8

Der Zustand von Phidias hatte sich erneut verschlechtert. Er schlief die meiste Zeit und ließ sich kaum aufwecken. Und wenn er dann wach war, war er oft verwirrt und begriff nicht, wo er sich befand oder was man von ihm wollte. Zum großen Kummer von Archimedes wußte er es anscheinend nicht einmal zu schätzen, daß das Katapult seinen Test bestanden hatte und sein Sohn in der Lage war, die Familie zu versorgen. Hierons Leibarzt war tatsächlich auf Visite gekommen, aber selbst er hatte nichts anderes tun können als zuvor schon der Hausarzt der Familie. So hatte er nur eine Arznei dagelassen, die Phidias nehmen konnte, wenn er Schmerzen haben sollte.

Trotzdem brachte es Archimedes nicht übers Herz, die Hoffnung aufzugeben. Jeden Morgen und jeden Abend ging er ins Krankenzimmer, um nach seinem Vater zu sehen. Er versuchte, ein Gespräch zu beginnen, und wenn das nicht möglich war, setzte er sich einfach hin und rechnete oder spielte Musik, während Phidias schlief.

Zwei Tage nach dem Bankett, am Tag der Vorführung, ging er wie üblich morgens ins Krankenzimmer, wo er seinen Vater schlafend vorfand. Er setzte sich auf die Liege, ergriff die bis aufs Skelett abgemagerte Hand und strich ihm die dünnen, weißen Haare zurück. »Papa?« sagte er. Da wachte Phidias auf und lächelte ihn still an.

»Ich gehe jetzt zum Hafen hinunter«, erklärte er seinem Vater. »Ich liefere dem König einen Beweis für Mechanik.«

Plötzlich klammerte sich die zerbrechliche Hand an ihn. »Geh nicht fort!« bettelte Phidias.

»Ist doch nur für ein, zwei Stunden«, sagte Archimedes.

»Bitte, Medion, geh nicht nach Alexandria!«

»Papa! Das tue ich nicht, ganz gewiß nicht. Ich führe lediglich im Hafen einen Beweis durch. Anschließend komme ich heim und schaue, wie’s dir geht.«

»Bitte, geh nicht wieder fort!« flüsterte Phidias, als ob er nichts gehört hätte, und dann noch leiser: »Kümmere dich an meiner Stelle um deine Mutter und deine Schwester.«

»Das werde ich, Papa«, sagte Archimedes, »ich verspreche es.«

Er blieb noch ein paar Minuten, wo er war, bis sein Vater endlich die verkrampfte Hand löste und wieder einschlief. Ganz vorsichtig stand er auf, um ihn nicht zu wecken, und betrachtete von oben kritisch das gelbe Gesicht. War es Einbildung, oder wirkte die Haut tatsächlich durchsichtig? War neben dem flachen Atem ein Keuchen zu hören, das vorher nicht dagewesen war?

Arata kam herein. Archimedes hatte sie zu seiner Vorführung eingeladen. Sie hatte ihr bestes Gewand angezogen und war schon zum Gehen bereit, aber nach einem Blick auf das Gesicht ihres Mannes rückte sie ihren Stuhl von der Wand und setzte sich, um bei ihm zu wachen. »Ich möchte ihn heute morgen nicht allein lassen«, erklärte sie ihrem Sohn. »Nimm Philyra mit.«

Archimedes protestierte nicht, sondern sagte nur: »Schicke Chrestos, um mich zu holen, falls. falls er nach mir fragt oder irgend etwas anderes passiert. Der König ist mir egal. Ich werde kommen.«

Arata nickte. Archimedes beugte sich vor und gab ihr einen Kuß auf die Stirn, dann trat er in den Hof hinaus.

Mit strahlenden Augen erwartete ihn Philyra bereits in ihrer schönsten Tunika und dem besten Mantel. Eigentlich hätte sie sich mit der Tunika nicht so viel Mühe machen müssen, dachte Archimedes. Bis auf eine Saumbreite war nichts davon zu sehen, denn Philyra war ganz brav von Kopf bis Fuß in cremefarbene Wolle gehüllt. Vor Hitze - oder aus Vorfreude - hatte sie bereits ein rosarotes Gesicht. Daneben warteten Marcus und die junge Agatha, die sich beide in ihrer schlichten Leinentunika wesentlich wohler fühlten. Agatha kam mit, weil eine vornehme Dame immer ihre Zofe dabeihatte, und Marcus trug einen Korb mit Erfrischungen.

»Medion!« rief Philyra. »Du wirst doch nicht diesen Mantel anziehen!« Es war der aus Leinen.

»Während der Vorführung werde ich sowieso keinen Mantel tragen können«, wandte Archimedes ein. »Schließlich kann man im Mantel nicht an einem Seil ziehen. Deshalb dachte ich.«

Philyra schüttelte unnachgiebig den Kopf. Grinsend stellte Marcus den Korb ab, lief nach oben und kam mit dem gelben Mantel wieder. Archimedes fluchte leise vor sich hin, zog aber trotzdem das Ding an, und dann brach die ganze Gruppe auf.

Je näher sie zum Hafen kamen, um so belebter wurden die Straßen. Eine große Menschenmenge drängelte sich in dieselbe Richtung wie sie. Archimedes musterte sie argwöhnisch. »Ist irgend etwas los?« fragte er einen dicken Wasserverkäufer.

»Hast du’s nicht gehört?« antwortete der Wasserverkäufer. »Einer der Ingenieure des Königs glaubt, er kann eigenhändig ein Schiff bewegen.«

»Aber.«, sagte Archimedes blinzelnd, »kommen denn all die Leute, um das zu sehen?«

»Klar«, sagte der Wasserverkäufer tadelnd. »Muß schon ein Anblick sein.«

»Aber - aber woher wissen das denn alle?« fragte Archimedes.

»Man hat es auf dem Marktplatz angeschlagen«, antwortete der Wasserverkäufer. »Was hast du denn damit zu tun? «

»Ich bin der Ingenieur«, antwortete Archimedes amüsiert, während er darüber nachgrübelte, wer wohl den Anschlag angebracht hatte.

»Du bist also Archimedes, der Sohn des Phidias!« rief der Wasserverkäufer. Enttäuscht musterte er ihn von Kopf bis Fuß. »Ich dachte, du wärst älter.«

Da lachte Philyra voll staunender Begeisterung laut auf und nahm ihren Bruder am Arm. »Medion, du bist berühmt!«

Als sie zum Kai kamen, stand dort bereits eine riesige Menschenmenge herum. Man redete, aß und trank und machte sich gegenseitig auf das Schiff aufmerksam, das Archimedes ausgesucht hatte. Es war bei weitem nicht das größte Schiff der königlichen Flotte, aber zweifelsohne ein Schiff - ein fetter Einmaster, ein Transportschiff mit ungefähr zweiundzwanzig Metern Länge. Man hatte es aus dem Wasser gezogen, und sein gewölbter Rumpf ragte doppelt mannshoch von der steinernen Gleitbahn in die Höhe. Bei seinem Anblick blieb Philyra einen Augenblick wie erstarrt stehen, dann schaute sie ängstlich ihren Bruder an. Marcus ging es nicht anders. Beide hatten sich auf Archimedes und seine Versicherung verlassen, daß sein System funktionieren würde. Aber Auge in Auge mit einem Objekt, das größer war als ihr Haus, kam ihnen das ganze Projekt völlig unmöglich vor.

»Kannst du das wirklich bewegen?« fragte Philyra.

Er war überrascht. Wie konnte sie nur daran zweifeln! »Aber ja!« rief er. »Ohne Ladung wiegt es doch nur zwölfhundert Talente, und ich habe mir einen mechanischen Vorsprung von fünfzehnhundert Talenten verschafft. Ich werde es dir zeigen!«

Zum Schutz vor der Menschenmenge wurde gerade der unmittelbare Bereich um das Schiff abgesperrt. Aber die Matrosen, die die Seile spannten, erkannten Archimedes und ließen ihn mit seiner Begleitung durch. Gerade wollte er Philyra sein System erklären, da dröhnten die Trompeten. Als sie aufblickten, sahen sie das Gefolge des Königs. Zuerst kam eine Reihe Gardesoldaten, angeführt von einem Offizier zu Pferde. Farbenprächtig glänzten die Schilde, die sie über den Rücken geschlungen hatten, und ihre Helme und Speerspitzen funkelten in der Sonne. Hinter ihnen ritt, ganz in Purpur gekleidet, der König auf einem prächtigen Schimmel. Kallippos begleitete ihn auf einem mächtigen Braunen. Anschließend folgten die Trompeter und eine verhängte Sänfte, getragen von acht Sklaven. Die Menge stieß Hochrufe aus und klatschte und machte langsam den Weg frei. Als der königliche Geleitzug vor ihnen stehenblieb, packte Philyra Archimedes vor Begeisterung ganz fest am Arm.

Die Sänfte wurde abgesetzt, die Insassen kletterten heraus: zuerst die Königin - wie ihr Mann ganz in Purpur gehüllt - und dann der kleine Gelon, dem in seinem Purpurgewand sichtlich heiß war. Zuletzt kletterte ein dunkelhaariges Mädchen in einem Mantel aus feiner, scharlachroter Baumwolle mit eingewebten Goldsternen heraus. Einen Augenblick blieb sie stehen, um ihren Mantel glattzustreichen. Archimedes richtete sich noch gerader auf und strahlte vor Vergnügen. Delia war doch gekommen, um seine Vorführung zu sehen! In Wirklichkeit war sie sogar noch hübscher als in seiner Erinnerung. Er versuchte, ihr in die Augen zu sehen, und überlegte, wie er sich für ihre Botschaft bedanken konnte. Aber als sich ihre Augen endlich trafen, erwiderte sie sein Lächeln mit einem kalten, starren Blick.

Philyra hatte keine Ahnung, wer das Mädchen in Rot war, aber als die gesamte königliche Familie herüberkam und ihrem Bruder die Hand schüttelte, dachte sie, sie würde vor Stolz platzen. Sie war sich bewußt, daß die Zuschauer über sie redeten und einander auf Archimedes, den Sohn des Astronomen Phidias, aufmerksam machten. Jenen Ingenieur, der in Alexandria studiert und sich angeboten hatte, etwas Unmögliches zu tun.

Königin Philistis lächelte Philyra gnädig zu, als Archimedes sie mit ihr bekannt machte. »Ich denke, wir haben uns bereits gesehen«, sagte sie. »Du hast an deiner Schule Preise für Musik gewonnen, mein Kind, stimmt’s? Offensichtlich genießt deine ganze Familie die Gunst der Musen.«

Philyra wurde rot. Sie hatte tatsächlich Preise für Musik gewonnen, die die Königin überreicht hatte, hatte aber nicht erwartet, daß sich Philistis daran erinnern würde.

Delia warf Philyra lediglich einen verächtlichen Blick aus schwarzen Augen zu. Aber unter der Verachtung brodelte es. Als sie gemerkt hatte, daß Archimedes ein Mädchen am Arm hatte, war sie im ersten Moment vor Empörung ganz verwirrt gewesen. Aber dann fiel ihr die große Ähnlichkeit zwischen den beiden auf. Erleichtert erinnerte sie sich wieder daran, daß er eine Schwester hatte. Ihr war klar, daß derartige Gefühle absolut unangebracht waren, ja geradezu närrisch! Es war egal, ob Archimedes ein Mädchen oder einen Knaben oder ein halbes Dutzend Dirnen hatte. Er bedeutete ihr nichts, und genauso wollte sie es auch haben. Also übertrug sie jetzt ihren verächtlichen Blick auf ihn. Verwirrt blinzelte er.

»Und das ist das Schiff, das du bewegen wirst, ja?« fragte der König. »Beim Herakles!«

Auch er begutachtete wie zuvor Philyra Höhe und Länge, dann wanderte sein Blick zu dem schlaksigen jungen Mann neben ihm. Beide waren grundverschieden. Da schien kein Weg hinüberzuführen. Insgeheim lobte sich der König für seine Entscheidung, den Zeitpunkt der Vorführung auf dem Marktplatz anschlagen zu lassen. Falls der Junge scheitern sollte - was durchaus wahrscheinlich schien -, scheiterte er vor aller Augen. Und wenn er ihm dann verzieh, würde er nicht nur als noch großherzigerer Mensch dastehen, sondern könnte auch seinen Zugriff auf diesen Mann verstärken. Natürlich wäre in einem solchen Fall das Scheitern auch wesentlich demütigender, aber dagegen konnte man nichts machen. Jedes Scheitern hatte scharfe Zähne, egal, ob jemand zusah oder nicht.

Auch der kleine Gelon starrte das Schiff an und danach Archimedes. Normalerweise konnte er es nicht leiden, wenn er seine Mutter bei öffentlichen Auftritten begleiten mußte, aber als ihm sein Vater erklärt hatte, worum es diesmal ging, war er gerne mitgekommen. »Wirst du das alles ganz allein bewegen?« fragte er.

Grinsend zupfte Archimedes seinen Mantel gerade. »Sicher.«

»Du mußt aber stark sein!« sagte Gelon bewundernd.

»Muß ich eben nicht«, entgegnete Archimedes fröhlich. »Das ist ja der Knackpunkt. Es gibt zwei Wege, um schwere Lasten zu bewegen: entweder muß man sehr stark sein, oder man muß sich einer Maschine bedienen. Siehst du dort die Flaschenzüge?«

Zwischen der Vorderfront des nächsten Bootshauses und den steinernen Anlegepfosten am Kai wand sich ein ganzes Spinnennetz aus Seilen. Flaschenzüge waren an Flaschenzügen befestigt, die ihrerseits über kombinierte Trommeln zurückliefen und wieder mit weiteren Flaschenzügen verbunden waren. Und weiter ging es um die Achsen von Zahnrädern herum und wanderte nach einem erneuten Richtungswechsel über noch mehr Flaschenzüge weiter. Kallippos stand bei den Anlagepfosten und zählte.

»Das ist meine Maschine«, sagte Archimedes. »Weißt du, wie ein Flaschenzug funktioniert?«

»Man zieht daran«, erklärte Gelon bestimmt.

»Das stimmt. Du ziehst an einem Seil, das doppelt so lang ist wie die Strecke, die die Ladung zurücklegen soll. Dadurch brauchst du nur halb soviel Kraft. Und wenn du nun genügend Flaschenzüge einsetzt, kannst du jede Ladung mit jeder Kraft bewegen. Aber vielleicht sollten wir uns erst mal ansehen, ob pure Kraft das Schiff bewegen kann. Königlicher Herr, du hast so viele Männer deiner Garde mitgebracht, vielleicht würden die gerne mal schieben?«

Hieron hatte dreißig Wachen unter dem Kommando von Dionysios mitgebracht. Archimedes suchte Straton unter ihnen, konnte ihn aber zum ersten Mal nicht entdecken. Nur allzugern legten die Männer ihre Speere ab, stemmten sich gegen den Schiffsrumpf und drückten. Vor Anstrengung bekamen sie knallrote Gesichter und rutschten immer wieder mit den Füßen auf der Gleitbahn aus. Eine Weile mühten sie sich vergeblich ab, dann gaben sie auf. Die Zuschauermenge stöhnte mitleidig. Archimedes grinste nur noch breiter. »Dionysios!« rief er. »Darf ich dich und deine Männer zu einer kleinen Fahrt einladen?«

Dionysios zog ein absolut ungläubiges Gesicht, und die Männer der Garde schüttelten bedauernd die Köpfe. Aber als Archimedes zum Schiff hinüberrannte und das Fallreep herunterzog, stiegen sie an Bord. Dionysios ging als letzter. Er schaute Archimedes an, als ob er etwas sagen wollte, schüttelte dann aber nur den Kopf und kletterte hinter seinen Männern her.

»Ich auch!« schrie der kleine Gelon und rannte die Gleitbahn hinunter. Als Hieron zustimmend nickte, half Archimedes dem Kind auf die Leiter. Als es zur Hälfte oben war, packte Dionysios den kleinen Jungen an der Hand und zog ihn das restliche Stück in die Höhe. Sofort rannte Gelon zum Schiffsbug, kletterte auf die Gallionsfigur hinauf und winkte Vater und Mutter zu.

Archimedes holte tief Luft, dann ging er zu dem dicken Seil, das aus den Flaschenzügen herausschaute, und vertäute es mit einem Ring, den er fest im Schiffskiel verankert hatte. Mit einer Handbewegung wies er Marcus an, ihm zu folgen, und bahnte sich seinen Weg zu dem Platz, wo das andere, dünnere Seilende nach seinem langen, vielfach gewundenen Weg wieder zum Vorschein kam. Er spürte die aufmerksamen Blicke der Menge auf sich. Aus unmittelbarer Nähe starrte ihn der Ingenieur Kallippos an. Sein verkrampftes Gesicht trug denselben undefinierbaren Ausdruck wie bei ihrer letzten Begegnung. Archimedes versuchte, sich um niemanden zu kümmern, und zog seinen Mantel aus. Plötzlich kam Luft an seine schweißnassen Arme und die klamme Tunika. Die Kühle tat ihm unbeschreiblich gut. Er drückte Marcus den schweren, gelben Wollstoff in die Hand.

»Wird es tatsächlich funktionieren?« flüsterte Marcus nervös.

»Das habe ich dir doch schon gesagt«, antwortete Archimedes. In der Nähe stand ein Stuhl, auf dem er während der Ausarbeitung seines Systems immer gesessen war. Er ging hin und trug ihn aus dem Schatten des Bootshauses in die grelle Sonne hinaus, wo ihn alle sehen konnten, und setzte sich darauf. »Du brauchst nur das Seil aufrollen, sobald ich es dir reiche«, befahl er Marcus und ergriff das Seil.

Sich hinzusetzen, war wirklich mutig, denn im Stehen wäre es wesentlich einfacher gewesen. Er hatte eine Leistung von einem Talent einkalkuliert, aber als er zu ziehen anfing, keimte in ihm der Verdacht, daß er das Eigengewicht des Seiles nicht ausreichend berücksichtigt hatte. Trotzdem - es war zu schaffen, und wenn er dazu die Fersen in den Boden rammen müßte. Langsam, aber stetig zog er am Seil, eine Hand über der anderen. Hin und her wand sich das Seil durch die Flaschenzüge. Durch die Entfernung, die es zurücklegte, reduzierte sich das Gewicht so lange, bis es seinem eigenen Kraftaufwand entsprach.

Zuerst zitterte das Schiff auf der Gleitbahn nur, aber dann glitt es allmählich ohne Ruckein und Wackeln vorwärts. Es bewegte sich so selbstverständlich, daß die Zuschauermenge anfangs nur murmelte, weil sie nicht sicher war, ob sich das Schiff tatsächlich bewegte. Aber dann schrien einige Leute verunsichert laut auf, bis es immer mehr wurden und schließlich alle in einen wahren Begeisterungssturm ausbrachen. Archimedes hörte Marcus neben sich lachen. Ein Siebentonner und dreißig Männer wurden von einem einzigen Paar Hände und der Kraft eines einzigen Gehirns heraufgezogen.

Archimedes zog das Schiff bis zum Bootshaus hinauf, dann ließ er das Seil fallen und stand auf. Die Menge jubelte noch immer. Er wandte sich ihnen zu - einem Meer aus Gesichtern mit einem Purpurfleck davor, der den König darstellte. Seine Arme zitterten von dem anstrengenden Ziehen, und plötzlich fühlte er sich benommen. Noch nie hatte ihm jemand zugejubelt. Mit Triumphgefühl hatte er gerechnet, aber nicht mit der Angst, die er plötzlich empfand. Bei diesem Beifall fühlte er sich wie eine zur Schau gestellte Mißgeburt.

So außergewöhnlich war alles ja auch wieder nicht, denn die Prinzipien hatte es schon immer gegeben, so unverrückbar wie die Sterne. Er hatte sie einfach nur angewandt. »Oh, Apollon!« flüsterte er, als ob er den Gott aus tiefster Seele um Hilfe bitten wollte.

Marcus packte ihn an der Schulter. »Winke ihnen zu!« flüsterte er, und Archimedes winkte. Die Hochrufe wurden doppelt so laut. Ärgerlich schüttelte er den Kopf.

»Herr«, sagte Marcus, »dein Mantel.«

Wieder schüttelte Archimedes den Kopf und ging ohne den Mantel auf den König zu.

Beim Näherkommen fiel ihm zuerst das Gesicht seiner Schwester auf. Philyra war der Mantel vom Kopf und von einem Arm gerutscht, ihre Haare waren zerzaust, und sie strahlte. Dann sah er, gleich neben ihr, Delia, die immer noch klatschte. Ihre Augen funkelten vor Stolz. Plötzlich war seine unsinnige Angst wie weggeblasen, und er lachte beide an. Philyra raffte ihre Tunika zusammen und rannte lachend zu ihm hinüber. »Medion!« rief sie und umarmte ihn stürmisch. »Das war unglaublich*.«

Er legte einen Arm um sie, sagte aber nichts, sondern ging weiter, bis er dem König gegenüberstand.

Auch Hieron strahlte vor Begeisterung übers ganze Gesicht, und als Archimedes nahe genug herangekommen war, packte er mit beiden Händen eine Hand des Verblüfften und schüttelte sie. »Du könntest tatsächlich die Erde bewegen, nicht wahr?« fragte er grinsend.

»Mit einer zweiten Welt als Stützpunkt«, antwortete Archimedes, »kann das jeder.«

Während ihm der König noch immer lachend die Hand schüttelte, fiel sein Blick flüchtig auf das System aus Flaschenzügen. Er ließ los. »Kann ich es auch versuchen?« fragte er.

Blinzelnd schaute Archimedes zum Schiff zurück, von dem gerade die Wachen heruntersprangen. »Dazu müßte man es erst mit Gewalt die Gleitbahn hinunterschieben«, sagte er entschuldigend. »Und außerdem müßte ich, äh, noch einige Räder verändern.«

Sofort wandte sich Hieron an seine Garde. »Dionysios!« brüllte er. »Hol ein paar Freiwillige und schiebt es wieder hinunter! Diesmal werde ich es heraufziehen!«

»Ich auch!« schrie der kleine Gelon und rannte zu seinem Vater.

»Du kannst mir helfen«, erlaubte ihm der König und hob den Jungen hoch. »Na, los, Obermechaniker, du kannst uns erklären, wo wir ziehen müssen.«

Das Schiff wurde so oft die Gleitbahn hinauf und hinunter bewegt, bis schließlich der Vorarbeiter der Werft heraufkam und den König bat, er möge nicht den Kiel eines tadellosen Schiffes ruinieren. Der König bewegte es, Dionysios bewegte es, und die Leute kämpften sich durch die Menge, um abwechselnd am Seil zu ziehen. Archimedes erklärte das Prinzip des Flaschenzuges so oft, bis er schließlich den Überblick verlor. Geraume Zeit verging. Erst dann fiel ihm auf, daß er Kallippos zum letzten Mal gesehen hatte, als er das Seil in die Hand genommen hatte. Suchend warf er einen Blick in die Runde. Doch statt des Ingenieurs sah er Chrestos, der soeben erhitzt und außer Atem am Rand der Menge auftauchte. Bestürzt starrte ihn Archimedes an, dann bahnte er sich einen Weg durch die verblüffte Menge bis zu dem Platz, wo der Sklave stand.

»Was ist passiert?« wollte er wissen. »Hat dich meine Mutter geschickt?«

Der Junge war vom Laufen so außer Atem, daß er nicht sprechen, sondern nur noch nicken konnte.

»Ist das dein Sklave?« erkundigte sich Hieron ruhig.

Verständnislos starrte ihn Archimedes an. Er hatte nicht gemerkt, daß ihm der König gefolgt war. Dann nickte er und sagte: »Ich habe meine Mutter gebeten, ihn zu schicken, falls mein Vater.«

»Sie sagt.«, keuchte Chrestos, »du sollst. so schnell. wie möglich kommen.«

Die Welt wurde kalt, auch wenn die Sonne noch so heiß brannte, und die Zeit schien stillzustehen.

»Du kannst mein Pferd haben«, sagte der König.

Archimedes schaute dem König in die Augen. Ein Gefühl grenzenloser Dankbarkeit durchflutete ihn. Ein Mitmensch hatte seine Situation ohne jede weitere Erklärung verstanden. »Ich kann nicht reiten«, stieß er erstickt hervor. »Ich werde laufen. Aber, königlicher Herr, meine Schwester.« Er wußte nicht einmal genau, wo sie war. Zuerst war sie noch neben ihm gestanden, aber jetzt fiel ihm auf, daß sie vor einiger Zeit mit Marcus und Agatha fortgegangen war. Vermutlich saß sie irgendwo im Schatten, aber wo? Sie konnte nicht rennen, nicht in dem dicken Mantel und der langen Tunika, aber auch sie sollte jetzt nach Hause kommen, wenn ihr Vater. Sie durfte nicht allein im Hafen zurückbleiben.

»Ich werde mich darum kümmern, daß deine Schwester so schnell wie möglich nach Hause kommt«, sagte Hieron gelassen.

»Ich danke dir!« rief Archimedes bewegt, drehte sich um und begann, sich einen Weg durch die Menge zu bahnen, die wie ein Wasserwirbel hinter dem König herstrudelte. Sobald er ein Stück leeres Pflaster vor sich hatte, fing er zu rennen an.

Philyra saß in einem der Bootshäuser auf einer Taurolle und aß verzagt ihr Picknick, das sie ursprünglich mit ihrem Bruder teilen wollte. Draußen brodelte noch immer die lärmende Menge. Die Festtagslaune hatte einen wilden Unterton bekommen, und sie fühlte sich, als ob ihr ganzes bisheriges Leben aus den Fugen geraten wäre. Mutig redete sie sich ein, wie gut und wunderbar es war, daß Archimedes in seiner neuen Karriere echten Erfolg haben würde. Und daß die Vorahnung, die ihr wie ein Stein im Magen lag und ihr den Appetit an dem mitgebrachten Essen geraubt hatte, grundlos war. Aber ihre anfängliche Heiterkeit und der Stolz waren unwiderruflich dahin. Von nun an würde sich alles ändern. Allmählich wurde ihr bewußt, wie gern sie den früheren Zustand gehabt hatte.

Ein Soldat kam ins Bootshaus und blieb abrupt stehen. Philyra hatte vor dem Hinsetzen ihren heißen Mantel ausgezogen. Jetzt packte sie ihn und war erleichtert, als Marcus sofort aufsprang und sich zwischen sie und den Soldaten stellte.

»Ist diese Dame die Tochter des Astronomen Phidias?« fragte der Soldat. Statt ein unverheiratetes Mädchen direkt anzusprechen, wandte er sich korrekt an Marcus.

Mißtrauisch nickte Marcus.

»Bitte, komm mit mir«, sagte der Soldat.

Eilends legte sich Philyra den Mantel um, während die Sklaven das Essen wieder in den Korb beförderten. Dann folgten sie dem Soldaten auf den sonnenbeschienenen Kai hinaus.

Soeben schob man das Schiff vorsichtig wieder ins Wasser, und auch die Menge zerstreute sich allmählich. Der Soldat geleitete sie zu einem Offizier mit scharlachrotem Mantel und salutierte. »Das ist die Dame, Herr!« sagte er. Züchtig hielt sich Philyra einen Mantelzipfel vors Gesicht. Der Offizier war derselbe, der schon einmal bei ihnen zu Hause gewesen war: der Hauptmann der Ortygiagarnison. Dionysios, so hieß er doch. »Der König möchte dich sprechen, gnädige Dame«, teilte er ihr in respektvollem Ton mit. »Bitte, komm mit mir.«

Nervös sah sich Philyra um. Sie suchte ihren Bruder, der aber nirgends zu sehen war. Neben ihr zog Marcus ein finsteres Gesicht.

König Hieron stand neben seinem weißen Roß. Sein Sohn saß mit selbstzufriedener Miene im Sattel, während seine Frau und die Dame in Rot - jemand hatte gesagt, sie sei die Schwester des Königs -neben der Sänfte warteten. Als man Philyra heranführte, trat der König nach vorne und neigte huldvoll den Kopf. »Gnädige Dame«, sagte er ernst, »ich bedauere es sehr, der Überbringer schlechter Nachrichten zu sein. Man hat deinen Bruder zu seinem Haus zurückgerufen. Offensichtlich hat sich der Zustand deines kranken Vaters plötzlich verschlechtert.«

In dem Moment vergaß Philyra alle Scham, ließ den Schleier fallen und starrte Hieron schockiert an.

»Ich habe ihm versprochen, dafür zu sorgen, daß du so rasch wie möglich nach Hause geleitet wirst«, fuhr der König fort. »Und meine geschätzte Frau hat sich freundlicherweise angeboten, dich in ihrer Sänfte mitzunehmen. Wenn du mit deinem Sklavenmädchen hineinsteigst, wird sie dich auf dem Heimweg bei dir zu Hause absetzen.«

Philyra schluckte und schaute zur Königin hinüber. Da kam Phili-stis herbei und nahm sie huldvoll bei den Händen. »Es tut mir aufrichtig leid, daß du solche entsetzlichen Nachrichten in aller Öffentlichkeit erfahren mußt«, sagte die Königin.

Philyra erinnerte sich wieder an ihre gute Erziehung, nickte höflich und murmelte undeutlich: »Vielen Dank, o Königin.« Dann ging sie zur Sänfte hinüber und kletterte hinein, gefolgt von der zitternden Agatha. Zum Schluß nahmen die Königin und die Schwester des Königs Platz.

Marcus mußte zuschauen, wie die Sklaven die Sänfte schulterten und aufbrachen. Ihm war ganz schlecht vor Sorge, allerdings hätte er nicht sagen können, ob wegen Phidias oder wegen Philyra. Niemand schenkte ihm auch nur die geringste Beachtung. Der König kletterte hinter seinem Sohn aufs Pferd, die Soldaten stellten sich in Reih und Glied auf, und dann brach die königliche Eskorte Richtung Ortygia auf. Marcus klemmte sich den Essenskorb unter den Arm und entfernte sich. Zuerst nur langsam, aber mit jedem Schritt außerhalb des Hafens ging er immer schneller, und bis er das Haus in der Achradi-na erreichte, rannte er, so schnell es ging.

Noch ehe Marcus den längeren Fußweg zurücklegen konnte, war Hieron schon in seiner Villa angelangt. Gleich nach seiner Ankunft wandte sich der König an seinen Türhüter und sagte: »Ich muß unbedingt mit Kallippos reden. Such ihn und richte es ihm aus.«

Aber noch ehe man den Oberingenieur ausfindig machen konnte, kehrte Delia mit der Königin zurück und begab sich sofort zu ihrem Bruder.

Hieron hatte sich in die Bibliothek zurückgezogen, wo ihn Delia beim Lesen fand. Als sie hereinkam, schaute er rasch hoch, legte dann seine Buchrolle beiseite und machte ihr auf der Liege einen Sitzplatz frei. »Sind sie rechtzeitig hingekommen?« fragte er.

Delia nickte. »Leider war er nicht mehr bei Bewußtsein«, setzte sie hinzu. »Ihr Hausarzt war auch da und meinte, es könne noch Stunden dauern oder auch jede Minute passieren. Die. Frau von Phidias kam heraus, um sich bei uns zu bedanken, weil wir ihre Tochter heimgebracht hatten. Philistis hat ihr in deinem Namen jede erdenkliche Hilfe angeboten, aber sie hat sich nur bedankt und gemeint, daß sie keine Hilfe brauchten.«

Hieron schnaubte. »Nun«, sagte er nach einer Minute, »ich bin froh, daß sie noch rechtzeitig hingekommen sind.« Er nahm wieder sein Buch zur Hand.

»Was hast du nun mit Archimedes vor?« erkundigte sich Delia mit leiser Stimme.

Erneut legte er das Buch hin. »Ihn behalten«, erwiderte er entschlossen. »Ihn halten, wenn’s irgendwie geht, egal, was er kostet. Beim Zeus! Du hast’s ja gesehen. Für ihn war die Sache mit dem Schiff reine Spielerei. Denn als er begriff, was der Rest der Welt von ihm dachte, war er schockiert. Er ersetzt eine ganze Armee, und jede Stadt, der er gehört, kann sich glücklich schätzen.«

»Aber was wirst du konkret tun?«

Er schüttelte den Kopf.

»Ich weiß es nicht. Früher kam mir König Minos in der Sage immer wie der dümmste Narr vor, aber momentan empfinde ich mit diesem Mann sogar etwas Mitgefühl. Der genialste Kopf der Welt stand ihm zur Verfügung, und er wollte ihn auf keinen Fall verlieren. Also hat er den Besitzer dieses Kopfes in einem Turm eingesperrt. Die Sache hat zwar nicht funktioniert, aber ich kann verstehen, warum er sich dazu verleiten ließ!«

»Du wirst doch nicht etwa Archimedes einsperren wollen!« schrie Delia. Es klang mehr wie ein Befehl als eine Frage.

»Beim Herakles!« rief Hieron, der seine Schwester verblüfft anschaute. »Nicht, wenn ich Gefahr laufe, anschließend von dir erwürgt zu werden!«

Delia wurde rot. Ihr Beschützerinstinkt war für sie genauso überraschend, aber heute morgen hatte sie mit eigenen Augen gesehen, wie Archimedes das Unmögliche möglich gemacht hatte. Ihre ganze Zurückhaltung war unter einer Welle aus Begeisterung und Stolz begraben worden. Er war ihre Entdeckung, hatte sie da nicht alles Recht, stolz zu sein? Und wenn ihn die Bemerkung ihres Bruders bedrohte, dann durfte sie sich auch für ihn verantwortlich fühlen. »Du tust es nicht, ja?« fragte sie deutlich leiser.

»Nein, tu ich nicht«, sagte Hieron. »Minos war ein Narr. Du bringst Menschn nicht dazu, für dich zu arbeiten, indem du sie in Türme einsperrst, besonders nicht, wenn sie ein ganzes Stück schlauer sind als du selbst. Du weißt doch, Daidalos hat sich einen unerhörten Fluchtapparat ausgedacht und ist einfach davongeflogen. Ich glaube zwar nicht, daß Archimedes fliegen kann, aber nach dem heutigen Tag würde ich nicht mehr darauf wetten wollen, daß er es nicht könnte, wenn er es sich in den Kopf setzen würde.«

Delia entspannte sich. »Du hast mir angst gemacht«, beklagte sie sich und setzte sich endlich auf den freien Teil der Liege.

Nachdenklich betrachtete Hieron sie. »Du magst ihn«, stellte er fest.

Wieder wurde sie rot. »Ich habe ihn entdeckt«, sagte sie. »Ich. fühle mich für ihn verantwortlich und möchte nicht, daß er verletzt wird.«

Hieron nickte, als ob er das voll und ganz verstehen würde. »Ich verspreche dir, daß ich ihm nicht weh tun werde. Offen gestanden glaube ich sogar, daß ich damit die Götter beleidigen würde. Es wäre dasselbe, als ob man ein unschätzbar wertvolles Kunstwerk zerstören würde. So etwas wie er ist mir noch nie untergekommen.«

»Ich werde von ihm keine Anweisungen entgegennehmen«, tönte es aus dem Türrahmen. Als sie beide aufschauten, sahen sie Kallippos dort stehen. Der königliche Ingenieur wirkte völlig aufgelöst. Er war zu Fuß gegangen und nun ziemlich verschwitzt und hatte staubige Füße. Wütend funkelte er Hieron an. Delia sprang nervös auf.

Aber Hieron meinte nur lächelnd: »Kallippos, mein Freund, ich bin froh, daß du da bist. Wollen wir in den Bankettsaal gehen und einen Becher kühlen Wein trinken?«

»Ich werde von ihm keine Anweisungen entgegennehmen«, wiederholte Kallippos, als ob Hieron nichts gesagt hätte. »Mein König, ich bin schließlich nicht Eudaimon. Ich kopiere nicht nur, sondern denke auch selbständig. Ich lasse es nicht zu, daß ein anderer für mich denkt. Ich bin zu alt und stamme aus einem viel zu guten Hause, um mich diesem Mann unterzuordnen. Ich trete zurück.«

»So etwas habe ich schon befürchtet«, sagte Hieron. »Aber, mein Freund.«

»Du hast das alles arrangiert!« brüllte Kallippos wütend. »Zuerst hast du ihn angestiftet, etwas Unmögliches zu tun, und dann hast du mich gebeten, daß ich behaupte, er würde es nicht schaffen. Nun, ich hab’s gesagt, das leugne ich auch gar nicht. Und ich habe mich geirrt. Trotzdem werde ich keine Anweisungen von irgendeinem dahergelaufenen Flötenknaben aus einer schmutzigen Hinterhofhütte in der Achradina entgegennehmen!«

»Das erwarte ich ja auch gar nicht von dir«, sagte Hieron.

»Ha!« höhnte der Ingenieur. »Offiziell stellst du ihn gleichberechtigt neben mich, dabei wissen wir beide ganz genau, daß du ihn mir vor die Nase setzen möchtest.«

»Ich habe nicht die geringste Absicht, Archimedes, den Sohn des Phidias, zum königlichen Ingenieur zu ernennen«, erklärte der König. »Andernfalls mögen mich die Götter vernichten.«

Einen Augenblick starrte ihn Kallippos entgeistert an, dann brüllte er: »Dann bist du verrückt geworden! Du hast doch gesehen, was dieser Junge fertiggebracht hat! Glaubst du etwa, ich hätte das geschafft? Ich hätte nicht einmal dieses Katapult bauen können!«

»Mein Freund!« protestierte Hieron. »Du bist der großartigste Ingenieur in den Diensten der Stadt. Wenn du gehst, habe ich keinen Ersatz für dich. Uns allen droht demnächst eine entsetzliche Belagerung. Wenn du jetzt deinen Abschied einreichst, wäre das ein Unglück für ganz Syrakus. Wie kannst du an so etwas auch nur denken? Archimedes ist jung und unerfahren. Ich kenne deine Fähigkeiten und habe nie erwartet, daß du unter ihm arbeitest. Vor dieser Vorführung hatte ich gedacht, daß man ihn möglicherweise neben dir zum gleichrangigen Ingenieur ernennen könnte, aber jetzt sehe ich ein, daß das völlig unmöglich ist. Ich wiederhole noch einmal, ich werde ihm garantiert keine fest bezahlte Stelle geben.«

Kallippos öffnete den Mund zum Sprechen, dann schüttelte er sich. »Mein König«, hob er zum zweiten Mal an, »begreifst du denn nicht, daß er besser ist als ich?«

»Mein Freund«, sagte Hieron, »ich weiß ganz genau, daß ihm Apollon und sämtliche Musen abwechselnd ins Ohr flüstern, aber seine wahre Heimat ist Alexandria. Egal, welche Stellung ich ihm biete, irgendwann einmal wird er sie als Gefängnis empfinden. Also werde ich ihm von vornherein keine feste Stellung geben. Für alles, was er für die Stadt macht, wird man ihn bezahlen, und zwar großzügig, aber es liegt allein an ihm, was er tatsächlich machen wird. So etwas wird ihm viel mehr gefallen als jede Stellung, die ich ihm anbieten könnte. Er ist und war nie dein Rivale. Du bist ein Ingenieur und ein sehr guter obendrein. Er ist ein Mathematiker, der manchmal zufällig Maschinen baut. Wenn wir beide, du und ich, nach reiflicher Überlegung der Meinung sind, daß er etwas zum Wohl der Stadt beitragen könnte, dann sollten wir ihn gemeinsam zu solchen Konstruktionen hinzuziehen. Das ist alles, was ich von dir möchte. Und jetzt, möchtest du jetzt in den Bankettsaal kommen und deine Füße waschen und einen Becher kühlen Wein trinken?«

Erneut starrte Kallippos Hieron an. Die Minuten dehnten sich, dann stieß er einen tiefen, schnaubenden Laut aus, der halb wie Lachen, halb wie Seufzen klang, aber insgesamt doch erleichtert. Da begriff Delia: Eigentlich hatte er nie seinen Abschied einreichen wollen, hatte aber gemeint, ihm bliebe keine andere Wahl. »Ja«, sagte er jetzt. Langsam lächelte er wieder. »Ja, mein König, ich danke dir.«

Delia schaute zu, wie die beiden Männer hinausgingen, dann sank sie wieder auf die Liege. In Wirklichkeit hatte Hieron etwas anderes gesagt, als Kallippos zu hören glaubte. So gut kannte sie ihren Bruder. Hieron hatte genau gewußt, daß Kallippos nie damit einverstanden gewesen wäre, sich einem anderen Mann unterzuordnen. Dafür war er viel zu stolz. Noch dazu, wenn der andere Mann jünger war und aus einer weniger vornehmen Familie kam. Jetzt hatte Hieron die Sache so gedreht, daß sich Kallippos in Zukunft bereit erklären würde, Archimedes bei speziellen Problemen »hinzuzuziehen« und -zweifelsohne - jeden »Rat« anzunehmen. Auch Eudaimon war schon »zur Vernunft« gebracht worden. Jetzt blieb nur noch einer übrig, der noch nicht unter dem Joch war: Archimedes. Aber auch das würde anders ablaufen, als sie befürchtet hatte. Ihr Bruder wäre nie so primitiv, einen Menschen mit einem unerträglichen Anstellungsvertrag zu knebeln. Das hätte sie wissen müssen. Er bevorzugte subtilere und damit stärkere Ketten. Ketten, die in der Grauzone zwischen Manipulation und Wohltätigkeit geschmiedet wurden. Ketten, die mit Geschenken verbrämt und voller Dankbarkeit angenommen wurden. Aber nicht einmal sie konnte abschätzen, welche Ketten er sich für Archimedes ausdenken würde.

Phidias starb gegen vier Uhr nachmittags, ohne das Bewußtsein wiedererlangt zu haben. Den ganzen Morgen hatte ihn Arata mit wachsender Besorgnis beobachtet, und als sein Atem gegen Mittag immer schwächer wurde, hatte sie nach ihren Kindern geschickt. Den ganzen, langen, heißen Nachmittag war die Familie um das Bett herumgesessen. Immer wieder hatte der Atem ausgesetzt, hatte wieder angefangen und wieder ausgesetzt. Als schließlich das Ende kam, hatten sie es zuerst gar nicht erkannt und einige Zeit gewartet, ob das matte Keuchen nicht wieder einsetzen würde. Schließlich wurde ihnen klar, daß es vorbei war. Archimedes bedeckte das Gesicht seines Vaters, während sich die Frauen des Haushaltes an die Brüste schlugen und in die schrille, rituelle Totenklage ausbrachen.

Archimedes ging in den Hof hinaus, spritzte sich etwas Wasser ins Gesicht und setzte sich an die Wand. Seine Hände baumelten leblos von den aufgestützten Knien. Er war sich nicht sicher, an welche Art von Leben nach dem Tode er glaubte. Wie die meisten gebildeten Griechen empfand er die Geschichten, die seine eigenen Landsleute über die Götter und die Unterwelt erzählten, als völlig unglaubhaft. Aber als Ersatz dafür blieben auch ihm nur die widersprüchlichen Lehren der Philosophen. Nach Piaton war die Seele die einzig wahre Form. Unsterblich und unwandelbar kämpft sie sich durch das Schattenspiel namens Welt und wird vielfach wiedergeboren, bis sie ihren Weg zu dem Gott zurückfindet, der sie erschaffen hat. Die Seele des Weisen war wie ein König und konnte durch die Tugenden zur ewigen Gemeinschaft mit der Gottheit gelangen. Andere behaupteten, die Seele wäre nur eine Handvoll Atome, die mit dem Körper geboren und sich mit dem Tod des Körpers auflösen würde, und die Götter lebten weit weg von dieser Welt und hätten kein Interesse daran. Woran sollte er glauben?

Bis jetzt war das auch nicht wichtig gewesen.

Nach einer Weile ging er nach oben und holte seinen Abakus und den Zirkel hervor. Er zeichnete einen Kreis in den Sand. Der war wirklich unsterblich und unwandelbar. Sein Ende war zugleich der Anfang und er selbst die Begrenzung eines unendlichen Vielecks. Das Verhältnis von Kreisumfang und Kreisdurchmesser betrug immer dieselbe Zahl: drei plus eine Bruchzahl. Allerdings ließ sich diese Bruchzahl nicht genau berechnen. Sie betrug weniger als ein Siebtel, aber sobald man sie näher festlegen wollte, entglitt sie einem, denn sie war präziser als alle menschlichen Rechenmethoden -unendlich erweiterbar, unendlich variabel. Genau wie die Seele. Wie die Seele ließ sie sich nicht durch reine Vernunft erfassen.

Dieser Gedanke war tröstlich.

Erst zeichnete er in den Kreis ein Quadrat, dann ein Achteck, und dann begann er, ernsthaft zu rechnen.

Als Arata ungefähr drei Stunden später hinaufkam, bot sich ihr folgendes Bild: Ihr Sohn kauerte über dem Abakus und saugte am Zirkelscharnier herum. Vor ihm war ein sechsundneunzigseitiges Vieleck mit einem Kreis in den Sand gekratzt, über das sich ein Gewirr von Rechnungen zog.

»Liebster«, sagte sie zärtlich, »die Nachbarn treffen allmählich ein.«

Es war Sitte, daß Freunde und Nachbarn dem Toten so schnell wie möglich ihren Respekt erwiesen. Dazu mußte die Familie sie in schwarzer Trauerkleidung und mit kurzgeschorenen Haaren begrüßen. Arata hatte sich ihre Haare eben erst geschnitten und trug einen schwarzen Mantel, den sie sich vor vielen Jahren zur Beerdigung ihrer Mutter gekauft und seither ab und zu getragen hatte. Auch Philyra hatte Trauerkleidung angelegt, und selbst die Sklaven waren schon fertig. Nur Archimedes trug noch seine gute Tunika, die er am Morgen angezogen hatte. Wirr hingen ihm die Haare in die Stirn. Aber trotz der Aufforderung seiner Mutter nahm er lediglich den Zirkel aus dem Mund und sagte: »Es ist mehr als zehn Einundsieb-zigstel und weniger als ein Siebtel.«

Im Abendlicht zeichneten sich auf seinem Gesicht deutlich getrocknete Tränenspuren ab. Aber auch ohne sie hätte Arata sein Versunkensein nie mit einem Mangel an Empfindung verwechselt. Ganz leise kauerte sie sich neben ihn, als ob er ein wildes Tier wäre, das sie nicht erschrecken wollte. »Was ist?« fragte sie.

Er deutete mit dem Zirkel auf einen Punkt des Diagramms, wo sich Kreisdurchmesser und Kreisumfang schnitten. In dem Winkel zwischen den beiden stand der Buchstabe tt. »Das da.« Eine Zeitlang herrschte Stille, dann sagte er: »Oft behaupten die Leute, es sei drei und ein Siebtel, aber das stimmt nicht. Es ist gar keine rationale Zahl. Wenn ich ein Vieleck mit noch mehr Seiten zeichnen könnte, dann könnte ich ihren ungefähren Wert noch näher berechnen, aber niemand kann sie absolut berechnen. Sie ist unendlich.«

Arata betrachtete den Kreis und die eingeritzten Zahlen. Phidias hätte es verstanden. Der bloße Gedanke löste einen tiefen Schmerz aus. »Warum ist das wichtig?« fragte sie.

Blind starrte er den Kreis an. »Manche Dinge sind unendlich«, flüsterte er. »Wären wir fähig, das zu begreifen, wenn nicht auch ein Teil von uns wie sie wäre?«

Bei diesen Worten erkannte sie den Sinn hinter seinen Berechnungen. Merkwürdigerweise tröstete er sie. Auch ihr Mann hatte diese unendlichen Dinge geliebt und an sie geglaubt, und nun war er bei ihnen. Sie legte einen Arm um die Schulter ihres Sohnes, und einen Augenblick waren beide ganz still, dann seufzte Arata. »Liebster«, sagte sie energisch, »jetzt bist du der Kopf der Familie. Du mußt dich umziehen und herunterkommen, um die Nachbarn zu begrüßen.«

Archimedes ließ den Zirkel fallen und schlug die Hände vors Gesicht. Er wollte mit niemandem reden.

»Du mußt«, beharrte Arata. »Er war immer so stolz auf dich. Zeige allen, daß er einen Sohn hinterlassen hat, der ihn ehrt.«

Archimedes nickte, stand schwerfällig auf und ging mit ihr. Der schwarze Mantel, den sie für ihn gewählt hatte, hatte seinem Vater gehört. Ihn schauderte, als er ihn anzog.

Im Innenhof hatten sich bereits mehrere Nachbarn versammelt. Die Unruhe der letzten Stunden hatte sie vorgewarnt. Archimedes begrüßte sie höflich. Nachdem sie ihr Beileid ausgesprochen hatten, gingen sie hinein, um dem Toten die letzte Ehre zu erweisen. Man hatte Phidias gewaschen, ihm sein schönstes Gewand angezogen und ihn mit Kräutern und Blumen bekränzt. Nun lag er mit geschlossenen Augen mit dem Gesicht zur Tür auf der Krankenliege. In der einen, schmalen Hand hielt er einen Honigkuchen als Opfergabe für den Wächter des Totenreiches. Archimedes betrachtete den Leichnam mit einem merkwürdig unbeteiligten Gefühl. Dieses leblose Objekt hatte nichts mit dem Astronomen zu tun, nichts mit dem Rätsellöser und dem Musiker, der ihn erzogen hatte.

Philyra hatte bereits am Kopfende der Liege Platz genommen und stimmte nun auf ihrer Kithara einen Klagegesang an. Die Frauen aus der Nachbarschaft setzten sich der Reihe nach neben sie und fielen singend oder klagend ein. Allmählich erfüllte das leise Seufzen der Trauer den ganzen Raum. Arata setzte sich lautlos auf einen Stuhl neben die Liege und verhüllte ihr Haupt.

Archimedes überlegte, ob er noch weitere Leute vom Tod benachrichtigen sollte. Phidias war ein Einzelkind gewesen, aber Arata hatte einen Bruder, und dann gab es noch Freunde. Sollte er seine Mutter fragen? Wahrscheinlich war es besser, sie nicht zu stören. Was war mit dem Begräbnis? Bei diesem heißen Wetter müßte es schon am nächsten Tag stattfinden. Vermutlich sollte er Holz und Weihrauch für den Scheiterhaufen besorgen und sich um das Totenmahl kümmern. Hatte er überhaupt genug Geld dafür? Wahrscheinlich würden ihm die Geschäftsbesitzer Kredit geben.

Es kam ihm völlig absurd vor, daß er sich über derartige Dinge den Kopf zerbrach, während sein Vater tot dort lag.

Er ging wieder in den Hof hinaus. Erleichtert sah er, wie Marcus mit einer schweren Wasseramphore soeben vom öffentlichen Brunnen zurückkam. Damit mußten sich alle Besucher rituell von ihrem Kontakt mit dem Tode reinigen. »Marcus«, flüsterte er und eilte zu ihm hinüber, »wen sollten wir noch benachrichtigen?«

»Deine Mutter hat sich bereits darum gekümmert«, sagte Marcus. Archimedes wurde rot. Er schämte sich, weil Arata diese kummervolle Arbeit allein erledigen mußte.

Den ganzen Abend über kamen immer wieder Besucher. Als es dunkel wurde, suchten die Sklaven Fackeln und stellten sie im Hof und neben der Eingangstür auf. Man hatte sie eben erst angezündet, da bemerkte Archimedes, wie es draußen auf der Straße unruhig wurde, und dann - trat Hieron durch die Tür, gefolgt von seinem Sekretär. Das unerwartete Auftauchen des Herrn der Stadt löste in dem inzwischen überfüllten Hof Unruhe aus, aber Hieron ignorierte die Aufregung und ging direkt auf Archimedes zu. »Mein Beileid«, sagte er und schüttelte ihm die Hand. »Du hast einen Vater verloren, der zu den besten Männern der Stadt gehört hat. Deine Trauer muß groß sein.«

Archimedes blinzelte tief bewegt über ein öffentliches Lob aus solchem Munde. Die Nachbarschaft hatte Phidias zwar immer gemocht, aber sie hatte ihn auch immer - ausgelacht. »Ich danke dir«, erwiderte er, »ich trauere um ihn, sehr sogar.«

»Du müßtest dich schämen, wenn du’s nicht tätest«, sagte Hieron.

Auch er ging wie jeder andere Trauergast ins Krankenzimmer, um den Leichnam zu sehen. Sein Eintreten verblüffte die Frauen derart, daß sie ihr Klagegeheul unterbrachen. Die plötzliche, tiefe Stille dröhnte in den Ohren. Erneut ignorierte Hieron die Wirkung seines Auftretens und verneigte sich statt dessen respektvoll vor dem Toten. »Lebe wohl, Phidias!« sagte er. »Ich habe es immer bedauert, daß ich nicht länger bei dir studieren konnte. Möge die Erde leicht auf dir ruhen!« Anschließend ging er zu Arata, die noch immer verschleiert neben dem Leichnam ihres Mannes saß. »Gute Frau«, sagte er, »dein Verlust ist groß, aber ich baue darauf, daß dich der Gedanke an die herausragenden Qualitäten deines vielversprechenden Sohnes etwas tröstet.«

Arata war völlig sprachlos. Sie drückte sich den Mantel nur noch fester gegen die Brust und nickte stumm. Hieron antwortete zum Abschied ebenfalls mit einem Kopfnicken und zog sich zurück.

Draußen im Hof wandte er sich noch einmal an Archimedes. »Bitte«, sagte er, »gestatte mir zum Ausdruck meiner Wertschätzung für deinen Vater und meines Respektes für dich, das Begräbnis auszurichten. Wenn du einverstanden bist, stehen dir meine Sklaven und die Mittel meines Hauses zur freien Verfügung.«

»Ich, äh«, stammelte Archimedes, dem es beinahe genauso die Sprache verschlagen hatte wie seiner Mutter, »ich, äh - danke dir.«

Hieron lächelte. »Gut. Du brauchst nur meinem Sekretär Niko-stratos sagen, was du möchtest. Er wird es für dich erledigen.« Er schob Archimedes sanft zu seinem Sekretär hinüber, tätschelte ihm leicht den Arm und wandte sich zum Gehen. Aber dann drehte er sich doch noch einmal um und fügte hinzu: »Oh, mir ist aufgefallen, daß du noch immer keine Bezahlung für dein einzigartiges Katapult bekommen hast. Ich schäme mich, daß ich möglicherweise nicht soviel dafür bezahlen kann, wie so eine schöne Maschine wert ist. Aber Nikostratos hat etwas für dich bereit. Ich wünsche dir einen guten Tag!« Damit wusch er sich flüchtig wie vorgeschrieben die Hände im Wasser, das neben der Tür bereitstand, und trat wieder in die Nacht hinaus.

Archimedes schaute den Sekretär Nikostratos an. Nikostratos, ein unauffälliger Mann mit ausdrucksloser Miene, um die Dreißig, der einen schweren Ranzen trug, erwiderte den Blick. »Möchtest du mir sagen, welche Vorkehrungen du momentan treffen möchtest, Herr?« fragte er.

»Äh - ja«, sagte Archimedes. Plötzlich war er sich der Nähe seiner erstaunten Nachbarn nur allzusehr bewußt. »Ähem - ich denke, wir sollten ins Eßzimmer gehen.«

Marcus holte Lampen fürs Eßzimmer und stand dann aufmerksam dabei, während sich der Sekretär alles Nötige für das Begräbnis notierte. Nebenbei stellte er selbst im Kopf die Rechnung zusammen: Holz, Weihrauch, Wein für hundert Gäste. Archimedes hatte zuerst sechzig gesagt, aber der Sekretär fand das zu schäbig. Alles in allem kämen mindestens fünfundzwanzig Drachmen heraus, folgerte Marcus, vermutlich sogar deutlich mehr. Soviel stand fest: Der König hatte nicht vor, Geld zu sparen, indem er ein Begräbnis bezahlte und dann an einem Katapult knauserte. Hieron hatte zwar gesagt, er würde für das Katapult nicht den wahren Wert bezahlen, aber Marcus bezweifelte trotzdem, daß Hieron beim Katapult knausern würde. Wenn er doch nur wüßte, warum sich der König von Syrakus die Mühe machte, einem Katapultingenieur zu schmeicheln und ihn für sich zu gewinnen.

Als alles Nötige für das Begräbnis festgelegt war, holte der Sekretär eine Olivenholzschatulle heraus und stellte sie vor Archimedes hin. »Das Geld für das Katapult«, erklärte er. »Darf ich dich dafür um deine Unterschrift bitten?«

Archimedes schaute die Schatulle verständnislos an und fragte: »Wieviel ist es?«

»Zweihundertfünfzig Drachmen«, antwortete der Sekretär nüchtern und zog ein Quittungsbuch aus dem Ranzen.

Archimedes starrte ihn an, dann hob er den Deckel von der Schatulle. Frisch geprägtes Silber rollte über den Eßtisch. Die Schatulle war bis zum Rand gefüllt gewesen. Er schüttelte protestierend den Kopf: »Es sollten doch nur fünfzig sein! Außerdem hat der König gesagt, daß.«

»Bei wertgemäßer Bezahlung für das Katapult müßten es eigentlich tausend sein. Das soll ich, laut Anweisung, ausrichten«, sagte Nikostratos.

Archimedes starrte ihn lange Zeit stumm an, dann schaute er hinunter und hob eine der Münzen auf, die auf den Tisch gefallen war. Auf der Vorderseite war Hierons Profil eingeprägt, lächelnd und mit Krone. Er betrachtete es eingehend. Plötzlich ergab eine Reihe von Dingen, die er gesehen und gehört hatte, ohne je wirklich darauf zu achten, einen Sinn. Als Mathematiker war er außerordentlich, das hatte er immer gewußt. Aber mechanische Dinge hatte er nur zum Zeitvertreib gemacht und sich darin auch immer nur für guten Durchschnitt gehalten. Jetzt begriff er, daß ihm Epimeles tatsächlich nicht geschmeichelt hatte. Der »Begrüßer« war wirklich das beste Katapult, das in Syrakus in den letzten zwanzig Jahren gebaut worden war. Dieser Drehzapfen - der war tatsächlich zuvor noch keinem eingefallen. Und weil er das nicht kapiert hatte, darum hatten die Sklaven in der Werkstatt gelacht. Eudaimon war nicht nur gereizt gewesen, sondern eifersüchtig. Und Kallippos hatte tatsächlich geglaubt, man könne ein Schiff unmöglich eigenhändig bewegen.

Er war der beste Ingenieur in der ganzen Stadt, und alles, was er mit Kopf und Händen formen konnte, war derart eindrucksvoll, daß jetzt selbst der König alles tat, um eine gute Beziehung zu ihm zu haben. Das Silberstück, das in seiner Hand glänzte, war ein Tribut an seine Macht. Es vermittelte tiefe Befriedigung und machte ihm gleichzeitig angst. Jeden Moment konnte die römische Armee eintreffen und Syrakus belagern, und dann würden seine Fähigkeiten zur Verteidigung in vorderster Linie gefragt sein. Sofort kam ihm die Gefahr viel näher und viel realer vor.

Er nahm fünfzig Drachmen aus der Schatulle, dann schob er sie wieder Nikostratos zu. »Richte dem König aus, daß ich mich für sein großzügiges Angebot bedanke«, sagte er, »aber ich werde nur den ausgehandelten Preis annehmen und sonst nichts.«

Nikostratos war ehrlich überrascht, was bei einem derart nüchternen Menschen äußerst selten vorkam. Er versuchte, die Schatulle wieder zurückzuschieben. »Das ist die Summe, die ich dir auf Anweisung des Königs auszahlen soll«, protestierte er. »Er will sie nicht zurückhaben!«

Archimedes schüttelte den Kopf. »Ich bin Syrakuser. Für die Verteidigung von Syrakus muß man mich nicht extra bezahlen. Ich werde den vereinbarten Preis für das Katapult annehmen, weil meine Familie das Geld braucht, aber ich weigere mich, mehr zu nehmen und aus der Zwangslage meiner Stadt Profit zu schlagen.«

Der Sekretär konnte ihn nur noch anstarren. Archimedes nahm ihm das Quittungsbuch aus der Hand und fand den entsprechenden Eintrag: »An Archimedes, den Sohn des Phidias, für das EinTalentKatapult auf dem Hexapylon - 250 Dr.« Er strich 250 Dr. durch, schrieb 50 Dr. wie vereinbart, darüber und unterschrieb mit seinem Namen.

Plötzlich strahlte Nikostratos übers ganze Gesicht. »Die Götter sind Syrakus gnädig«, sagte er leise, nahm sein Quittungsbuch und die Olivenholzschatulle und steckte beides weg. Dann wünschte er noch immer lächelnd eine gute Nacht und verschwand.

Archimedes schaute zu Marcus hinüber, der an der Tür stand und zuschaute. »Vermutlich bist du damit nicht einverstanden?« fragte er herausfordernd.

Aber Marcus grinste breit und schüttelte den Kopf. »Ich schon«, sagte er. »Wenn ein Mann nicht bereit ist, für seine Vaterstadt zu kämpfen, dann hat er die Sklaverei verdient.«

Und du, dachte er im stillen, hast dich gerade geweigert, dich kaufen zu lassen.

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