Die Achradina war ein alter Stadtteil. Die erste griechische Kolonie von Syrakus hatte sich auf dem Kap Ortygia angesiedelt, und noch immer war die Ortygia - ein prächtiger, ringsum befestigter Bezirk aus Tempeln und öffentlichen Bauten mit einer eigenen Garnison -der Sitz des Regenten. Auch die Achradina war schon früh entstanden, als die Häuser und Läden der ständig wachsenden Stadt den Rahmen der dichtbevölkerten Zitadelle sprengten und sich wild an der Küste entlang ausbreiteten. Als die Stadt dann noch reicher und mächtiger wurde, hatte man zum Landesinneren hin für die Reichen die Neapolis angelegt, während das Tychaviertel, ein ungeordnetes Häusergewirr entlang der nördlichen Ausfallstraße, zum Siedlungsgebiet der Armen wurde. Die Achradina gehörte der alten Mittelschicht. Mit ihren schmalen, schmutzigen Straßen, begrenzt von den Mauern, die Syrakus gegen einen Angriff vom Meer her schützten, war sie das wahre Herz von Syrakus - dunkel, verwinkelt und voll köstlicher Geheimnisse.
Fröhlich spazierte Archimedes hindurch. Normalerweise ruft ein Stadtstaat bei seinen Bürgern einen ungewöhnlich intensiven, leidenschaftlichen Sinn für Patriotismus und Bürgerstolz hervor. Selbst bei Archimedes, der in seiner eigenen Stadt immer eine Art Außenseiter gewesen war. Jede staubige Kreuzung kam ihm wie der Inbegriff des ruhmreichen Syrakus vor. Und außerdem brachte ihn jeder Schritt näher nach Hause. Eifrig registrierte er alle vertrauten Punkte: den kleinen Park mit seinen ungepflegten Platanen, den Bäckerladen um die nächste Ecke, wo seine Familie ihr Brot kaufte, den öffentlichen Brunnen mit der Löwenstatue, der den Haushalt mit Wasser versorgte. Aus der Garküche weiter unten in der Straße drang ein Duft nach Kräutern und gebratenem Fleisch herüber. Wie oft hatte er dort das Abendessen geholt, wenn zu Hause aus irgendeinem Grund keines gekocht worden war. Das Haus von Nikomachos, der Laden vom Metzger Euphanes mit der Wohnung darüber, dann - endlich -tauchte es auf. Archimedes blieb mitten auf der Straße stehen und starrte stumm die schlichte Ziegelfassade mit ihrer verwitterten, schmalen Haustür an. Da wurde es ihm in der Brust zu eng, und seine Augen brannten. Dieses Haus hatte einst den Inbegriff des Wortes Haus verkörpert. Es war das einzig wichtige Haus gewesen, der Mittelpunkt des Universums, der alles enthielt, was für seine kleine Welt wichtig war. Und eines stand noch immer fest: Hinter dieser Tür wohnten all die Menschen, die er am meisten liebte.
Er wünschte sich, sie würden in Alexandria leben.
Marcus hob die Fackel und starrte ebenfalls das Haus an. In Gedanken war er wieder bei seiner ersten Begegnung mit diesem Haus, als ihn Phidias in Ketten vom Sklavenmarkt hierhergebracht hatte. Kein Zuhause, redete er sich verbissen ein, nur das Haus, wo ich Sklave hin. Einen Augenblick mußte er an sein eigenes Zuhause in den Hügeln von Mittelitalien denken und an seine Eltern, aber dann verbannte er diese Bilder rasch aus dem Kopf. Vermutlich waren sie inzwischen sowieso schon tot. Ihm fiel auf, daß einige Ziegel am Haus von Phidias bröckelten und das Dach neu gedeckt werden mußte. Kein Wunder, schließlich war er der einzige Mann im Haushalt gewesen. Natürlich gab’s da noch, wenn man so wollte, den Herrn, aber wenn’s ums Dachdecken ging, konnte man mit ihm nicht rechnen. Das Anwesen mußte ganz schön heruntergekommen sein. Viel Arbeit wartete auf ihn.
Gelon, der Sohn des Bäckers, war mitgekommen, um auf den Esel seines Vaters aufzupassen. Jetzt scharrte er verlegen mit den Füßen und fragte: »Ist es das?«
Sie luden den Esel ab und stellten die Truhe auf den Boden, dann schickten sie den Bäckerssohn zusammen mit seines Vaters Tier nach Hause und gaben dem Kind zur besseren Sicht noch die Fackel mit auf den Weg. Archimedes atmete tief die laue Sommernachtsluft ein und klopfte an die Tür.
Lange Zeit rührte sich nichts, bis Archimedes noch einmal klopfte. Endlich ging die Tür einen Spalt weit auf, und eine Frau lugte ängstlich heraus. Das Licht der Lampe, die sie in der Hand hielt, zeichnete tiefe Schatten auf ihr müdes Gesicht. »Sosibia!« rief Archimedes und strahlte übers ganze Gesicht. Die Wirtschafterin sperrte den Mund auf, dann schrie sie: »Medion!« Drei Jahre hatte er diesen vertrauten Kosenamen nicht mehr gehört, der aus der Verkleinerungsform seiner letzten Namenssilbe bestand.
Das Wiedersehen verlief genauso stürmisch und fröhlich, wie es sich Archimedes ausgemalt hatte. Seine Mutter Arata lief herbei und schlang die Arme um ihn, und anschließend drückte ihn seine Schwester Philyra fest an sich. »Du bist aber groß geworden!« stellte er fest, während er sie mit ausgestreckten Armen bewundernd von sich weg hielt. Bei seiner Abreise war sie dreizehn gewesen, jetzt war sie eine sechzehnjährige, junge Frau, die sich trotzdem wenig verändert hatte: schmal, hochgewachsen, schlaksig und mit strahlenden Augen. Ihre ungebärdige, braune Mähne hatte sie am Hinterkopf zu einem Knoten zusammengebunden. Sie stieß seine Hände weg, um ihn umarmen zu können. »Du hast dich ganz und gar nicht verändert!« gab sie zurück. »Schaust immer noch so schlampig aus wie eh und je!« Sosibia und ihre beiden Kinder trieben sich grinsend im Hintergrund herum und gaben ihre Kommentare ab. Einer allerdings fehlte. »Wo ist Papa?« fragte Archimedes. Der Lärm verstummte.
»Er ist so krank, daß er nicht mehr stehen kann«, sagte Philyra in die plötzliche Stille hinein. »Schon monatelang hat er nicht mehr aus seinem Bett aufstehen können.« Schwere Vorwürfe schwangen in ihrer Stimme mit. Seit Monaten pflegte sie ihren Vater und mußte zusehen, wie er immer schwächer wurde, während sich Archimedes, der Augenstern und einzige Sohn, in Alexandria herumtrieb.
Betroffen starrte Archimedes sie an. Er hatte gewußt, daß sein Vater krank war. Schon einige Monate spukte diese düstere Erkenntnis in seinem Hinterkopf herum und überschattete sorgenvoll sämtliche Vorbereitungen für die Heimreise. Aber trotz allem hatte er erwartet, er würde seinen Vater mehr oder weniger im selben Zustand wie bei der Abreise vorfinden. Dauerhusten, ein böser Rücken oder chronische Magenverstimmung - mit solchen Krankheiten hatte er gerechnet, aber nicht mit einem grausamen Schreckgespenst, das sich im Haus eingenistet und seinen Vater ans Bett gefesselt hatte.
»Tut mir leid, mein Schatz«, sagte seine Mutter Arata liebevoll, die seit jeher die Friedensstifterin in der Familie gewesen war, die ruhige Stimme der Vernunft. Sie war kleiner als ihre Kinder, hatte breite Hüften und kräftige Augenbrauen. Ihr Sohn konnte sich nicht erinnern, daß ihre Haare so grau gewesen waren. »Ich fürchte, es wird ein großer Schock für dich sein, wenn du ihn siehst. Du kannst nicht gewußt haben, wie krank er wirklich ist. Trotzdem danke ich den Göttern, daß du endlich sicher zu Hause bist.«
»Wo ist er?« flüsterte Archimedes heiser.
Man hatte Phidias und sein Krankenbett in jenes Zimmer gestellt, das Archimedes von früher als Arbeitszimmer seiner Mutter gekannt hatte. Es lag am entgegengesetzten Ende des kleinen Innenhofes, der sich zur Straße hin öffnete und das Zentrum des Hauses bildete. Die Treppe zu den Schlafräumen im Oberstock war steil und eng, schon deshalb war ein ebenerdiges Zimmer für einen Schwerkranken viel bequemer. Als Archimedes zu dem früheren Arbeitszimmer hinüberging, sah er, daß man eine Lampe angezündet hatte. Sein Vater hatte sich aufgesetzt und schaute erwartungsvoll zur Tür. Der Lärm war bis zu ihm gedrungen, und jetzt wartete er ungeduldig auf das Erscheinen seines Sohnes. An der Türschwelle stockte Archimedes. Phidias war immer ein großer, schmaler Mann gewesen, aber jetzt war er nur noch ein Skelett. Seine weißen Augäpfel hatten sich gelb verfärbt und starrten ihn aus tiefen Höhlen an. Auch seine zerknitterte, trockene Haut hatte eine gelblichen Ton. Ein Großteil seiner Haare war ausgefallen und der klägliche Rest ganz weiß. Als er die Arme nach seinem Sohn ausstreckte, zitterten seine Hände.
Da stürzte Archimedes durch die Tür, sank neben dem Bett auf die Knie und schlang die Arme um den ausgemergelten Körper seines Vaters. »Es tut mir ja so leid!« stieß er erstickt hervor. »Ich habe nicht... wenn ich gewußt hätte...«
»Mein Archimedion!« rief Phidias und legte die zerbrechlichen Arme um seinen Sohn. »Du bist zu Hause, den Göttern sei Dank!«
»Ach, Papa!« schluchzte Archimedes und brach in Tränen aus.
Draußen im Hof zerrte inzwischen Marcus das Gepäck von der Straße herein und schloß die Tür. Als er sich wieder zum Haus umdrehte, nahm ihn Sosibia bei den Schultern und gab ihm einen leichten Kuß auf die Wange. »Auch dir ein herzliches Willkommen daheim!« sagte sie leise. »Ich wünschte, es wäre ein glücklicheres Haus.«
Verblüfft schaute er sie an. Gegen seinen Willen war er gerührt, denn er und Sosibia waren nie Freunde gewesen. Schon bei der ersten Begegnung hatte sie ihm rundheraus erklärt, daß sie nicht die geringste Absicht hatte, ihm den Platz des verstorbenen Hausdieners in ihrem Bett einzuräumen, auch wenn man ihn vielleicht als Ersatz dafür gekauft hatte. Zuerst hatte Marcus kein Wort verstanden. Damals war er erst achtzehn gewesen, frisch aus Italien, und hatte fast kein Griechisch verstanden. Aber als ihm dann endlich ein Licht aufging, stellte er seinerseits ein für allemal klar, daß ihm schon beim Gedanken daran schlecht wurde, er müsse mit einer biederen, gut vierzigjährigen Haussklavin schlafen. Verständlicherweise hatte diese einstimmige Abwehrreaktion bezüglich der Schlafregelung keinerlei wohlwollende Gefühle zur Folge. Das Ergebnis war eine jahrelange Fehde, in der Sosibia höhnisch über den rohen Barbaren Marcus herzog und Marcus Sosibia als altes Sklavenweib verachtete. Und jetzt hieß sie ihn willkommen. »Nun«, meinte er barsch, »es tut gut, hier zu sein.«
Dann trat Stille ein. Schließlich nickte er den beiden Kindern zu, die hinter ihrer Mutter standen und zuschauten: Chrestos, ein fünfzehnjähriger Junge und die dreizehnjährige Agatha. »Ihr zwei seid gewachsen«, bemerkte er und dachte im stillen: Noch ein Grund, nicht willkommen zu sein. Vier erwachsene Sklaven - das war zuviel für einen Haushalt der Mittelschicht. Gut möglich, daß man Chrestos verkaufen würde, jetzt wo Marcus wieder da war. Aber weil Sosibia diese unbequeme Aussicht verdrängt hatte, kümmerte auch er sich nicht weiter darum. Statt dessen sagte er: »Als wir zum Haus kamen, habe ich mir im stillen gedacht, daß eine Menge Arbeit auf mich wartet. Dabei hatte ich ganz vergessen, daß es inzwischen noch einen anderen Mann gibt.«
Chrestos grinste. »Willkommen daheim, Marcus«, sagte er. »Wenn du willst, kannst du gern meine Arbeit übernehmen!« Seine kleine Schwester lachte. Plötzlich schlich sie nach vorne, küßte Marcus verlegen auf die Wange und flüsterte: »Willkommen daheim!«
Nicht daheim, sagte sich Marcus vor, aber teilweise war er trotzdem froh. Das erste Jahr seiner Sklaverei war ein einziger Alptraum gewesen. Schon beim Gedanken daran brach ihm noch immer der Schweiß aus. Aber hier in diesem Haus hatte der Alptraum ein Ende gefunden, und beim Erwachen hatte er sich in einer Welt wiedergefunden, in der vernünftige Regeln galten. »Tut gut, wieder dazusein«, erwiderte er barsch.
Wieder herrschte Stille. Schließlich deutete Marcus fragend mit dem Kopf zur Tür auf der anderen Seite des kleinen Innenhofes hinüber. »Stirbt der alte Mann?«
Sosibia zögerte, dann machte sie ein Zeichen gegen das Böse und nickte. »Gelbsucht«, antwortete sie resigniert. »Der arme Mann, jetzt kann er nicht mal mehr essen. Lebt nur noch von Gerstenbrühe und ein bißchen Honigwein. Lang wird’s nicht mehr gehen.«
Marcus dachte über Phidias nach: ein liebenswürdiger Mensch, ein ehrlicher, hart arbeitender Bürger, ein liebevoller Ehemann und Vater. Ein guter Herr, auch wenn er dem Mann diese Tatsache übelnahm. Trotzdem war Phidias nicht an seinem Sklavendasein schuld. »Tut mir leid«, sagte er aufrichtig, dann fügte er mit rauher Stimme hinzu: »Die Götter haben uns sterblich gemacht. Es wird uns alle treffen.«
»Er hat ein gutes Leben gehabt«, sagte Sosibia. »Ich bete, daß ihn die Erde freundlich aufnimmt.«
Eine halbe Stunde blieb Archimedes bei seinem Vater. Erst als der Sterbende eingeschlafen war, zog er sich zurück. In jener Nacht hatte er keinen Kopf mehr für etwas anderes. Sosibia und seine Mutter richteten ihm in seinem alten Zimmer ein Bett her, er legte sich hin und versuchte, im Schlaf zu vergessen.
Am nächsten Morgen wachte er früh auf. Er blieb noch eine Zeitlang liegen und betrachtete die Muster, die die aufgehende Sonne auf die Wand neben seinem Bett zeichnete. Der Fensterladen bestand aus kreuzweise verflochtenen Weideruten, die sich auf dem gekalkten Verputz als orangefarbene Stäbe und Dreiecke abzeichneten. Als die Sonne höher stieg, wurde das Licht blasser, und die Dreiecke verschoben und erweiterten sich. Schließlich rutschten sie von der Wand auf sein Bett und breiteten sich in einem leuchtenden, unregelmäßigen Muster über die Decke aus. Das Ganze erinnerte an frische Elfenbeinplättchen.
Seine Augen brannten. In Alexandria hatte er für seinen Vater ein Spiel gekauft, eine Serie aus rechteckigen und dreieckigen Elfenbeinplättchen. Man konnte sie zu einem großen Rechteck zusammenbauen oder daraus ein Schiff, ein Schwert, einen Baum und Hunderte von anderen Figuren formen. So ein Puzzle begeisterte jeden Mathematiker, auch ihn. Deshalb war er überzeugt gewesen, daß es auch seinem Vater gefallen würde. Aber jetzt war jedes Geschenk für seinen Vater fürs Grab bestimmt. Diese unverrückbare Tatsache wirkte sich derart zerstörerisch aus, daß er sich fühlte, als ob man ihm die Hälfte seiner Seele geraubt hätte.
Phidias war der einzige Mensch gewesen, der den Heranwachsenden wirklich verstanden hatte. Oft hatte Archimedes das Gefühl gehabt, alle anderen hätten mitten im Kopf einen blinden Fleck. Sie konnten zwar ein Dreieck, einen Kreis oder einen Würfel anschauen, aber sehen konnten sie sie nicht. Und wenn man’s ihnen erklärte, dann begriffen sie es nicht. Und wenn man dann die Erklärung erklärte, starrten sie einen nur an und wunderten sich auch noch lautstark darüber, wie einem so etwas wie ein großes Wunder vorkommen konnte. Und doch war es ein unaussprechliches Wunder. Da gab es tatsächlich eine ganze Welt, eine Welt jenseits der stofflichen Existenz, eine strahlend helle Welt aus reinster Logik, und doch konnten sie sie nicht sehen! Nur Phidias hatte sie gesehen. Er hatte sie Archimedes gezeigt und ihm ihre Gesetze und Regeln beigebracht und seine erstaunten Äußerungen begleitet. Und als Archimedes älter wurde, hatten sie sich gemeinsam an die Eroberung dieser Gegenwelt gemacht. Wie zwei Verschworene hatten sie gemeinsam über einem Abakus gelacht und über Axiome und Beweise disku-tiert. An klaren Nächten waren sie zusammen auf die Hügel spaziert, um das Auf- und Untergehen der Sterne zu beobachten und die einzelnen Mondphasen zu studieren. Von allen Syrakusern waren nur sie beide in dieser unsichtbaren Welt zu Hause gewesen. Die anderen - selbst die engsten und liebsten Mitmenschen - blieben für immer Außenseiter.
Phidias war es gewesen, der Archimedes die Reise nach Alexandria vorgeschlagen hatte. »Auch ich bin damals in deinem Alter gegangen«, sagte er, »und habe noch Euclid persönlich gehört. Du mußt gehen.« Er hatte einen Weinberg verkauft, auf den er eigentlich nicht verzichten konnte, und sich von einem Sklaven getrennt, ohne den er nur mühsam zurechtkam, nur damit sein Sohn am geistigen Mittelpunkt der Welt Mathematik studieren konnte. Und Alexandria war genauso gewesen, wie es Phidias versprochen hatte - und noch viel, viel mehr. Zum ersten Mal war Archimedes auf andere Menschen gestoßen, die verstanden hatten. Einige davon waren sogar junge Männer in seinem Alter. Zum ersten Mal in seinem Leben hatte er sich nicht wie eine Mißgeburt gefühlt. Zum ersten Mal hatte er es gewagt, sich außerhalb seines eigenen Hauses mental zu öffnen. So weit hatte er seinen Verstand geöffnet, bis er den Himmel umarmen konnte, und dann waren die Ideen herangestürmt. Scharenweise hatten sie sich aufgedrängt. Eine gegen alle, alle gegen einen. Was war das für ein brodelnder Kriegstanz gewesen! Eine Befreiung, berauschender als in seinen kühnsten Träumen.
Am Ende des ersten Jahres waren allmählich Briefe von Phidias mit der Frage eingetroffen: »Wann kommst du heim?« Aber Archimedes hatte keine Antwort darauf gewußt. Statt dessen hatte er seinem Vater lange Briefe geschrieben: über die Hypothese des Ariastarchos, daß sich die Erde um die Sonne dreht, über die Ekliptikerkenntnisse von Conon, über das delische Problem (mathematischgeometrische Diskussion der Würfelverdoppelung, A. d. Ü.) und die Versuche, mit denen verschiedene Mathematiker die Quadratur des Kreises zu bewerkstelligen suchten. Und Phidias hatte jeden Brief auf seine Art beantwortet: mal erstaunt, mal enthusiastisch und dann wieder voller Argumente und Beweise. Aber irgendwo tauchte in allen Briefen dieselbe Frage auf: »Wann kommst Du heim?« Archimedes hatte gewußt - o ja, und das nur allzu deutlich! -, wie sehr ihn sein Vater vermißte. Denn jetzt hatte Phidias niemanden mehr, mit dem er seine Ideen teilen konnte, niemanden, der ihn verstand. Trotzdem hatte er nicht nach Hause gewollt.
Anfang des Frühjahrs war dann der letzte Brief von Phidias eingetroffen: »Es ist zum Krieg mit Rom gekommen, und mir geht es nicht gut. Ich habe den Unterricht einstellen müssen. Liebster Ar-chimedion, Du mußt nach Hause kommen, Deine Mutter und Deine Schwester brauchen Dich.« Deine Mutter und Deine Schwester. Für sich selbst hatte Phidias nichts gefordert, obwohl er Archimedes schon längst gebraucht hätte. Nur eine einzige Bitte, eine Frage hatte er gestellt, und immer wieder war sie verhallt.
Diesmal war aus der Frage ein Befehl geworden, den man nicht länger ignorieren konnte. Langsam und widerwillig hatte sich Archimedes darangemacht, seine Möbel zu verkaufen, die er in Alexandria erworben hatte. Er suchte einen Nachmieter für seine Räume, veräußerte ein paar seiner Maschinen, die er gebaut hatte, und einiges von dem Werkzeug, das er dafür gekauft hatte. Dabei war ihm jeder Aufschub willkommen gewesen. Als das Schiff schließlich unter vollen Segeln nach Syrakus aufbrach, hatte er beim Anblick des immer kleiner werdenden Alexandria geweint. Aber inzwischen kamen ihm diese Tränen oberflächlich vor. Der Schmerz, der vor ihm lag, würde viel, viel tiefer gehen.
Die Tür zu seinem Zimmer öffnete sich, und Philyra steckte den Kopf herein. Als sie sah, daß er schon wach war, kam sie herein.
Philyra war fast sieben Jahre jünger als ihr Bruder, trotzdem benahm sie sich meistens so, als ob sie sieben Jahre älter wäre. Sie war ein selbstbewußtes, nüchternes Mädchen, das kein Blatt vor den Mund nahm. An ihrer Schule war sie beliebt gewesen, und auch die Nachbarn hielten große Stücke auf sie. Trotz ihrer großen Zuneigung zu ihrem Bruder hielt sie ihn für einen hoffnungslosen Traumtänzer, der dringend eine feste Hand brauchte. Jetzt steuerte sie entschlossen auf ihn zu. Über dem Arm trug sie ein zusammengefaltetes, gelbes Stück Tuch, von dem er sich nicht sicher war, ob es sich um ein Handtuch, eine Decke oder ein Kleidungsstück handelte. Er setzte sich im Bett auf und zog seine langen Beine an, um ihr Platz zu machen. Sie setzte sich. Unter ihren kritischen Blicken wurde er sich einiger höchst unangenehmer Dinge bewußt: Erstens hatte er unter der Decke nichts an, zweitens war seine nackte Haut mit Flohstichen übersät, drittens kräuselte sich an Kinn und Nacken ein unrasierter Bart, und zu allem Überfluß waren auch noch seine Haare ganz stumpf vor Schmutz. Beim Tageslicht fiel ihm aber auch viel deutlicher auf, wie sehr sie sich seit ihrer letzten Begegnung verändert hatte. Sie war voller geworden, und ihr Körper hatte deutlich weibliche Rundungen angenommen. Innerhalb des Hauses trug sie nur eine leichte Leinentunika, unter der sich ihre Brüste verräterisch abzeichneten. Plötzlich fühlte er sich vor ihr verlegen.
»Wann hast du das letzte Mal gebadet?« fragte Philyra naserümpfend.
»Auf Schiffen kann man nicht baden«, verteidigte er sich.
Philyra seufzte. »Nun, dann wirst du dich gleich nach dem Frühstück ins Badehaus in der Neapolis begeben müssen. Du siehst einfach despektierlich aus! Hast du noch saubere Kleidung?«
Unglücklich räusperte er sich, gab aber sonst keine Antwort. »Ich habe mir nicht vorstellen können, daß es Papa so schlechtgeht«, sagte er statt dessen. »Wie lange.«
»Seit Oktober«, erwiderte sie kühl. »Er hat dir ja damals geschrieben, aber vermutlich hast du den Brief erst nach dem Winter bekommen.«
Zwischen Oktober und April ruhte der Schiffsverkehr auf dem Mittelmeer. Selbst wenn Archimedes den Brief seines Vaters noch im Spätherbst bekommen hätte, hätte es für ihn keine Möglichkeit gegeben, nach Hause zu kommen, bis die Schiffslinien wieder verkehrten. Trotzdem entsetzte ihn die Vorstellung, daß er sich in Alexandria vergnügt hatte, während Phidias den ganzen Winter über krank gewesen war.
»Ich habe ihn erst Ende April bekommen«, sagte er unglücklich. »Aber selbst dann dachte ich, ich hätte noch genug Zeit, um meine Geschäfte in Alexandria abzuwickeln. Schließlich hatte er nur geschrieben: >Ein Krieg ist ausgebrochen, und mir geht’s nicht gut.< Meiner Meinung nach hieß das nur, daß er mich zu Hause als Hilfe bei seinen Schülern haben wollte, bis es ihm wieder besserging.«
»Er dachte, er würde wieder gesund«, sagte Philyra, der plötzlich Tränen in den Augen standen. »Er hatte Fieber und Gelbsucht, aber die hatte Mama auch, und ihr ging’s wieder besser. Da glaubten wir, auch bei ihm würde es bergaufgehen, aber es kam anders, und im Frühjahr-«
Archimedes streckte die Hand aus und berührte ihre Schulter. Da war es mit der Beherrschung vorbei, sie ließ das Bündel fallen, warf sich in seine Arme und weinte. »Es war fürchterlich*.« rief sie bewegt. »Es ging ihm immer schlechter und schlechter, und wir konnten nichts dagegen tun!«
»Es tut mir so leid«, sagte er hilflos, »wäre ich doch nur hier gewesen.«
»Er wollte dich unbedingt sehen«, schluchzte Philyra. »Ständig hat er Chrestos zum Hafen hinuntergeschickt, er solle nachschauen, ob irgendwelche Schiffe aus Alexandria angekommen wären. Und manchmal war es auch so, aber du warst nie darauf. Dann hat er manchmal gemeint, du wärst sicher tot, dein Schiff wäre gesunken oder du in Alexandria gestorben. Und dann hat er um dich geweint und uns alle Trauerkleidung tragen lassen. Das war immer das Schlimmste. Warum bist du nicht schon letztes Jahr zurückgekommen?«
»Es tut mir leid!« wiederholte er kläglich, während auch ihm die Tränen kamen. »Philyra, wenn ich’s gewußt hätte, wäre ich gekommen. Ich schwör’s.«
»Ich weiß«, sagte sie und schluckte ihr Schluchzen hinunter. »Ich weiß.« Sie tätschelte seinen Rücken, als ob er zusammengebrochen wäre, dann zog sie sich zurück und wischte die Tränen ab. Gegen den Tod gab es kein Mittel, und sie war entschlossen, diesen Kummer mit aller Würde zu tragen, die sie aufbieten konnte. Sie hob das Bündel wieder auf und breitete es auf dem Bett aus. Es entpuppte sich als neuer Mantel aus feiner, gelber Wolle samt einer Leinentunika mit einem gelben Spiralenmuster an beiden Seiten. »Die habe ich letztes Jahr für dich gemacht«, sagte Philyra. »Du hast doch bestimmt keine saubere Kleidung, oder?«
»Wahrscheinlich nicht«, gestand er, wobei er mit einem Finger langsam das Muster nachzeichnete. Es bestand aus einer schnurgeraden Reihe von Doppelspiralen, von den Schultern bis zum Knie. Von jedem Spiralenzentrum führte eine Linie in Kreisbewegungen nach außen, drehte um und mündete in den Mittelpunkt der nächsten Spirale. Ein interessantes Muster. Wenn man Spirale A und Spirale B mit einer Tangente verband, dann.
Philyra schob seine Hand mit Nachdruck vom Muster. Er schaute auf und blinzelte sie verdutzt an. »Das ist zum Anziehen da«, erklärte sie ihm, »und nicht für geometrische Versuche.«
»Oh«, sagte er. »Ja.« Kurz darauf fiel ihm wieder ein, daß die Kleidungsstücke ein Geschenk waren, und er fügte hinzu: »Danke, sie gefallen mir sehr gut.«
In gespielter Verzweiflung schüttelte sie den Kopf. »Ai, Medion! Du hast dich kein bißchen verändert!«
Er wußte nicht so recht, was er davon halten sollte, aber als sie seine Verwirrung bemerkte, lächelte sie noch einmal und strich ihm eine widerspenstige, schmutzige Haarlocke zurück. »Und jetzt«, fuhr sie geschäftsmäßig und hoffnungsvoll fort, »hast du Geld? Wir sind pleite. Wir mußten schon einige Decken und Töpfe verkaufen, um den Arzt bezahlen zu können.«
Archimedes zuckte die Schultern. Der Gewinn aus der Wasserschnecke hatte sich großteils in Alexandria verflüchtigt, aber ein bißchen was war noch da und noch etwas von den Kleinigkeiten, die er beim Verlassen der Stadt verkauft hatte. »Ich habe etwas«, sagte er, »so hundert Drachmen, schätze ich - Marcus weiß das genau.«
»Hundert Drachmen!« rief sie begeistert. »Das ist gut! Und ich hatte schon Angst, wir müßten sofort bei Papas alten Schülern die Runde machen und sie bitten, wieder Mathematikstunden zu nehmen. Aber mit hundert Drachmen haben wir ein paar Monate Frist gewonnen.«
Archimedes räusperte sich und rutschte nervös umher. »Ich werde nicht unterrichten«, erklärte er.
Verzweifelt starrte sie ihn an. »Medion, du kannst dich nicht von Geometrie ernähren!«
»Das weiß ich!« protestierte er. »Ich werde mich um eine Stelle als Heeresingenieur bewerben.« Und dann stürzte er sich sofort in die Argumente, die er von langer Hand sorgfältig vorbereitet hatte. »In Anbetracht des Krieges müßte die Stadt einen Bedarf an Katapulten haben, und auch der Tyrann müßte bereit sein, dafür zu zahlen. Mit Maschinen ist mehr Geld zu machen als mit Unterrichten, und mit Maschinen kenne ich mich wirklich aus, das weißt du genau. Mit dem Bewässerungsgerät, das ich letzten Sommer gebaut habe, habe ich innerhalb von zwei Monaten mehr verdient als Papa in einem ganzen Jahr. Außerdem ist es doch meine Pflicht, wenn möglich bei der Verteidigung der Stadt zu helfen, oder? Ich werde mich heute abend mit jemandem treffen, und dann werden wir mal sehen.«
Daraufhin lächelte sie, allerdings mehr, weil sie ihm Mut machen wollte, als aus echter Überzeugung. Aus seinen Briefen nach Hause kannte sie zwar die Wasserschnecke vom Hörensagen, trotzdem zweifelte sie sehr, ob sie auch erfolgreich war, wie er behauptete. Und was die Sache mit den Katapulten betraf - nun, der König hatte längst seine Ingenieure, die so etwas bauen konnten, warum sollte er da einen neuen, völlig unerprobten Mann wollen? Und selbst wenn es so wäre, schien es ziemlich unwahrscheinlich, daß man davon reich werden konnte. Während ihrer gemeinsamen Kindheit hatte ihr Bruder jede Menge Maschinen gebaut, von denen viele nicht funktioniert hatten. Im Vergleich zum Mathematikunterricht schien ihr der Maschinenbau die wesentlich weniger verläßliche Einnahmequelle zu sein. Und trotzdem mochte sie seine Maschinen. Als kleines Mädchen war sie immer still dagesessen, hatte ihm beim Bauen zugeschaut und aufmerksam seinen Erklärungen gelauscht. Für sie persönlich waren die Konstruktionen ihres Bruders das allerschönste Spielzeug, egal, ob sie funktionierten oder nicht. Wenn er davon leben könnte, wäre sie hoch erfreut. Einen Versuch war es jedenfalls wert - und inzwischen verfügte der Haushalt über hundert Drachmen und hatte einige Monate Frist, bis das Geld aufgebraucht war.
Archimedes merkte, daß sie seinen Plan akzeptiert hatte. Seltsamerweise tat es ihm weh, so als ob sich wieder ein Tor in den Mauern, die ihn umgaben, geschlossen hätte. In einem der seltenen Momente praktischer Vorausplanung hatte er beschlossen, daß er drei Dinge wirklich konnte: reine Mathematik, Maschinenbau und Flötespielen. Für seinen Lebensunterhalt mußte er die eine oder andere Begabung in die Tat umsetzen. Musik war etwas Persönliches, etwas, das er für sich und seine Freunde tat. Auf Befehl zu spielen, kam ihm wie eine Entweihung vor. Und was die reine Mathematik anbetraf, da hatte Philyra wirklich recht: von der Beschäftigung mit Geometrie konnte man nicht leben. Und als Lehrer kam er nicht in Frage. In der Vergangenheit hatte ihn sein Vater gelegentlich zur Unterstützung herangezogen. Das Bewußtsein, dabei versagt zu haben, war für ihn alles andere als angenehm. Alles, was ihm sonnenklar schien, hatten die Studenten nie begriffen, und seine ungeduldigen Erklärungen hatten sie noch mehr verwirrt. Also blieb nur eines übrig: Maschinen bauen.
Er fürchtete sich davor. Es machte Spaß, eine neue Maschine zu bauen. Er liebte es, mitanzusehen, wenn ein Problem so exakt wie ein mathematischer Lehrsatz aufgeschlüsselt wurde und er sich anschließend einen Apparat ausdenken konnte, der diesem Problem voll und ganz gerecht wurde. Er genoß es, sich völlig in diese Aufgabe zu vertiefen, die komplexe Koordination zwischen Kopf und Händen und schließlich die unbestreitbar handfeste Realität der endgültigen Lösung. Aber wenn man nach dem Bau einer Maschine noch eine vom selben Typ bauen mußte und noch eine und noch eine und noch eine - das war langweilig, nein, noch schlimmer. Das war ein bedrückendes Gefängnis, in dem die Seelenflügel schrumpften und abstarben. Reine Mathematik - das war Licht und Luft und köstliche Freiheit, und er liebte sie mehr als alles andere auf der Welt. Aber leider war er kein Adeliger, der es sich leisten konnte, sich ausschließlich der reinen Mathematik zu verschreiben, ohne auch nur den geringsten Gedanken an das unfeine Thema Geld zu verschwenden. Er mußte eine Familie ernähren. Die unsichtbare Welt konnte nicht länger seine Heimat sein, sondern nur ein Ort, den er ab und zu besuchen konnte.
Und bei diesen Besuchen hätte er auch keinen Begleiter mehr, keinen einzigen. Er würde allein sein, so wie es sein Vater während der letzten drei Jahre gewesen war. Ein neuer Schmerz ließ ihn zusammenzucken. Vermutlich war das Schicksal eben doch gerecht.
Doch dann fiel ihm wieder der Krieg ein. In Alexandria hatte man nur schwer daran glauben können, aber hier in Syrakus nahm er schon größere und bedrohlichere Ausmaße an. Zeilen eines alten Liedes gingen ihm durch den Kopf:
»Kein Sterblicher mag jemals sagen, was dem Morgen das Schicksal gebiert, und daß Zufriedenheit bleibet dem Menschen, der glücklich sich fühlt.
Denn rasch wie Libellengeschwirr, ja schneller noch, nahet Veränderung.«
»Du ziehst dich an«, befahl Philyra und tätschelte ihm die Hand. »Ich werde mit Marcus reden, damit deine übrigen Sachen gewaschen werden.«
Marcus nahm gerade ein Bad, als ihn Philyra fand. Privathäuser hatten im allgemeinen keine Bäder, und zur damaligen Zeit waren die Badehäuser nur den Bürgern vorbehalten. Also wusch sich Marcus draußen im Hof mit einem Schwamm und einem Eimer. Selbst die freien Männer eines Haushaltes liefen drinnen nackt herum, daran war nichts ungewöhnlich, und über einen nackten Sklaven zerbrach sich sowieso niemand den Kopf. Trotzdem zögerte Philyra verlegen und wartete am Fuß der Treppe, bis Marcus fertig war. Sie wußte nicht so recht, wie sie sich ihm gegenüber verhalten sollte, denn auch ihr war klar, daß sie vermutlich einen Haussklaven verkaufen mußten. Sie hoffte, es träfe Marcus. Während der Hausfehde hatte sie sich immer auf die Seite von Sosibia geschlagen und Marcus als linkischen Barbaren betrachtet. Außerdem kam er ihr nach dreijähriger Abwesenheit wie ein Fremder vor. Seinen Verkauf konnte sie sich durchaus vorstellen, während ihr schon der bloße Gedanke unerträglich war, dieses Schicksal einem der anderen anzutun. Und noch etwas fiel ihr auf: Obwohl Marcus auf der linken Seite eine heftige Prellung und genauso viele Flohstiche hatte wie ihr Bruder, wirkte er gesund und gepflegt. Das hieß also, er würde einen guten Preis erzielen. Trotzdem kniff sie die Lippen mißbilligend zusammen. Man hatte Marcus mit dem Auftrag nach Alexandria geschickt, sich um Archimedes zu kümmern. Statt dessen war er kerngesund zurückgekehrt, während die Rippen seines Herrn mehr Ähnlichkeit mit einem Waschbrett hatten.
Leider erinnerte sie ihre Fairneß unpassenderweise daran, daß Archimedes schon immer dünn gewesen war und Marcus untersetzt. Und wenn Archimedes in seine Mathematik vertieft war, vergaß er zu essen, es sei denn, man servierte ihm seine Mahlzeiten auf einem Abakus. Und selbst dann schob er sie einfach beiseite und rechnete weiter. Wahrscheinlich war es unfair, Marcus allzusehr die Schuld zu geben, in welchem Zustand sein Herr heimgekommen war.
Marcus goß sich das restliche Wasser aus dem Eimer über den Kopf, schüttelte sich und hob seine Tunika auf. Philyra stieß sich von der Türschwelle ab und trat in den sonnigen Hof hinaus. »Marcus!« sagte sie scharf. »Wo ist das Gepäck meines Bruders?«
Marcus zuckte zusammen und zog sich hastig die Tunika über den Kopf, bevor er antwortete. Er fühlte sich in Philyras Nähe genauso linkisch wie umgekehrt auch sie. Als er das Haus verlassen hatte, war sie noch ein Schulmädchen gewesen, aber jetzt war sie eine junge Frau. »Da«, sagte er und deutete auf die Truhe in der Hofecke. »Aber ich würde das nicht aufmachen, Herrin.«
»Warum nicht?« wollte sie wissen. »Ich kann mir nicht vorstellen, daß die Sachen darin sauber sind! Und heute wird ein guter Tag zum Wäschetrocknen.« In der Tat war es schon heiß. Jede Wäsche wäre bis zum Abend vollständig trocken.
Er zuckte die Schultern. »Da sind Geschenke drin«, sagte er, »und eines ist für dich.« Sein Blick blieb einen Augenblick länger an der Vorderseite ihrer Tunika hängen. Sie merkte plötzlich, wie sehr der Stoff an ihrem Körper klebte, und zog ihn hoch. Sie war rot geworden.
»Aber ich habe ihm doch eben erst gesagt, daß ich mich um seine Sachen kümmern werde!« protestierte sie. »Und von Geschenken hat er keinen Ton gesagt.«
Marcus schnaubte. »Erwartest du wirklich, daß er an so etwas denkt?«
Nein, das tat sie nicht. Wahrscheinlich erinnerte sich Archimedes an die Geschenke und wußte auch genau, daß sie sich in derselben Truhe befanden wie seine Kleidung. Trotzdem würde er nie zwei und zwei zusammenzählen und deshalb wissen, wie sehr ihr die Überraschung verdorben wäre, wenn sie die Truhe aufmachte. Sie gab einen verzweifelten Laut von sich, Marcus grinste, und damit war irgendwie das Gleichgewicht zwischen ihnen wiederhergestellt. Schließlich waren sie beide Mitglieder desselben Haushaltes und kannten nur allzugut die Vorlieben und Eigenheiten derselben kleinen Menschengruppe. »Ist doch nicht so eilig, oder?« fragte er.
War es auch nicht, jedenfalls nicht so sehr. Sie wollte nur alles wieder in Ordnung haben: ihr Bruder ohne Wenn und Aber wieder zu Hause und dort, wo er sein sollte, nämlich in seinem eigenen Zimmer, und die Reisetruhe wieder in eine Kleidertruhe verwandelt. Sie ging zum Gepäck hinüber und starrte es mißmutig an. »Und was ist in dem Korb?« fragte sie.
»Die berühmte Wasserschnecke«, antwortete Marcus, der schon wieder grinste. »Die können wir auspacken, wenn du willst.« Er ging zur Truhe hinüber und knotete die Stricke auf.
»Will er mir das nicht persönlich zeigen?« Ihre Frage klang zweifelnd.
»Nein«, antwortete Marcus und löste einen weiteren Knoten. Plötzlich wollte er ihr unbedingt die Wasserschnecke zeigen, um ihr zu imponieren. »In Ägypten haben wir zweiunddreißig von diesen Dingern gebaut, und jetzt kann er sie nicht mehr sehen. Trotzdem ist es eine wahre Wundermaschine. Hier, ich zeig sie dir!« Er zog das Seil vom Korb und beförderte die Enden unter die Truhe. Philyra lehnte sich mit verschränkten Armen gegen die Hofmauer und versuchte, uninteressant zu wirken, obwohl sie in Wahrheit absolut neugierig war. Aufgrund ihrer Haltung zeichnete sich eine ihrer schmalen Hüften wie ein verhülltes Relief unter dem Leinenstoff ab. Marcus merkte es wohl, redete sich aber ein, daß sie viel zu dünn war, genau wie ihr Vater und ihr Bruder. Trotzdem war sie irgendwie hübscher, als man es bei einem so eckig gebauten Mädchen erwarten konnte. Vielleicht lag es an ihren strahlenden Augen. Nicht daß das irgendeinen Einfluß auf ihn hatte. Schließlich war er genauso das Eigentum ihres Bruders wie die Maschine, die er gerade auspackte. Trotzdem, was war schon dabei, wenn man einem hübschen Mädchen eine Maschine zeigte?
Er löste den Knoten, der den Truhendeckel sicherte, öffnete den Korb und hob aus einem Strohnest einen Holzzylinder heraus. Er maß ungefähr eine Elle, das heißt, den Abstand vom Ellbogen eines Menschen bis zu seinen Fingerspitzen. Die äußere Schicht bestand aus Holzdauben, die wie bei einem Faß durch Eisenringe zusammengehalten wurden. Im Inneren verbarg sich ein kompliziertes Gebilde, das mit Pech verschmiert war. Am Kernstück des Zylinders war mit einem Bolzen ein Griff befestigt, damit man das Ganze wie ein Rad drehen konnte.
»Normalerweise schöpfen die Ägypter das Wasser mit einer sogenannten Wassertrommel«, sagte Marcus und drehte dabei den Zylinder in den Händen herum. »Eine Art Rad mit acht Eimern daran. Eine große Wassertrommel kann eine Menge Wasser bewegen, ist aber sehr schwer zu drehen. Dafür braucht man mehrere Männer. Mit so etwas hat dein Bruder angefangen, und das ist am Ende dabei herausgekommen. Die richtigen Maschinen, die wir gebaut haben, waren natürlich größer, ungefähr so lang wie ein Mensch, aber sonst waren sie genau wie die hier. Wie du siehst, sind’s auch hier immer noch acht Zuleitungen«, er deutete auf die acht Öffnungen am Zylinderboden, »aber keine Eimer, sondern Röhren.« Er steckte einen Finger hinein, und sie sah, daß es wirklich eine Art Röhre war, die sich um die Spindel herum in die Höhe schraubte. »Diese Röhren winden sich mehrmals im Zylinderinneren herum und kommen hier wieder heraus, an der Oberseite.« Er schlug mit der flachen Hand auf das obere Zylinderende, das genauso aussah wie der Boden. »Jede Einzelröhre erinnert ein bißchen an ein Schneckenhaus, und deshalb heißt das Ding ja auch Schnecke. Sie bestehen aus Weidenstreifen, die mit Pech an die Spindel geklebt und dann ringsum mit Dauben verschlossen werden. Keine Ahnung, wie er den richtigen Spiralwinkel gefunden hat, aber das ist äußerst wichtig. Eine Menge Leute haben versucht, es nachzumachen, und haben’s verpatzt, und dann hat das Ding nicht funktioniert. Also, um es in Gang zu setzen, mußt du.« Marcus sah sich um. Sein Blick fiel auf eine große Wasseramphore in einer Hofecke. Mit der Wasserschnecke unter dem Arm rannte er hinüber, setzte die Maschine auf den Boden, holte den Eimer, den er für sein Bad verwendet hatte, und goß etwas Wasser aus der Amphore in den Eimer. Dann stellte er den Eimer in eine Vertiefung im Hof, sicherte ihn mit Hilfe von ein paar losen Steinen so ab, daß er schräg stand, und stellte dann ein Waschbrett wie eine Plattform davor auf. »Das Ganze muß in einen bestimmten Winkel gebracht werden«, erklärte er Philyra.
»Der exakte Winkel spielt eine wichtige Rolle. Auch das haben die Leute, die es kopiert haben, verpatzt. Wenn der Griff gerade steht, stimmt auch der Winkel.« Er setzte den Fuß der Wasserschnecke in den Wassereimer und das Oberteil auf die Plattform. »Jetzt mußt du nur noch drehen.« Er winkte sie zu sich.
Philyra schob den Saum ihrer Tunika über die Füße zurück und kauerte sich neben ihn. Sie legte eine Hand auf den Zylinder und begann, langsam zu drehen. Das Ding glitt mühelos um seine Spindel. Wasser lief in die Röhren am Fuß der Schnecke. Sie drehte weiter, und auf einmal lief das Wasser zum Kopf der Schnecke heraus. Sachte hielt sie die Maschine in Bewegung und schaute dabei genau zu: Wasser lief hinein, die Röhren hinunter und.
»Es läuft ja bergauf!« rief sie schockiert und riß die Hand von der Maschine, als ob sie sich verbrannt hätte.
Marcus grinste. »Ganz schön schnell!« meinte er. »Die meisten Leute brauchen ein bißchen länger, bis sie’s merken. Einige muß man sogar mit der Nase darauf stoßen. Dabei tut es das gar nicht -nicht wirklich. Schau noch besser hin.«
Wieder drehte Philyra die Maschine. Wasser lief in eine Röhre, und als die Röhre in die Höhe stieg, lief das Wasser hinunter, in die Spirale hinein und mit ihr zusammen nach oben. Sie lachte begeistert.
Marcus grinste. »Den ganzen Weg nach oben läuft es nach unten«, sagte er.
»Manchmal«, sagte Philyra, »kommt mir mein Bruder wie ein Fehler der Natur vor. Er hätte gar nicht als menschliches Wesen geboren werden dürfen. Er sollte sich als dienstbarer Geist in den Werkstätten der Götter herumtreiben. Schätzungsweise ist so eine Wasserschnecke im großen viel leichter zu drehen als eine Wassertrommel, oder?«
»Natürlich«, pflichtete Marcus bei. »Dazu braucht’s keine zwei Männer, ja nicht einmal einen. Das kann ein Kind betreiben, denn man muß ja nur die Schnecke drehen. Das Wasser läuft von selbst bergab.« Mit einem liebevollen Blick auf die Maschine hockte er sich auf die Fersen zurück. »Die Leute sind Schlange gestanden, um sie zu kaufen«, erzählte er. »Wir hätten ein Vermögen machen können!«
»Ich dachte, das habt ihr!« sagte Philyra überrascht. »Innerhalb von zwei Monaten mehr als der Bauernhof meines Vaters in einem Jahr einbringt, hat mein Bruder geasgt.«
Traurig schüttelte Marcus den Kopf. »Achtzehnhundertundacht-zig Drachmen. Genug, um unsere Schulden zu zahlen und ein Jahr angenehm in Alexandria zu leben. Aber wir hatten noch Bestellungen für weitere dreißig Maschinen - achtzig Drachmen das Stück! -und beste Aussichten auf noch viel mehr. Aber er zog es vor, Mathematik zu betreiben.«
Philyra starrte auf die Wasserschnecke und schluckte. Achtzehn-hundertundachtzig Drachmen auf einem Haufen - das überstieg ihre Vorstellung, aber noch weniger konnte sie sich vorstellen, wie man so eine Summe ausgeben konnte. Die Pacht aus dem kleinen Bauernhof der Familie brachte jährlich dreihundert Drachmen ein, inzwischen sogar weniger, weil der Weinberg verkauft worden war. Und Phidias hatte mit seinem Unterricht vielleicht noch einmal soviel verdient. Diese Wasserschlange hatte nicht nur mehr als das Gehalt ihres Vaters verdient, sondern insgesamt dreimal soviel wie das jährliche Einkommen des ganzen Haushaltes. Und das alles hatte Archimedes ausgegeben, bis auf hundert Drachmen.
Marcus verstand, warum sie plötzlich schwieg, und wünschte sich, er hätte den Mund gehalten. Verlegen rutschte er hin und her. »Alexandria ist teuer«, entschuldigte er sich, »und außerdem waren da noch die Schulden und die Kosten für die Rückreise.« Es hatte auch noch eine Frau gegeben, auf deren Konto ein schöner Batzen dieses Geldes gegangen war, aber er hatte nicht die geringste Absicht, der Schwester von Archimedes so etwas zu erzählen. »Dein Bruder war nicht so extravagant, wie’s aussieht«, fügte er statt dessen hinzu. Wenn man die Preise von Alexandria berücksichtigte, ganz zu schweigen vom Preis der besagten Frau, stimmte das auch. »Außerdem sind noch hundertsechzig Drachmen übrig.«
»Hundertsechzig?« fragte Philyra argwöhnisch. »Er hat von hundert gesprochen.«
Marcus zuckte die Schultern und grinste wieder. »Erwartest du wirklich, daß er in Geldsachen auf dem laufenden ist?«
Diesmal lächelte sie nicht, sondern starrte ihn nur kühl und prüfend an. »Das hast du doch für ihn getan, oder?«
Einen Augenblick begriff er nichts, aber dann zog er ein finsteres Gesicht. »Kein einziges Kupferstück habe ich genommen!« erklärte er empört. »Du kannst ihn fragen.«
Während Philyra seine Miene beobachtete, sah sie, wie der Ärger plötzlich in sich zusammenfiel und einer mürrischen Gleichgültigkeit wich. Es war, als ob damit noch etwas anderes versickert wäre - ein Gefühl von Freiheit, ein eigenes Ich. Plötzlich bedauerte sie ihren Argwohn. Und doch - achtzehnhundertundachtzig Drachmen! Sie konnte nicht begreifen, wie sich eine derart riesige Summe einfach in Luft auflösen konnte. Ihr tagträumerischer Bruder war ein leichtes Opfer für jede Art von Betrug.
»Nicht ein Kupferstück habe ich von seinem Geld genommen, nie«, wiederholte Marcus wütend. »Du kannst ihn fragen.«
Verbittert fiel ihm wieder ein, wie er und sein Herr vom Wasserschneckenbau im Delta nach Alexandria zurückgekehrt waren. Kaum hatte das Flußschiff angelegt, war Archimedes heruntergehüpft und hatte sich sofort Richtung Museion getrollt. Es blieb Marcus überlassen, das Gepäck in ihre Unterkunft zu schaffen. Das Gepäck - und die Schatulle mit den achtzehnhundertundachtzig Drachmen. Eine Menge Geld. Davon hätte sich Marcus gut eine Schiffspassage zurück nach Italien leisten können und dort dann obendrein noch ein Paar Ochsen, einige Schafe und ein Jahr Pacht für einen kleinen Bauernhof. Wie er so mit der schweren Truhe dahingetrottet war, war ihm schmerzhaft bewußt geworden, wie einfach eine Flucht wäre. Und dabei hätte er seinen Herrn nicht einmal mittellos zurückgelassen, denn Archimedes hätte jederzeit zurückgehen und noch ein paar Wasserschnecken bauen können. Letztendlich hatte ihn aber nicht seine Ehrlichkeit zurückgehalten, auf die er sich immer soviel eingebildet hatte, sondern pure Verzweiflung. Die Ereignisse, die ihn zum Sklaven gemacht hatten - die verlorene Schlacht, die toten Männer -, waren immer noch lebendig und ließen sich nie mehr auslöschen. Er konnte nicht mehr nach Hause, und irgendwoanders hinzugehen, schien ihm wenig sinnvoll. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte er seine Sklaverei immer als einen Zustand betrachtet, der ihm gegen seine wahre Natur auferlegt worden war, aber nun zeigte sie plötzlich ihr wahres Gesicht: die unausweichliche Bedingung, an die er sein Leben geknüpft hatte.
Inzwischen merkte er, daß er sich mit einer typischen Sklavenverteidigung gegen das Mädchen wehrte: Mein Herr hat sich nicht beklagt, also hast auch du kein Recht dazu. Ärgerlich stand er auf, riß die Wasserschnecke hoch und trug sie zu ihrem Korb zurück. Philyra folgte ihm mit einer Miene, in der sich Argwohn und Entschuldigung mischten. »Vielleicht werde ich ihn fragen«, sagte sie.
»Tu das ruhig«, knurrte Marcus, während er den letzten Wasserrest aus der Schnecke auf den ungepflasterten Hof kippte.
»Inzwischen«, sagte Philyra und richtete sich kerzengerade auf, »hol alle schmutzigen Sachen aus der Truhe und leg sie zum Waschen hin. Den Rest kannst du drinnen lassen, den kann dann mein Bruder aussortieren.«
»Jawohl, Herrin«, sagte Marcus verbittert, drehte ihr den Rücken zu und begann demonstrativ, die Schnecke wegzupacken. Trotzdem spürte er, wie sie wegging, und drehte sich um, um ihr nachzusehen. Mit steifen Schritten, durchgedrücktem Kreuz und hocherhobenem Kopf ging sie schnurstracks zum Sterbezimmer ihres Vaters am Ende des Innenhofes hinüber. Sein Ärger verflog, zurück blieb nur noch Traurigkeit. Ihr Vater war krank, und ihre Mutter war aus Sorge um ihn sicher völlig außer sich. Tapfer versuchte sie eine kluge, einfühlsame Hüterin des Hauses zu sein und nicht noch eine zusätzliche Last. Wenn er ein freier Mann gewesen wäre, hätte er ihr dafür Beifall gespendet. Sie war jung und unwissend und trug keine Schuld daran, daß er ein Sklave war.
Wenige Minuten danach stolperte Archimedes die Treppe herunter. Ohne Gürtel und schief angezogen, schaffte er es, daß seine neue Tunika fast genauso unansehnlich wirkte wie diejenige, die er am Tag zuvor ausgezogen hatte. Beim Anblick des schmutzigen Wäscheberges neben der Truhe blinzelte er, als ob es sich um die Überreste eines zerbrochenen Gegenstandes handelte, den er erraten müßte.
»Ich habe deiner Schwester gesagt, sie soll die Truhe nicht selbst auspacken, weil Geschenke drin sind«, sagte Marcus rasch. »Die Geschenke sind immer noch da.«
»Ach«, erwiderte Archimedes, aber es klang, als ob die Worte nicht zu ihm durchgedrungen waren.
Für Marcus sah er noch zerstreuter und gedankenverlorener aus als üblich. »Möchtest du die Geschenke herausholen und deiner Familie geben?« schlug er unverblümt vor. »Deine Schwester möchte die Truhe so schnell wie möglich wegschaffen.«
»Ach«, sagte Archimedes nur wieder, kam herüber und starrte in die Truhe. Marcus hatte die Geschenke schon in einer Ecke zusammengestellt: einen Krug Myrrhe für Arata, eine Laute für Philyra und eine Schatulle voller Elfenbeinplättchen für Phidias.
Archimedes beugte sich vor und hob die Schatulle hoch, die wie ihr Inhalt aus Elfenbein bestand. Sie war mit einer feinen, roten Zeichnung verziert, die den Gott Apollon und die neun Musen darstellte. Er wußte noch genau, wie er sie damals im Geschäft betrachtet und die Puzzleteile zusammengesetzt hatte. Als er sich vorstellte, wie sein Vater begeistert dasselbe tun würde, hatte er lächeln müssen. Aber jetzt würde Phidias nicht mit dem Puzzle spielen, dazu war er viel zu müde, zu krank und aufs Sterben konzentriert. Ein weiteres, ungelöstes Puzzle, dabei hatte es so viele, viele andere gegeben, die Phidias im Laufe seines Lebens nicht hatte lösen können, weil er zu beschäftigt oder zu müde war. Er hatte Geld für den Haushalt und Brot für die Kinder verdienen müssen. Er hatte Bürger, Ehemann und Vater sein müssen, erst dann konnte er Mathematiker und Astronom sein. Archimedes hatte davon profitiert. Nun betrachtete er wie betäubt die leere Hälfte in seinem Inneren. Eine Schuld war weitergegeben worden - uneinlösbar.
Sorgenvoll bemerkte Marcus, wie sein Gesicht zusammensackte und ausdruckslos wurde wie bei einem Idioten. Er berührte seinen Herrn am Ellbogen. »Du kannst es ihm immer noch geben, Herr«, sagte er, »es ist ein gutes Geschenk für einen Kranken.«
Archimedes fing lautlos zu weinen an, hob den Kopf und starrte Marcus wie blind an. »Er stirbt.«
»Das hat man mir gesagt«, gab Marcus ruhig zur Antwort.
»Ich hätte letztes Jahr zurückkommen sollen.«
Genau das hatte ihm Marcus damals immer gesagt, aber jetzt zuckte er nur die Schultern und meinte: »Jetzt bist du aber zurück. Herr, er stirbt nach einem guten Leben, im Kreise seiner ganzen Familie. Kein Mensch kann von den Göttern mehr verlangen.«
»Sein ganzes Leben hat er sich mit Resten begnügt!« antwortete Archimedes heftig. »Bruchstücke, hier und da eine gestohlene Stunde, nichts! Ach Apollon! Pegasus an einen Pflug gefesselt! Warum hat die Seele Flügel, wenn sie doch nie fliegen darf?«
Für Marcus ergab das alles keinen rechten Sinn. »Herr!« sagte er scharf. »Trag es wie ein Mann!«
Archimedes warf ihm einen erstaunten Blick zu, als ob ihn Marcus in irgendeiner unidentifizierbaren, fremden Sprache angesprochen hätte. Er hatte nichts begriffen. Trotzdem hörte er zu weinen auf und strich sich mit dem nackten Arm übers Gesicht. Verstohlen warf er einen Blick auf die Tür am entgegengesetzten Ende des Hofes, dann ging er seufzend mit der Schatulle in der Hand darauf zu. Marcus hob den Parfümkrug und die Laute auf und folgte ihm.
Arata und Phiiyra waren gemeinsam im Krankenzimmer, um den Kranken für den Tag herzurichten. Gerade hatten sie die letzten Handgriffe verrichtet. Als Phiiyra die Laute in den Händen von Marcus sah, wurde ihr Gesicht reglos, nur ihre Augen erwachten plötzlich zu einem intensiven Eigenleben. Mit einer Kopfbewegung schaute sich Archimedes nach seinem Sklaven um. Daraufhin reichte Marcus Arata mit einer Verbeugung den Myrrhekrug, verbeugte sich zum zweiten Mal und streckte Phiiyra die Laute hin. Als sie sie nahm, wurde sie rot. Mit einer zärtlichen und doch eindeutig besitzergreifenden Geste umarmten ihre Hände den Resonanzboden. Halb protestierend, halb bewundernd schaute sie ihren Bruder an und hauchte: »Medion!« Aber Archimedes hatte keine Augen für sie.
Phidias hatte sich langsam in eine sitzende Position gestemmt, um sein Geschenk entgegenzunehmen. Er hielt die Elfenbeinschatulle in seinen zittrigen Händen und betrachtete ganz genau das Bild auf dem Deckel. »Apollon und die lieblichen Musen«, stellte er mit weicher Stimme fest. »Welche ist Urania?«
Stumm deutete Archimedes darauf. Urania, die Muse der Astronomie, stand neben Apollons Ellbogen und deutete auf etwas, das vor dem Gott auf einem flachen Tisch lag - vermutlich das Puzzle. Sie trug dasselbe durchsichtige Gewand wie ihre acht Schwestern, nur ihre Sternenkrone unterschied sie von ihnen.
Phidias lächelte. »Direkt neben dem Gott«, sagte er leise. »Genau wo sie sein muß.« Er blickte zu seinem Sohn auf, in seinen gelblichen Augen lag noch immer ein strahlendes Lächeln. Sein Blick zeugte von der köstlichen Zuversicht, daß er hier endlich Verständnis finden würde. »Sie ist wunderschön, stimmt’s?« fragte er.
»Ja«, flüsterte Archimedes. Das Verständnis, das von ihm erwartet wurde, ging ihm durch und durch wie ein warmer Strom. »Ja, das ist sie.«
Als sich ihre Augen trafen, herrschte plötzlicher tiefer Friede.