5

Vier Tage später, am Vormittag, war das Katapult fertig. Einem räuberischen Insekt gleich kauerte es in der Mitte der Werkstatt: Wie ein Unterleib hockte der lange, tiefliegende Ladestock auf der drei-beinigen Lafette, und am entgegengesetzten Ende breiteten sich die mächtigen, bogenähnlichen Arme wie bei einer Gottesanbeterin kurz vor dem Angriff aus. Die einzelne Öffnung zwischen den Armen erinnerte an ein Auge, das einen wie der leibhaftige Tod anstarrte. Als Archimedes die Sehne - ein armdickes Lederkabel - zurückwand, stöhnte sie wie ein erwachender Riese auf, und beim Loslassen donnerten die eisenverkleideten Arme wie ein Felssturz gegen die eisernen Ladestockplatten. Die Handwerker jubelten und streichelten dem Biest über den bronzeverkleideten Rücken und die hölzernen Flanken.

Obwohl Archimedes erwartet hatte, daß die Maschine an diesem Vormittag fertig würde, trat er dennoch zurück und betrachtete sie begeistert: sein erstes Katapult. »Eine wahre Schönheit«, sagte er zu Epimeles.

»Das schönste, was ich je gesehen habe«, pflichtete der Vorarbeiter bei. Verblüfft schaute ihn Archimedes an. Er wußte, daß Epimeles seit über zwanzig Jahren der Werkstatt angehörte, und hätte nie geglaubt, daß dieser Mann zu Komplimenten neigte. Dann wanderte sein Blick wieder zu dem Ein-Talenter zurück, und er grinste: Egal, ob es das beste aus zwanzig Jahren war, eine Schönheit blieb es so oder so.

»Nun«, sagte er und nahm seinen Mantel. Er hatte ihn heute morgen mitgenommen, weil er mit einem zweiten Besuch im Haus des Königs gerechnet hatte. »Ich werde mal zum Regenten gehen und ihm Vollzug melden, ja? Außerdem werde ich ihn fragen, wo er ihn aufgestellt haben möchte und wann der Test stattfinden soll. Aber.«, er kramte in seiner Börse herum, »warum kauft ihr euch nicht zur Feier des Tages einen Schluck zu trinken?«

»Danke schön, Herr, noch nicht«, erwiderte Epimeles sofort. »Besser war’s nach den Versuchen, Herr.«

Enttäuscht steckte Archimedes sein Geld wieder in die Börse. Vermutlich war Epimeles trotz seiner Komplimente nicht überzeugt, daß die Maschine funktionierte. Seufzend und ein wenig niedergeschlagen ging er fort.

»Was war denn an einem Umtrunk zur Feier des Tages falsch?« fragte Elymos, dem Wein über alles ging.

»Die Götter hassen Überheblichkeit«, antwortete Epimeles. »Noch haben wir den Versuch nicht sicher überstanden. Oder willst du vielleicht, daß jemand daran herumpfuscht, während wir mit Trinken beschäftigt sind?« Mit liebevoller Ehrfurcht tätschelte er die Riesenmaschine.

Auf dem Weg zum Königshaus fand Archimedes seine gute Laune wieder. Die letzte Woche war durch und durch erfreulich gewesen. Der Bau des Ein-Talenters hatte Spaß gemacht, und auch zu Hause lief alles gut. Sein Vater schien sich sogar ein wenig erholt zu haben. Vielleicht hing es damit zusammen, daß er sich keine Sorgen mehr machen mußte, wann sein Sohn zurückkommen würde. Phidias saß im Bett, trank dreimal täglich Gerstenbrühe und nahm regen Anteil an allen möglichen Dingen. Er lauschte der Musik, die die übrige Familie ihm vorspielte, diskutierte mit seinem Sohn über Alexandria und spielte sogar ein wenig mit dem Puzzle. Archimedes kam zu dem Entschluß, daß es noch hilfreicher wäre, wenn er eine regelmäßig bezahlte Stelle als königlicher Ingenieur bekommen könnte. Damit könnte er seinem Vater eine weitere Bürde abnehmen. Nun, bald sollte es ja soweit sein. Sobald sich das Katapult bewährt hatte.

Aber jetzt - jetzt würde er Delia wiedersehen. Archimedes betastete das kleine Päckchen mit der neuen und der alten Mundbinde, das er in einer Mantelfalte verstaut hatte, und schritt schneller aus.

Er machte sich keine ernsthafte Hoffnung, daß es zwischen ihm und der Schwester des Königs zu irgend etwas kommen könnte. Allerdings erhoffte er sich auch sonst nichts. Er lebte in der Gegenwart und versuchte, nicht an die Zukunft zu denken, die bestenfalls ein Leben voller Plackerei und im schlimmsten Fall die schrecklichen Folgen einer Niederlage im Krieg bereithielt. Delia war ein hübsches Mädchen und obendrein klug. Sie hatte ihn zum Lachen gebracht und spielte ausgezeichnet Aulos. Heute würde er sie wiedersehen und ihr ein Geschenk überreichen. Was konnte er mehr verlangen? Er begann, im Gehen ein altes Lied zu pfeifen:


»Aphrodite, ewig, auf buntem Throne,

Listenspinnend, Tochter des Zeus!

Ich flehe: Quäle nicht mit Leiden

und nicht mit Schwermut, Herrin, das Herz mir!

Sondern komm herab, so du meine Stimme,

Fernher je vernahmst und mich erhörtest,

Deines Vaters Wohnung verließest,

deinen Goldenen Wagen Schirrtest und enteiltest.

Dich zogen schöne,

Schnelle Finken über die dunkle Erde,

Durch des Äthers Mitte, die Schwingen hurtig Regend, vom Himmel.

.Zu fragen, was mich wieder bekümmre,

Was ich, wieder dich rufe.«


Dann war er auch schon beim Haus. Bei den letzten Schritten durch die Vorhalle und zur Tür hinauf hörte er zu pfeifen auf. Er strich seinen Mantel - den neuen gelben, der endlich keine Rußflek-ken mehr hatte - glatt, holte tief Luft und klopfte.

Sofort öffnete der Türhüter und musterte ihn wie üblich mit mißbilligender Miene. »Dein Begehren?« schnauzte er ihn an.

»Ich bin hier, um dem Regenten mitzuteilen, daß das Katapult fertig ist!« sagte Archimedes triumphierend.

»Huch!« schnaubte Agathon. »Der Regent ist nicht da. Ich werde ihm deine Nachricht übermitteln, wenn er nach Hause kommt.«

Archimedes stand auf der Türschwelle und lief vor Verlegenheit knallrot an. Er merkte, daß er einen Empfang wie ein siegreicher General erwartet hatte, und - wie dumm das gewesen war. Schließlich war der Ein-Talenter nur ein Katapult von mehreren hundert, die der Stadt gehörten, und sämtliche Katapulte von Syrakus waren nur ein Teil des königlichen Aufgabengebietes. Wie dumm! Trotzdem stotterte er aus einer verwirrten Loyalität zu seiner Maschine und zu der Werkstatt, die sie produziert hatte: »K-könntest du mir sagen, wo der Regent ist oder wann er vermutlich wieder zu Hause sein wird?«

Agathon zog die Augenbrauen hoch. »Nein«, beschied er rundheraus, gab aber dann doch ein wenig nach und erklärte: »Letzte Nacht bekam er eine Botschaft vom König. Wir haben bei Messana einen Sieg über die Römer errungen. König Hieron hebt die Belagerung auf und kehrt nach Syrakus zurück. Er sollte morgen da sein. Bis dorthin wird der Regent vermutlich mehr als genug zu tun haben. Ich werde ihm deine Botschaft so bald wie möglich übermitteln.«

»Oh!« sagte Archimedes und blinzelte begriffsstutzig. Syrakus hatte die Römer bei Messana besiegt - war Syrakus wirklich dabei, den Krieg zu gewinnen} Dank allen Göttern! Aber - wenn Syrakus wirklich gewonnen hatte, warum wurde dann die Belagerung von Messana aufgehoben? Und warum kam der König heim? Sollte man nicht nach einem Sieg die Belagerung verstärken, um die Stadt zu erobern?

Er rief sich zur Vernunft und schaute wieder Agathon an. Irgendein Ausdruck im Gesicht des Türhüters hinderte ihn daran, nach einer Erklärung zu fragen. Statt dessen kam er verwirrt auf das Thema zurück, das ihn hierhergebracht hatte. »Ich, äh, hoffe, daß du es dem Regenten bald erzählen kannst«, sagte er ernst.

»Weißt du, dieser Ein-Talenter - er steht mitten in der Werkstatt und nimmt eine Menge Platz weg. Wir müssen ihn woanders aufstellen, und dazu müssen wir wissen, wo. Außerdem bekomme ich kein Geld und kann nicht mit dem nächsten anfangen, bis der erste abgenommen ist.«

»Ich werde es dem Regenten so bald wie möglich mitteilen«, sagte der Türhüter kurz, dann lehnte er sich gegen den Türpfosten, verschränkte die Arme und warf Archimedes einen zynischen Blick zu. »Und?« fragte er erwartungsvoll.

Archimedes leckte sich die Lippen. Woher hatte der Türhüter gewußt, daß er noch etwas auf dem Herzen hatte? Und wie sollte er es ihm erklären, ohne respektlos zu erscheinen? Er betastete das Päckchen in der Mantelfalte. »Ich, äh«, setzte er nervös an. »Als ich, äh, das letzte Mal hier war, habe ich mir ein Auge verletzt. Die, äh, Schwester des Königs war so freundlich und hat mir ihr wassergetränktes Aulosband zum Auflegen gegeben. Ich möchte ihr das Band wiedergeben und mich für ihre Freundlichkeit bedanken.« Er zerrte das Päckchen heraus - ein kleines Bündel, ordentlich in ein Papyrusblatt gewickelt - und zeigte es Agathon.

Ohne eine Miene zu verziehen, schaute ihn Agathon an. Er war unentschlossen. Sollte er das Päckchen nehmen und versprechen, daß er es mit dem Dank übergeben würde? Die Aussicht auf das enttäuschte Gesicht des jungen Hoffenden war zu verlockend. Aber er entschied sich dagegen. Der Bericht von Epimeles über die Talente des Archimedes hatte ihn tief beeindruckt, obwohl seine Bewunderung diesbezüglich voll und ganz Delia galt und nicht dem Mann, den sie entdeckt hatte. Auch Hieron besaß die Gabe, sich immer Männer auszusuchen, die ihm nützlich sein konnten, und das fand Agathon einfach wunderbar. Er fand, Delia verdiente, zu hören, wie sich ihre Entdeckung entwickelte. »Na schön«, meinte er nachsichtig, »hier entlang.«

Er geleitete den Besucher durch den vorderen Teil des Hauses, am Vorzimmer vorbei, und in den Garten mit dem Brunnen hinaus, wo er ihm zu warten befahl. Eigentlich grenzte der Garten an die Frauengemächer des Hauses, und alle Männer, die nicht zum Haushalt gehörten, durften nicht weiter hinein. Agathon verschwand im Haus.

Abwartend stand Archimedes neben dem Brunnen. Es war ein heißer Tag, und der schwere, unbequeme, gelbe Mantel juckte selbst im Schatten des Gartens. Immer wieder kratzte er sich, bis er schließlich zum Brunnen hinüberging und sich ein bißchen Wasser ins Gesicht spritzte. Aus der Säulenhalle hinter ihm drang das Geräusch von leisen Schritten. Mit tropfnassem Gesicht schaute er hoch und sah, wie Delia in Begleitung von zwei Frauen und einem Kind auf ihn zukam. Eine der Frauen trug die schmucklos biedere Kleidung der Sklaven, während die andere - eine gutaussehende Frau um die Dreißig - eine lange, purpur- und goldfarbene Tunika anhatte und die rotbraunen Haare zum Zeichen der königlichen Würde mit einem purpurfarbenen Band zurückgebunden hatte.

Er hatte sich genau überlegt, was er sagen würde, wenn Delia auftauchte, aber beim Anblick der in Purpur gehüllten Frau hatte es ihm die Sprache verschlagen. Wie benommen starrte er sie an. Er hatte nicht erwartet, daß er sich noch einmal mit der Schwester des Königs unter vier Augen unterhalten durfte. So naiv war er nicht gewesen, aber genausowenig hatte er eine Königin als Anstandsdame erwartet. Natürlich überlegte er, war ja gar nichts Ungewöhnliches dabei, daß Delia eine solche Begleitung hatte. Schließlich war sie die Schwägerin der Königin. Vermutlich verbrachten sie viel Zeit miteinander. Aber der Anblick seiner Flötenspielerin und ihrer königlichen Eskorte ließ ihn spüren, wie töricht seine Gedanken an sie gewesen waren.

Dann lächelte Delia, und sofort dachte er wieder genauso an sie wie immer.

»Archimedes, Sohn des Phidias, gute Gesundheit!« sagte Delia freundlich. »Agathon meinte, du möchtest dich bei mir für etwas bedanken?«

Er erinnerte sich ganz genau an seine Rede. Im wesentlichen hatte sie soeben den ersten Satz daraus wiedergegeben. Also versuchte er zu überlegen, wie er sie auf der Stelle umschreiben konnte, ließ es dann aber errötend bleiben. »Äh, ja, ich - das heißt, du hast dein Mundband ruiniert, als du es mir gegeben hast -, ich meine, als du es naß gemacht hast. Ich, äh.« Seine Kehle war wie zugeschnürt. Dann gab er auf und streckte ihr nur das kleine Päckchen in seiner Papyrushülle hin.

Die Königin musterte ihn amüsiert, das Kind, ein Junge, starrte ihn unverwandt an, wie es nur Fünfjährige können. Aber Delia nahm das Päckchen mit hochgezogenen Augenbrauen entgegen, wickelte es aus und hielt dann beide Mundbänder hoch. Durch das Wasser hatte sich das alte ein wenig verfärbt, wenn auch nicht schlimm. Das neue war das beste, was er kaufen konnte: angenehm im Tragen und doch kräftig, ein weiches Leder, dessen Außenseite mit einem blauen Mäandermuster verziert war.

»Wie reizend von dir«, sagte Delia. Sie war wirklich begeistert. Das alte Mundband war ihr einzig unverziertes gewesen. Punzierte oder bestickte hatte sie genug, aber die Stickerei juckte immer, und die Prägung drückte sich in die Wangen, wenn man fester blies, und lenkte sie ab. Dieses Band konnte nur ein Aulist ausgesucht haben, das konnte sie tragen. Sie warf Archimedes einen warmen Blick zu. Heute morgen sah er wesentlich weniger schmutzig und schäbig aus, dachte sie bei sich. Eigentlich sah er sogar ganz gut aus. Gelb stand ihm. Er hatte nette, hellbraune Augen und ein nettes, längliches, ausdrucksvolles Gesicht.

»Ich konnte nicht zulassen, daß du wegen mir etwas verlierst, meine Dame«, sagt er. Inzwischen hatte er sich wieder ein wenig gefaßt. »Danke für deine Leihgabe.«

»Geht’s deinem Auge besser?« Sie hatte sich bereits selbst davon überzeugen können. Der blaue Fleck rings um die Augenhöhle wurde zwar allmählich blasser, war aber immer noch sichtbar, und im Auge selbst war ein böser, roter Striemen geblieben.

»Wesentlich besser, danke«, antwortete er, dann schluckte er und verstummte betreten.

Delia spürte, wie sich ihre Schwägerin zur Konversation anschickte. Als Agathon Archimedes angekündigt hatte, hatte sie der Königin erklärt, daß es sich um einen Katapultingenieur handelte, der zufällig Aulos spielte, und daß sie sich bei seinem letzten Besuch ein wenig übers Flötespielen unterhalten hatten. Jetzt schickte sich Philistis ganz bestimmt an, ein paar Worte zum Thema Flöte zu sagen, denn Kriegsmaschinen konnte sie nicht ausstehen.

Der kleine Junge kam ihr zuvor. »Delia hat gesagt, du machst Katapulte«, sagte er in vorwurfsvollem Ton zu Archimedes.

Archimedes blinzelte ihn an. Das Kind hatte rotbraune Locken und die haselnußbraunen Augen der Königin. Es war bekannt, daß Hieron einen Sohn hatte: Gelon. Zweifelsohne handelte es sich bei dem pummeligen Jungen um diesen Sohn, der der nächste Tyrann von Syrakus werden würde, falls nicht die Demokratie oder die Römer dazwischenkamen.

»Ja«, antwortete er höflich, »ich habe gerade eines fertig gebaut.«

»Ich mag Katapulte«, sagte Gelon begeistert. Da merkte Archimedes, daß er mit seinem vorwurfsvollen Ton nur auf sich aufmerksam machen wollte. »Ist es groß? Wirft es Steine, oder schießt es Pfeile? Wie weit kann es werfen?«

»Es ist ein Ein-Talenter, eine Steinschleuder«, antwortete Archimedes. »Größer als derzeit alle anderen Katapulte in der Stadt. Nur beim Heer steht noch ein gleich großes. Ich weiß nicht genau, wie weit es werfen wird, weil wir es noch nicht ausprobiert haben. Ich bin hierhergekommen, um den Reg. deinen Großvater zu fragen, wann und wo ich es testen soll.«

»Wie schwer ist denn ein Talent?« wollte Gelon wissen.

»Schwerer als du, mein Gelonion«, sagte die Königin. »Jetzt reicht’s aber mit Katapulten!«

»Das ist aber groß!« rief der kleine Gelon begeistert und beachtete seine Mutter gar nicht. »Vielleicht könntest du mich mit dem Katapult schießen, wenn’s irgendwo einen weichen Platz zum Landen gäbe. Dann könnte ich wie ein Vogel durch die Luft sausen!«

Die Sklavin - offensichtlich seine Amme - schnalzte entsetzt mit der Zunge. »Kindchen, vergiß diesen Gedanken!« rief sie. »Mein liebes Lämmchen, das würde dich umbringen!«

»Ich sehe nicht ein, wie mich das Fliegen umbringen kann!« antwortete Gelon indigniert.

»Das Fliegen nicht«, erklärte ihm Archimedes, »aber der Wurf selbst. Überleg mal: Mein Ein-Talenter müßte ein sechzig Pfund schweres Gewicht hundertzwanzig oder sogar hundertfünfzig Meter weit schleudern, und das Geschoß soll so hart aufschlagen, daß es steinerne Zinnen durchbrechen und Häuser zertrümmern kann. Überleg mal, was der Stein fühlt, wenn ihn die Sehne trifft!«

Bei dieser Vorstellung riß Gelon weit die Augen auf, dann strahlte er bewundernd. »Das ist aber ein gutes Katapult!« sagte er.

Archimedes grinste. Lieber wäre es ihm gewesen, wenn diese Worte von Delia gekommen wären, aber auch von diesem Kind nahm er sie als willkommenes Kompliment. »Ich denke schon. Auch der Vorarbeiter in der Werkstatt denkt das - wenigstens hat er gesagt, es sei das Beste, was er je gesehen hätte.«

Delia war begeistert. Agathon hatte zwar ein bißchen von dem, was ihm Epimeles erzählt hatte, durchblicken lassen, aber dennoch freute sie sich über die Bestätigung. Trotzdem war sie irgendwie erleichtert, daß sie sich nicht persönlich nach dem Katapult hatte erkundigen müssen. Auch wenn ihr Interesse an Archimedes rein theoretischer Natur und völlig unschuldig war, so wie sich eben ein Herrscher für einen möglicherweise wertvollen Staatsdiener interessierte - ihre Umgebung würde ihr das nie glauben. Alle nahmen an, Mädchen in ihrem Alter hätten nur das Thema Liebe im Kopf.

»Das wird die Römer zerschmettern]« strahlte Gelon und knallte seine kleine Faust in die Handfläche. Klatsch!

Wieder grinste Archimedes. »Das hoffe ich auch!«

»Klar, mein Papa hat die Römer schon zerschmettert«, setzte der Junge altklug hinzu. »Hast du’s gehört? Aber ich denke, daß wir sie noch einmal zerschmettern müssen, bis der Krieg vorbei ist.«

»Gelon, jetzt reicht’s!« sagte die Königin streng. »Puh, was für ein heißer Tag heute, viel zu heiß, um sich über Krieg zu unterhalten. Archimedes, Sohn des Phidias, meine Schwester hat mir erzählt, daß du den Aulos spielst. Vielleicht möchtest du uns - falls du auf meinen Vater wartest - zum Zeitvertreib ein wenig mit Musik erfreuen?«

Wieder blinzelte Archimedes. Wenn der Tyrann von Syrakus einen Sieg errungen hatte, warum wollte dann die Ehefrau des Tyrannen nicht darüber reden? Trotzdem sagte er mit einer Verbeugung: »Gnädige Dame Philistis, ich schätze mich glücklich, für dich spielen zu können, falls du das möchtest.« Normalerweise wurden Frauen nicht namentlich angesprochen, aber Hieron hatte gemeinsam mit seiner Frau den Göttern Weihegaben dargebracht. Sobald ein Name in den Tempeln stand, war es wohl kaum ungebührlich, ihn auszusprechen. »Allerdings habe ich meine Flöten nicht mitgebracht.«

»Ich würde es gerne tun«, warf Delia rasch ein, die das Musizieren jeder Konversation vorzog. Sie schnalzte mit den Fingern und rief der Amme zu: »Melaina, geh und hole zwei Paar Auloi.« Sie lächelte Archimedes an. »Könnten wir im Duett spielen?«

Archimedes antwortete mit einem breiten Lächeln. Gelon machte ein abschätziges Geräusch. Er hätte lieber noch mehr über Katapulte erfahren, aber da ihm die Erwachsenen nicht den Gefallen taten, überließ er sie sich selbst. Da gab es doch in einer Ecke des Gartens unter dem Gestrüpp ein spannendes Loch zum Herumbuddeln. Eilig trollte er sich, während seine Amme beschäftigt war und ihm nicht sagen konnte, daß er sich nicht schmutzig machen sollte.

Als die Amme mit den beiden Auloipaaren zurückkam, steckte Archimedes die Doppelrohrblätter in die Mundstücke seines Paares und probierte die Schieber aus. Man hatte ihm einen Bariton und einen Baß gegeben, vermutlich hielt man Instrumente tieferer Tonlagen eher für einen Mann geeignet. Delia hatte einen Alt- und einen Tenor-Aulos. Eigentlich mochte er ja die mittleren bis höheren Auloi lieber, aber die Griffe waren dieselben. Bei einem Blick auf Delia sah er mit Befriedigung, daß sie das Mundband anlegte, das er ihr gegeben hatte. Er lächelte. Sie lächelte zurück, dann warf sie ihm ihr altes Band zu. »Hier«, sagte sie, »du kannst es dir noch ein bißchen länger borgen.«

Mit einem gemurmelten Dankeschön legte er es an. Er mußte daran denken, wie er für die Frau in Alexandria Aulos gespielt hatte. Einer seiner Freunde hatte ein Fest gegeben, und sie hatte ihn spielen gehört. Am nächsten Tag hatte sie ihm eine parfümierte Einladung in ihr Haus geschickt. Als Kurtisane hatte sie das Recht, jeden einzuladen, der ihr gefiel. Sie war eine der legendären Kurtisanen von Alexandria, eine jener Frauen, die mit den Göttern an Schönheit wetteiferten. Er hatte erwartet, daß sie ihn wieder fortschicken würde, sobald sie merkte, daß er nicht reich war, aber sie hatte es nicht getan. Wenigstens nicht für geraume Zeit. Und als sie ihn schließlich fortgeschickt hatte, war dies ganz liebevoll geschehen: »Mein Liebster, du ruinierst dich für mich, und das kann ich nicht erlauben, das weißt du.« Er hatte versucht, sie umzustimmen. »Ich kann noch mehr Wasserschnecken bauen!« Aber sie hatte geantwortet: »Nein, mein Liebster. Es gibt nur einen Pegasus. Ich will nicht diejenige sein, die ihn an die Erde fesselt, wenn er den ganzen Himmel besitzen kann.«

Lais hatte sein Spiel gefallen, nun würde er sehen, ob es bei Delia genauso war.

Sie setzte ihre Flöten an die Lippen, schaute ihm in die Augen und intonierte dann dieselbe Euripides-Variation, die sie bei ihrer ersten Begegnung gespielt hatte. Ein paar Takte hörte er zu, dann stimmte er ein. Zuerst spielte er einfach dieselbe Melodie, nur tiefer, aber im weiteren Verlauf begann er sie mit Trillern und Synkopen zu verzieren. Delia bekam glänzende Augen. Sie verlegte die Melodie auf ihr Altinstrument und benutzte die Tenorflöte als Begleitung. Sofort zog Archimedes nach, indem er die Melodie auf seinem Baß-Aulos und die Begleitung auf dem Bariton spielte. Delia fügte auf ihrer Altflöte Synkopen hinzu, die Archimedes im Baß konterte. Sie spielten das Stück zu Ende und begeisterten sich an der Art und Weise, wie sich die hohen und tiefen Melodieteile in der Mittellage spiegelten.

Als dieses Stück zu Ende war, spielte Delia ein paar Verzierungstriller und ging dann unvermutet und ohne Vorwarnung in einen dramatischen Chorgesang mit einem komplexen, pochenden Rhythmus über. Während einer Phrase stimmte auch Archimedes ein, aber schon veränderte er spielerisch den Rhythmus, indem er sämtliche langen Schläge zerlegte und die kurzen miteinander verschmolz. Nach einem verblüfften Blick ihrerseits nahm er die Flöten von den Lippen, strahlte sie an und spielte dann weiter. Er ließ alle langen Schläge aus und ersetzte sie durch komplizierte Begleitphrasen. Delia riß die Augen auf. Archimedes stimmte wieder in die Melodie ein, aber nach wenigen Takten überließ sie ihm die Melodie und begann nach seinem Vorbild die Noten aufzulösen. Zuerst noch zögernd, aber plötzlich fand sie so viel Spaß daran, daß sie in einem furiosen Tremolo durch die Schläge jagte. Plötzlich ließ auch Archimedes die Melodie wieder fallen. Jetzt spielten beide ungefähr eine Minute lang die Begleitung zu einer Melodie, die nur noch in ihrer beider Köpfe als Idee vorhanden war und wie eine ungeheuere Kraft zwei wilde Improvisationen miteinander verband. Dann nahm Archimedes die Melodie wieder auf, und nach einem halben Takt stimmte auch Delia ein. Gemeinsam verlangsamten sie das Tempo und ließen es in einer einzelnen, verlängerten Note ausklingen.

Gleichzeitig ließen sie ihre Flöten sinken, lächelten zur selben Zeit und riefen zusammen atemlos: »Du bist wirklich gut!« Daraufhin mußten beide lachen.

Delia wandte sich an ihre Schwägerin. »Hast du je so etwas gehört?« fragte sie begeistert.

Philistis schüttelte stirnrunzelnd den Kopf.

»Ach, in meiner Familie spielen wir jede Menge Improvisationen«, sagte Archimedes, während er die Flötenmundstücke an seinem Mantel abwischte. »Allerdings nicht auf den Auloi. Das heißt, ich schon, aber der Rest meiner Familie spielt Saiteninstrumente. Aber mit einem zweiten Aulisten zu spielen - bei Apollon, das ist wie - die Quadratur des Kreises!«

Philistis stand abrupt auf und strich ihre Tunika glatt. »Das war sehr. interessant«, sagte sie in einem Ton, als ob sie das Stück mit Mühe überlebt hätte. »Sehr. ungewöhnlich. Aber du darfst dich nicht länger von uns aufhalten lassen, mein guter Mann. Sicher wartet in der Katapultwerkstatt noch jede Menge Arbeit auf dich. Es tut mir leid, daß mein Vater noch nicht zurück ist. Ich werde ihm sagen, daß du hier warst.«

Beinahe hätte Archimedes geantwortet, daß seine Arbeit in der Werkstatt momentan abgeschlossen war, aber dann begriff er. Er war entlassen. Er öffnete den Mund - und klappte ihn wieder zu. Die Königin wünschte nicht, daß er sich wie ein alter Freund der Familie im Hause aufhielt. Eigentlich hätte ihn das nicht überraschen dürfen. Zögernd löste er sein Band und stand auf, gab Delia mit einer Verbeugung den Lederstreifen und die geborgten Auloi zurück und murmelte ein Dankeschön dafür. Dann rückte er mit einem bedauernden Seufzer seinen Mantel zurecht, wünschte den Damen einen guten Tag und brach mit hängenden Schultern auf.

Sobald er außer Sichtweite war, wandte sich Delia verärgert an die Königin. »Warum hast du ihm befohlen, zu gehen?« wollte sie wissen. »Das war nicht interessant, sondern wunderbar*.«

»Ich habe ihn weggeschickt, weil ich dir deine Gedanken ablesen konnte«, sagte Philistis. »Schwester, er ist ein. ein Katapultbauer] «

»Ach, beim Zeus!« rief Delia angewidert. »Heißt das etwa, er soll nicht Flöte spielen? Nein, ich vergaß, du warst ja diejenige, die vorgeschlagen hat, daß er spielt. Dir hat es nur nicht gepaßt, daß ich mitgemacht habe. Aber ich darf musizieren, Philistis!«

Philistis verzog das Gesicht. Schon immer hatte sie das Gefühl gehabt, daß ein flötespielendes Mädchen etwas leicht Anrüchiges an sich hatte. Am liebsten wäre ihr gewesen, wenn Delia keine Erlaubnis hätte. Aber trotzdem drehte sich die Diskussion nicht um diesen Punkt. »Nicht mit verliebten jungen Männern«, sagte sie entschieden.

»Verliebte Männer!« rief Delia zornbebend. »Nie hast du etwas anderes im Kopf. Ich darf nirgends hingehen, nichts tun oder mit jemandem reden, nur weil mich diese verdorbene Kreatur namens Liebe dabei ertappen könnte! Es war wunderbar, so zu spielen. Ich habe noch nie zuvor so gespielt. Es war reinste Musik und kein bißchen unanständig - aber sie mußte enden, weil ich meine Freude daran hatte!«

Philistis stieß einen entnervten Seufzer aus. Die Schwester ihres Mannes war wirklich ein schwieriges Wesen. Immer wollte sie das Unmögliche, und wenn es nicht ging, bekam sie einen Wutanfall. »Ich unterstelle dir doch nichts Unanständiges, meine Liebe«, sagte sie beschwichtigend. »Ich weiß doch, daß du nur die Musik genossen hast. Aber Männer - besonders junge Männer - sind nun mal liebestolle Wesen. Schau ihnen nur in die Augen, und schon denken sie ans Bett. Es ist deine Pflicht, dafür zu sorgen, daß sie so etwas bei dir nicht denken. Eine wunderbare Zeit mit einem armen, unbedeutenden jungen Mann ist der beste Weg, um euch beide unglücklich zu machen.«

»Damit hatte es nichts zu tun!« sagte Delia indigniert. »Ganz und gar nicht!«

Sie hob die Auloi auf - alle vier - und begann, sie zu putzen.

Schon seit vielen Jahren war ihr klar, daß ihr Bruder vermutlich aus ihrer Ehe politischen Vorteil schlagen würde, indem er irgendein Bündnis mit einem mächtigen, sizilianischen Adeligen oder mit einem fremden Königreich bestärkte. Sie sehnte sich nicht danach, hatte diese Tatsache aber genauso akzeptiert wie auch die logische Konsquenz daraus, daß sie diesem Schicksal unter keinen Umständen zuwiderhandeln durfte, indem sie sich verliebte. Das war sie ihrem Bruder wegen all der Dinge, die er für sie getan hatte, schuldig.

An ihre Mutter konnte sich Delia nicht mehr erinnern, und als ihr Vater starb, war sie erst fünf Jahre alt gewesen. Das erste Jahr nach seinem Tod hatte sie bei der Schwester ihres Vaters und deren Mann gelebt. Es war das schlimmste Jahr ihres Lebens gewesen. Sie war das einzige legitime Kind ihres Vaters und die Erbin seines Besitzes. Ihr Onkel hatte den Besitz verwaltet und gehofft, sie würde sterben, damit er alles für immer unter Kontrolle bekäme. Natürlich hatte sie das damals noch nicht verstanden, sie hatte nur gemerkt, daß etwas mit ihr nicht stimmte. Er und seine Frau hatten sie gehaßt. Sie war ein böses, ungeschicktes, dummes Kind, das nichts recht machen konnte. Selbst die Sklaven haßten es, sie zu bedienen. Ständig war sie zwischen Extremen hin und her geschwankt. Entweder versuchte sie, sich durch anbiederndes Verhalten beliebt zu machen, oder sie stieß alle mit leidenschaftlichen Wutausbrüchen vor den Kopf. Erste-res hatten sie einfach ignoriert, und für letztere bekam sie drastische Strafen.

Dann befahl man sie eines Nachmittags ins Speisezimmer und stellte sie ihrem Halbbruder Hieron vor.

Sie hatte von seiner Existenz gewußt, obwohl im Haushalt immer nur im mißbilligenden Flüsterton von ihm gesprochen wurde: »Dieser Bastard, der soviel Erfolg in der Armee hat« - »Dieser Bastard, der zweite Rädelsführer der Meuterei« - »Dieser Bastard, der die Tochter von Leptines geheiratet und sich selbst zum Tyrannen gemacht hat!« Trotzdem war sie ihm noch nie vorher begegnet und wußte nicht, was sie mit ihm reden sollte. Ihre Tante hatte sie deswegen ausgeschimpft, aber Hieron hatte nur den Kopf geschüttelt.

Am nächsten Tag teilten Tante und Onkel ihr empört mit, ihr Halbbruder habe darauf bestanden, daß sie zukünftig in seinem Haushalt lebte. Völlig verschreckt war sie dort eingezogen, denn sie war felsenfest überzeugt gewesen, daß sie das Mißfallen ihres neuen Herrn und Meisters erregt hatte. Aber dann erwartete sie ein herzliches Willkommen und ein nie gekanntes, erhebendes Glücksgefühl. Die ersten Jahre hatte sie noch versucht, durch gutes Benehmen die Zustimmung ihres Bruders zu erwerben, aber allmählich begriff sie, daß sie sich nichts erwerben mußte. Hieron gab alles freiwillig und großzügig und mit einer humorvollen Toleranz, die ihr die Freiheit ließ, sie selbst zu sein.

Bisher hatte er es zumindest getan. Den einzigen Gunstbeweis, der von ihr erwartet wurde, hatte er noch nicht eingefordert, und so war sie allmählich mit ihrem Leben immer unzufriedener geworden. Sie war achtzehn und immer noch Jungfrau, und das in einer Welt, in der häufig schon vierzehnjährige Mädchen verheiratet wurden. Mädchen, die mit ihr zusammen Tanz- und Musikunterricht genommen hatten, waren längst Mütter, während sie noch immer ohne eigentliche Beschäftigung im Hause ihres Bruders lebte. Ihr Bruder zögerte, sie mit einem Ausländer zu verheiraten. Römische wie karthagische Aristokraten heirateten praktisch nie außerhalb ihrer Kreise, und aus der Verbindung mit einem unbedeutenden Prinzchen aus einem großen griechischen Königshaus ließ sich nur wenig Gewinn schlagen. Und was den syrakusischen Adel betraf, so hatte noch keine Hochzeit ausreichend politische Vorteile geboten.

Trotzdem haderte sie nicht mit ihrem Schicksal. Sie wäre froh, wenn sie Hieron auch nur den geringsten politischen Vorteil verschaffen könnte. Wütend redete sie sich ein, daß man sich schließlich nicht gleich in einen Mann verliebt, nur weil man mit ihm Flöte spielt.

Als Archimedes auf die Straße trat, ließ er noch immer den Kopf hängen, aber inzwischen mehr wegen der Hitze als aus Enttäuschung. Delia hatte sein Geschenk gemocht, und er hatte mit ihr im Duett spielen können. Die Musik war berauschend gewesen. Wenn sie regelmäßig zusammen spielen und ihre eigenen Stile kennenlernen könnten, könnte daraus etwas wirklich Interessantes entstehen!

Dann versuchte er sich vorzustellen, wie das zusammenpassen sollte: die Arbeit eines Katapultmachers und reguläre Duette mit der Schwester eines Königs. Jetzt ließ er erst recht den Kopf hängen. Gereizt lockerte er seinen Mantel. Für Wolle war es viel zu heiß.

Als er in die Hauptstraße einbog, sah er, wie der Regent Leptines inmitten einer zwölf Mann starken Soldatentruppe mit schnellen Schritten in die Durchgangsstraße einbog. Er packte den Saum seines Mantels, damit er nicht herunterfiel, und rannte hinterher. Als die hintersten Wachen der Eskorte merkten, daß er hinter ihnen herhetzte, blieben sie stehen. Ein halbes Dutzend Speere richtete sich auf ihn. Keuchend hielt er inne.

Leptines wollte wissen, was los war, und hatte zurückgeschaut.

Beim Anblick von Archimedes bedeutete er den Soldaten, sie sollten ihre Waffen schultern. »Was willst du?« fragte er gereizt.

»Ahm«, sagte Archimedes, »es geht um den Ein-Talenter, die Steinschleuder, gnädiger Herr. Ich bin gerade bei dir gewesen und wollte dir erzählen, daß er fertig ist, aber du warst nicht da. Wo sollen wir ihn aufstellen?«

»Wenigstens etwas ist in dieser gottverdammten Stadt fertig!« rief Leptines. »Funktionierte denn?«

»Ja«, sagte Archimedes, ohne nachzudenken.

»Dann stell es auf dem Hexapylon auf«, sagte der Regent.

Auf der fünfundzwanzig Kilometer langen Stadtmauer von Syrakus standen überall Katapulte der unterschiedlichsten Größen herum. Die stärksten Maschinen konzentrierten sich auf die Batterien der großen Forts. Das Hexapylon Fort bewachte das Tor an der nördlichen Hauptstraße und bildete die erste Verteidigungslinie gegen jede Armee, die von Norden oder Messana heranrückte. Archimedes leckte sich die Lippen. »Jawohl, gnädiger Herr. Und die Versuchsreihe?«

Entweder hatte Leptines seine Vereinbarung mit Archimedes oder alle Details über Katapulte vergessen. »Du hast doch gesagt, es funktioniert!« rief er empört.

»Äh, Herr, ich bin überzeugt, daß es das tut!« protestierte Archimedes. »Leider können wir es innerhalb der Werkstatt nicht abfeuern, also brauchen wir einen Test, bevor wir es genau wissen und, äh, ich bezahlt werde.«

Mehrere Soldaten grinsten. Archimedes merkte, daß auch Straton darunter war.

Leptines runzelte eine Minute die Stirn, dann schnaubte er plötzlich amüsiert. »Na schön, stell es auf dem Hexapylon auf«, sagte er. »Und benachrichtigt mich, wenn ihr soweit seid. Dann werde ich einen Beobachter schicken. Wenn es funktioniert, fängst du sofort mit einem neuen an.«

»Jawohl, Herr!« sagte Archimedes.

»Gnädiger Herr!« sagte Straton schlau. »Soll ich den Katapulttransport arrangieren, Herr?«

»Tu das!« erwiderte der Regent und gab seiner Garde ein Handzeichen. Dann marschierte er mit ihnen die Straße hinunter. Straton blieb bei Archimedes zurück.

»Danke«, sagte Archimedes dankbar, »ich hätte nicht gewußt, wen ich dafür ansprechen sollte. Wir werden ein riesiges Fuhrwerk brauchen.«

Straton grinste. »Ich danke dir!« antwortete er. »Bin froh, daß ich nicht mehr rauf und runter rennen muß. Heute morgen sind wir schon zweimal vom Arsenal zum Flottenkai und zurück getrabt.« Er schob seinen Helm nach hinten und legte sich den Speer über die Schulter. »Außerdem möchte ich unbedingt einen Blick auf diesen Ein-Talenter werfen.«

Gemeinsam brachen sie Richtung Werkstatt auf, immer die Hauptstraße entlang. Leptines hatte den entgegengesetzten Weg eingeschlagen. Nach einer Minute sagte Archimedes verunsichert: »Im Hause des Königs hieß es, wir hätten einen Sieg errungen.«

Straton nickte. »So lautet die Botschaft.«

»Dann verstehe ich das nicht«, sagte Archimedes. »Warum hebt der König die Belagerung auf und kehrt zurück?«

Straton zuckte unter seiner Rüstung die Schultern. Ihm war nicht ganz wohl in seiner Haut. »Der Fuchs hat viele Tricks«, sagte er.

»Der Igel nur einen, aber der ist gut«, beendete Archimedes das Sprichwort, dann fuhr er fort: »Sicher, aber warum kehrt man in die Stadt zurück und spielt den Igel, wenn man so stark ist, um ein Fuchs zu sein und die Ratten zu fangen? Ich verstehe das nicht. War’s denn ein Sieg?«

Wieder zuckte Straton die Schultern. »Es heißt so. Jedenfalls war’s keine Niederlage. Aber eines weiß ich todsicher: König Hieron ist ein schlauer Fuchs. Wenn er meint, es wäre Zeit, die Belagerung aufzuheben und heimzukommen, dann hat er einen guten Grund dafür.«

Kurze Zeit gingen sie schweigend dahin. Die eigentliche Frage, die Archimedes auf dem Herzen lag, wagte er nicht zu stellen: »Werden die Römer König Hieron hierher nach Syrakus folgen und uns ihrerseits belagern?« Er konnte sich noch genau an die letzte Belagerung von Syrakus erinnern. Damals war er noch nicht ganz neun Jahre alt gewesen. Zuerst die Blockade, und dann waren die Nahrungsmittel knapp geworden. Die Familie hatte zwischen vier Erwachsenen und vier Kindern täglich einen Laib Brot aufgeteilt und Ratten gegessen, wenn sie welche erwischten. Wenn nicht, gab es Unkräuter und Käfer. Der Vorgänger von Marcus wurde krank und starb. Wenn es mehr zu essen gegeben hätte, hätte er wahrscheinlich überlebt. Einmal war Archimedes mit seinem Vater auf die Stadtmauer geklettert, wo sie gemeinsam Schatten vermessen hatten, um die Distanz zur Belagerungsarmee auszurechnen, die sie deutlich sehen konnten. Sie hatte ihr Lager unmittelbar hinter der Katapultschußlinie aufgeschlagen. »Was passiert, wenn sie hereinkommen?« hatte er gefragt, aber Phidias hatte den Kopf geschüttelt und sich geweigert, zu antworten.

Das waren damals die Karthager gewesen. Und sie waren nicht hereingekommen.

Sie hatten die Katapultwerkstatt erreicht und gingen hinein, um das große Biest anzuschauen, das noch genauso unverrückt dort kauerte. Plötzlich wirkte es auf Archimedes schöner denn je. Sollten die Römer ruhig kommen, auch sie würden nicht hereinkommen.

»Beim Herakles!« rief Straton erstarrt. »Das ist ein Monster!«

Als Epimeles sie sah, kam er eiligst herübergelaufen, aber bei diesem Ausruf hielt er inne und warf Straton einen irritierten Blick zu. »Das ist eine Schönheit!« verbesserte er ihn, dann wandte er sich an Archimedes. »Herr?«

»Es soll auf den Hexapylon«, sagte Archimedes. »Straton, der Sohn des Metrodoros, wird uns bei der Beschaffung des Transportmittels behilflich sein. Sobald wir es richtig installiert haben, wird man einen Aufseher schicken, der sich vom Funktionieren überzeugen soll. Und wenn alles klappt, können wir mit einem zweiten anfangen.«

»Gut«, sagte Epimeles befriedigt, »der Hexapylon, gut.«

Gemeinsam gingen sie zum Katapult hinüber und starrten bewundernd hoch. »Der Hexapylon«, wiederholte der Vorarbeiter, diesmal mit weicherer Stimme. »Wir könnten es den >Begrüßer< nennen.«

Ein Katapult in der Größe des »Begrüßers« zu bewegen, war Schwerstarbeit. Das Biest mußte in seine Einzelteile - Ladestock, Lafette, Peritret, Arme - zerlegt und auf ein riesiges Fuhrwerk verfrachtet werden, das Straton aus dem militärischen Nachschubdepot besorgt hatte. Als sie damit fertig waren, war es viel zu spät, um zum Hexapylon aufzubrechen. Die Entfernung zur Werkstatt betrug fast sieben Kilometer. Statt dessen stellte man das beladene Fuhrwerk bis zum anderen Morgen wieder ins militärische Nachschubdepot.

Archimedes ging nach Hause. Inzwischen hatte sich die Nachricht vom Sieg bei Messana und von der bevorstehenden Rückkehr des Heeres in der ganzen Stadt herumgesprochen. Marcus hatte es nachmittags erfahren.

Er war zum nächsten Ziegellager auf der seewärts gerichteten Seite der Achradina gegangen, um für das Haus ein paar neue Dachziegel zu bestellen, und hatte den jungen Chrestos mitgenommen. Als sie hinkamen, standen die Ziegeleiarbeiter mitten im Dörrhof zusammen und diskutierten angeregt den Sieg. »Hat die Belagerungswälle angegriffen«, hörte Marcus beim Näherkommen und, »hat sie bis zur Stadtmauer zurückgeworfen!« Wortlos blieb er stehen, weil er befürchtete, daß sein italienischer Akzent bissige Bemerkungen zur Folge haben könnte. So blieb es Chrestos überlassen, hinzulaufen und sich nach dem Verlauf der ganzen Geschichte zu erkundigen. Ein hymnischer Bericht über die Weisheit König Hierons und seine tapferen Syrakuser war die Antwort. Marcus hörte aufmerksam zu, gab aber keinen Kommentar ab, denn ihm war genauso klar wie seinem Herrn und Meister, daß bei dieser Erzählung einige wesentliche Teile unter den Tisch gefallen waren. Nach kurzem Nachdenken wurde ihm klar, was es sein könnte. Ihn fröstelte. Trotzdem beschränkte er das Gespräch ausschließlich auf Dachziegel.

Als sie wieder im Haus am Löwenbrunnen waren, wiederholte Chrestos begeistert vor der restlichen Familie den Siegesrapport, der mit großer Erleichterung auf genommen wurde. Eine schreckliche Bedrohung hatte sich aufgelöst. Nur Philyra wurde trotz allem angst und bang. Wenn der König nach Hause kam, brachte er seine restlichen Ingenieure mit, und damit würden die Dienste ihres Bruders überflüssig. Aber eines war noch viel schlimmer: Wenn der Krieg schon zu Ende war, brauchte man kein Katapult mehr, und Archimedes bekäme nichts bezahlt. Als Archimedes kurz danach persönlich zurückkam, bedrängte sie ihn mit Fragen zum Schicksal der Maschine.

»Sie wollen sie«, erklärte er ihr grimmig, »und außerdem wollen sie, daß ich eine zweite anfange, sobald die erste auch wirklich funktioniert.« Daraufhin verstummte seine Schwester, denn nun wurde auch ihr klar, daß die ganze Geschichte einen falschen Unterton hatte.

Der Haushalt aß zu Abend, anschließend wurde im Krankenzimmer ein wenig musiziert. Phidias lauschte aufmerksam, schien aber bald müde zu werden, so daß man das Konzert abbrach. Philyra überließ ihn einem Gespräch mit Archimedes über Astronomie und ging in den Innenhof, um auf ihrer Laute zu üben. Nach einiger Zeit kam Marcus von einem Botengang unten an der Straße zurück. Bei seinem Anblick unterbrach sie ihr Spiel und warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu. Rasch wischte er sich die Hände ab und musterte sie fragend.

»Welche Sorte Italiener bist du?« wollte sie wissen.

Bei dieser Bemerkung erstarrte sein Gesicht zu einer unbeteiligten Maske. »Herrin, das haben wir doch alles längst besprochen.«

»Aber du bist doch versklavt worden, nachdem du auf Seiten der Römer in einem römischen Krieg gekämpft hast, oder?«

Einen Augenblick lang schwieg er, dann wandte er den Blick ab. Er mußte wieder an das Gemetzel denken, an die Schreie der Verwundeten und Sterbenden und an den Gestank seiner eigenen Todesangst. »Ja«, gab er schließlich zu.

»Du hast die Römer kämpfen sehen. Was tun sie, wenn sie eine Stadt erobern?«

»Das gleiche wie alle anderen auch.«

»Ich habe gehört«, sagte Philyra fest, »daß sie manchmal alle Lebewesen innerhalb der Stadtmauer töten, selbst die Tiere.«

»Manchmal tun sie’s«, sagte Marcus zögernd. »Wenn sie ein Gelübde abgelegt haben, aber meistens nicht. Meistens plündern sie nur und errichten dann eine Garnison. Genau wie alle anderen.«

»Barbaren!« sagte Philyra und funkelte Marcus an. »Manchmal sind sie genauso wild, grausam und blutdürstig wie alle anderen und manchmal sogar noch schlimmer. Das meinst du doch damit. Hast du ihnen je bei der Eroberung einer Stadt geholfen?«

Marcus schüttelte protestierend den Kopf. »Herrin, als ich zur Armee kam, war ich nicht älter als du jetzt! Eigentlich muß man achtzehn sein, aber ich habe gelogen. Und als ich zum ersten Mal einen Krieg kennenlernte, bin ich. hier gelandet. Ich weiß über Belagerungen nicht mehr als du.«

Die Empörung in ihren Augen ebbte ein wenig ab, statt dessen schimmerte Angst durch. »Falls die Römer Syrakus erobern, wärst du frei, stimmt’s?«

Wieder schüttelte er den Kopf, aber diesmal verneinend. »Meiner Meinung nach würden sie nicht einmal fragen, was ich früher war. Ein Sklave ist ein Sklave. Ich bekäme einen neuen Herrn oder würde getötet. Aber es ist Unsinn, wenn du dir darüber den Kopf zerbrichst, Herrin, weil sie Syrakus nicht erobern werden. Und außerdem hat die Stadt nach letzten Meldungen einen Sieg errungen.«

Jetzt war sie mit dem Kopfschütteln dran. »Warum kommt der König heim, wenn es wirklich ein Sieg war? Warum werden noch mehr Katapulte gebraucht, wenn es ein echter Sieg war?«

»Wo waren die Karthager während dieses Sieges?« antwortete er heftig. »Sie sollten doch die Verbündeten sein, aber ich habe nicht das geringste gehört, daß sie auch nur im entferntesten an den Kämpfen beteiligt waren.«

Anschließend bedauerte er seine Worte. Er hätte daran denken sollen: Philyra war viel zu intelligent, um die wahre Bedeutung nicht zu verstehen. Jetzt riß sie vor Furcht die Augen auf. Was wäre, wenn sich die Römer bei Messana mit den Karthagern geeinigt hatten? Rom und Karthago waren im Krieg gegen Pyrrhus von Epirus Verbündete gewesen, daher war es durchaus vorstellbar, daß sie sich jetzt auf eine Teilung Siziliens zwischen ihnen beiden geeinigt hatten. Sollte König Hieron den Verdacht hegen, daß sich seine neuen Verbündeten allmählich gegen ihn wandten, dann wäre das die Erklärung, warum er schleunigst seine Armee nach Hause holte. Syrakus konnte Rom nicht ohne die Hilfe Karthagos gegenübertreten. Wenn es Rom und Karthago gegen sich hätte, wäre sein Untergang besiegelt.

»Oh, ihr Götter, nein!« flüsterte Philyra.

Mit wenigen Schritten eilte Marcus über den Hof zu ihr hinüber, blieb aber dann hilflos stehen und wünschte sich sehnlichst, daß er den Mut hätte, ihre schmalen Schultern zu berühren. »Niemand wird Syrakus einnehmen«, erklärte er ihr. »Die Karthager haben’s oft genug versucht und nie geschafft, und eines, Herrin, kann ich dir versichern: Eine Stadt wie diese werden die Römer nicht knacken. In der Belagerungstechnik seid ihr Griechen ihnen weit voraus. Noch nie hat jemand Syrakus im Sturm erobert, und das wird auch jetzt keiner schaffen.« Dann fügte er mit einem bemühten Lächeln hinzu: »Nicht, solange die Katapulte deines Bruders die Stadt verteidigen.«

Philyra holte tief Luft und redete sich ein, daß sie kein kleines Mädchen mehr war, das sich von Gerüchten erschrecken ließ. Danach brachte sie sogar ein Lächeln fertig. Ihr Blick wanderte zur Laute in ihren Händen hinunter. Sie hob sie an die Schulter und begann, ein kompliziertes Stück zu spielen, das ihre ganze Aufmerksamkeit erforderte und ihr keine Zeit zum Nachdenken ließ.

Im Krankenzimmer starrte Phidias mit seinen gelblichen Augen die Lampenflamme an, dann schaute er lächelnd zu seinem Sohn hinüber. »Erzähl mir doch noch einmal von der Hypothese des Ari-starchos«, sagte er.

Archimedes zuckte die Schultern. Sein Vater war fasziniert von dieser Theorie, die in Alexandria ein aufregend großes, kontrovers diskutiertes Thema gewesen war. »Er behauptet, daß sich die Erde auf einer Kreisbahn um die Sonne bewegt.«

»Und die anderen Planeten genauso?«

»Richtig.«

»Und was ist mit den Sternen?« fragte Phidias. »Wenn sich die Erde tatsächlich um die Sonne drehen würde, dann würden sich doch auch die Fixsterne verschieben, wenn wir sie von unterschiedlichen Punkten der Erdlaufbahn aus unterschiedlichen Blickwinkeln betrachten.«

»Nein! Das ist ja gerade der interessanteste Aspekt«, sagte Archimedes. Allmählich erwärmte er sich für dieses Thema. »Aristar-chos behauptet, das Universum sei viel, viel größer als bisher angenommen. Er behauptet, daß der ganze Kreis, den die Erde auf ihrer Umlaufbahn beschreibt, im Vergleich zur Größe der Fixsternsphäre nur ein Punkt sei.«

»Das ist Unsinn«, meinte Phidias. »Schließlich hat ein Punkt keine Ausdehnung.«

»Na schön, dann eben kein Punkt! Aber etwas unvergleichlich Kleines, so klein, daß die gesamte Drehbewegung der Erde keinerlei Einfluß auf unser Bild der Fixsterne hat.«

»Du glaubst das, stimmt’s?« fragte Phidias.

»Es ist eine Hypothese«, erwiderte Archimedes und wurde dabei ein wenig rot. »Die Beweise reichen weder für die eine noch für die andere Variante aus. Vermutlich haben die Leute recht, die sagen, daß man sich immer dann, wenn es keine Beweise gibt, für die Erklärung entscheiden sollte, die mit dem Augenschein am ehesten übereinstimmt. Das hieße also, daß sich die Sonne um die Erde dreht. Aber trotzdem - mir gefällt die Hypothese.«

» Oi moi! Dir gefällt der Gedanke, daß die Erde wie eine Staubflocke durch einen unsagbar großen Weltraum wirbelt? Mir wird dabei ganz schwindlig!«

Archimedes grinste, meinte aber: »Es erscheint mir sinnvoll, daß das Universum unvergleichlich groß ist. Denn eines steht fest: Je mehr ich es betrachte, desto mehr Dinge sehe ich, die ich nicht verstehe.«

Phidias lag schon der Satz auf der Zunge: »Wenn bereits du nicht viel verstehst, wieviel Hoffnung bleibt dann für den Rest von uns?«, aber er sprach ihn nicht aus. Er hütete sich, zuzugeben, wie sehr er sich anstrengen mußte, um Ideen, die für Archimedes sonnenklar schienen, auch nur annähernd zu begreifen. Seit jeher hatte ihn sein Sohn als ebenbürtig betrachtet, und darauf war er fast so stolz wie auf seinen Sohn selbst. Sein Sohn, der begabteste Schüler, den er je unterrichtet hatte, der tiefgründigste Geist, dem er je begegnet war. Zärtlich betrachtete ihn Phidias. Allmählich verlor Archimedes sein Lächeln. Seine Augen glänzten zwar noch, aber während er die unendliche Weite des Universums berechnete, bekamen sie einen abwesenden Ausdruck. Phidias wußte, daß sie ihn schon längst nicht mehr wahrnahmen, und einen Augenblick spürte er jenen leisen Schmerz, den alle Eltern empfinden, wenn sie merken, wie absolut fremd ihnen ihr Kind ist. Dieser Körper, der von dir stammt und den du ernährt hast, enthält jetzt einen Verstand voller Ideen, die du nie begreifen wirst. Er beugte sich hinüber und ergriff die Hand seines Sohnes. »Medion«, sagte er ein wenig atemlos, »schwöre mir, daß du nie, niemals die Mathematik aufgeben wirst.«

Verblüfft schaute ihn Archimedes an. »Papa, du weißt doch ganz genau, daß ich die Mathematik als letztes auf der Welt aufgeben würde!«

»Das meinst du«, sagte Phidias, »aber es stimmt nicht. Wenn deine Familie hungert oder leiden muß, das ist wirklich das letzte auf der Welt, was du willst, und das ist gut so, denn es sollte auch das allerletzte sein, was du geschehen läßt. Aber versprich mir, daß du nie die Mathematik aufgeben und deine Seele an die Erde verkaufen wirst, auch wenn du dir die Zeit fürs Studium stehlen und nach der Tagesarbeit mühsam darum ringen mußt. Egal, wie müde du bist und wie wenig dich irgend jemand begreift. Schwör es mir.«

Archimedes zögerte, dann ging er zur Wasserschüssel neben dem Bett, wusch sich feierlich die Hände und hob sie zum Himmel. »Ich schwöre bei Apollon, dem Delier, dem Pythier«, erklärte er ernst, »bei Urania und allen Musen, bei Zeus und der Erde und der Sonne, bei Aphrodite, Hephaistos und Dionysios und bei allen Göttern und Göttinnen, daß ich nie die Mathematik aufgeben werde und den Funken, den mir der Gott geschenkt hat, erlöschen lasse. Wenn ich dieses mein Wort nicht halten sollte, möge mich der heilige Zorn aller Götter und Göttinnen treffen, bei denen ich geschworen habe, und ich des jammervollsten Todes sterben. Aber wenn ich es in Ehren halte, dann mögen sie mir gewogen sein!«

»So sei es«, flüsterte Phidias.

Archimedes trat wieder ans Bett und ergriff mit einem Lächeln die Hand seines Vaters. »Aber diesen Schwur hätte es nicht gebraucht, Papa«, sagte er. »Ich versuche, es aufzugeben, und rede mir ein, >keine Spielereien mehr!< - aber es klappt nie. Ich kann es nicht lassen, und du weißt das.«

Phidias lächelte ebenfalls. »Ich weiß«, flüsterte er, »trotzdem möchte ich, daß du es nicht einmal versuchst. Nicht für Katapulte und auch für sonst nichts.«

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