Archimedes hielt seine Verabredung mit dem Wachsoldaten Straton ein und traf sich mit ihm am selben Abend am Flottenkai.
Die restliche Familie hatte seine Entscheidung, nicht denselben Beruf wie sein Vater zu ergreifen, genauso ruhig aufgenommen wie Philyra. Arata war sogar erleichtert, als sie merkte, daß er nach einer anderen Arbeit suchte. Sie hatte schon befürchtet, er könnte vielleicht kein Verständnis dafür aufbringen, wie notwendig Geldverdienen sei. Um sicherzugehen, daß er auch wie ein zukünftiger königlicher Ingenieur aussah, zupfte sie an ihm herum und schickte ihn schließlich frisch gebadet, rasiert und mit seiner neuen Tunika samt Mantel fort. Er versuchte es ohne Mantel - für Juni viel zu heiß! -, aber seine Mutter legte ihn ihm nachdrücklich elegant über die Schultern. »Das sieht vornehm aus«, erklärte sie ihm, »schließlich mußt du auf diesen Mann unbedingt Eindruck machen.«
»Ist doch nur ein Soldat!« protestierte Archimedes. »Er will mir doch nur erzählen, an wen ich mich wirklich wenden soll!«
»Um so mehr!« entschied Arata. »Wenn er beeindruckt ist, wird er das seinem Vorgesetzten weitergeben.«
Sie wollte ihm auch noch Marcus mitgeben, denn ein vornehmer Herr sollte sich von einem Sklaven bedienen lassen. Aber Archimedes fürchtete, sie könnten wieder auf den tarasischen Söldner Philonides treffen. Er erklärte seiner Mutter und Schwester, was im Hafen vorgefallen war.
Philyra hörte sich den Bericht mit empörtem Staunen an. Sie mußte wieder an die Prellung denken. Mit einem Seitenblick auf die unbeteiligte Miene von Marcus rief sie wütend aus: »Das ist empörend! Wir haben ein Recht, unseren eigenen Sklaven zu halten! Du hättest diesen dummen Söldner unbedingt vor einen Friedensrichter schleppen und dich beschweren sollen.«
Archimedes zuckte nur die Schultern. »Mit einem Söldner lege ich mich lieber nicht an!« sagte er mit Nachdruck. »Und bei Gericht ist alles dem Zufall überlassen, besonders in Kriegszeiten. Außerdem, ich weiß nicht, was für eine Sorte Italiener Marcus ist - du vielleicht?«
Wieder warf Philyra Marcus einen verstohlenen Blick zu, aber diesmal ganz verblüfft. Noch nie hatte sie ihn mit der neuen Großmacht im Norden in Verbindung gebracht. Sicher hatte sie gewußt, daß er Italiener war, aber in Italien hatte es immer Kriege gegeben, aus denen jedesmal einige Gefangene auf dem Sklavenmarkt von Syrakus geendet hatten. Es hatte immer genügt, sie einfach als »Italiener« zu bezeichnen, in der Annahme, daß die Sklaverei alle Unterschiede zwischen ihnen ausgelöscht hatte.
»Nun, was für eine Sorte Italiener bist du denn?« platzte sie heraus.
Marcus war vorsichtig, aus seiner Miene ließ sich nichts ablesen. »Ich bin kein Römer«, murmelte er, »römische Bürger sind nie Sklaven.« Dann fügte er verlegen hinzu: »Herrin.«
»Ist doch egal, zu welcher Sorte er gehört«, meinte Arata resigniert. »Wenn diese Frage vor Gericht aufgetaucht wäre, hätten wir endlos Schwierigkeiten bekommen, um überhaupt etwas beweisen zu können. Gerichte sollte man, wenn’s geht, meiden.« Sie klatschte in die Hände und nickte Marcus zu, der sich erleichtert ins Haus zurückzog.
Archimedes war schon auf dem Weg zur Tür, aber noch bevor er sie erreicht hatte, packte ihn Arata am Arm und zog ihn beiseite. So leise, daß es die Sklaven nicht hören konnten, sagte sie: »Mein Lieber, hast du schon mal darüber nachgedacht, ob wir Marcus verkaufen sollten?«
»Nein, natürlich nicht!« sagte Archimedes überrascht. »Wir müssen ihn doch nicht verkaufen, nur weil er Italiener ist!«
»Nicht deswegen«, flüsterte Arata und bedeutete ihm, nicht so laut zu sprechen. »Wir brauchen keine vier Sklaven, besonders seit dein Vater den Weinberg verkauft hat, und außerdem können wir es uns nicht leisten, sie durchzufüttern. Wenn wir Marcus nicht verkaufen, dann wird es Chrestos sein müssen. Sosibia können wir nicht verkaufen, nicht nach all den Jahren, und die kleine Agatha - das wäre einfach nicht richtig, mein Lieber.«
Archimedes ließ unglücklich die Schultern hängen. Jetzt begriff er. Seine Mutter wollte, daß er sich auf der Stelle nach einem guten Käufer für einen der Sklaven umsah. Die Entscheidung, wer wohin verkauft werden sollte, lag allein bei ihm. Es wäre einfach nicht richtig, solch eine Entscheidung seinem Vater aufzubürden, nicht unter diesen Umständen, und Frauen waren nicht rechtsfähig.
Im Grunde genommen wollte er niemanden verkaufen. Marcus würde es hassen, dachte er geistesabwesend. Er würde es wirklich hassen, egal, wer der Käufer wäre. Er mochte Marcus und verließ sich auf ihn. Eine solche Demütigung konnte er ihm unmöglich antun. Aber Chrestos - er wußte noch genau, wie er Chrestos als neugeborenes Baby im Arm gehalten hatte. Wie konnte er für ein Mitglied seiner Familie Geld nehmen? Das war das ganze Geld nicht wert. Er haßte es, sich zur schönsten Zeit den Kopf über Geld zu zerbrechen.
»Das eilt doch nicht!« protestierte er schließlich. »Das Geld, das ich aus Alexandria mitgebracht habe, wird uns ein bis zwei Monate reichen, und danach kann alles passieren. Im Maschinenbau steckt eine Menge Geld. Wir könnten alle reich werden! Es wäre dumm, Leute zu verkaufen, wenn wir’s nicht müssen.«
Arata seufzte. Vielleicht wurden ja einige Leute vom Maschinenbau reich, aber nicht ihr Sohn, das glaubte sie einfach nicht. Dazu war er viel zu weltfremd und weichherzig. Genau wie sein Vater. Und sie konnte sich nicht einmal darüber beklagen, denn schließlich war es eine Eigenschaft, die sie an ihnen liebte. Trotzdem mochte sie harte Entscheidungen nicht aufschieben, schon gar nicht in so unsicheren Zeiten. »Wenn wir warten, bis wir hungrig sind«, belehrte sie ihn gelassen, »müssen wir den erstbesten Käufer nehmen. Aber wenn wir jetzt verkaufen, können wir ihnen ein gutes Zuhause suchen.«
Archimedes rutschte unbehaglich hin und her. »Können wir nicht wenigstens abwarten, ob ich diese Arbeit bekomme?« bat er.
Wieder seufzte seine Mutter, aber diesmal resigniert. Auch sie wollte ja im Grunde keinen der Haussklaven verkaufen, und außerdem hatten sie wirklich noch ein paar Monate Gnadenfrist. Sie nickte. Erleichtert seufzte ihr Sohn auf.
Philyra war auf der Schwelle stehengeblieben und hatte dem Gespräch zugehört. Jetzt ging sie in den Innenhof des Hauses zurück, wo Marcus gerade die Wäsche seines Herrn abnahm. Eine Minute lang musterte ihn Philyra und fragte sich dabei zum ersten Mal verwundert, was er vor seiner Sklavenzeit gewesen war. An die Zeit ohne ihn im Haushalt hatte sie keine klare Erinnerung. Er war schon immer dagewesen.
Früher am Tag hatte sie ihrem Bruder gegenüber tatsächlich ihre Vermutungen über ihn geäußert, aber Archimedes hatte sie sofort zerstreut. »Marcus?« hatte er gemeint. »Oh, nein! Er findet, diebische Sklaven verdienen die Peitsche und nicht nur Stockhiebe. Er ist doch so stolz auf seine Ehrlichkeit. Nein, nein, Marcus kann ich ein Vermögen anvertrauen.« Jetzt hatte er dieses Vertrauen noch unterstrichen, indem er sich weigerte, über einen Verkauf des Sklaven auch nur nachzudenken.
Aber das Problem blieb: Er hatte Marcus ein Vermögen anvertraut, und sie konnte sich noch immer nicht vorstellen, wie sich ein solches Vermögen innerhalb eines Jahres ohne Betrügerei in Luft auflösen konnte. Irgend jemand mußte schuld daran sein. Dank Archimedes und seinem Vertrauen hatte sie jetzt auch noch Schuldgefühle wegen ihrer eigenen Verdächtigungen.
Der Sklave spürte ihre Blicke auf sich und drehte sich mit sanft fragendem Gesicht mit dem Arm voller Wäsche zu ihr um. Wie zum ersten Mal fiel ihr dabei die schiefe Einkerbung auf, wo er sich die Nase gebrochen hatte. Sie überlegte, wie und wann das passiert war. »Was für eine Sorte Italiener bist du?« fragte sie ihn wieder.
Er atmete tief und lange aus und wandte den Blick ab. »Herrin.«, setzte er an, dann riß er hilflos die Hand hoch und schlug auf das Leinen. »Herrin, ich bin ein Sklave, der Sklave deines Bruders. Das ist die Wahrheit, das weißt du. Alles, was ich sonst gesagt habe, könnte gelogen sein.«
Nüchtern starrte sie ihn an. »Wann hast du dir die Nase gebrochen?«
Vorsichtig legte er die Wäsche auf einem umgedrehten Waschzuber ab, dann wandte er sich zu ihr um und beantwortete ihre letzte Frage: »Vor langer Zeit, Herrin. Bevor ich nach Sizilien kam.«
Ein Soldat hatte sie ihm im ersten Jahr seiner Sklaverei gebrochen. Er hatte sich gewehrt, als ihn der Mann vergewaltigen wollte, und war dafür bewußtlos geprügelt worden. Als er wieder aufgewacht war, hatte er sich zu Füßen des Soldaten und jenes kampanischen Sklavenhändlers wiedergefunden, der ihn an den Soldaten verkauft hatte. Soldat und Sklavenhändler hatten miteinander gestritten, ob der Soldat sein Geld zurückbekommen mußte. »Schau, was du mit seinem Gesicht angerichtet hast!« hatte der Sklavenhändler gejammert. »Wer wird ihn jetzt noch wollen?« Und Marcus war mit dem Mund voller Blut und Schmerzen am ganzen Leib dagelegen und hatte nur gehofft, daß ihn jetzt niemand mehr haben wollte. Er konnte sich nicht vorstellen, daß er noch einmal in der Lage wäre, so heftig Widerstand zu leisten. Das nächste Mal würde er nachgeben und sich selbst zur Hure machen. Damals war er siebzehn gewesen.
»Ist es in der Schlacht passiert?« fragte Philyra.
Marcus schüttelte den Kopf, faltete die letzte Tunika zusammen, legte sie oben auf die anderen und hob den ganzen Stapel auf. »Nur eine Rauferei.«
»Aber du hast doch gekämpft. Schließlich bist du nach einer Schlacht versklavt worden.«
»Ja«, bestätigte er, wobei sich ihre Augen trafen. »Ich war bei einer Schlacht dabei. Wir haben verloren.«
Einen Augenblick hing Philyra stumm ihren Gedanken nach. Gedanken über den Krieg im Norden und die ungewisse Freiheit von Syrakus. Sie schüttelte den Kopf, was Marcus als Zeichen dafür deutete, daß er entlassen war. Mit einem Kopfnicken kletterte er mit seinem sauberen und trockenen Wäscheberg die Treppe hinauf.
Es war schon dämmerig, als Archimedes am Seetor ankam. Selbst wenn der Taraser mit Straton Wache geschoben haben sollte, so hatte er sich inzwischen getrollt, denn Straton lehnte allein an der Innenseite der Stadtmauer. Er hatte sich den Schild halb über die Brust gezwängt, ein Bein gegen den schräggestellten Speer gestützt. Beim Anblick von Archimedes richtete er sich auf und schob den Schild wieder auf den Rücken. »Da bist du ja!« sagte er erleichtert. »Als ich mit deiner Frage die Runde machte, zeigte sich mein Hauptmann interessiert. Seiner Meinung nach werden mehr Ingenieure gebraucht, sowohl bei der Armee wie für die Stadt. Er möchte unbedingt mit dir reden und erwartet uns in der Arethusa. Einverstanden?«
Archimedes blinzelte und dankte innerlich seiner Mutter, daß sie auf dem Mantel bestanden hatte. »F-fein!« stotterte er hastig. Vermutlich hatte Stratons Hauptmann während der Abwesenheit des restlichen Heeres den Oberbefehl über die Garnison von Syrakus. Wenn er wollte, konnte er dafür garantieren, daß man Archimedes eine Stelle anbot.
Die Arethusa entpuppte sich als Wirtshaus auf dem Kap Ortygia ganz in der Nähe der gleichnamigen Süßwasserquelle. Archimedes kannte es nicht. Er hatte sich nur selten auf die Zitadelle gewagt. Aber beim Näherkommen fiel ihm auf, daß es ein ordentliches Wirtshaus war, ein großes Gebäude mit einer Steinfassade, vermutlich ein ehemaliges Wohnhaus der Oberschicht. Sein Aushängeschild verriet künstlerische Ambitionen und stellte die Nymphe Arethusa dar, den Schutzgeist der Quelle und Patronin der Stadt. Anmutig ruhte sie im Schilf mit der Zitadelle Orthygia als Hintergrund. Ein prüfender Blick auf ihre wohlgeformten Rundungen genügte, und Archimedes wußte Bescheid: Dieses Wirtshaus verkaufte nicht nur Essen, sondern sorgte gegen Entgelt auch für weibliche Gesellschaft. Resigniert betastete er die Münzen in seinem Geldbeutel. Dieser Abend würde ganz bestimmt nicht billig werden, und er wußte genau, daß die Rechnung an ihm hängenblieb. Trotzdem durfte er nicht jammern: Nach einem kostenlosen, vergnüglichen Abend würde sich Stratons Hauptmann ihm verpflichtet fühlen.
Mit dem Speer über der Schulter stapfte Straton ins große Wirtszimmer und rief einem unterwürfigen Kellner seinen Namen zu. Nach einem prüfenden Blick auf das Wandgemälde mit dem Kentaurengelage und die ziselierten, silbernen Hängelampen erhöhte Archimedes die zu erwartende Rechnung um drei weitere Oboloi. Mit süffisantem Lächeln dienerte sie der Kellner in eines der separaten Eßzimmer des Wirtshauses. Die einzige Liege hatte bereits ein kleiner, drahtiger Mann Anfang Dreißig in Beschlag genommen, der sich von einem Teller Oliven bediente. Als Archimedes und Straton auftauchten, stand er höflich auf. Straton salutierte, Archimedes streckte seine Hand aus.
Lächelnd schüttelte sie der Hauptmann. »Du bist also der Ingenieur?« fragte er. »Ich bin Dionysios, der Sohn des Chairephon und Hauptmann der Garnison in der Ortygia. Ich habe schon bestellt. Ist dir doch hoffentlich recht?«
Dionysios war unbewaffnet, nur ein roter Offiziersmantel hing über der Rückenlehne der Liege und am Arm ein Schwert in der Scheide. Als Straton verlegen im Türrahmen stehenblieb, grinste ihn sein Vorgesetzter an. »Mann, wir sind doch beide außer Dienst«, sagte er. »Mach’s dir bequem.«
Mit einem erleichterten Seufzer stellte Straton seinen Speer samt Schild an die Wand neben der Tür, ließ sich aufs freie Ende der Liege fallen und löste seinen schweren Brustgürtel. Wieder grinste Dionysios, aber diesmal aus Mitgefühl. Er kannte die langen Stunden des Wachestehens und ihre Folgen nur allzugut: wunde Füßen, steifer Rücken und Langeweile.
Für Archimedes blieb nur noch der unbequemste Platz in der Mitte der Liege zwischen den beiden Soldaten. Er kam sich wie das fünfte Rad am Wagen vor. Mit vielen Verbeugungen nahm der Kellner unterwürfig die Bestellungen auf, dann zog er sich zurück.
»Straton hat mir erzählt, daß du gerade aus Alexandria zurückgekommen bist und dich während des Krieges in die Dienste der Stadt stellen möchtest«, sagte Dionysios.
Archimedes nickte. »Aber«, fügte er verlegen hinzu, »ich habe gemerkt, daß ich nicht einfach nach Messana hinauf kann, um mich der Armee anzuschließen. Als ich heimkam - das heißt, mein Vater liegt im Sterben. Ich kann Syrakus nicht verlassen, bis - du verstehst schon, was ich meine. Wenn es etwas gibt, was ich hier in der Stadt tun könnte.« Unsicher brach er ab, obwohl er sich gar nicht so fühlte. Bisher hatte er seinen Vater die Krankheit allein tragen lassen, aber jetzt würde er bei ihm bleiben, bis zum Ende.
»Aha«, sagte Dionysios, »das tut mir leid.«
»Üble Sache, wenn man so heimkommt«, meinte Straton mitfühlend. »Das und dann noch der Krieg.«
Archimedes gab ein undefinierbares Geräusch von sich, das als Zeichen seiner Zustimmung gedacht war.
Nach einer angemessenen Pause erkundigte sich der Hauptmann nach Alexandria.
Während der Vorspeise unterhielten sie sich über die Stadt: das Museion, die Gelehrten, die Tempel und über die Schönheit der Kurtisanen. Zuerst sagte Straton keinen Ton, die Gegenwart seines kommandierenden Offiziers machte ihn nervös. Aber Dionysios war fröhlich und entspannt, und der Wein floß so reichlich, daß alle drei in kürzester Zeit munter miteinander plauderten. Dionysios schwenkte den duftenden Rotwein in seiner breiten Trinkschale und ließ Ägypten hochleben. »Das Haus der Aphrodite«, sagte er, »so nennt man doch Alexandria, oder? Man sagt, dort findest du alles, was es auf der Welt gibt. Alles, was du dir nur wünschen kannst - Geld, Macht, angenehme Atmosphäre, Ruhm, Wissen, Philosophie, Tempel, einen guten König und Frauen, so schön wie die Göttinnen, die einst zu Paris, dem Sohn des Phamos, kamen, um sich von ihm beurteilen zu lassen. Was gäbe ich, wenn ich dort sein könnte!«
»Es ist das Haus der Musen«, pflichtete Archimedes begeistert bei. »Wie der Stein des Herakles das Eisen anzieht, so zieht diese Stadt die klügsten Köpfe der Welt an. Ich wollte gar nicht wieder fort.«
»Aber du bist nach Syrakus zurückgekehrt. Wegen des Krieges?«
Er nickte. »Und weil mein Vater krank war.«
Wieder herrschte einen Moment lang Stille, aber diesmal war Archimedes klar, daß das mehr am Wort Krieg lag als am Taktgefühl seinem kranken Vater gegenüber. Der Krieg war ein Thema, das die beiden Soldaten schwer beschäftigte, ohne daß sie aber darüber sprechen wollten. Vor zwölf Jahren hatte die römische Republik eine Allianz aus allen Griechenstädten Italiens, einem halben Dutzend aufrührerischer italischer Volksstämme und der königlichen Armee von Epirus jenseits der Adria besiegt. Die Streitkräfte hatten unter dem Kommando des brillanten und kühnen epirischen Königs Pyrrhus gestanden, der als der beste General seiner Zeit galt. Wie sollte Syrakus etwas im Alleingang erreichen, woran eine derartige Allianz gescheitert war? Die einzige Hoffnung auf Sieg lag in einem Bündnis mit Karthago - aber Karthago hatte schon immer nach der Zerstörung von Syrakus regiert. Wie sollte man über diesen Krieg diskutieren? Was gab es noch über einen Konflikt zu sagen, bei dem man seine Feinde den eigenen Verbündeten vorziehen mußte?
Der Kellner kam mit dem Hauptgang: ein Gericht aus gegrilltem Aal in Roter-Rüben-Soße. Dann schenkte er Wein nach und verschwand wieder. Dionysios nahm sich etwas Fisch. »Hast du eine Ahnung von Katapulten?« fragte er, womit er endlich zum eigentlichen Geschäft kam, das sie hierhergeführt hatte.
Das anfängliche Unbehagen war bei Archimedes wie weggeblasen. Gesellschaft und Gespräche waren fast so ungezwungen wie in Alexandria, und das Essen sogar noch besser. Schon immer hatte die sizilianische Küche in der ganzen griechischen Welt als Gipfel der Delikatesse gegolten. Er kratzte ein bißchen Fisch auf sein Stück Brot, biß ab und antwortete so, wie es ihm in den Sinn kam. »Das wirklich Interessante daran ist«, verkündete er mit vollem Munde, »wie man die Dinger vergrößern kann. Der kritische Punkt ist der Durchmesser der Bohrung im Peritret. Wenn man die Wurfkraft verstärken will, muß man alle anderen Dimensionen proportional zum vergrößerten Bohrungsdurchmesser erweitern. Also wieder ein abgewandeltes delisches Problem!«
Erst als ihn Kapitän und Wachsoldat verwirrt anstarrten, merkte er, daß seine Gesellschaft ganz und gar nichts Alexandrinisches an sich hatte. »Das Problem, wie man einen festen Körper konstruieren kann, dessen Volumen doppelt so groß ist wie eine gegebene Seite«, erklärte er entschuldigend. »Dazu muß man, hm, die proportionalen Mittelwerte berechnen.«
»Und was ist daran delisch?« fragte Straton.
»Zum ersten Mal wurde das versucht, als die Apollopriester in Delphi ihren Altar ums Doppelte vergrößern wollten.«
»Verdoppelt man nicht einfach alle Maße?«
Archimedes warf ihm einen erstaunen Blick zu. »Nein, natürlich nicht! Angenommen man nimmt einen Würfel mit den Maßen zwei auf zwei, dann ergibt das ein Volumen von acht. Wenn man nun die Maße auf vier verdoppelt, ergibt das aber ein Volumen von vierundsechzig - also achtmal so groß. Was man braucht.«
»Was ich meinte«, unterbrach ihn Dionysios unverblümt, »war, ob du weißt, wie man ein Katapult baut?«
»Übrigens, was ist eigentlich ein Peritret?« erkundigte sich Straton.
Archimedes schaute vom einen zum anderen. »Habt ihr denn eine Ahnung von Katapulten?« fragte er.
»Ich nicht!« erklärte Straton fröhlich.
»Ein wenig«, sagte Dionysios, »das Peritret ist der Rahmen, Straton.«
»Das Ding, wo die Arme einmünden?«
Archimedes tauchte einen Finger in den Wein und skizzierte auf dem Tisch das Peritret eines Torsionskatapults: zwei parallele Holzbretter, die durch Streben voneinander getrennt sind. Dann zeichnete er die beiden Bohrlöcher an den jeweiligen Rahmenenden ein. Aus dem oberen Loch lief eine Reihe gedrehter Sehnen nach unten. Jedes Sehnenbündel faßte einen der Arme, die nach beiden Seiten vom Rahmen wegführten. Das ganze Katapult erinnerte mehr an einen überdimensionalen Bogen, der waagrecht dalag und in der Mitte ein Loch hatte, durch das die Wurfgeschosse austreten konnten. Von einer Armspitze zur anderen lief eine dicke Bogensehne, und unter dem Schwerpunkt des Rahmens war ein Balken mit einem Schlitten angebracht, der das Wurfgeschoß faßte.
Die beiden Soldaten beugten sich über den Tisch und musterten kritisch die Skizze. Wieder kam der Kellner, um die Becher aufzufüllen, und beäugte mißbilligend den verschmierten Tisch, aber ein rascher Blick von Dionysios hinderte ihn am Abputzen.
»Also, wo liegt jetzt der kritische Punkt?« fragte Dionysios.
Archimedes tippte auf die Bohrlöcher. »Die gesamte Wucht des Katapultes liegt in den Sehnen«, sagte er. »Ihre Verwindung läßt die Katapultarme nach dem Zurückziehen vorwärtsschnellen. Je dicker das Sehnenbündel, um so mehr Wucht hat es und um so schwerer können die Geschosse sein. Je größer der Durchmesser des Bohrloches ist, in dem die Sehnen verlaufen, um so wirkungsvoller das Katapult.«
»Und welche Wirkung könnte ein Katapult haben, das du höchstpersönlich baust?«
Archimedes blinzelte zögernd. Mit dieser Frage schien Dionysios den springenden Punkt seiner Erklärung verfehlt zu haben. »In der Theorie gibt es keine Grenze!« protestierte er. »Das wirkungsvollste Katapult, das ich je untersucht habe, war ein ägyptischer Ein-Talenter, aber.«
»Ein-Talenter?« unterbrach ihn Dionysios begeistert. »Du könntest einen Ein-Talenter bauen?« Katapulte mit Steingeschossen wurden nach dem Gewicht der Geschosse, die sie schleudern konnten, eingeteilt. Ein Talent - ungefähr sechsundzwanzig Kilo - entsprach offiziell dem Gewicht, das ein Mensch tragen konnte. Normalerweise bildete der Ein-Talenter das wirkungsvollste Katapult in der Waffenkammer einer Stadt. Ab und zu hatten außergewöhnliche Ingenieure für große Könige ein paar größere Maschinen konstruiert, aber normalerweise waren selbst Ein-Talenter selten. Viele Städte hatten nichts schwereres als einen Fünfzigpfünder.
»Natürlich!« bestätigte Archimedes. »Oder noch einen größeren, aber dafür braucht man spezielle Lade- und Zugvorrichtungen.«
Straton schaute drein, als ob er sich immer weniger wohl in seiner Haut fühlte. Jetzt räusperte er sich und sagte ängstlich: »Herr - gestern hat er noch erzählt, er hätte noch nie eine Kriegsmaschine gebaut.«
Dionysios warf Archimedes einen überraschten und zugleich empörten Blick zu.
»Man muß keines gebaut haben, um zu wissen, wie’s geht!« erklärte Archimedes, um sich gegen den unausgesprochenen Vorwurf der Täuschung zu verteidigen. »Dafür muß man nur das mechanische Grundprinzip begriffen haben. Und das habe ich. Ich werde ein bißchen länger brauchen als ein erfahrenerer Ingenieur, aber ich kann ein funktionierendes Katapult herstellen.«
Dionysios schaute ihn nur noch länger an. Er war nicht überzeugt.
»Schau«, meinte Archimedes, »du mußt mir auch nichts bezahlen, bis ich ein funktionierendes Katapult hergestellt habe.«
Dionysios riß die Augenbrauen hoch. »Einen funktionierenden Ein-Talenter?« fragte er.
»Wenn du das möchtest, und wenn du genügend Holz und Sehnen dafür hast. Du weißt ja, das wird ein Riesending, ja?«
»Natürlich«, pflichtete Dionysios bei, »der König hat so einen in Messana, und der ist knapp sechs Meter breit.« Wieder musterte er Archimedes einen Augenblick, aber inzwischen äußerst nachdenklich, denn er wußte nicht recht, ob er einen Schatz oder einen Narren gefunden hatte, der sich in die eigene Tasche log. Andererseits konnte er sich mit dieser Entscheidung getrost Zeit lassen, wenn kein Geld die Taschen wechseln mußte, bis ein Katapult vollendet war. Er widmete sich wieder seinem Essen. »Als die Armee zur Belagerung von Messana aufbrach«, erzählte er, »hat König Hieron einen seiner Ingenieure in der Stadt zurückgelassen, Eudaimon, den Sohn des Kallikles. Er wollte sichergehen, daß alle Wachttürme der Stadtmauer mit der nötigen Sollstärke an Katapulten ausgestattet werden. In der Hauptsache ging’s ja nur darum, die Sehnen zu erneuern, aber es müssen auch einige neue Maschinen gebaut werden. Ein paar alte sind völlig kaputt, und einige Wachttürme wurden noch nie mit Katapulten bestückt. Eudaimon hat zwar keine Schwierigkeiten, Pfeilkatapulte zu bauen, aber bei den Steinschleudern ist er nicht so gut. Leider besteht der König am meisten auf Steinschleudern, und ganz besonders auf die wirklich großen. Wenn du da ein paar zustande bringst, ist dir deine Stelle sicher.«
»Ich kann Steinschleudern bauen«, sagte Archimedes glücklich. »Wann soll ich anfangen?«
»Komm morgen früh zum Königspalast auf der Zitadelle«, antwortete Dionysios. »Ich werde dich dem Regenten Leptines vorstellen, der wird die Bedingungen für deine Anstellung genehmigen. Aber ich warne dich: Ich werde dich und dein Angebot beim Wort nehmen und empfehlen, daß man dich erst dann bezahlt, wenn dein erstes Katapult funktioniert und abgenommen wurde.«
Archimedes lächelte. »Danke schön!« rief er mit einem Seitenblick auf seine Tischplattenskizze. Plötzlich war er innerlich ganz aufgeregt. Ohne umsichtige Planung würde aus einem Ein-Talenter für Steingeschosse ein unhandliches Objekt. Das war etwas Neues, etwas wirklich Interessantes. Er wischte mit seiner Serviette die Zeichnung ab, tauchte den Finger erneut in den Weinbecher und fing zu rechnen an.
Die beiden anderen beobachteten ihn einen Moment lang, dann warf Dionysios Straton einen Blick zu und zog die Augenbrauen hoch.
Straton schaute bedrückt zurück.
»Was ist los?« fragte der Hauptmann.
»Schätzungsweise habe ich eine Wette verloren«, antwortete der Soldat.
Dionysios schaute erst ihn an und dann den inzwischen völlig versunkenen Archimedes. Er konnte sich denken, worum die Wette ging, und - lachte. »Nimm’s leicht!« meinte er tröstend. »Dein Verlust wird der Gewinn der Stadt. Und außerdem haben sie hier Flötenspielerinnen, die dich über noch viel schwereren Kummer trösten.« Er klatschte in die Hände, und der Kellner, der schon die ganze Zeit ungeduldig draußen vor der Tür gestanden hatte, kam ins Zimmer, trug die Teller ab und dirigierte die Flötenspielerinnen herein.
Im Haus am Löwenbrunnen wartete Philyra auf ihren Bruder. Phidias war in seinem Krankenzimmer schon früh in einen unruhigen Schlummer gefallen. Arata hatte sich für eine Matratze auf dem Boden neben ihrem Mann entschieden, wo sie schnell wach wurde, falls er sie während der Nacht brauchte. Die Sklaven begaben sich in den heißen Oberstock hinauf, wo sie im hinteren Teil des Hauses ein Zimmer teilten. Nur Philyra ging mit der breithalsigen Laute, dem Geschenk ihres Bruders, in den Innenhof hinaus, setzte sich auf die Bank neben der Tür und begann, vorsichtig an den Saiten zu zupfen.
Lauten waren für die Griechen vergleichsweise neue Instrumente, die bis zu den Feldzügen Alexanders des Großen unbekannt gewesen waren. Philyra hatte schon einmal eine gesehen, aber noch keine selbst in den Händen gehalten. Es war das schönste Geschenk, das sie je bekommen hatte: ihre eigene Laute, und noch dazu ein ungewöhnlich schönes Instrument mit einem Schallkasten aus poliertem Rosenholz und einem Griffbrett mit Muschelintarsien. Obendrein hatte sie einen vollen, lieblichen Klang.
Philyra zupfte der Reihe nach jede der acht Saiten, dann drückte sie alle zusammen ganz oben am Griffbrett nieder und schlug sie erneut an. Vor Begeisterung verschlug es ihr den Atem. Sie war eine gute Kitharaspielerin und wußte, daß man den Ton einer Saite erhöht, indem man sie mit dem Finger aufs Griffbrett drückt. Allerdings galt dies auf der Kithara als virtuoses Kunststück, das nicht allzuoft eingesetzt werden konnte. Die Laute versprach eine ganz neue musikalische Dimension.
Die ganze Familie war schon immer musikalisch gewesen. Seit sich Philyra erinnern konnte, hatten Arata und Phidias beinahe jeden Abend zusammen musiziert, er auf der Kithara, sie auf der Lyra. Als Archimedes älter wurde, hatte er sie meistens auf den Auloi begleitet, einer paarweise angeordneten, weich klingenden Holzflöte. Und als Philyra soweit war, ein Instrument zu lernen, hatte auch sie sich an den Konzerten beteiligt. Manchmal hatte die Familie stundenlang bis spät in die Nacht hinein gespielt. Einer hatte eine Melodie intoniert, die von den anderen aufgenommen, verändert und wieder zurückgegeben wurde. Oft hatte sich Philyra die Musik als Idealbild der Welt vorgestellt, in dem die besten Dinge aus der realen Welt versammelt waren, nur klarer, stärker und ergreifender. Da war die Beständigkeit ihrer Mutter, die ihrem gemeinsamen Leben Balance und Rhythmus gab. Da die träumerische Zärtlichkeit ihres Vaters und seine urplötzlich übersprudelnde Begeisterung. Und da war ihr Bruder, aber ganz anders als meistens im Gespräch, kein Träumer, sondern ein so gnadenlos präziser Mensch, daß einem fast schon bange wurde. Meistens konnte sie ihm nur mit Mühe folgen, so tiefgründig und kompliziert war sein Spiel, aber am Ende löste er seine musikalischen Knoten immer in eine zärtlich einfache Melodie auf. Als er nach Alexandria ging, hatte sie sich ein wenig an den Auloi versucht, war aber dann doch wieder bei ihrer Lyra und der Kithara gelandet. Ein flötespielendes Mädchen galt als leicht anrüchig, und außerdem konnte sowieso niemand so spielen wie Medion.
Sie hatte ihn vermißt und war wütend gewesen, daß er nicht nach Hause kam, als man es von ihm erwartet hatte. Als schließlich ihr Vater krank wurde, hatte sich ihre Wut noch gesteigert. Aber jetzt war er wieder da, und allmählich schmolz auch ihr Groll. Hoffentlich kam er recht bald von seinem Umtrunk mit dem Soldaten zurück, damit sie noch ein bißchen zusammen musizieren konnten.
Ungefähr eine Stunde experimentierte sie auf der Laute herum, dann wurde sie von der enormen Konzentration müde, brachte das Instrument in ihr Zimmer und kam statt dessen mit ihrer alten Kithara zurück. Mühelos ließ sie mit der linken Hand eine langsame, zarte Melodie erklingen, während sie dazu mit dem Piektrum in der rechten Hand ab und zu Begleitakkorde anschlug.
»Weißt du noch«, sang Philyra mit ihrer tiefen Stimme, die mit den Saitenklängen verschmolz, »weißt du noch, als ich zu dir dies heilig’ Wort gesagt?
>Die Zeit ist süß, doch schnell vorbei, kein Flügelschlag sie je erreichte Sieh her! Sie liegt im Staub, die Blume dein<.«
Sie war sehr gut, dachte Marcus, der lauschend am Fenster stand. Aber das war nichts Überraschendes. Schon vor seiner Abreise hatte sie gut gespielt, und während der drei Jahre war sie noch besser geworden.
Hinter ihm hatte sich Chrestos auf der gemeinsamen Pritsche zusammengerollt, während Sosibia hinter einem Vorhang ein zweites Bett mit ihrer Tochter teilte. Er konnte nicht schlafen, und so stand er da, schaute in den dunklen Innenhof hinunter und lauschte der Musik.
Beim Eintritt in den Haushalt hatten ihn die nächtlichen Konzerte verwirrt, denn bei ihm zu Hause hatte es nicht viel Musik gegeben. Seine Mutter hatte manchmal während der Arbeit gesungen und er mit seinen Brüdern draußen auf dem Feld, aber im übrigen war Musik etwas gewesen, wofür man andere bezahlte. Er mochte Musik und hatte immer, wenn er Geld hatte, einen Musikanten bezahlt. Jetzt konnte er sich Musik nicht leisten und bekam sie doch die ganze Zeit umsonst. Zuerst hatte er sich über die Freude geärgert, die er dabei empfand. Wertete er nicht seine eigene Persönlichkeit ab, wenn er irgendeinen Aspekt seines Sklavendaseins genoß? Aber allmählich hatte er sich an die ständige Gegenwart von Musik gewöhnt und wurde für ihre Strukturen und Untertöne immer sensibler. Beinahe hatte er schon vergessen, wie ein Leben ohne sie war.
Philyra sang weiter. Klar und lieblich stieg ihre Stimme in die Dunkelheit empor. Alte Volkslieder, neue Gesänge von den Königshöfen, Liebeslieder und Hymnen an die Götter. Stumm stand Marcus am Fenster, lauschte und betrachtete die Sterne über den Dächern von Syrakus. Nach einer Weile hörte sie zu singen auf und spielte nur noch, wobei sie die Melodie von der rechten Hand in die linke wandern ließ und wieder zurück. Er lehnte sich mit dem Rücken an die Schlafzimmerwand und hörte weiter zu und grübelte darüber nach, warum Notenakkorde so viel mehr ausdrücken können als jede menschliche Zunge.
Schließlich brach Philyra gähnend ab und blieb mit der Kithara im Schoß still sitzen. Marcus stand schnell auf, weil er sehen wollte, wenn sie fortgging, aber sie blieb. Da begriff er, daß sie auf ihren Bruder wartete und inzwischen zur eigenen Unterhaltung gespielt hatte. Er zögerte, sich ihr zu nähern. Er hatte Bedenken. Aber was konnte es einem Haussklaven schaden, wenn er ihr riet, zu Bett zu gehen? Er drehte dem Fenster den Rücken zu, schlich leise aus dem Zimmer, um Sosibia nicht zu stören, und die Treppe hinunter.
»Herrin?« rief er, als er den Innenhof betrat. Trotz der Dunkelheit sah er, wie sie aufsprang.
»Was willst du?« rief sie. Sie hatte ihn verdächtigt, und aus Schuldgefühl bekam ihre Stimme einen scharfen Unterton.
Marcus blieb wenige Schritte von ihr entfernt stehen. Im Dunkeln war sein Gesicht nicht zu erkennen. »Herrin, bleib nicht die ganze Nacht auf«, sagte er freundlich. »Vielleicht kommt dein Bruder erst in Stunden heim.«
Sie stieß einen ungeduldigen Laut aus. »Aber er muß doch bald wieder da sein! Er ist doch schon stundenlang weg!«
»Vermutlich spendiert er diesem Mann noch ein nächtliches Vergnügen. Das heißt, daß er vielleicht erst um Mitternacht da sein wird. Du hast keinen Grund, aufzubleiben. Ich werde ihm die Tür aufmachen, wenn er kommt.«
Die Nacht konnte Philyras Stirnrunzeln verbergen, aber nicht den Argwohn in ihrer Stimme, als sie sagte: »Aber früher hat er doch auch nicht bis nach Mitternacht getrunken!«
Du Unschuldslamm! dachte Marcus liebevoll. Wie konnte sie auch nur im entferntesten annehmen, daß sich Archimedes an seine früheren Stundenpläne halten würde, nachdem er drei Jahre allein in einer Stadt verbracht hatte, die für ihren Luxus bekannt war! »In Alexandria war er oft noch spät weg«, erzählte er ihr. »Und wenn er sich die Unterstützung dieses Mannes sichern will, dann muß er sich heute abend nach dessen Wünschen richten, egal, was es ist. Wahrscheinlich ist es ein gutes Zeichen, daß er so spät dran ist. Die Gelegenheit scheint günstig.«
Einen Augenblick sagte Philyra gar nichts. Sie redete sich ein, Marcus wolle damit andeuten, daß sich ihr Bruder in Alexandria einen kostspieligen Lebenswandel angewöhnt hatte und hier, laut Marcus, der Grund für das verschwundene Geld zu suchen sei. »Was hat er denn so spät in Alexandria noch gemacht?« fragte sie schließlich mit schriller Stimme. Eigentlich wollte sie die Wahrheit gar nicht wissen, andererseits wäre es unfair, Marcus weiter zu verdächtigen, ohne zu wissen, was er dazu zu sagen hatte.
Aber die Antwort kam sofort und in sanftem Ton: »Nichts, worüber du dir den Kopf zerbrechen müßtest, Herrin. Er hatte viele Freunde, die beieinander saßen, tranken, sich unterhielten und -musizierten, die ganze Nacht lang. Wenn am anderen Tag keine Vorlesung war, ging das bis Sonnenaufgang.«
Es klang noch immer nicht wie ihr Bruder. Er hatte doch noch nie gerne getrunken oder geplaudert, und enge Freunde hatte er auch nie gehabt. Sie versuchte, sich eine Frage auszudenken, mit der sie Marcus bei einer Lüge ertappen konnte, aber im selben Moment klopfte es kurz an die Haustür.
Marcus öffnete, und Archimedes stolperte herein. Er roch nach Wein.
Er war nicht bis zum unvermeidlichen Abschluß des Abends in der Arethusa geblieben. Der nahe Tod seines Vaters hatte seine Lust schrumpfen lassen, und außerdem hatten die Flötenmädchen der Arethusa trotz ihrer anderweitigen Talente ihr Instrument nicht sonderlich gut beherrscht. Schon beim Zuhören hatten sich ihm die Haare gesträubt.
Unter anderen Umständen hätte er sich vielleicht selbst zum Spielen angeboten und die Mädchen nur tanzen lassen, aber mit diesem Angebot hätte er nur äußerst anzügliche Bemerkungen provoziert. So hatte er seine Berechnungen gemacht, bis seine Zechkumpane gut versorgt waren, dann unter ausführlichen Entschuldigungen die Rechnung bezahlt und war nach Hause gegangen.
»Kannst du mir eine Lampe holen?« fragte er Marcus atemlos, wobei er sich den verwelkten Petersilienkranz des Flötenmädchens noch weiter auf den Hinterkopf schob. »Ich muß unbedingt etwas aufschreiben.«
Philyra sprang auf und umarmte ihn, aber er schüttelte sie schnell ab. »Vorsicht!« rief er. »Du verschmierst ja alles!«
Marcus trollte sich schnaubend.
»Was verschmieren?« wollte sie wissen.
»Ein paar Rechnungen, die ich gemacht habe. Marcus! Hast du auch was zum Schreiben?«
»Du hast Rechnungen gemacht?« fragte Philyra verblüfft.
Er nickte. Im Schein der Lampe, mit der Marcus zurückgekommen war, konnte man die Kopfbewegung erkennen. Archimedes hielt seinen linken Ärmel, der voller Ziffern war, zum Licht hin. Er hatte sie mit Kerzenruß notiert.
»Medion!« rief Philyra entsetzt. »Dein neuer Mantel ist ja völlig verschmiert!«
»Keine Angst«, meinte er treuherzig, »ich kann ’s noch lesen.«
Weil Marcus nichts zum Schreiben mitgebracht hatte, nahm Archimedes das Waschbrett, suchte sich einen Kreidebrocken und begann, die Ziffern von seinem Ärmel abzuschreiben. »Sobald ich ein kleineres Katapult sehen kann, werde ich die meisten korrigieren müssen«, erklärte er den beiden, während er eifrig schrieb. »Einen Großteil der Maße konnte ich nicht vergrößern, weil ich sie nicht mehr genau im Kopf hatte, aber das hier müßte eigentlich reichen, damit ich schon mal das Holz bestellen kann. Damit geht’s dann schneller.«
»Du hast also den Auftrag«, stellte Marcus befriedigt fest. Geistesabwesend nickte Archimedes und begutachtete stirnrunzelnd seine Kreiderechnungen.
»Und ich dachte, der Mann, mit dem du dich heute abend getroffen hast, wäre nur ein einfacher Soldat!« rief Philyra.
»Oh«, meinte ihr Bruder zerstreut, »ja. Aber er hatte sich schon mal umgehört, mit wem ich reden sollte, und da hat mich sein Hauptmann sehen wollen. Sie brauchen wirklich Ingenieure. Ich soll Steinschleudern bauen, zuerst einen Ein-Talenter.«
»Und was bringt das ein?« wollte Marcus wissen.
»Hm? Müssen wir noch besprechen. Nichts, bis das erste Katapult fertig ist. Aber zur Zeit scheint niemand in der Stadt in der Lage zu sein, große Steinschleudern zu bauen. Und der Hauptmann meinte, daß der Tyrann gerade darauf am meisten Wert legt.« Stolz fügte er hinzu: »Also wird’s meiner Meinung nach schon in Ordnung gehen. Ich treffe mich deswegen morgen früh mit dem Regenten Leptines.«
»Oh, Medion!« rief Philyra, die nicht recht wußte, ob sie begeistert oder verzweifelt sein sollte. »Du mußt mir sofort deinen Mantel geben. Schließlich kannst du nicht voller Ruß zum Regenten gehen!«
»Aber du kannst doch nicht zu dieser nachtschlafenden Zeit zu waschen anfangen!« protestierte Marcus.
Archimedes warf einen schiefen Blick nach oben und blinzelte. Endlich hatte er begriffen, daß seine Schwester auf ihn gewartet hatte. »Philyrion, mein Schatz«, sagte er streng, »du solltest längst im Bett sein.« Dann bemerkte er, daß sie die Kithara festhielt, und fügte hinzu: »Zum Musizieren ist es jetzt sowieso zu spät, aber morgen abend können wir ein Konzert veranstalten.«
»Zur Feier deiner neuen Anstellung!« meinte Philyra, wobei sie glücklicherweise den Zustand seines Mantels vergaß. »Mama und Papa werden ja so froh sein!«
Am nächsten Morgen berichtete Archimedes seinen Eltern von seinem Erfolg. Wie es seine Schwester erwartet hatte, waren sie hocherfreut. Nachdem sie aber auf die ersten Fragen bezüglich der Bezahlung keine Antwort bekamen, erkundigte sich Phidias wehmütig: »Wirst du dann noch viel Zeit zum Studieren haben?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete Archimedes verlegen. Er wollte seinem Vater gegenüber nicht zugeben, daß er künftig sein Gelehrtendasein nur noch als Randepisode im Leben betrachtete. »Wahrscheinlich - wahrscheinlich die nächste Zeit nicht sehr viel, Papa. Wegen dem Krieg. Aber ich werde mein Möglichstes tun, damit mir immer noch Zeit für Gespräche mit dir bleibt, ganz bestimmt.«
»Oi moi, der Krieg!« seufzte Phidias. »Ich bete darum, daß unser König recht bald einen Ausweg für uns findet. Das wird ein schlimmer Krieg, mein Archimedion, ein sehr schlimmer. Unsere schöne Stadt gleicht einer Taube, die man mit zwei Kampfhähnen in die Arena gesperrt hat. Wenigstens bin ich froh, daß ich das alles nicht mehr mitansehen muß. Mein lieber Junge, du mußt dich an meiner Stelle um deine Mutter und deine Schwester kümmern!«
Archimedes ergriff die zittrige Hand seines Vaters. »Das werde ich«, versprach er ernst. »Trotzdem hoffe ich, Papa, daß König Hieron einen Ausweg findet. Man sagt, er wäre ein weiser Mann. Vielleicht bringt er uns doch noch den Frieden.«
»Ein guter Herrscher war er ja«, räumte Phidias, wenn auch zögernd, ein. Er hatte immer die unruhigen Demokratiebestrebungen der Stadt unterstützt. Aber selbst Hierons Feinde mußten zugeben, daß er ein guter Herrscher war. Vor elf Jahren war er in einem unblutigen Militärstreich an die Macht gekommen und hatte seither ausgewogen, menschlich und strikt nach dem Gesetz regiert. Sehr zur Verwunderung aller Bürger, die von einem Tyrannen kein derartiges Verhalten erwarteten.
»Ja, ich bete, daß du recht hast«, fuhr Phidias fort, dann lächelte er seinen Sohn an. »Ich bin froh, daß du wieder da bist«, meinte er zärtlich. »Mir wurde immer angst und bang bei dem Gedanken, was mit dem Haus passiert, wenn es in Kriegszeiten ohne Oberhaupt ist. Und nun, mein Kind, denkst du dir eine Waffe aus, um unsere Feinde zu zerstören. Und vergewissere dich ja, daß du dafür einen guten Preis bekommst!«
»Jawohl, Papa.« Archimedes gab seinem Vater einen Kuß auf die Stirn, küßte auch seine Mutter, die sich um den Kranken kümmerte, und trat dann in den Innenhof hinaus.
Dort versuchte Philyra gerade vergeblich, seinen Mantel zu reinigen. Sie hatte ihn gebürstet und ausgeklopft und kochendes Wasser darüber geschüttet. Leider hatte sie damit nur erreicht, daß sich der fettige Lampenruß noch tiefer im Gewebe ausbreitete. Besorgt rollte sie beim Anblick ihres Bruders die Augen. »Leider mußt du etwas anderes anziehen«, erklärte sie ihm.
»Ist sowieso zu heiß für einen Mantel«, antwortete er.
Am Fuß der Treppe tauchte Marcus mit einem alten Mantel aus schlichtem, ägyptischem Leinen auf. »Der hat aber Weinflecken!« fauchte ihn Philyra ungeduldig an.
»Aber wenn man den Saum geschickt darüberfaltet, sieht man’s nicht«, antwortete Marcus, der seinen Vorschlag gleich in die Tat umsetzte.
Stöhnend breitete Archimedes die Arme aus und ließ geduldig von seiner Schwester und seinem Sklaven den Leinenmantel um sich drapieren. Er bestand lediglich darauf, daß der Überwurf unter dem rechten Arm hindurch geführt wurde und nicht darüber. »Aber es sieht würdevoller aus, wenn man ihn über beide Schultern trägt!« protestierte Philyra. »Man schwitzt auch mehr!« antwortete Archimedes. Die beiden anderen traten einen Schritt zurück, um zu prüfen, ob er sich auch wirklich beim königlichen Schwiegervater sehen lassen konnte. Archimedes wiederum musterte Marcus nachdenklich.
Er hatte mit sich gerungen, ob er Marcus zur Hilfe beim Katapultbau heranziehen sollte. Zweifelsohne konnte er ihm nützlich sein. Er hatte ihm bei den Wasserschnecken und bei Dutzenden von weniger erfolgreichen Maschinen geholfen und wußte, wie man technische Bauanleitungen realisiert. Er war kräftig, schnell und konnte geschickt mit Säge und Hammer umgehen. Andererseits -andererseits fühlte sich Marcus noch immer eindeutig jenen Menschen verpflichtet, gegen die die Katapulte eingesetzt werden sollten. Obendrein würde ihn der Katapultbau in jeden Winkel der Militärwerkstätten und des Arsenals führen - also in alle strategisch entscheidenden Gebäude, wo Syrakus am verletzbarsten war. Wenn jemand hier ein Feuer legen würde.
»Marcus«, sagte Archimedes, »ich möchte, daß du hierbleibst und aufpaßt, ob meine Mutter irgendeine Arbeit im Haus erledigt haben möchte.«
Der Sklave verzog keine Miene. Er hatte dieses Problem kommen sehen, hatte aber nicht erwartet, daß auch sein Herr soviel Weitsicht besitzen würde. »Du möchtest also nicht, daß ich mit dir komme, Herr?«
Archimedes schüttelte den Kopf. »Du bist kein Samnite«, erklärte er ruhig.
Einen Augenblick stand Marcus da und musterte ihn stirnrunzelnd. Er war sich nicht sicher, ob er sich erleichtert fühlte, weil er nicht zur Konstruktion von Geräten herangezogen wurde, die seinen eigenen Leute schaden konnten, oder ob er verletzt war, weil sein Herr ihn des Verrats verdächtigte. Er spürte Philyras’ Blicke auf sich, schockierte, anklagende Blicke. Glaubte sie allen Ernstes, er wäre glücklich, wenn ihre Stadt an Rom fiele, ihr Bruder getötet und sie selbst vergewaltigt und versklavt würde? Schließlich sagte er: »Herr, ich würde nie etwas tun, was dieser Stadt oder diesem Haus Schaden zufügen würde, das schwöre ich. Und wenn ich lüge, dann mögen mich die Götter mit äußerster Härte strafen!«
»Ich glaube dir, weil du geschworen hast«, sagte Archimedes, »trotzdem halte ich es für besser, wenn du daheim bleibst.«
Marcus zog die Schultern hoch. »Sehr wohl, Herr.«
Archimedes klopfte ihm auf den Rücken. Dabei fiel der Leinenmantel herunter. Er war zu kurz und blieb trotz des umgeschlagenen Saumes nicht ordentlich liegen. Archimedes drapierte ihn ziemlich schief und trollte sich.
»Er glaubt, du würdest die Stadt verraten!« rief Philyra erregt, sobald sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte. »Jetzt mußt du es mir aber gestehen: Was für eine Sorte Italiener bist du?«
»Was macht das für einen Unterschied?« grollte Marcus. »Ich bin doch nirgends ein Bürger. Außerdem, welchen Anspruch kann diese Stadt auf mich erheben? Schließlich hat ja auch niemand je so getan, als ob ich aus freien Stücken hier wäre.« Ein wenig war er selbst über seine Ehrlichkeit überrascht. »Ich habe geschworen, daß ich nichts tun werde, was dieser Stadt schaden könnte. Und Archimedes hat es mir abgenommen. Reicht das immer noch nicht?«
»Weißt du denn, was für Leuten die Römer in Sizilien zu Hilfe gekommen sind?« wollte Philyra wissen.
Wieder zog Marcus unglücklich die Schultern hoch. Die Römer waren in Sizilien einmarschiert, um der Stadt Messana gegen Syrakus zu helfen. Aber Messana war ein Räubernest, die Heimat von Banditen. Vor über zwanzig Jahren hatte ein früherer Tyrann von Syrakus eine Gruppe italischer Söldner, Kampanier, als Garnison in dieser Stadt postiert. Angelockt durch den Reichtum Messanas, hatten sie die chaotische Situation beim Tod des Tyrannen zu ihrem Vorteil ausgenutzt und die Stadt beschlagnahmt. Sie hatten alle Männer ermordet und Frauen und Kinder zu ihren Sklaven gemacht. Anschließend hatten die Kampanier, die sich nun »Mamertiner« -Söhne des Mars - nannten, sämtliche Nachbarstädte, die unter syra-kusischem Schutz standen, überfallen oder von ihnen Schutzgelder erpreßt. Ab und zu war Syrakus gegen diese Banditen zu Felde gezogen, soweit es Karthago und die innenpolitische Situation erlaubten, aber leider nur mit geringem Erfolg - bis Hieron an die Macht kam. Er hatte die Mamertiner auf dem Schlachtfeld besiegt und seinerseits Messana belagert. Um ihren Kopf zu retten, hatten sich die Kampanier an beide Großmächte der westlichen Welt gewandt: an Karthago und an Rom.
Karthago hatte als erstes reagiert. Da es Syrakus schon immer gern geärgert hatte, hatte es eine Schutztruppe nach Messana entsandt. Aber die karthagische Intervention hatte eine Antwort der neuen Herrin von Italien provoziert. Erst vor sechs Jahren war Rhe-gium, das auf der anderen Seite der Meerenge direkt gegenüber von Messana lag, an Rom gefallen. Und Rom hatte keine Lust, seiner afrikanischen Gegenspielerin die Kontrolle über Messana zu gestatten. Also startete es seinen eigenen Feldzug gegen die mamertinische Stadt. Die Mamertiner zogen eine römische Garnison der karthagischen vor - schließlich waren sie immer noch Italiener - und jagten die Karthager zum Teufel. Und Syrakus, das lediglich ein dauerndes Ärgernis vom Hals haben wollte, fand sich plötzlich als Verbündete an der Seite Karthagos wieder und - im Krieg mit Rom.
»Meiner Meinung nach hätten die Römer nicht nach Sizilien kommen sollen«, murmelte Marcus. »Die ganze Sache stinkt zum Himmel und damit auch der ganze Krieg. Die Mamertiner verdienen keine Unterstützung.« Mit einem Blick in Philyras argwöhnische Augen erklärte er plötzlich mit Nachdruck: »Herrin, bitte, glaub mir. Nie im Leben werde ich dieses Haus verraten.«
Ihr Argwohn wich einem fragenden Staunen. Da merkte er, daß er das Richtige gesagt hatte, und lächelte.
Den ganzen Weg zur Zitadelle rutschte der Leinenmantel herunter. Wie bei allen Mänteln waren auch hier an den Ecken jeweils Gewichte eingenäht, um das Drapieren zu erleichtern, aber sobald man den Saum umlegte, reichte das nicht mehr aus. An den Eingangstoren zur Zitadelle gab Archimedes auf, schüttelte den Mantel aus und drapierte ihn wieder neu. Leider sah man diesmal die Flek-ken. Unterwegs hatten sich neue Staubflecken angesammelt. Nach einem vergeblichen Putzversuch spazierte Archimedes durchs Tor, dann ging er am Apollotempel vorbei mitten hinein ins Herz der Ortygia.
König Hierons Haus war kein Palast, sondern eine geräumige, elegante Villa in einem Grünviertel der Zitadelle in der Nähe der Ratsversammlung. Da keine Wachen davorstanden, blieb Archimedes unter dem Säulenportal stehen und überlegte, ob er an die Tür klopfen oder draußen auf Dionysios warten sollte. Verstohlen wan-derte sein Blick links und rechts die breite Straße hinauf, die im ruhigen Morgenlicht menschenleer dalag. Also klopfte er an.
Sofort öffnete ein Mann mittleren Alters in einer roten Tunika die Tür und musterte ihn mißbilligend. »Dein Begehren?« wollte er wissen.
»Ich, hm«, stotterte Archimedes, »ich soll heute morgen den Regenten treffen. Dionysios, der Sohn des Chairephon, hat mir gesagt, ich sollte mich mit ihm wegen eines Auftrages unterhalten. Ich bin, hm, Ingenieur.«
»Katapulte«, erwiderte der Mann mittleren Alters wegwerfend. »Du heißt Archimedes? Na schön, du wirst erwartet. Hauptmann Dionysios ist gerade beim Regenten, aber die beiden haben zu tun. Du wirst dich gedulden müssen.«
Er dirigierte Archimedes ins Haus und geleitete ihn zu einem Vorzimmer mit gewölbter Decke, das auf einen Garten hinausging. Entlang der Marmorwände standen Bänke. Er setzte sich auf eine davon. Der Mann mittleren Alters ließ Archimedes, wo er war, und verschwand auf demselben Weg, den sie gekommen waren, wieder im Haus. Archimedes überlegte, ob das der Türhüter gewesen war. Wenn ja, dann handelte es sich um ein äußerst barsches, hochnäsiges Exemplar. Aber vielleicht waren ja in den Königshäusern alle Sklaven so. Seufzend betrachtete Archimedes den Marmorboden zu seinen Füßen und rutschte mit einer Sandale darauf herum. Dann holte er aus seiner Tasche das Papyrusstück, auf das er seine Berechnungen aus der vergangenen Nacht und noch ein paar zusätzliche interessante Gedanken übertragen hatte, die ihm heute morgen eingefallen waren und die er gerne noch weiter ausgebaut hätte. Hätte er doch nur daran gedacht, Rohr und Tinte mitzubringen. Während er sich noch nach einem möglichen Ersatz umsah, hörte er eine Flöte spielen.
Und sofort wußte er: ein Tenoraulos, in lydischer Tonart gestimmt, der eine Variation über ein Thema aus einer Arie von Euri-pides spielte. Einige Minuten lauschte er konzentriert. Der Spieler war gut. Die Melodie ging zu Ende, Pause, und dann setzte die Musik wieder ein, diesmal in einem merkwürdig keuchenden Ton, der schon beinahe falsch klang. Er grinste in sich hinein. Diesen Ton kannte er gut. Im Inneren des Aulos befand sich ein Metallring, mit dessen Hilfe der Spieler mehrere Grifflöcher zudecken und damit verschiedene Tonarten auf einem einzigen Instrument intonieren konnte. Der Spieler hatte den Ring geöffnet, der die Griffe der lydi-schen Tonart von der hypolidischen trennte, und versuchte nun, die Noten dazwischen zu spielen. Dasselbe hatte Archimedes auch einmal mit einigen äußerst komplizierten Griffen versucht, aber es hatte trotzdem nicht funktioniert.
Er stand auf und schlurfte aus dem Vorzimmer in den Garten hinaus, immer hinter der Musik her. Er kannte noch eine Methode, um diese Zwischennoten zu spielen. Und dieses Wissen mußte er mit einem Mitaulisten teilen, das war er ihm einfach schuldig.
Über eine Säulenhalle führte ein Durchgang vom ersten Garten in einen zweiten, in dem Rosen blühten und unter einem wilden Wein ein mit Nymphen verzierter Brunnen stand. Auf dem Brunnenrand saß der Flötenspieler - ein Mädchen, ein bis zwei Jahre älter als Philyra. Sie trug eine rosenfarbene Tunika und dazu einen Silbergürtel. Ein silbernes Netz hielt ihre schwarzen Haare zusammen, aber durch das Lederband, das die meisten Aulisten zur Entlastung der Wangen während längerer Übungen trugen, war es verrutscht. Sie war so in ihr Spiel vertieft, daß sie Archimedes nicht kommen hörte. Eine echte Aulistin mit Leib und Seele und nicht nur zum Zeitvertreib. Er überlegte, wer sie war. Ihr Kleid verriet ihren Reichtum, aber für die Gemahlin des Königs war sie zu jung und für seine Tochter zu alt. Wahrscheinlich irgendeine Konkubine, entschied er. Er hustete, um ihre Aufmerksamkeit zu erregen.
Verärgert über die Unterbrechung senkte sie den Aulos und runzelte die Stirn. Ihre Augen waren tiefschwarz. Gleich wird sie mir befehlen, ich soll mich wieder in den öffentlichen Teil des Hauses begeben, dachte er.
»So geht das nicht«, sagte Archimedes rasch, »aber wenn du einen Baritonaulos nimmst und ihn in der dorischen Tonart stimmst, bekommst du den gewünschten Effekt, wenn du das tiefe B vermeidest.«
Der Ärger in ihren Augen verwandelte sich in Interesse. Sie nahm eine zweite Flöte vom Brunnenrand. Es war eine Altflöte. »Das ist meine zweite«, sagte sie.
»Dann stimme die in der lydischen Tonart und die Tenorflöte in der dorischen! Aber Lydisch und Hypolydisch passen einfach nicht zusammen, da kannst du die Finger verdrehen, wie du willst. Als ich’s ausprobierte, klang’s sogar noch fürchterlicher als bei dir.«
Sie strahlte. »Danke für das Kompliment! Dorisch ist also besser?«
»Versuch’s!«
»Und ob!« Das Mädchen veränderte den Metallring an ihrem Te-noraulos und stimmt das Instrument auf dorisch und anschließend die Altflöte auf lydisch. Dann hob sie beide an die Lippen und begann noch einmal mit der Variation des Euripides. Ihre Augenbrauen gingen immer weiter in die Höhe. Sie spielte das Stück bis zum Ende, wobei sie vom einen Aulos zum anderen wechselte, von einer Tonart in die Nachbartonart. Bittersüß und traurig verteilten sich die Töne durch den Garten. Als sie fertig war, setzte sie die Flöten ab und schaute ihn verblüfft und triumphierend zugleich an. »Du hast recht!« rief sie. Sie strahlten einander an.
Dann wischte sie die Mundstücke ab und fragte: »Bist du ein Meister?«
»Was? Ach so, ein Flötenspieler. Nein, ich bin Mathematiker.« Dann biß er sich auf die Lippen und verbesserte sich: »Ingenieur. Ich habe eine Verabredung mit dem Regenten, um über den Bau von einigen Katapulten zu verhandeln.«
»Katapulte!« rief sie. »Ich hätte nie erwartet, daß ein Maschinenbauer musikalisch ist.«
Er zuckte die Schultern. »Eigentlich hilft das sogar dabei. Man muß sie nach Gehör stimmen.«
»Katapulte?«
»Hm, die Sehnen. Wenn die beiden Sehnenbündel eines Katapults nicht übereinstimmen, wird die Maschine beim ersten Abfeuern die Geschoßbahn verziehen.«
Sie lachte. »Was machst du denn, um sie zu stimmen? Zupfst du wie bei einer Lyra daran herum und ziehst den Wirbel stramm?«
»Genau! Nur daß man die Sehnen dreht und nicht den Wirbel. Dazu braucht man eine Winde und Keile.«
»Das gefällt mir! Die Saiteninstrumente: Lyra, Kithara, Harfe, Laute und - Katapult. Vermutlich haben die großen einen tiefen Klang und die kleineren einen hohen, oder?« Er nickte, und wieder lachte sie. »Jemand sollte einen Chor für Katapulte schreiben«, erklärte sie, »für Skorpione, Dreißig- und Fünfzigpfünder.« Wieder hob sie die Auloi an den Mund und pfiff einen verrückten Tanz aus drei völlig unzusammenhängenden Noten.
Archimedes grinste. »Einer meiner Freunde versucht, ein luftgetriebenes Katapult zu bauen«, sagte er. »Das könnte dann den Flötenpart übernehmen. Aber leider kommt da immer nur peng heraus, und das auch noch sehr laut. Vielleicht verwenden wir’s doch besser als Schlagzeug.«
»Oh, nein!« rief sie, senkte ihre Auloi und legte eine Hand auf den Mund. »Ein luftgetriebenes Katapult? Wo war das, in Alexandria?«
Verblüfft lachte er. »Ja!«
»Dachte ich’s mir! Denen in Alexandria fällt alles ein. Sag mal, du bist doch dort gewesen: Ich habe gehört, daß dort jemand eine Maschine gebaut hat, mit der man dreißig Auloi gleichzeitig spielen kann. Weißt du.«
Archimedes mußte vor Begeisterung laut lachen. »Das ist Ktesi-bios!« rief er. »Derselbe Freund, der das luftgetriebene Katapult baut. Er nennt dieses Instrument einen Wasser-Aulos. Ich habe ihm dabei geholfen!«
Das Mädchen löste das Mundband und legte ihr Instrument beiseite. Ihre Haare hatten sich aus dem Netz gelöst und umrahmten nun in schwarzen Locken ihr Gesicht. »Funktioniert er?« wollte sie wissen. »Ich meine dieser, dieser Vielfachaulos. Ich kann mir das einfach nicht vorstellen!«
»In Wirklichkeit sind’s keine dreißig Auloi«, erzählte ihr Archimedes, »sondern dreißig Pfeifen, von denen jede nur einen Ton spielt. Alle sind unterschiedlich lang, siehst du, wie die Rohrpfeifen einer Syrinx. Um sie zum Klingen zu bringen, muß man eine Taste drücken, die ein Ventil am Pfeifenboden öffnet. Durch den Wasserdruck aus einem darunterliegenden Tank strömt Luft in die Pfeife. Deshalb heißt es auch Wasser-Aulos. Schau, da hat man also unter Wasser diese umgedrehte Halbkugel und zwei Röhren, die.«
»Ein Wasser-Aulos«, wiederholte das Mädchen, das dieses neue Wort sichtlich genoß - Hydraulis. »Wie klingt das?«
»Eher wie eine Syrinx als wie eine Flöte. Aber lauter und klangvoller - fast wie eine Glocke. Es durchdringt selbst den Lärm einer großen Menschenmenge. Die Alexandriner haben eine im Theater aufgestellt. Ich habe Ktesibios gesagt, er solle das Ding WasserSyrinx nennen, aber er bestand lieber auf seinem Namen.«
»Du hast gesagt, du hättest beim Bau geholfen?«
»Hauptsächlich habe ich Ktesibios beim Stimmen der Pfeifen geholfen. Eigentlich hat er ja nie richtig musizieren gelernt, dabei ist er das ungewöhnlichste Genie. Er ist.«
»Könntest du eine bauen?«
Archimedes blinzelte.
»Nicht jetzt«, sagte das Mädchen schnell. »Ich weiß, es ist Krieg und der Katapultebau geht vor. Aber danach, wenn es ein danach geben sollte, könntest du mir dann einen Wasser-Aulos bauen?«
Wieder blinzelte Archimedes. »Liebend gern«, erklärte er ihr, »aber das ist kompliziert. Man.«
»Du kannst es nicht?«
»Ich - nein, das nicht, aber man braucht viel Zeit dafür. Und außerdem kostet er leider viel Geld. Ktesibios hat für seinen sechzehnhundert Drachmen verlangt.«
Das Mädchen wirkte nicht im geringsten enttäuscht. »Mein Bruder liebt Musik«, sagte sie, »und in geniale Maschinen ist er förmlich vernarrt. Wenn du einen Wasser-Aulos bauen kannst, wird er gerne sechzehnhundert Drachmen bezahlen. Da bin ich mir sicher.«
»Dein Bruder?« fragte Archimedes, denn plötzlich hatte er das schreckliche Gefühl, daß er wußte, von wem die Rede war.
»Aha«, sagte sie und senkte ihre geraden, schwarzen Augenbrauen. »Du hast es also nicht geahnt. König Hieron.«
»Nein«, sagte er wie betäubt, »ich habe es nicht geahnt.« Einen Augenblick betrachtete er sie genauer: den Silbergürtel, die feingewebte Tunika. Aber er konnte sich einfach nicht auf die teure Kleidung konzentrieren. Immer wieder wanderte sein Blick zu ihrem runden Gesicht mit den schwarzen Locken und den strahlend dunklen Augen und den kräftigen Musikerhänden. Anklagend fügte er hinzu. »Du hast nicht so alt ausgesehen.«
»Eigentlich ist er ja mein Halbbruder«, sagte sie. Alles Lebhafte war aus ihrem Gesicht und der Stimme verschwunden, und sie klang ganz wie eine gelangweilte Adelige. »Er war schon fast erwachsen, als unser Vater meine Mutter geheiratet hat.«
König Hieron war ein Bastard, das Ergebnis der Jugendsünde eines reichen Syrakusers. Ganz Syrakus wußte darüber Bescheid. Archimedes vermutete, daß dieses Mädchen die legitime Tochter jenes reichen Mannes war. Sie stand weit über seiner Klasse. Eigentlich durfte er hier, im privaten Teil des Hauses, gar nicht sein und sich mit ihr unterhalten. Syrakus räumte seinen Frauen mehr Freiheit ein als viele andere Griechenstädte, trotzdem war es absolut ungehörig, daß sich ein junger Mann mir nichts dir nichts in ein Privathaus schlich und unbekannterweise und ohne Aufsicht mit der unverheirateten Schwester des Besitzers plauderte. Noch dazu, wenn es sich bei dem Mädchen um die Tochter eines vornehmen Mannes und die Schwester eines Königs handelte. Trotzig zupfte er seinen fleckigen Mantel zurecht und redete sich ein, daß er schließlich ein Demokrat sei. »Ich kann einen Wasser-Aulos bauen«, erklärte er. »Wenn dein Bruder bereit ist, dafür zu bezahlen, würde ich dir sehr gerne einen bauen. Mir sind Blasinstrumente sowieso lieber als Saiteninstrumente.«
Auf diese Bemerkung hin lächelte sie wieder, lange und breit. Da wußte er, daß er das richtige gesagt hatte, und strahlte seinerseits. »Wie heißt du?« fragte sie.
Schon wollte er den Mund aufmachen, da wurde ihm die Antwort förmlich entgegengeschrien. »Archimedes, Sohn des Phidias!« tönte es schockiert und mißbilligend. Er und das Mädchen fuhren gleichzeitig herum und sahen sich vier Männern gegenüber, die auf sie herunterstarrten. Der eine war Dionysios, der andere der exaltierte Türhüter und wegen des Purpurmantels mußte ein dritter der Regent Leptines sein.