Erst als Archimedes bereits den größten Teil des Weges zur Achra-dina zurückgelegt hatte, wurde ihm bewußt, daß er den Hexapylon verlassen hatte. In dem Moment blieb er mitten auf der staubigen Straße stehen und schaute zum Himmel auf. Licht. Wegen seiner Erfindung würden dreißig oder vierzig Männer, die noch heute morgen das Licht gesehen hatten, es nie wieder sehen. Nein - noch mehr. Allein »Gute Gesundheit« hatte dreißig oder vierzig getötet. Auch der »Begrüßer« hatte einige auf dem Gewissen. Die Vorstellung, daß es sich um fremde, kriegslüsterne Eroberer gehandelt hatte, tröstete ihn verblüffend wenig. Sie waren tot, und er hatte ihrem Tod Gestalt verliehen, indem er ihn mit großer Kunstfertigkeit aus Holz und Stein und Frauenhaar geschaffen hatte.
Er hätte nie geglaubt, daß man einem Menschen tatsächlich so den Kopf herunterreißen konnte. Jetzt bäumte sich etwas in ihm auf. Schon beim bloßen Gedanken an Katapulte wurde in ihm alles taub und tot. Ein Teil von ihm wollte nichts mehr damit zu tun haben. Jeder Versuch, diesen Teil durch Loyalität und Willenskraft bei der Stange zu halten, war, als ob man einen Esel mit Gewalt durch eine Tür schieben wollte. Und doch war die Stadt auf jedes Verteidigungsmittel angewiesen, das er für sie entwickeln konnte. Vor den Toren lagerten ihre Feinde, und falls sie hereinkämen, würde es jeder innerhalb der Stadt bitter büßen müssen. Der heutige Vorfall würde die restliche römische Armee nur noch mehr aufbringen.
Er setzte sich in den Straßenstaub und verbarg sein Gesicht. Er dachte an Apollon, der vor Troja »wie die Nacht« über die Griechen gekommen war. Seinetwegen hatten die Scheiterhaufen Tag und Nacht gebrannt. Jedes Gebet zu einem solchen Gott war fruchtlos. Deshalb betete er gar nicht, sondern dachte statt dessen an Zylinder. Anfangs waren es noch die Zylinder von Katapultsehnen, aber plötzlich verwandelten sie sich in abstrakte Zylinder, in ideale Formen. Ein Schnitt durch einen Zylinder im rechten Winkel zu seiner Achse war ein Kreis. Er stellte sich diesen Kreis vor. Dann erweiterte er ihn durch Drehen zu einer Kugel, die seinen imaginären Zylinder ganz genau einschloß. Durchmesser, Mittelpunkte und Achsen wirbelten durch seinen Kopf und bildeten ein faszinierend komplexes, betörend schönes Muster.
Schockiert stellte er fest, daß er seit dem Tode seines Vaters über kein geometrisches Problem mehr nachgedacht hatte. Er hatte Phidias geschworen, nie die Mathematik den Katapulten zu opfern, und doch hatte er sich voll und ganz diesen Todesapparaten gewidmet. Er nahm die Hände vom Gesicht und starrte auf den Staub neben sich. Hübsch gleichmäßiger Staub. Er tastete am Straßenrand herum, fand einen Zweig und fing zu zeichnen an.
Zur Abendessenszeit war Archimedes immer noch nicht zu Hause. Also schickten die Frauen der Familie, die mit den vielen Arbeitsstunden ganz und gar nicht einverstanden waren, Marcus zum Hexapylon mit dem Auftrag, seinen Herrn nach Hause zu holen, egal, ob das Katapult fertig war oder nicht. Hungrig und widerwillig machte sich Marcus eilends auf den Weg. Er nahm eine Abkürzung durch die Hintergassen und quer über den Rand des Epipolae-Plateaus, verfehlte seinen Herrn und traf genau in dem Moment auf die Hauptstraße, als man die römischen Gefangenen auf ihrem Weg in die Stadt vorbeiführte.
Die Nachricht von dem Sturmangriff war noch nicht bis zur Achradina durchgedrungen. Auf den ersten Blick wußte Marcus nicht so recht, was diese Menschenschlange zu bedeuten hatte. Die Leute aus dem Tycheviertel, die armen Bewohner der Elendshütten, standen an der Straße und schauten zu. Marcus bahnte sich einen Weg in die vorderste Reihe, um zu sehen, worauf sie starrten. Eine Doppelreihe syrakusischer Soldaten marschierte unter Flötenklängen heran. In ihrer Mitte wankte eine Reihe von Männern in einfacher Tunika daher. Sie führten Bahren mit Verwundeten bei sich. Verblüfft betrachtete Marcus das Schauspiel, dann erkundigte er sich bei seinem Nachbarn, was da los war.
Der Mann, ein älterer Ziegenhirte, spuckte aus und antwortete: »Römer - mögen die Götter dafür sorgen, daß wir auch alle übrigen genauso vorüberlaufen sehen!«
Schockiert schaute Marcus wieder stumm seine Landsleute an. Man hatte sie entwaffnet, aber nicht gefesselt, und auch ihre Wunden waren versorgt worden. Nur der Ausdruck verwirrter Scham auf jedem Gesicht verriet ihre Situation. Die Frage nach dem »Wie?« steckte ihm in der Kehle, aber er sprach sie nicht aus. Wie nie zuvor war er sich seines Akzentes bewußt, der ihn abstempelte.
Die Männer mit den Bahren gingen vorbei, anschließend kam eine kleine Gruppe Verwundeter, die noch laufen konnten. Doch was dann geschah, sollte Marcus später wie ein unvermeidbarer Wink des Schicksals erscheinen: der Dritte in der Gruppe war sein Bruder Gaius.
Gaius trug den rechten Arm in einer Schlinge. Seine Tunika hatte sich über der rechten Schulter gelöst. Man sah, daß auch seine Brust verbunden war. Obwohl er vor Schmerz ganz weiß im Gesicht war, ging er gleichmäßig weiter bis - seine Augen, die bisher wie blind über die Zuschauergesichter geglitten waren, an Marcus hängenblieben. Jetzt stolperte er. Der syrakusische Soldat neben ihm bekam seinen gesunden Arm zu fassen und verhinderte, daß er hinfiel. Keuchend stand Gaius stocksteif da. Er schwitzte und zitterte vor Schmerz. Eine Wunde war wieder aufgebrochen. Seine Augen hatten sich vor dem übrigen Körper erholt. Erstaunt und ungläubig suchten sie erneut nach Marcus.
Schweigend starrte Marcus zurück. Ein Teil von ihm schien über ihnen beiden zu schweben und die Begegnung zu beobachten, während der andere vor Scham glühte und wie erstarrt war. Gaius hatte ihn zweifelsohne für tot gehalten. Es wäre auch besser gewesen.
»Marcus?« flüsterte Gaius. Marcus konnte seinen Namen nicht hören, aber er las ihn von den Lippen seines Bruders ab. Er antwortete nicht. Statt dessen warf er einen Blick nach hinten über die Schulter, als ob er sehen wollte, wen dieser Fremde meinen konnte.
Der syrakusische Soldat neben Gaius fragte ihn - auf Griechisch -, ob er gehen könne. Gaius antwortete: »Ich nicht griechisch« und ging weiter. Als er an Marcus vorbei war, warf er einen zutiefst erstaunten Blick zurück.
Trotz seiner schlotternden Beine zwang sich Marcus, den Rest des Zuges abzuwarten. Er war erstaunt, daß sich keiner zu ihm umdrehte und fragte: »Wer war dieser Mann, der dich angestarrt hat?« Erst später dämmerte ihm, daß die Begegnung zweier Augenpaare, die ihn wie die Sonne versengt hatten, anderen lediglich wie das ausdruckslose Starren eines Verwundeten erschien, der zufällig dem neugierigen Blick eines Zuschauers begegnet war.
Als sich der Flötenlärm und die Marschschritte auf der Straße entfernt hatten und auch der kleine Menschenauflauf verschwunden war, ging Marcus weiter zum Hexapylon hinauf. Schließlich blieb er stehen und setzte sich auf einen Stein am Straßenrand. In seinem Innersten tobte ein Chaos aus Scham, Verwunderung und Freude. Mehrere Minuten vergingen, bis er sich eines einzigen, klaren Gedankens oder einer Empfindung bewußt wurde. Gaius - lebend und in Syrakus! Gaius hatte ihn gesehen und wußte, daß er hier war. Was sollte er nun tun?
»Marcus?« tönte es da unmittelbar neben ihm. Voller Schuldgefühle zuckte er zusammen und schaute auf. Über ihm stand der Wachsoldat Straton. Er starrte ihn dämlich an, denn mit ihm hatte er nicht gerechnet.
»Hab mir doch gedacht, daß du’s bist«, sagte Straton. »Was ist los? Du schaust krank aus.«
Marcus zwang sich zum Aufstehen und nahm sich mühsam zusammen. »Ich bin in der Hitze zu schnell gerannt«, sagte er. »In einer Minute geht’s schon wieder. Kommst du gerade vom Hexapy-lon?«
Straton nickte. »Ich bringe eine Nachricht auf die Ortygia«, erklärte er. »Hat dein Herr etwas im Fort vergessen?«
»Ist er denn nicht dort?« fragte Marcus erstaunt.
Straton war genauso verblüfft. »Er ist schon vor Stunden weg! Ist er nicht daheim?«
Als ihm Marcus seinen eigenen Auftrag erklärte, rollte der Soldat mit den Augen. »Hoffentlich ist ihm nichts passiert!« rief er. »Der König würde ihn nicht für ein ganzes Bataillon eintauschen, und das mit Recht. Allein seine Katapulte ersetzen eines. Hast du’s gehört? Die Römer haben die Mauern gestürmt.«
»Ich habe die Gefangenen auf der Straße gesehen«, erwiderte Marcus vorsichtig.
Straton grinste. »Der klägliche Rest von zwei Manipeln«, sagte er stolz. »Das waren die Katapulte. Du hättest mal den Zwei-Talenter sehen sollen!« Er klatschte mit der Faust in die Hand. »Mit jedem Stein zehn oder mehr von ihnen am Boden! Was für ein Probefeuer! Der Rest lagert dort draußen und hat jetzt einiges zum Nachdenken. Wenn die auch nur einen Funken Verstand haben, lassen sie Syrakus ab jetzt in Ruhe.«
»Und was geschieht mit den Gefangenen?« fragte Marcus, ohne zu überlegen, ob eine derart unverblümte Frage klug war, so erschüttert war er noch immer.
Irgendwie hatte Straton die ganze Sache mit der zweifelhaften Nationalität von Marcus vergessen und dachte viel zu sehr an den Triumph, um mißtrauisch zu sein. »Sie werden im Athener Steinbruch eingesperrt«, sagte er. »Der König hat Anweisung gegeben, daß man sie gut behandeln soll. Sicher hat er noch etwas mit ihnen vor. Er wollte unbedingt Gefangene. Glaubst du, daß mit deinem Herrn alles in Ordnung ist?«
»Vermutlich ist er stehengeblieben und zeichnet Kreise«, sagte Marcus. »Das tut er manchmal.« Er drehte dem Hexapylon den Rük-ken zu und begann, die Straße Richtung Stadt zurückzulaufen.
Straton folgte ihm mit dem Speer quer über den Schultern. »Wird er denn in der Lage sein, einen Drei-Talenter zu bauen?«
»Ja.«
»Und wie steht’s mit einem Vier-Talenter?«
»Vermutlich.«
»Ein Fünf-Talenter?«
Wütend funkelte Marcus ihn an. »Du hast es doch selbst gehört! Er kann sie so groß bauen, wie es Holz, Eisen und Sehnen aushalten. Wahrscheinlich viel größer als irgendeiner will. Bis der Einfallsreichtum eines Archimedes erschöpft ist, wird es schon längst kein Eisen mehr geben.«
Straton lachte. »Ich glaub’s dir! Als er dieses Schiff bewegt hat, hat er mir einen ganzen Monatsverdienst verschafft. Jetzt gebe ich damit an, daß ich ihn persönlich kenne.«
Marcus grunzte. Seit der Vorführung war der Ruhm von Archimedes stetig gewachsen. Sämtliche Geschäftsleute und Nachbarn waren auffallend höflich geworden, was Marcus gar nicht gefiel. Ständig erkundigten sie sich nach Katapulten. Marcus stellte sich einen zwei Talente schweren Stein vor, wie er seinem Bruder den Arm zerschmetterte. Er zuckte schmerzhaft zusammen.
Straton trat gegen einen losen Stein auf der Straße, dann meinte er: »Da gibt es eine Sache, wegen der mich mein Hauptmann gebeten hat, wenn möglich mal bei dir vorzufühlen. Die Schwester deines Herrn - ist sie schon jemandem versprochen?«
Ruckartig riß Marcus den Kopf hoch und starrte den Soldaten an. Straton zog mit einem verlegenen Grinsen die Schultern hoch. »Schau mal«, sagte er, »der Hauptmann ist nicht verheiratet. Deine junge Herrin ist ihm aufgefallen. Er findet sie charmant. Er ist schwer in Ordnung, und der König hält große Stücke auf ihn. Es wäre eine gute Partie.«
»Das Haus trägt noch Trauer«, sagte Marcus.
»Nun, ja«, räumte Straton ein, »der Hauptmann möchte eigentlich nur wissen, ob es einen Sinn macht, wenn er mit deinem Herrn nach dem Ende der Trauerzeit mal redet.«
Marcus stellte sich Philyra verheiratet vor, mit Dionysios, dem Sohn des Chairephon. Eine gute Partie. Ein Offizier in verantwortungsvoller Position, vom König begünstigt, nicht zu alt, beliebt bei seinen Untergebenen. und obendrein musikalisch. Er stellte sich vor, wie Dionysios sang, während sich Philyras Körper ein wenig steif über die Laute beugte. Er dachte daran, wie ihre tiefe Stimme mit den schnellen Kaskaden der Musik verschmolz, wie sich ihre Hüfte gegen die dünne Tunika abzeichnete, an ihre Haare, ihr Lächeln, ihre strahlenden Augen - alles fort? Fort aus dem Haus, fort aus seinem Leben.
Er hatte immer gewußt, daß sie eines Tages gehen würde. Wie töricht von ihm, daß er so an sie gedacht hatte. Wie töricht, daß er sich jetzt so ganz und gar verlassen fühlte. Wie töricht, sich den Kopf über eine Zukunft zu zerbrechen, die er vielleicht nie sehen würde.
Beim letzten Gedanken wurde ihm klar, daß er unbedingt etwas für Gaius tun wollte. Eiskaltes Entsetzen packte ihn.
»Sie ist noch niemandem versprochen«, zwang er sich zuzugeben. Dann merkte er, wie er trotz allem hinzufügte: »Aber damals in Alexandria hat Archimedes immer davon geredet, daß er sie mit einem seiner Freunde verheiraten wolle. Damals war er noch nicht Haushaltsvorstand und konnte es nicht arrangieren, aber vielleicht möchte er es jetzt. Ich weiß es nicht.«
»Ein Freund in Alexandria?« fragte Straton verdutzt.
Marcus nickte ernst. Er konnte sich nicht bremsen, auch wenn es ihn innerlich schüttelte. Er log nicht direkt, sagte aber auch nicht die Wahrheit. »Einer aus Samos, Conon heißt er, ein Student am Museion. Er und Archimedes hielten sich gegenseitig für die klügsten lebenden Mathematiker. Conon stammt aus einer sehr guten Familie und ist reich, aber er hätte liebend gern auf jede Mitgift verzichtet, nur um Archimedes >Bruder< nennen zu dürfen.«
Soweit stimmte alles. Außer daß Colons wohlhabender und vornehmer Vater weitaus weniger romantisch veranlagt gewesen war. Er hatte für seinen Sohn schon längst eine Ehe mit einem Mädchen aus Samos arrangiert, sobald das Mädchen im richtigen Alter war. Das ganze Gerede von Brüderschaft war nie über Tagträumereien hinausgekommen.
»Archimedes kann doch nicht ernsthaft vorhaben, nach Alexandria zurückzugehen!« rief Straton.
»Er kann gehen, wohin er will!« erwiderte Marcus scharf.
»A-aber - der Krieg!« stotterte Straton.
»Der dauert auch nicht ewig.«
Straton kaute auf seiner Lippe herum. Marcus wußte genau, woran er dachte: an Katapulte - die größten Katapulte der Welt, die in Alexandria gebaut wurden anstatt in Syrakus. Plötzlich begriff er, daß der König von Anfang an daran gedacht hatte. Plötzlich erkannte er auch den Zweck seiner obskuren Manipulationen.
»Ein loyaler Bürger.«, fing Straton an, dann - hielt er inne. Soeben hatte er Archimedes erblickt.
Inzwischen hatten sie den Höhenzug hinter sich gelassen und waren auf der Straße bis zum Rand der Achradina gelangt. Die Dämmerung war schon angebrochen, aber es war noch hell genug zum Lesen. Wie ein Grashüpfer mitten auf einem trockenen Erdfleck hockte Archimedes am Rande eines kleinen Platzes, kaute am Ende eines Zweiges herum und starrte vor sich in den Staub. Seine schwarze Trauertunika hatte sich so weit hochgeschoben, daß man seine dünnen Oberschenkel sehen konnte. Er wirkte wie ein zu groß geratener Schuljunge.
Eine ältere Frau, die aus dem Brunnen am Platz Wasser geschöpft hatte, merkte, wie die beiden Männer ihn anstarrten, und blieb neben ihnen stehen. »Er ist schon seit Stunden hier«, vertraute sie ihnen im besorgten Flüsterton an, »und zeichnet im Sand herum. Wir glauben, er ist von einem Gott besessen. Ich bete nur, daß es kein schlechtes Vorzeichen ist!«
»Es handelt sich um Geometrie«, teilte ihr Marcus mit, »und die Geschichte mit dem Gott stimmt.« Er ging hinüber, blieb vor dem Diagrammgewirr auf der Erde stehen und rief: »Archimedes!«
»Hm?« antwortete sein Herr zerstreut.
»Es ist Zeit zum Heimgehen«, sagte Marcus streng. »Deine Mutter und deine Schwester haben mich auf die Suche nach dir geschickt.«
Archimedes hob die Hand, was soviel wie Warte-mal-eine-Minute bedeuten sollte. »Lasch mich dasch nur noch fertig machen«, nuschelte er mit dem Zweig im Mundwinkel.
Vorsichtig war Straton dem Sklaven gefolgt. Jetzt starrte er verblüfft auf das Dickicht aus endlos sich wiederholenden Zylindern und Kugeln, auf Buchstaben und Linien, die in den trockenen Boden geritzt waren. »Was probierst du denn da aus?« fragte er verwundert.
Archimedes nahm den Zweig aus dem Mund, schaute hoch und wandte seinen Blick sofort wieder dem Diagramm vor sich zu, als ob er die Gegenwart eines anderen Wesens gar nicht bemerkt hätte. »Ich versuche, das Verhältnis zwischen dem Volumen eines Zylinders und einer eingeschlossenen Kugel zu finden«, erwiderte er träumerisch. »Das ist nicht einfach. Wenn ich doch nur.«
»Herr«, sagte Marcus, »es wird schon dunkel.«
»Ach, laß mich doch in Ruhe!« rief Archimedes gereizt. »Ich mache das jetzt fertig!«
»Das kannst du auch zu Hause.«
Plötzlich sprang Archimedes völlig unerwartet hoch. »Ich habe dir gesagt, du sollst mich in Ruhe lassen!« brüllte er und starrte den verblüfften Marcus wütend an. »Wenn ich an irgendeiner gottverdammten Maschine arbeiten würde, hättest du mir gehorcht, nicht wahr? Aber das hier ist ja nur Geometrie, also unterbrichst du mich. Sklaven dürfen bei der Geometrie stören, aber wenn’s um Katapulte geht, halten selbst Könige den Mund!« Wütend holte er mit dem Zweig aus und schlug seinem Sklaven auf den Arm, daß er krachend zerbarst. »Katapulte! Sie sind nichts weiter als gottverdammte Brok-ken aus Holz und ein paar Sehnen. Gottlose Dinge, die Menschen ermorden. Das hier ist herrlich und schön! Aber das wirst du nie verstehen - keiner von euch!« Wütend starrte er auch Straton an. »Die Geometrie ist perfekter als alles, was man mit den Augen sehen kann. Dieses Größenverhältnis ist eine unverrückbare Wahrheit. Sie existierte bereits, noch ehe wir alle geboren wurden, und wird noch sein, wenn wir alle längst tot sind. Selbst wenn die Erde nie geschaffen worden wäre, würde sie gelten. Auch dann, wenn niemand sie je entdecken würde. Und diese Wahrheit zählt - wir sind diejenigen, die nicht zählen!«
Schwer atmend hielt er inne. Verwirrt schauten ihn die beiden Männer an. Marcus rieb sich seinen Arm. Einen Moment erwiderte Archimedes ihre Blicke, dann schaute er wieder auf die Berechnungen zu seinen Füßen hinunter - perfekt und ungelöst. Allmählich verebbte sein Zorn, ihn schauderte. Jedes seiner Worte war wahr, aber das würden und könnten sie nie begreifen. Einen schmerzlichen Augenblick wurde er sich seiner Isolation so bewußt wie schon seit Jahren nicht mehr. Damals war er noch ein kleiner Junge gewesen und hatte zum ersten Mal begriffen, daß der Rest der Welt all die Dinge, die für ihn überragende Wunder waren, nur als reinen Unsinn empfand. Er sehnte sich nach seinem Vater, und dann erinnerte er sich wehmütig an Alexandria, das Haus der Aphrodite, wo es alles gab, was man sich erträumen konnte. Alexandria - der Magnet des Geistes.
»Selbst wenn das stimmt«, sagte Marcus schließlich, »kannst du im Dunklen nicht rechnen.«
Da stöhnte Archimedes vor Verzweiflung leise auf, ließ den zerbrochenen Zweig fallen und ging schweigend fort.
Beim Anblick der großen, schwarzen Gestalt, die mit hochgezogenen Schultern und hängendem Kopf davonschlich, schluckte Straton. »Ist er denn oft so?« fragte er Marcus.
Der Sklave schüttelte den Kopf. »Nein«, erwiderte er benommen, »so habe ich ihn noch nie erlebt. Vermutlich hängt es mit dem Krieg und dem Tod seines Vaters zusammen.«
Erleichtert nickte der Soldat. »Das reicht, um jeden aus der Fassung zu bringen. Du kümmerst dich jetzt wohl besser um ihn. Wir brauchen seine Katapulte, egal, ob er sie für wertlos hält oder nicht.«
Schweigend gingen sie bis zur Tür des Hauses in der Achradina. Dort blieb Archimedes stehen und starrte das abgewetzte Holz mit leerem Blick an. Er hatte nicht die geringste Lust, hineinzugehen. Alles, was seit seiner Rückkehr von Alexandria passiert war, schien in ihm innerlich Gestalt anzunehmen: der Tod seines Vaters, die Gunst des Königs, Delia - alles. Er begriff, daß er unbedingt den König sprechen mußte, und zwar sofort, solange ihn die Wucht seiner Empfindungen gegen Furcht und Respekt wappnete.
»Herr?« sagte Marcus, aber er schüttelte nur den Kopf.
»Sag ihnen, ich gehe zu König Hieron, um mit ihm zu sprechen«, befahl er und drehte sich auf der Ferse um. Noch einmal rief Marcus »Herr!«, aber er achtete nicht darauf und eilte zornig davon.
Es war Nacht. Als er zur Zitadelle kam, war auf den Straßen alles ruhig. Bis auf das Zirpen der Zikaden und das entfernte Meeresrauschen war kein Laut zu hören. Rasch ging er zum Hause des Königs, klopfte entschlossen an die Tür und erklärte dem überraschten Türhüter: »Ich würde gerne König Hieron sprechen.«
Im Schein der Lampe vertieften sich die Schatten auf Agathons Gesicht. Er warf dem Besucher einen Blick zu, der Steine zermalmen konnte. »Es ist schon spät«, sagte er.
»Ich weiß«, antwortete Archimedes, »schau trotzdem nach, ob er mich empfängt.«
Der Türhüter schnaubte ärgerlich und schloß mit einem Kopfnik-ken die Tür. Nur sein Sandalengeklapper auf dem Marmorboden verriet, daß er tatsächlich nachsehen ging, ob sein Herr den Besucher sprechen wollte. Erschöpft lehnte sich Archimedes gegen eine Säule in der Vorhalle und wartete. Bald ging die Tür auf, und der Türhüter schaute heraus. Sein Blick war noch mißbilligender als zuvor. »Er wird dich empfangen«, gestand er widerwillig und winkte Archimedes herein.
Archimedes folgte ihm durchs Haus, am marmornen Vorzimmer vorbei, direkt in den Bankettsaal. Zwei Lampenständer verbreiteten ein starkes, aber weiches Licht, und auf der Tafel standen noch die Reste eines späten Abendessens. Hieron lag, wie es bei einem Essen im Kreise der Familie üblich war, auf seiner Liege, während seine Frau und seine Schwester links und rechts neben ihm auf Stühlen saßen. Unmittelbar hinter der Tür blieb Archimedes stehen und nickte dem König und seiner Familie zur Begrüßung zu. Dann verschränkte er die Arme und rieb sich unbehaglich einen Ellbogen. Er merkte, daß er nur eine einfache, schwarze Tunika voller Staub und Ölflecken anhatte. Nicht gerade die passende Kleidung für ein Königshaus. Außerdem war er müde und überreizt und würde vermutlich etwas Dummes sagen. Delia hatte vor Überraschung die Augen aufgerissen. Er versuchte, nicht daran zu denken, wie er sie das letzte Mal gesehen hatte: vom Küssen und vom Flötenspiel erhitzt, hatte sie lachend ihr Mundband abgenommen. Sie hatte ihn gewarnt, aber dann hatte sie versucht, ihre Warnung wieder zurückzunehmen. Wer weiß, wie weit man ihr trauen konnte? Die Königin neben ihr schaute fast so mißbilligend drein wie der Türhüter.
»Gute Gesundheit!« sagte der König lächelnd. »Möchtest du dich nicht setzen und einen Becher Wein trinken?«
Archimedes schlich zur nächsten Liege und setzte sich. Sofort füllte einer der Sklaven einen Becher mit Wein und Wasser und stellte ihn vor ihn hin.
»Weshalb wolltest du mich sprechen?« fragte Hieron.
Archimedes räusperte sich. Seine Augen hingen am König. »Was willst du von mir?« fragte er leise.
Hierons strahlende Miene verschwand, er setzte sich auf, nahm die Beine von der Liege und betrachtete Archimedes abschätzend. Dann erwiderte er gleichmütig: »Du weißt, daß du außergewöhnlich bist.«
Genau wie Delia gesagt hatte. Archimedes nickte rasch, einmal.
»Was, glaubst du, will ein König von einem außerordentlichen Ingenieur?« fragte Hieron mit erhobenen Augenbrauen.
Erneut war Archimedes sprachlos. Er schaute ihn längere Zeit an, dann wandte er den Blick ab und betrachtete vor sich den Tisch. »Ich habe eine. Analysemethode«, sagte er, »eine Art, über geometrische Probleme rein mechanisch nachzudenken. Sie liefert zwar keine Beweise, hilft mir aber, die Eigenschaften der Dinge zu verstehen. Ich stelle mir zweidimensionale Figuren als Gebilde aus einer Reihe von Linien vor, und dann prüfe ich, ob sie sich entsprechen. Die Art und Weise, wie ein König einen außergewöhnlichen Ingenieur behandelt - das hat ein bißchen Ähnlichkeit damit. Mal angenommen, ich stelle mir das Ganze als Dreieck vor, dann ähnelt die Art, wie du mich behandelt hast, mehr einer Parabel mit derselben Grundlinie und Höhe. Und diese beiden entsprechen einander nicht.«
»Tun sie nicht?« fragte Hieron.
»Nein«, sagte Archimedes, tauchte einen Finger in den Weinbecher und zeichnete sorgfältig eine Parabel auf die Tischfläche - eine große, gebogene Kurve. Sofort war klar, daß die beiden Figuren tatsächlich nicht einander entsprachen. Archimedes blickte hoch und dem König direkt in die Augen. »Die Parabelfläche ist um vier Drittel größer als das Dreieck«, sagte er. »Die Lösung stammt von mir persönlich.«
Hieron reckte den Hals, um besser sehen zu können. Der fragende Blick war wieder da. »Magst du es nicht, wenn du ein Drittel mehr bekommst als erwartet?«
Archimedes machte eine kleine, abweisende Handbewegung. »Ich will einfach nur verstehen, womit ich mich beschäftige. Parabeln haben grundsätzlich andere Eigenschaften als Dreiecke.«
»Unterstellst du meinem Mann Betrug?« mischte sich die Königin wütend ein. »Und das nach all der Freundlichkeit, die er dir erwiesen hat? Was.«
Hieron hob die Hand. Sie hielt inne. Einen Augenblick schauten sich Mann und Frau an, dann seufzte Philistis, stand auf, ging zu ihrem Mann und strich ihm zärtlich die Haare zurück. »Laß dich nicht von ihm aufregen«, riet sie ihm.
Hieron lächelte liebevoll und nickte. Sie küßte ihn und rauschte aus dem Zimmer.
Delia bohrte sich noch tiefer in ihren Stuhl und redete sich heftig ein, daß sie hier etwas zu suchen hatte, selbst wenn Hieron den Grund dafür nicht kannte. Auch sie hatte hier ein legitimes Interesse. Mit einem ironischen Seitenblick machte ihr Hieron klar, daß er es wohl bemerkt hatte, gab aber keinen Kommentar dazu ab. Schweigend wanderte sein Blick wieder zu Archimedes zurück. Mit einer Handbewegung hieß er ihn fortfahren.
»Du hast mich damals um diese Vorführung gebeten«, sagte Archimedes. »Und du hast auch dafür gesorgt, daß sie am Marktplatz angekündigt wurde, stimmt’s?«
Hieron nickte kurz.
»Alle haben gejubelt, als es funktioniert hat«, fuhr Archimedes langsam fort, »und seither ist alles anders geworden. Zuerst habe ich nicht darauf geachtet, aber es war so. Man hatte mich gewarnt«, meinte er ohne einen Blick auf Delia, »daß ich im Falle eines gelungenen Experimentes vorsichtiger sein müßte als beim Scheitern, aber ich habe es nicht verstanden. Ich dachte, es würde sich auf den Vertrag beziehen, aber - ich habe gar keinen bekommen. Inzwischen wissen alle Leute, wer ich bin. Das ist das einzige, was passiert ist. Wenn ich etwas tun will, kommen sie mir schleunigst zu Hilfe. Unbekannte Leute rufen mich bei einem Spitznamen, den du mir gegeben hast. Jeder weiß, was du bei der Totenwache meines Vaters zu mir gesagt hast und weshalb du sein Begräbnis übernommen hast -aus Respekt vor mir. Alle wissen auch, daß das erste Katapult, das ich gemacht habe, deiner Meinung nach tausend Drachmen wert ist, obwohl mir das dein Diener nur unter vier Augen mitgeteilt hatte. Du hast alles getan, damit ich berühmt werde, ja? Als Ingenieur, als. Obermechaniker.«
»Das wärst du sowieso geworden«, sagte Hieron, »über kurz oder lang.«
»Du hast dafür gesorgt, daß es sofort geschehen ist«, antwortete Archimedes. »Und außerdem hast du dafür gesorgt, daß Eudaimon tut, was ich sage, und Kallippos meinem Rat folgt. Obwohl beide, im Gegensatz zu mir, feste Positionen und Verträge mit der Stadt haben, habe ich irgendwie einen höheren Rang als sie. Auf dieselbe Art hast du auch versucht, mir Geld zu geben - einen Extrabonus für etwas nicht näher Definiertes. Etwas, das nicht von der Stadt kommt und mir trotzdem gehört, weil ich ein großer Ingenieur bin. Dabei habe ich mich nie freiwillig entschieden, ein großer Ingenieur zu sein. Diesen Zustand hast du, genau wie den Ruhm, bewußt gesteuert.«
»Schön und gut«, sagte Hieron mit völlig neutraler Stimme, »du hast das alles gemerkt. Was glaubst du denn, was ich von dir will?«
Archimedes blinzelte ihn eine lange Minute an, dann sagte er bedächtig: »Meiner Meinung nach willst du von mir nur das, was jeder König von einem außerordentlichen Ingenieur haben will. Aber aus irgendeinem Grund glaubst du nicht, daß ich es dir geben werde, also versuchst du, mich in einen Raum zu. zu manövrieren, zu dem nur du den Schlüssel hast. Und wenn ich drin bin, wirst du die Tür hinter mir absperren, und ich werde nie wieder herauskönnen.«
Wieder schaute ihn der König eine Weile an, dann schüttelte er den Kopf und stieß einen langen Seufzer aus. Ein Zeichen seiner Zustimmung und seiner Abscheu. »Ach, beim Zeus!« rief er. »Ich hab’s vermasselt, stimmt’s? Ich hätte wissen müssen, daß du intelligenter bist als ich.« Er rückte auf seiner Liege nach vorne und schlug auf den Tisch. »Aber schau mal, ich kann dich nicht irgendwo einsperren, weil es - leider! - keinen Raum gibt, zu dem nur ich den Schlüssel habe. Deine Parabel hat dieselbe Grundlinie und Höhe wie dein hübsches, einfaches Dreieck. Ich will nur das, was jeder König von einem Ingenieur haben möchte: daß du Dinge für mich baust. Und als Gegenleistung kann ich dir nur das bieten, was Könige geben können: Geld und Ansehen.«
Archimedes hatte vor Wut rote Wangen bekommen. »Du hast mir diesen >Obermechaniker< wie ein Buchschild angehängt! Wenn ich in einem Jahr oder so versuchen würde, zu behaupten, daß ich in Wirklichkeit Mathematiker bin, würden mich alle nur auslachen und sagen, ich soll mal schön bei meiner richtigen Arbeit bleiben. Meine eigene Familie würde den Abakus vor mir verstecken, obwohl ich meinem Vater auf seinem Totenbett geschworen habe, daß ich die Mathematik nie aufgeben werde. Aber du.«
»Nein!« rief Hieron beschwörend. »Die Götter mögen mich vernichten, wenn das mein Plan gewesen ist! Ich weiß, daß du nur Maschinen baust, um das Geld für deine mathematischen Übungen zu bekommen. Und das ist auch der Hauptgrund, warum ich dir keinen Vertrag angeboten habe. Ich möchte dir die Freiheit lassen, genau dies zu tun.«
»Und was steckt dann hinter all deinen Plänen?« wollte Archimedes wissen.
»Dich in Syrakus zu halten! Falls dir Ptolemaios von Ägypten eine Stelle im Museion anbietet, dann wollte ich dafür sorgen, daß dich jeder, den du kennst - angefangen von deinem eigenen Haushalt bis zum Gemüsehändler -, anfleht, daß du auf keinen Fall annehmen darfst. Daß es Verrat an deiner Geburtsstadt wäre, wenn du Syrakus verläßt. Wenn ich wirklich Erfolg gehabt hätte, hättest du nicht einmal ein syrakusisches Schiff gefunden, das dich freiwillig nach Alexandria gebracht hätte. Und dann hättest du bleiben müssen, zutiefst beschämt. Aber ich schwöre bei allen Göttern, daß ich dir ansonsten nur Reichtum und Ehre zugedacht habe. Momentan bist du empört, weil du mitansehen mußtest, was Katapulte Menschen antun können, und das verstehe ich sogar. Wirklich! Auch ich hasse das Töten! Aber wenn du dich wieder beruhigt hast und dann darüber nachdenkst, wirst du einsehen, daß dich keine meiner Handlungen dazu verpflichten wird, die Mathematik aufzugeben. Keine! Mit dem Feind vor unseren Toren kennen alle nur einen einzigen Gedanken -Krieg. Aber ich bete zu allen Göttern, daß wir bald wieder Frieden haben, und dann wird auch Platz für schönere Dinge sein.«
Archimedes blinzelte ihn lange Zeit an. »Warum bist du dir so sicher, daß mir Ptolemaios eine Stelle anbieten wird?« fragte er schließlich. »Er hat doch schon ein paar sehr schlaue Leute in Alexandria!«
»Er wird dich genau aus denselben Gründen wollen wie ich!« meinte Hieron ungeduldig. »Meiner Meinung nach kannst du noch gar nicht einschätzen, wie außergewöhnlich du wirklich bist. Du glaubst, kombinierte Flaschenzüge und Hebeschrauben sind Sachen, die jeder zur Lösung der technischen Probleme benutzt hätte, mit denen du konfrontiert warst. Und sie sind es ja auch - jetzt. Jetzt scheint das für alle die logischste Sache der Welt zu sein. Aber letzten Monat war es anders, weil man diese Dinge noch nicht erfunden hatte.«
»Aber - Flaschenzüge werden doch ständig benutzt!« protestierte Archimedes. »Und Schrauben hat man seit Urzeiten verwendet, um Dinge unten zu halten.«
»Also ist es völlig natürlich, daß man einen Flaschenzug zum Antreiben eines zweiten benutzt? Und eine Schraube, um etwas in die Höhe zu heben? Sicher, aber niemand hat es getan. Nur einer, der mit dem theoretischen Problem von Schrauben und Flaschenzügen glücklicher ist als mit den Objekten selbst, war in der Lage, sie derart anzupassen. Du näherst dich der Technik über die Mathematik - und vermutlich ist Mathematik das gewaltigste Spielzeug, mit dem sich der menschliche Verstand je beschäftigt hat. Das war mir bereits klar, noch ehe ich von dir gehört hatte. Und als ich von dir erfuhr, vermutete ich sofort, daß du dich als etwas Außergewöhnliches entpuppen würdest. Ptolemaios hatte Euklid als Hauslehrer, er kennt den wahren Wert von Geometrie noch besser als ich. Vermutlich hat er dir nur deshalb bisher noch keine Stelle angeboten, weil die Probleme, an denen du in Ägypten gearbeitet hast, ihrer Zeit derart weit voraus sind, daß nur ein halbes Dutzend Männer auf der Welt in der Lage waren, sie zu begreifen. Zufälligerweise gehörte der Leiter des ptolemäischen Museions nicht zu diesem halben Dutzend. Aber wenn du nicht hierhergekommen wärest, hätte man dir im Laufe dieses Sommers wahrscheinlich sowieso eine Stelle angeboten. Inzwischen hat sich dein Ruf auch in Ägypten herumgesprochen, auch wenn es eine kleine Weile gedauert hat. Kürzlich habe ich mich mit dem Kapitän eines Schiffes unterhalten. Er hat mir von einem Bewässerungsapparat erzählt, den ein gewisser Archimedes von Syrakus erfunden haben soll. Damit kann Wasser bergauf fließen.«
»Nicht ganz«, murmelte Archimedes, »man muß es drehen.«
Völlig verblüfft saß er einen Augenblick da und dachte darüber nach, was ihm Hieron soeben erzählt hatte. Die undurchdringlichen Mauern, von denen er sich eingeschlossen gefühlt hatte, waren in Wirklichkeit doch nur so niedrig, daß man sie überspringen konnte. Er verfügte über eine Macht, die ihm nicht nur Reichtum und die Gunst der Könige verschaffen konnte, sondern auch die Freiheit. Das Meer lag offen vor ihm, und es war allein seine Entscheidung, wohin der Kurs ging!
Sein Blick wanderte zu Hieron zurück. Er brachte ein unsicheres Lächeln zustande. »Danke, daß du mir das erzählt hast«, sagte er.
»Das hätte ich nicht«, antwortete der König verdrossen, »wenn du es nicht binnen kurzem selbst herausgefunden hättest. Ich will dich immer noch behalten. Das Museion kann ich dir nicht bieten, aber sonst steht dir alles zur Verfügung, was du dir auch von Ägypten versprechen würdest.«
Archimedes grinste, hob seinen Weinbecher hoch und trank ihn durstig in einem Zug leer. Dann stand er auf. »Ich werde es mir merken.«
»Tu das!« sagte Hieron scharf. »Und merke dir auch das noch: Wenn sich Alexandria die besten Köpfe aus der ganzen Welt nimmt, dann verarmt der Rest der Welt. Syrakus ist deine eigene Stadt, eine große und wunderschöne Stadt, die die Liebe all ihrer Kinder in jeder Hinsicht verdient.«
Archimedes zögerte und betrachtete den König neugierig. Dann antwortete er impulsiv: »Diese Berechnung von Parabel- und Dreiecksflächen - mich hat dabei die Parabel interessiert, nicht das Dreieck.«
Zum ersten Mal blieb Hieron die Sprache weg. Er konnte Archimedes nur noch unverblümt und erstaunt anstarren.
Wieder grinste Archimedes. Zum ersten Mal, seit er den Raum betreten hatte, wanderten seine Augen kurz zu Delia hinüber. Es war ein Blick, als ob er mit ihr einen Scherz teilen wollte. »Ich wünsche euch einen schönen Tag«, sagte er zu ihnen und stolzierte aus dem Raum.
Am nächsten Morgen brach Archimedes zur gewohnten Zeit in die Katapultwerkstatt auf. Er wirkte müde, aber entschlossen. Marcus sah ihn gehen, dann ging er selbst leise zum Haus hinaus und begab sich in die entgegengesetzte Richtung, zum Athener Steinbruch.
Sämtliche Steinbrüche von Syrakus lagen innerhalb der Stadtmauer. Das Epipolae-Plateau bestand hauptsächlich aus Kalkstein. Wie eine große Trockeninsel lag es auf der Felsküste. Nach Süden, zur Stadt zu, fiel es in steilen Klippen ab. Hier hatten die Syrakuser eine Reihe von Steinbrüchen für ihre Bauvorhaben angelegt. Der athenische war der berühmteste davon. Sein Name stammte noch aus der Zeit vor hundertfünfzig Jahren, als man ihn als Gefängnis für siebentausend athenische Kriegsgefangene benutzt hatte. Hier hatte der Versuch der Stadt Athen, Sizilien zu unterwerfen, sein verheerendes Ende gefunden. In diesen Kalksteinmauern mußten die Athener ein grauenvolles Schicksal erdulden. In einer engen Grube waren die Lebenden mit den Toten zusammengepfercht. Viele starben damals, und noch immer lagen ihre Skelette unter dem Steinbruch begraben.
Aber heute merkte man diesem Ort rein äußerlich nichts mehr von seiner schrecklichen Vergangenheit an. Soeben ging die Morgensonne über den vorspringenden Klippen auf und warf lange, kühle Schatten über die Steinbruchwände hinunter. Ein dichtes Gestrüpp aus Zistrosen und Wacholder bedeckte den felsigen Boden mit einem süß duftenden, grünen Dach. Allerdings riegelte eine Mauer den Zugang zum Steinbruch ab, und das einzige Tor war bewacht. Mutig marschierte Marcus zum Tor hinauf und wünschte den Wachsoldaten einen guten Tag.
Mißtrauisch musterte ihn die Wache, die aus sechs Soldaten bestand. »Was willst du, mein Freund?« fragte ihr Anführer.
»Ich bin der Sklave von Archimedes, dem Sohn des Phidias«, antwortete Marcus und merkte, wie sehr sich das Interesse verstärkt hatte, als der bekannte Name fiel. »Er will, daß ich die Steinbrüche prüfe, welcher die beste Katapultmunition liefern kann.«
Bei dieser Bemerkung schwand auch der letzte Funken Mißtrauen. »Baut er denn einen Drei-Talenter?« fragte der jüngste Soldat eifrig.
»Heute morgen fängt er damit an«, antwortete Marcus, »vermutlich wird er in sechs bis sieben Tagen fertig sein.«
»Beim Zeus! Ein Drei-Talenter!« rief der junge Wachsoldat glücklich. »Mehr als Ein-Mann-Lebendgewicht! Stell dir vor, wenn dich so was trifft!«
Marcus zwang sich, zurückzugrinsen. »Sie werden ihn >Schönen Gruß< nennen«, sagte er.
Die ganze Wachtruppe lachte und machte sich gegenseitig auf die Namen der beiden anderen neuen Katapulte auf dem Hexapylon aufmerksam. In Erinnerung daran, wie gut die Katapulte funktioniert hatten, führten sie wahre Luftkämpfe auf.
»Aber warum möchte der Obermechaniker, daß du die Steinbrüche prüfst?« fragte der oberste Wachsoldat, diesmal nicht argwöhnisch, sondern ehrlich verblüfft.
»Denk doch mal nach«, sagte Marcus. »Steine für ein DreißigPfund-Geschoß gibt’s überall, aber ein Drei-Talenter ist schon ein mächtiges Stück Felsen. Wenn der nicht in Ordnung oder uneben ist, dann fliegt er vielleicht nicht gerade. Deshalb hat mich Archimedes beauftragt, zu allen Steinbrüchen hinauszugehen und zu prüfen, welche Stücke am besten für die Munition geeignet sind, die er braucht.« Er grub in seinem Ledersack herum, den er bei sich trug, und holte Hammer und Meißel heraus. »Außerdem hat er mir aufgetragen, ich soll ihm noch mehrere Proben mitbringen.«
Der Anführer der Wache nahm Hammer und Meißel und betrachtete sie nachdenklich. Marcus wartete. Er versuchte, sich nichts anmerken zu lassen und auch nicht an das zu denken, was er jetzt oder demnächst vorhatte. Falls man Archimedes diesen Besuch hintertragen würde, hätte er schon genug Schwierigkeiten, allerdings nicht so viele, wie wenn er weiterhin hierblieb.
»Das kann ich dich nicht mit hineinnehmen lassen«, meinte der Anführer bedauernd. »Wir haben hier im Steinbruch römische Gefangene. Ich kann nicht riskieren, daß ihnen so etwas in die Hände fällt.«
»Römer?« fragte Marcus. Die innere Anspannung ließ seine Stimme gepreßt klingen, was man genausogut als Überraschung werten konnte. »Hier? Nun, das Unglück möge sie treffen!«
»Du bist Italiener, oder?« fragte der Anführer.
»Samnite«, bejahte Marcus. »Und wegen Rom ein Sklave. Aber seit dreizehn Jahren schon Syrakuser. Was hat denn der König mit diesen Römern vor?«
Die Wachsoldaten zuckten die Schultern. »Er möchte sie für irgend etwas«, sagte ihr Anführer. »Sie bekommen das beste Essen, und der Leibarzt des Königs versorgt ihre Verwundeten. Eben jetzt ist er sogar da.«
»Mit eigener Wache?« fragte Marcus.
»Natürlich!« rief der junge Wachsoldat. Die Vorstellung, daß sich der Leibarzt des Königs ohne Begleitschutz unter Feinden bewegen könnte, hatte ihn zutiefst schockiert. »Wir sind hier draußen insgesamt eine halbe Schlachtreihe.«
Marcus grunzte. »Nun, sei’s drum, das Unglück möge die Römer trotzdem treffen!« meinte er. »Kann ich hinein und den Steinbruch überprüfen, selbst wenn ich keine Proben entnehmen kann? Vielleicht kann ich ja auch vom bloßen Anschauen entscheiden, daß der Stein hier nicht für das Katapult meines Herrn geeignet ist.«
»Na klar«, sagte der Anführer der Wache lächelnd, »dein Herr verdient jede Hilfe, die wir seinen Katapulten geben können. Viel Glück für ihn!« Mit einer Handbewegung wies er seine Männer an, das Tor zu öffnen.
Der jüngste Wachsoldat begleitete Marcus in den Steinbruch. Der östliche Teil lag noch immer im Schatten, aber die Morgensonne schien bereits warm auf ein großes, leeres Steinfeld. »Wo sind denn die Römer?« fragte Marcus.
Der Wachsoldat deutete auf die Nordseite des Felsabbruchs, wo sich unter einem Überhang mehrere Hütten duckten. »Dort drinnen«, sagte er angewidert. »Hübsch bequem und nicht in der Sonne.«
Marcus prüfte die Hütten. Insgesamt waren es drei, drei langgestreckte, niedrige, fensterlose Gebäude. Vermutlich hatte man sie als Behausung für Sklavenarbeiter errichtet, als der Steinbruch noch in Betrieb war. An den Türen konnte er jeweils Wachsoldaten erkennen. »Ihr habt aber nur zwei Mann für jede Hütte!« wandte er ein.
»Mehr braucht’s auch nicht«, antwortete der Wachsoldat. »Die meisten Römer sind verwundet, und dem Rest haben wir Fußeisen angelegt. Die Männer bei den Hütten müssen lediglich die Gefangenen herauslassen, wenn sie die Latrinen benutzen wollen. Ich werde ihnen mal erzählen, wer du bist, dann kannst du dich ungestört hier umsehen.« Mit knirschenden Schritten entfernte er sich, um den übrigen Wachsoldaten die Anwesenheit von Marcus zu erklären.
Langsam arbeitete sich Marcus auf dem Steinbruchgelände vorwärts, wobei er immer wieder betont auffällig die Bruchsteinhaufen untersuchte und gelegentlich einen Kalksteinbrocken aufhob und in seinem Sack verstaute. Als er endlich in die Nähe der Hütten kam, sah er zu seiner Erleichterung den Leibarzt des Königs in Begleitung von drei Wachen aus der nächsten Hütte kommen.
Der Arzt sah und erkannte ihn und kam herüber, um sich zu erkundigen, was er denn hier mache. Marcus erklärte es ihm. Da seufz-te der Arzt und schüttelte traurig den Kopf. »Manchmal wünsche ich mir, daß man die Katapulte nie erfunden hätte!« rief er. »Diese schrecklichen Verletzungen - aber schließlich ist’s zum Wohle der Stadt. Ich wünsche dir einen schönen Tag!«
Marcus wartete, bis der Mann ein gutes Stück vom Weg zum Tor zurückgelegt hatte, dann ging er langsam zur Hütte hinauf. Die Wachen standen am anderen Ende und beachteten ihn nicht. Trotzdem hatte sich sein Magen so verkrampft, daß er dachte, er müsse sich übergeben. Als er die Holzwand erreicht hatte, lehnte er sich zitternd dagegen. Zwischen den rauhen Brettern war ein Spalt. Er preßte ein Auge dagegen und starrte hinein.
Lediglich durch die vielen Löcher in den unebenen Wänden drang Licht hinein, und so dauerte es eine Weile, bis sich seine Augen daran gewöhnt hatten. Die Hütte hatte einen offenen Lehmboden. Im Winter wäre es sicher kalt und zugig gewesen, aber für einen syraku-sischen Sommer war es ganz angenehm. Drinnen befanden sich ungefähr dreißig Männer. Einige lagen ganz still auf ebenerdigen Strohmatratzen, während die anderen mit ihren Fußfesseln in kleinen Gruppen zusammenhockten und redeten oder Würfel spielten. Leise zwängte sich Marcus zwischen dem Felsen und der Rückseite der Hütte hindurch. Um sich auch weiter im Halbdunkel orientieren zu können, schirmte er seine Augen gegen das Licht ab und musterte nacheinander jeden Gefangenen. Aber schon bald stand fest, daß Gaius nicht darunter war.
Er wartete, bis beide Wachen an der Hüttentür das Gesicht dem Gebäude zugedreht hatten und die Gefangenen beobachteten, dann schlich er hinter der ersten Hüttenwand hervor und kroch zur nächsten hinüber. Wieder fand er eine Lücke zwischen den Brettern und starrte hindurch.
Sein Blick fiel sofort auf Gaius. Er lag ungefähr auf der halben Längsseite der Hütte, auf der sich auch Marcus aufhielt, rücklings auf einer Matratze und hatte den verletzten Arm über die Brust gelegt. Geräuschlos schlich Marcus an der Hüttenwand entlang zu seinem Bruder hin. Auf der entgegengesetzten Seite standen die Wachen an der Tür und redeten. Er konnte sie hören. Seine Haut prickelte vor Anspannung. Er redete sich ein, daß er ihnen selbst für den Fall des Entdecktwerdens immer noch erklären könnte, warum er hier war. Er war einfach neugierig und wollte die Gefangenen sehen. Trotzdem prickelte seine Haut, denn im Grunde genommen fürchtete er sich nicht so sehr vor den Wachen.
Als er bei Gaius angelangt war, kniete er sich schweigend mehrere Minuten lang hin und beobachtete ihn durch einen Spalt. Nur wenige Zentimeter und ein dünnes Brett trennte sie. Gaius war wach und starrte mit offenen Augen an die dunkle Decke. Er hatte die Tunika um die Taille gelöst und die Brust verbunden.
Marcus klopfte leicht an die Wand. Langsam drehte Gaius den Kopf. Ihre Blicke trafen sich.
Gaius setzte sich auf, stützte sich gegen die Wand und versuchte, mehr von seinem Bruder zu sehen, als durch den Spalt zu erkennen war. »Marcus?« flüsterte er. »Bist du’s wirklich?«
»Ja«, flüsterte Marcus. Das latinische Wort sie hinterließ einen fremden Nachgeschmack in seinem Mund. Lange Zeit hatte er Latein nur noch in seinen Träumen gesprochen. Jetzt sprach er es laut und kam sich vor, als ob er immer noch träume.
»Marcus!« wiederholte Gaius. »Ich dachte, du bist tot. Ich dachte, du bist bei Asculum gestorben!« Der Mann links von Gaius schlief noch immer, deshalb hob sein Nachbar zur Rechten beim Klang der lauteren Stimme den Kopf.
»Leise!« zischte Marcus. »Schau mich nicht an, die Wachen könnten es merken. Setz dich mit dem Rücken zu mir und sprich ganz leise. Gut so. Also, ich habe dir ein paar Sachen mitgebracht.«
»Was machst du hier?« flüsterte Gaius, der steif an der Wand hockte und seinem Bruder den Rücken zudrehte. »Wieso lebst du noch?«
»Ich bin ein Sklave«, antwortete Marcus offen. Ihm fiel auf, daß der Mann rechts neben Gaius immer noch lauschte. Genau wie Gaius schaute er zwar nicht her, aber aus seinem Gesichtsausdruck konnte man erkennen, daß er ganz genau zuhörte. Er war hager, schmal und dunkel und hatte etwas Gefährliches an sich. Bis auf seinen Kopfverband schien er unverletzt zu sein. Seine Füße waren mit Eisen gefesselt.
»Wie?« wollte Gaius im wütenden Flüsterton wissen. »Niemand wurde bei Asculum versklavt! König Pyrrhus hat alle Gefangenen ohne Lösegeld zurückgegeben.«
»Alle römischen Gefangenen hat er zurückgegeben«, verbesserte ihn Marcus. »Die übrigen Italiener wurden für ein Lösegeld angeboten, und wenn es niemand aufgebracht hat, wurden sie verkauft. Damals wurden mehrere tausend Menschen versklavt, Gaius, und nicht >niemand<, das kannst du.« Er merkte, daß er sich nicht mehr an das latinische Wort für >drehen und wenden< erinnerte. Verlegen brach er ab.
»Keine Römer!« betonte Gaius nochmals wütend.
»Zumindestens einer«, sagte Marcus bitter. »Gaius, sei nicht dumm. Wenn dir schon keiner erzählt hat, was passiert ist, dann mußt du es dir doch gedacht haben. Ich bin während der Schlacht von meinem Posten desertiert. Ich hatte entsetzliche Angst, und da bin ich einfach gerannt.«
Gaius zuckte schmerzhaft zusammen. Römer desertierten nicht. Ein Römer, der so etwas tat, würde von seinen Kameraden zu Tode geprügelt. Bei Asculum hatten die Römer den bitteren Geschmack der Niederlage aus den Händen von König Pyrrhus von Epirus kennenlernen müssen. Aber selbst hier hatte sich der Großteil der römischen Truppen so sehr vor dieser Strafe gefürchtet, daß sie bis zum Tode Widerstand geleistet hatten. Pyrrhus hatte seinen Sieg so teuer bezahlen müssen, daß er ihn letztlich den gesamten Feldzug gekostet hatte.
»Unser Karree ist zerbrochen«, sagte Marcus ohne Beschönigung, »die meisten Männer starben. Mir war klar, daß mich die Überlebenden auf alle Fälle zu den Deserteuren rechnen würden. Also habe ich nach der Schlacht gesagt, ich sei nur ein Verbündeter oder ein Sabiner oder Marser, egal was, nur kein Römer. Man hat mich nicht zurückgegeben, und natürlich hat niemand Lösegeld für mich bezahlt. Man hat mich an einen Kampaner verkauft, der dem Krieg wie ein Geier gefolgt war und die Überreste aufpickte. Der hat mich dann hier in Syrakus an einen Bürger verkauft.«
»Oh, ihr Götter und Göttinnen!« flüsterte Gaius.
»Es war meine eigene Wahl«, sagte Marcus mit rauher Stimme. »Ich wollte leben.«
Lange Zeit herrschte Schweigen. Ein unglückliches Schweigen, das die schlimmsten Befürchtungen, die sich Marcus im voraus ausgemalt hatte, voll und ganz bestätigte. Er hatte das Leben als Sklave dem Tod als Römer vorgezogen, und dafür gab es weder Mitleid noch eine Entschuldigung.
»Wie steht’s zu Hause?« fragte er schließlich.
»Mutter ist vor acht Jahren gestorben«, sagte Gaius. »Valeria hat Lucius Hortensius geheiratet und hat drei Töchter. Der Alte ist immer noch für den Hof verantwortlich, obwohPs seiner Lunge nicht gutgeht.« Er zögerte, dann fügte er leise hinzu: »Ich werde ihm nicht erzählen, daß du noch lebst.«
Wieder trat Stille ein. Marcus dachte an seine tote Mutter, an die verheiratete Schwester und an seinen Vater. Sein Vater würde diese Schande nicht erfahren. Gut, gut, gut. Schon beim bloßen Gedanken an die Wut des Alten zuckte er innerlich zusammen. Lieber wäre es ihm gewesen, wenn sein Vater tot wäre. Dann hätte er zu seiner Mutter zurückgehen können. Gleichzeitig schämte er sich dieses Gedankens.
»Danke«, sagte er schließlich. »Ich bin gekommen, um dir zu helfen. Ich habe dir ein paar Sachen mitgebracht.«
»Kannst du mir helfen, daß ich hier herauskomme?«
Genau diesen Satz hatte Marcus von seinem Bruder erwartet. Er seufzte. »Gaius, hier drinnen bist du besser dran! Der König«, er benützte den griechischen Titel, »wollte unbedingt Gefangene. Das heißt, er möchte sie gegen irgend etwas austauschen. Wenn du hier bleibst, bist du bis zum Austausch in Sicherheit. Außerdem hast du doch einen gebrochenen Arm, oder?«
»Arm und Schlüsselbein«, erklärte Gaius kategorisch. »Und noch drei Rippen. Kannst du mir bei der Flucht helfen?«
»War’s ein Katapult?« fragte Marcus unglücklich. Irgendwie schien es lächerlich, daß er unbedingt wissen wollte, ob das Gerät seines eigenen Herrn seinen eigenen Bruder verwundet hatte.
»Ja natürlich«, antwortete Gaius ungeduldig. »Mögen es die Götter vernichten!«
»Wie groß war das Geschoß?«
Gaius wollte sich schon umdrehen, da fiel ihm ein, daß er das nicht tun sollte. Statt dessen lehnte er wieder den Kopf gegen die Wand. »Marcus, ich habe nur gemerkt, daß es mich erwischt hat! Ringsherum hat es Katapultsteine gehagelt, darunter auch ein paar riesige. Wieso ist das wichtig?«
Marcus gab keine Antwort. »Ich habe dir ein bißchen Geld mitgebracht«, sagte er statt dessen. »Wenn du die linke Hand nach oben an den Spalt legst, schieb ich’s durch. Für ein Handgeld besorgen dir die Wachen vielleicht etwas. Es sind dreiundzwanzig Drachmen!«
»Dreiundzwanzig!« rief Gaius mit erstickter Stimme. »Wie hast du das - Marcus, dein Herr wird merken, daß etwas fehlt!«
Plötzlich fiel Marcus wieder ein, wie rar Silbermünzen in Rom waren. Schockiert erinnerte er sich daran, wie seine Familie fast alles eintauschen und für den Rest einzig und allein das schwere Bronzegeld verwenden mußte. Mit sechzehn Jahren wären ihm dreiundzwanzig Drachmen wie ein Vermögen vorgekommen . Offensichtlich war es bei Gaius immer noch so.
»Das Geld gehört mir«, sagte Marcus. »Bisher habe ich noch nie gestohlen, aber um dir zu helfen, würde ich sogar das tun. Es ist nicht so viel, wie du denkst - ein Monatslohn für einen Soldaten. Aber vielleicht doch ganz nützlich.«
Gaius legte die Hand an den Spalt, und Marcus steckte die Münzen einzeln durch. »Was sind das für welche?« flüsterte Gaius, als er das Silber in seine offene Hand fallen sah. »Sie sehen so. fremd aus.«
»Es sind ägyptische«, antwortete Marcus. »Wir waren ein paar Jahre in Alexandria. Keine Angst, sie wiegen genausoviel wie syrakusische. Die Leute hier werden sie akzeptieren.«
Gaius starrte wortlos das Silber an. Wieder mußte Marcus an eine Zeit denken, als für ihn Alexandria so weit weg gewesen war wie der Mond. Aber das hatte sich schon vor seinem Besuch dort geändert. In Syrakus begegnete man Schiffen aus der ganzen, griechischsprachigen Welt. Selbst er hatte sich längst an die Idee des Reisens gewöhnt, bevor er selbst verreist war. Aber in Mittelitalien waren die Menschen nicht viel gereist. Bis auf die Zeit in der Armee war Gaius noch nie fort gewesen. Er hatte sich während des Pyrrhuskrieges zu den Legionen gemeldet und war danach vermutlich wieder auf den Bauernhof der Familie zurückgekehrt. Dann hatte er sich erneut für den Sizilienfeldzug eingeschrieben. Seine verwirrten, aufgewühlten Gefühle machten Marcus zu schaffen. Schließlich war es ganz und gar nicht in Ordnung, daß er sich seinem älteren Bruder überlegen fühlte, er, ein Sklave und ein Feigling.
»Ich habe hier auch noch eine Säge und ein Messer«, sagte er. Die innere Verwirrung verlieh seiner Stimme einen barschen Unterton. »Und ein Seil. Aber das lasse ich besser hier draußen liegen. Wenn du die Sachen haben möchtest, werde ich sie verstecken.« Im Grunde genommen wollte er seinem Bruder gar nicht zur Flucht verhelfen. Er war hier am besten aufgehoben, davon war er ehrlich überzeugt. Und doch konnte er sich auch irren. Vielleicht würde man die Gefangenen doch noch hinrichten, oder eine aufgebrachte Syrakuser-meute würde sie wegen irgendwelcher römischen Grausamkeiten ermorden.
»Wie bist du hier hereingekommen?« fragte Gaius. »Wie hast du die Wachen dazu gebracht, daß du Säge und Seil mitbringen durftest?«
»Sie wußten nicht, was ich dabei hatte«, antwortete Marcus. »Nur meinen Hammer und den Meißel haben sie mir abgenommen. Ich habe ihnen erzählt, es wäre ein Auftrag meines Herrn, und weil sie meinen Herrn kennen, haben sie mich durchgelassen. Außerdem habe ich ihnen erzählt, ich sei Samnite, damit sie mich nicht verdächtigen, ich wolle helfen. Jetzt hör mal zu. Wenn du mich brauchst, kann ich mir einen neuen Auftrag ausdenken und wiederkommen, aber wenn ich das zu oft mache, wird irgendeiner mal mißtrauisch werden. Und deshalb wär’s besser, wenn ich nicht so schnell wiederkomme. Ich muß es jetzt wissen: Wirst du einen Fluchtversuch unternehmen?«
»Kannst du die Säge hereinreichen?« warf der Mann rechts von Gaius ein.
»Wer bist du?« wollte Marcus wissen.
»Quintus Fabius«, antwortete der andere, »ein Freund und Zeltkamerad deines Bruders. Ohne Hilfe wird er’s nicht schaffen, hinauszukommen.«
»Wenn ihr bleibt, wo ihr seid, seid ihr sicherer!« warnte Marcus.
»Wenn wir können, werden wir uns davonmachen«, sagte Gaius. »Ich habe nicht die geringste Lust, herauszufinden, weshalb der Tyrann von Syrakus Gefangene haben möchte.«
»König Hieron ist kein schlechter Mensch«, sagte Marcus. »Er ist schlauer als ein Fuchs und glitschiger als ein Aal, aber grausam ist er nicht.«
»Er ist ein sizilianischer Tyrann!« protestierte Gaius erstaunt. »Er kocht seine Feinde bei lebendigem Leibe in einem Bronzestier! «
Marcus riß den Mund auf. »Mach dich nicht lächerlich!« rief er, nachdem er sich ein wenig gefaßt hatte. »Er hat noch keinen einzigen Bürger umgebracht, geschweige denn ihn lebendig gekocht. Der mit dem Stier, das war Phalaris von Akragas - ein Mann, der vor Jahrhunderten gelebt hat und in einer ganz anderen Stadt.«
Daraufhin herrschte verwirrtes Schweigen, bis Gaius sagte: »Ich habe gehört, Hiero habe«, er benutzte die latinische Namensform, »Hunderte von Frauen und Kindern seiner Feinde pfählen lassen.«
Da begriff Marcus, daß sein Bruder zweifelsohne Dutzende von Horrorgeschichten über den Syrakuser gehört hatte. Einige hatten sicher die Mamertiner verbreitet, als sie die Römer um Hilfe gebeten hatten, und dann waren noch mehr in den Legionen selbst entstanden, als sie sich für den Krieg gerüstet hatten. Der Senat mußte gewußt haben, daß sämtliche Geschichten falsch waren, aber er hatte nichts dagegen unternommen.
»Ihr seid auf einen dreisten Lügner hereingefallen«, fauchte sie Marcus empört an, »auf einen stinkenden Banditen, der nur eine Entschuldigung für seine eigenen Verbrechen gesucht hat.«
»Wie kannst du dir da so sicher sein?«
»Gaius, ich lebe hier! Ich habe Hieron kennengelernt und bin in seinem Haus gewesen! Wenn auch nur etwas entfernt Ähnliches vorgefallen wäre, wüßte ich es. König Hieron hat noch nie einen Bürger getötet oder ungerecht behandelt - und das ist mehr, als man von den Leuten behaupten kann, zu deren Unterstützung ihr nach Sizilien gekommen seid!«
»Du bist sehr griechisch geworden«, sagte Fabius leise.
»Ich muß mich nicht in einen Griechen verwandeln, um zu behaupten, daß die Mamertiner nur eine Horde Banditen sind!« antwortete Marcus hitzig. »Für das, was sie getan haben, verurteilen wir unsere eigenen Leute zum Tode. Aber ihr kommt und kämpft und sterbt für dieses dreckige, kampanische Mordsgesindel.« Er unterbrach sich selbst, schluckte einen Zornesklumpen hinunter und fuhr dann wesentlich gemäßigter fort: »Aber was ich damit sagen wollte: Fällst du glaubst, daß du unbedingt fliehen mußt, weil dir König Hieron wahrscheinlich übel mitspielen wird, dann überleg’s dir noch einmal. Man wird dich bis zum Austausch gut behandeln. Vermutlich wird sich deine Situation bei einem Fluchtversuch eher verschlechtern, als wenn du bleibst, wo du bist.«
»Ich will aber auf alle Fälle fliehen«, sagte Gaius, »wenn’s irgendwie geht.«
Wieder seufzte Marcus. Etwas anderes hatte er nicht erwartet. »Vermutlich schaffe ich es, zwei aus der Stadt herauszuschaffen«, sagte er, »aber mehr nicht.«
»Kannst du uns die Säge durchschieben?« fragte Fabius.
Marcus schob die Säge hindurch. Zuvor mußte er allerdings den Griff abnehmen, damit sie durch den Spalt paßte. Fabius versteckte sie unter seiner Matratze.
»Damit und mit deinem Messer und dem Seil kommen wir hinaus«, sagte er. »Verstecke beides unter einem Felsen neben diesem Brett. Dir ist nicht zufällig aufgefallen, wie viele Wachen hier sind und wo sie postiert werden?«
»Eine halbe Schlachtreihe«, sagte Marcus, »sechs Mann am Tor und je zwei vor den Hütten. Vermutlich stehen die restlichen sechs an der Mauer, obwohl ich sie beim Hereinkommen nicht gesehen habe. Den Weg über die Klippen könnt ihr euch gleich aus dem Kopf schlagen, sie hängen über. Vermutlich bietet euch der Bruchsteinberg an der Westkante der Mauer die beste Chance: er ist hoch und ziemlich dicht bewachsen. Damit habt ihr genug Deckung, um abzuwarten, bis euch ein Wachtposten den Rücken zukehrt. Wenn es euch gelingt, dann kommt zu unserem Haus. Ich werde euch aus der Stadt schaffen. Aber wartet zuerst noch mindestens drei Nächte ab, das ist meine einzige Bitte an euch. Wenn ihr sofort kommt, wird sich garantiert einer daran erinnern, daß ich hier war. Und dann weiß man, wo man euch suchen muß. Ein paar Tage Abstand vergrößern die Chance, daß sie’s vergessen. Und außerdem braucht Gaius sowieso noch Zeit, um wieder zu Kräften zu kommen.«
Er gab ihnen ganz genaue Anweisungen, wie sie das Haus finden konnten. »Der Ziegel auf halber Höhe links vom Türrahmen ist brüchig«, sagte er zum Schluß. »Den könnt ihr nicht verfehlen. Von heute an in drei Nächten werde ich mir eine Ausrede einfallen lassen, um unten im Hof zu schlafen. Und wenn ihr dann nachts kommt, lasse ich euch insgeheim ein. Falls ihr nicht kommt - und ich sage euch noch einmal, daß ihr meiner Meinung nach besser bleibt, wo ihr seid! -, dann bin ich in zehn Tagen mit noch etwas mehr Geld wieder da.«
»Wem gehört das Haus?« erkundigte sich Fabius.
»Danach dürft ihr keinesfalls fragen!« sagte Marcus. »Damit wäre alles verraten.«
»Ich will es ja nur wissen«, sagte Fabius. »Wer ist denn dein Herr und Meister, den alle Wachsoldaten kennen und der beim König aus und ein geht?«
»Er heißt Archimedes«, gestand Marcus. »Und ist Ingenieur.«
»Der Katapultmacher!« sagte Gaius und drehte den Kopf, um durch den Spalt hinauszustarren.
»Schau nicht her!« knurrte Marcus. »Ja, er baut Katapulte.«
»Sie haben uns schon im Fort von ihm erzählt. Sie haben uns eines der Katapulte gezeigt und gesagt, er würde sogar ein noch größeres bauen.«
Marcus erwiderte nichts.
»Sie meinten, das nächste würde das größte Katapult der Welt. Sie meinten, es würde garantiert funktionieren, weil seine Katapulte immer funktionieren. Sie sagten, wir sollten nicht hoffen, daß wir Syrakus im Sturm erobern könnten, denn Syrakus hätte den größten Ingenieur der ganzen Welt. Und der ist dein Herr?«
»Wenn ihr sein Haus betretet«, stieß Marcus plötzlich zwischen den Zähnen hervor, »dann dürft ihr ihm kein Haar krümmen. Das müßt ihr mir schwören.«
Schweigen. »Es wäre besser für Rom, wenn ein solcher Mann tot wäre«, sagte Fabius langsam.
»Wenn ihr nicht schwört, daß ihr ihm kein Haar krümmt, dürft ihr nicht ins Haus«, sagte Marcus. »Ich dulde nicht, daß irgendeiner in diesem Hause verletzt wird.«
Wieder Stille. »Hat er dich gut behandelt?« fragte Gaius schließlich. Es klang erstaunt und beschämt zugleich.
»Ach, möge ich doch zugrunde gehen!« murmelte Marcus. »Er vertraut mir. Und - und außerdem muß er einfach am Leben bleiben. Einer wie er - solche gibt es nicht oft, nicht einmal in Alexandria. Er kann einfach alles: Er kann das Wasser bergauf fließen lassen, eigenhändig ein Schiff bewegen und dir erzählen, wie viele Sandkörner man braucht, um das Universum zu füllen. Niemand profitiert davon, wenn ein solcher Mann tot ist. Es würde nur bedeuten, daß die menschliche Rasse plötzlich eine ganze Menge Dinge nicht mehr tun könnte, die sie mit ihm einmal tun hätte können.« Er hielt inne. Vor Verwirrung war ihm ganz schlecht. Plötzlich hatte er das Gefühl, er wäre gestorben, ohne es gemerkt zu haben. Jener Marcus, der damals bei Asculum desertiert war, hätte nie derartige Dinge gedacht, die ihm nun im Kopf herumgingen.
Wieder herrschte Schweigen, dann meinte Gaius resigniert: »Ich schwöre, daß ich ihm nichts antun werde. Mögen mich sämtliche Götter und Göttinnen vernichten, falls ich es tue.«
»Ich schwöre es auch«, murmelte Fabius.
»Dann kommt, wenn ihr wollt«, sagte Marcus, »und ich werde euch helfen, soweit es in meiner Macht steht.«