nie richtig wahrgenommen, er war einfach immer nur da. Dabei ist er wirklich ein ganz außergewöhnlicher Mensch. Eigentlich ist er ja römischer Bürger und hat diesen Männern zur Flucht verholfen, weil einer von ihnen sein Bruder ist. Er hätte ebenfalls fliehen können, was er aber nicht getan hat, weil er Syrakus nicht verraten wollte. Und ich habe jetzt begriffen, daß dies völlig zu ihm paßt. Er fühlte sich gegenüber seinem Bruder genauso verpflichtet wie gegenüber Syrakus. Also hat er beide Verpflichtungen so gut wie möglich erfüllt. Dann ist er dagestanden und hat erwartet, daß er dafür sterben muß. Er hat sich nicht einmal darüber beklagt. Er war immer absolut ehrlich und gewissenhaft. Das hätte mir unbedingt auffallen müssen, aber ich nehme die Leute selbst dann nicht wahr, wenn sie mir direkt vor den Augen stehen. Ich habe doch nur Augen für die Mathematik.«

Sie wußte nicht recht, was sie darauf antworten sollte. So ging sie nur zum Brunnen hinüber und setzte sich auf den Rand. »Vermutlich ist Mathematik etwas Rationales und Menschen nicht«, sagte sie.

Er schnaubte reumütig. »Kennst du das Lied der Sirenen?


>Lenke dein Schiff ans Land und horche unserer Stimme.

Denn hier fuhr noch keiner im schwarzen Schiffe vorüber,

Eh’ er dem süßen Gesang gelauscht aus unserem Munde,

Dann aber scheidet er wieder, beglückt, und weiß um ein Neues.

Denn wir wissen dir alles,

Wissen, was irgend geschieht auf der vielernährenden Erde!<«


Mit gedämpfter Stimme fuhr er fort:


»>Also riefen mir süß die Singenden, daß mir das Herz schwoll,

Länger zu lauschen, und mich zu lösen, hieß ich die Freunde,

Doch sie legten nur noch mehr Fesseln an und banden mich Stärker<.


Mathematik ist wie eine Sirene, schätzungsweise ist es gut, daß sich ein Großteil der Welt die Ohren mit Wachs verstopft hat und sie nicht hören kann. Das klingt jetzt, als ob ich mich dafür schämen würde, aber ändern werde ich mich trotzdem nicht. Sobald sie wieder für mich zu singen anfängt, werde ich jeden und alles vergessen.«

Lange Zeit versank sie in Schweigen und dachte über ihn und sich und über ihren Bruder nach. Schließlich wiederholte sie leise: »Ketten - weißt du, Hieron hat davon gesprochen, dich an Syrakus anzuketten. Ist dir dieser Gedanke verhaßt?«

Er antwortete nicht sofort. Als ihn Hieron heute morgen zu sich zitiert hatte, war er sich wie ein Sklave vorgekommen. Er hatte sich verraten gefühlt. Das Ausmaß seiner Empörung darüber hatte ihn selbst erstaunt. Er hatte gar nicht realisiert, wie sehr er bereits in dem Glauben gelebt hatte, er würde in Syrakus bleiben und mit dem König zusammenarbeiten. Mit dem König - das war der springende Punkt. Nicht für ihn. Früher hatte er es für unvermeidlich gehalten, unter dem Befehl eines anderen Mannes zu stehen, und hatte sich bereits mehr oder weniger damit abgefunden. Aber je mehr er seine eigene Macht schätzen gelernt hatte, um so mehr war diese Resignation abgebröckelt. Die Art und Weise, wie ihn Hieron zu steuern versucht hatte, hatte ihn beeindruckt. Er hatte es nicht gemocht, aber interessant war es dennoch gewesen und auf seine Weise so elegant wie ein geometrischer Beweis. Er hatte es als klares Signal dafür gewertet, daß der König in Wahrheit die Kunst der Überredung bevorzugte und nicht das Dekret. Außerdem hatte er allmählich eine gewisse Sympathie für Hieron selbst entwickelt: für seinen Scharfsinn, die rasche Auffassungsgabe und seine effiziente Reaktion und für seinen guten Humor. Und dann war da noch Delia. Sie war es wert, in Syrakus zu bleiben - falls er sie bekommen konnte. Und über diese Möglichkeit dachte er inzwischen immer intensiver nach. Schließlich hatte ihm Hieron fast alles versprochen.

Aber vielleicht war das nur wieder ein neuer Trick? Die Position, die Hieron für ihn erfunden hatte, hatte ihn deutlich mehr beeindruckt als irgendein simpler Vertrag, den er in Ägypten bekommen konnte. Aber was dann, wenn es in Wirklichkeit etwas deutlich Geringeres war? Wenn es nur eine Vortäuschung falscher Tatsachen war, um ihn zu betrügen? Wäre er ein Freund und Ratgeber des Königs auf gleicher Basis oder - nur ein bezahlter Dienstbote?

»Ich stehe tief in der Schuld deines Bruders«, sagte er endlich langsam, »und vermutlich möchte er mich genau dort haben. Aber nichts von dem, was er mir bisher gegeben hat, könnte ich nicht zurückzahlen - nicht einmal das Leben von Marcus. Was ich konstruieren kann, ist sehr viel wert, also mache ich mir da auch keine Gedanken. Ketten. Nun ja.« Stirnrunzelnd betrachtete er seine eigenen, flachen, grobknochigen Handgelenke, als ob er Fesseln betrachten würde. »Sirenen fressen Menschen. Odysseus konnte ihren Gesang nur wegen seiner Ketten überleben. Vielleicht brauche ich sie. Vielleicht muß ich an eine Stadt und an Menschen gebunden sein, die nichts mit Mathematik zu tun haben. Und außerdem würde es überall Ketten geben. Falls mir König Ptolemaios eine Stelle anbieten würde, dann wäre es wegen Wasserschnecken und Katapulten und nicht wegen reiner Mathematik. Also bleibt mir in Wirklichkeit nur die Wahl, für wessen Ketten ich mich entscheide und wie schwer sie sind.«

»Also denkst du immer noch daran, nach Alexandria zu gehen?« fragte sie.

Er schaute zu ihr auf und stöhnte. »Ach, bitte nicht! jeder hat mit mir über dieses Thema gestritten.«

»Ich will nicht, daß du gehst!« sagte sie unvorsichtig, dann wurde sie rot.

Er nahm ihre Hand. Ihre hübschen, starken Flötenspielerfinger klammerten sich um seine. »Delia«, fing er beschwörend an, brach dann aber ab, weil er nicht wußte, was er eigentlich sagen wollte. Eine Zeitlang schauten sie einander tief in die Augen, nicht aus liebevoller Verzückung, sondern nur in dem verzweifelten Versuch, den Willen und die Gedanken des anderen zu ergründen.

»Dann möchte ich dir jetzt eine Frage stellen«, sagte er schließlich. »Gibt es eine Chance, daß du der Grund für mein Bleiben werden könntest?«

Sie errötete noch mehr. »Vielleicht würde Hieron.«, flüsterte sie. »Vielleicht. nein!« Sie hatte sich geschworen, keinen Versuch zu unternehmen, um Hierons Einverständnis zu erzwingen, und all seine Güte mit dieser - dieser Unverschämtheit zu vergelten. Sie wandte den Blick ab und versuchte es noch einmal. »Ich kann nicht.« Da merkte sie, daß sie sich noch immer an die Hand von Archimedes klammerte, und hielt inne. Vor Scham schossen ihr die Tränen in die Augen. Soweit war es also mit ihrer Willensstärke gekommen: Während sie versuchte, diesen Mann aufzugeben, konnte sie nicht einmal seine Hand loslassen. Sie schüttelte den Kopf und schluchzte verzweifelt: »Ich kann nicht!«

»Das liegt auch nicht an dir«, erklang seine Stimme neben ihr, »sondern an deinem Bruder. Ich werde mit ihm reden.«

Sie riskierte einen Blick hinüber und sah, daß er vor Freude übers ganze Gesicht strahlte. Er hatte genug verstanden - ihre Gedanken.

»Bis auf das Museion hat er mir alles versprochen«, erklärte er ihr vernünftig. »Dabei habe ich von den Göttern nie soviel Gunst erwartet. Warum soll ich nicht um mehr bitten? Das schlimmste, was passieren kann, ist, daß er nein sagt. Ich werde ihn fragen. Ich werde einen guten Zeitpunkt abpassen und ihn dann fragen. Wenn der DreiTalenter fertig ist, dann werde ich ihn fragen.«

Загрузка...