Delia erwartete ihren Bruder bereits, als er nach Hause kam.
Den ganzen Nachmittag saß sie im ersten Innenhof, wo sie die Leute schon beim Betreten des Hauses hören konnte. Zuerst versuchte sie es mit Lesen, dann mit Flötespielen, aber sie konnte sich nicht konzentrieren. So saß sie am Ende einfach nur da und sah dem Flirren der Blätter im Garten zu und lauschte den leisen Geräuschen, die aus dem Hause drangen. Während die Stunden langsam vergingen, steigerte sie sich aus Verzweiflung in eine erhebliche Wut hinein. Zwei Männer, die sie gern hatte, waren irgendwo und beschlossen -vielleicht sogar im Streit - ihr Schicksal, während sie wie ein nutzloser Gegenstand einfach nur hilflos dasaß.
Gegen Abend ging endlich die Tür auf, Gelons schrille, aufgeregte Stimme drang herein. Mit einem Satz sprang Delia hoch und rannte durch den Garten. Sie mußte sich förmlich zwingen, die Eingangshalle mit gemessenem Schritt zu betreten.
Gelon zeigte gerade Agathon sein neues Spielzeug. Als seine Tante auftauchte, rief er ihr sofort zu, sie müsse es sich auch ansehen. »Schau mal, was mir Archimedes gegeben hat!« krähte er. »Schau, wenn du dieses Rad drehst, laufen alle Räder in der Schachtel mit. Ein paar gehen in die Richtung, ein paar in die andere, und schau mal, das kleine da geht schneller! Schau!«
Delia warf einen flüchtigen Blick darauf, dann schaute sie ihren Bruder an. Archimedes hatte seine Frage tatsächlich gestellt, das konnte sie aus Hierons Gesicht ablesen, aber seine mögliche Antwort war, wie üblich, hinter einer strahlend freundlichen Maske versteckt. Hieron lächelte sie so undurchdringlich an wie eh und je, dann sagte er zu seinem Sohn: »Warum gehst du nicht und zeigst das deiner Mutter, Gelonion? Ich muß mich kurz mit Tante Delia unterhalten.«
Gelon sauste davon, um seiner Mutter das Gerät zu zeigen, während Hieron auf seine Bibliothek deutete.
Drinnen in dem kleinen, stillen Raum zündete der König die Lampen an, dann setzte er sich auf die Liege und bat Delia, sich ebenfalls zu setzen. Sie gehorchte steif. Sie war noch immer über ihre eigene Ohnmacht wütend und verzweifelt und dementsprechend verkrampft. »Hat dich Archimedes gefragt, ob er mich heiraten könne?« wollte sie wissen, bevor Hieron noch die geringste Chance zum Sprechen gehabt hatte.
Er nickte. Ihre Hast verblüffte ihn.
»Er sagte, er würde es tun«, erklärte Delia. Sie warf einen raschen Blick auf ihre Hände, die sie fest gegeneinandergepreßt hatte. Dann schaute sie ihrem Bruder direkt in die Augen. »Ich habe ihn nicht darum gebeten«, erklärte sie stolz. »Hieron, ich werde heiraten, wen du willst, und wäre froh, wenn du davon einen Nutzen hättest. Ich schwöre bei Hera und allen unsterblichen Göttern, daß ich lieber mein ganzes Leben Jungfrau bleibe, als gegen deinen Willen zu heiraten.«
Plötzlich wurden seine Züge vor tiefer Zuneigung weich. »Ach, Delia!« rief er und ergriff ihre beiden wütenden Hände. »Mein Herzensschatz, du hast dir schon immer einen Platz in meinem Herzen erwerben wollen und hast nie geglaubt, daß du ihn längst besitzt.«
Auf Zorn war sie gefaßt gewesen, aber dieser Zärtlichkeit war sie nicht gewachsen. Sie fing zu weinen an und zog ihre Hände weg, um die Tränen zurückzudrängen, aber vergeblich.
Er machte keine Anstalten, sie festzuhalten. Er kannte sie und wußte, daß sie wegen ihrer Tränen auf sich selbst wütend war und keinen Wert auf Mitgefühl legte. Statt dessen fuhr er leise fort: »Ich habe Archimedes lediglich gesagt, daß ich mit dir reden und mich vergewissern möchte, ob du eine bewußte Entscheidung getroffen hast. Anscheinend hat er gedacht, das wäre auch in deinem Sinne.«
Sie weinte noch heftiger. »Nicht, wenn du’s nicht willst.«
»Schwester«, sagte er mit einem Anflug von Ungeduld, »ich will doch diesen Mann nicht heiraten. Ich versuche doch nur, herauszufinden, ob du ihn heiraten willst.«
Sie schluckte mehrmals. »Ja, aber nicht gegen deinen Willen!« brachte sie dann heraus.
»Laß meine Wünsche mal für einen Augenblick beiseite! Ich möchte sichergehen, daß du verstehst, was du von einem solchen Ehemann erwarten kannst. Du magst sein Flötenspiel, aber eine Ehe ist mehr als Musik. Du weißt, daß die ganze Seele dieses Menschen der reinen Mathematik gewidmet ist, ja? Wenn du ihn heiratest, wird er sich regelmäßig an Einfällen berauschen und darüber alles andere vergessen, einschließlich dich. Er wird nie rechtzeitig zu Hause sein oder daran denken, dir an Festtagen ein Geschenk zu kaufen. Genausowenig wird er an das denken, was er auf deinen besonderen Wunsch hin vom Markt mitbringen sollte. Er wird sich nicht im geringsten für deinen Alltag interessieren. Wenn du ihn bittest, deinen Besitz zu verwalten, dann wäre das dasselbe, wie wenn du von einem Delphin erwartest, daß er einen Ochsenkarren zieht. Du müßtest alles selbst in die Hand nehmen. Er wird auch nie merken, wenn du dich über etwas aufregst, bis du ihn mit der Nase daraufstößt, und dann wird er total perplex sein. Er wird dich enttäuschen und zur Weißglut bringen, viele, viele Male, in vielen, vielen Dingen.«
Sie konnte ihn nur anstarren. Der Schock hatte ihre Tränen versiegen lassen. Sie erkannte sofort, daß alles ziemlich der Wahrheit entsprach - Archimedes hatte sie ja tatsächlich vor sich selbst gewarnt. Und doch hatte sie genug von ihm gesehen und gehört, um zu wissen, daß dies nicht die ganze Wahrheit war. Denn trotz seiner Liebe zu dieser Sirene mit der honigsüßen Stimme hatte er ein warmes Herz und liebte seine Familie ohne Einschränkung. Die Aussicht auf Tausende von kleinen Frustrationen konnte nicht im geringsten die großartige Aussicht auf einen lebenslangen Tanz am Rande der Unendlichkeit trüben. Sie hob den Kopf und sagte entschlossen: »Vielleicht wird er mich in Kleinigkeiten enttäuschen, aber nie in großen Dingen. Und was die Musen betrifft - sie sind große, wunderbare Gottheiten, denen ich selbst diene. Und«, ihre Stimme wurde lauter, »und - zur Verwaltung meines Besitzes brauche ich ihn nicht. Ich würde gerne lernen, wie das geht, um die Dinge selbst in die Hand nehmen zu können. Ich möchte nicht«, ihre Hand schnappte hilflos nach Luft, »die ganze Zeit nur dasitzen und warten müssen!«
»Aha«, sagte Hieron, »du weißt also, wie er ist, und willst ihn trotzdem heiraten? Dann hör mir mal gut zu. Sagen wir mal, ich würde Philistis gerne ein Geschenk kaufen. Ich könnte ihr eine Olivenpresse für einen ihrer Bauernhöfe kaufen oder ein Faß zum Ansetzen von Fischsauce oder vielleicht auch einen neuen Weinberg -alles nützliche und erstrebenswerte Dinge, für die sie sich zweifelsohne bedanken würde. Aber wenn ich ihr einen Seidenmantel mit gestickter Bordüre schenken würde, bekäme sie strahlende Augen und ich einen Kuß. Diesbezüglich kennst du sie genausogut wie ich. Doch nun zu dir: Du hättest mir einen neuen Verwandten mit Einfluß oder mit Beziehungen oder mit Geld bringen können, und ich hätte mich bei dir dafür bedankt. Aber als Archimedes um deine Hand angehalten hat, hat er mir alles angeboten, was sein Verstand erfinden und seine Hände formen können. Philistis war sicher noch nie so glücklich über einen Seidenmantel wie ich darüber. Schwesterherz, du hättest keinen Mann aussuchen können, der mir besser gefällt.«
Sie sah ihn genauso an wie Archimedes: zuerst ungläubig, dann erstaunt und schließlich glückselig. Zuletzt umarmte sie ihn stürmisch und küßte ihn.
Am nächsten Tag wurde die Verlobung offiziell bekanntgegeben. Dieses Ereignis verdrängte in der Stadt selbst die Römer für einige Zeit als Hauptgesprächsthema. Allgemein kam man zu der Auffassung, der König hätte seine Schwester für die größten Katapulte der Stadt eingetauscht, eine Geste, die ihm die Bürger von Syrakus als Ausdruck höchsten Gemeinschaftssinnes anrechneten. Nur einige Frauen fanden das doch ein bißchen hart für die Schwester. Königin Philistis war schockiert, faßte sich aber rasch wieder und ging sofort daran, der Verbindung wenigstens einen Hauch von Ehrbarkeit zu verleihen. Es gelang ihr, die Frauen der Aristokratie und selbst ihren entsetzten Vater zu gewinnen. Klein-Gelon war hellauf begeistert, wogegen Agathon absolut mißbilligend reagierte.
Die Reaktion im Hause in der Achradina schwankte zwischen Verblüffung und Panik. »Aber Medion!« jammerte Philyra. »Was sollen wir nun mit dem Haus anfangen? Du kannst doch unmöglich die Schwester des Königs hier leben lassen!«
Archimedes betrachtete das Haus, in dem er geboren worden war, und meinte dann zögernd: »Wir werden umziehen. Es gibt da ein Haus auf der Ortygia, das zu Delias Erbe gehört.«
»Ich will aber nicht auf der Ortygia wohnen!« protestierte Philyra wütend.
»Aber Dionysios muß es«, sagte Archimedes erstaunt, »und ich dachte.« Unter den wütenden Blicken seiner Schwester hielt er verblüfft inne. Philyra und Arata hatten an Dionysios Gefallen gefunden und Archimedes erklärt, er könne zu einem passenden Zeitpunkt seine Zustimmung zu dieser Verbindung geben. Jetzt wußte er nicht, was am gegenwärtigen Zeitpunkt unpassend war, aber Mutter und Schwester verzogen gemeinsam das Gesicht über diese ungebührliche Hast.
»Jetzt geht’s doch um das Haus selbst!« rief Philyra kläglich. Sie war den Tränen nahe. »Medion, warum mußt du nur alles so schnell verändern?«
»Was soll ich denn tun?« wollte er entnervt wissen. »Mich weigern, Katapulte zu bauen, wenn die Stadt sie braucht? Mich dumm stellen? Delia ignorieren?«
»Ich weiß es nicht!« schrie Philyra. »Ich weiß es nicht, aber alles geschieht viel zu schnell!« Damit drehte sie sich auf dem Absatz um und ging weg, um sich auszuweinen.
Auch Arata hätte am liebsten geweint, ließ es aber bleiben und sah sich nur tieftraurig in dem alten Haus um. Hier war sie glücklich gewesen, auch wenn sie schon seit einiger Zeit gewußt hatte, daß sie eines Tages ausziehen würden. Das war ihr in dem Moment klargeworden, als sie begriffen hatte, daß sich Könige um die Talente ihres Sohnes reißen würden. Sie hatte sich mit dem Umzug abgefunden und war bereit, einen neuen Lebensstil zu lernen. Die Aussicht auf eine königliche Schwiegertochter beunruhigte sie, aber dann dachte sie sich, daß das Mädchen beim näheren Kennenlernen sicherlich nett sein müßte, da ihr Sohn über diese Verbindung so ungeheuer glücklich war. Wenn doch nur nicht all diese Veränderungen auf einmal gekommen wären. Das war der einzige Wunsch, den sie mit Philyra teilte. Im Juni hatte ihr Mann noch gelebt, und sie hatte gedacht, ihr ruhiges Mittelschichtleben würde immer so weitergehen. Jetzt war es August, ihr Sohn würde demnächst die Schwester des Königs heiraten und ihre Tochter den Hauptmann der Ortygia-Garnison, die Familie war auf dem besten Weg zu unvorstellbarem Reichtum und - ihr Mann war tot. Diese letzte, brutale Tatsache betäubte noch immer ihre Sinne und verwandelte alle anderen Veränderungen in beinahe unüberwindliche Hindernisse.
»Und ich dachte, sie wäre glücklich, wenn wir alle auf der Ortygia leben würden!« beklagte sich Archimedes gereizt bei seiner Mutter. »Ich dachte, sie wollte uns in der Nähe haben!«
»Ja, mein Schatz«, sagte Arata geduldig, »das wird sie sicher auch sein. Es geht doch nur darum, daß alle Veränderungen auf einmal anstehen und uns der Verlust deines Vaters noch immer schmerzt.«
Bei diesen Worten kam ihr Sohn herüber und umarmte sie. »Ich wünschte, er würde noch leben und könnte uns sehen.«
Arata lehnte ihren Kopf an sein Schlüsselbein und stellte sich in Gedanken vor, wie Phidias mit tiefster Freude bei der Hochzeit seines Sohnes zuschauen würde. Dieses Bild trieb ihr die Tränen in die Augen. »Er wäre so stolz gewesen«, flüsterte sie und fand sich damit ab, daß sie weitermachen mußte.
Im Athener Steinbruch erfuhr Marcus von den Wachen die Neuigkeit.
Zuerst hatten ihn die Männer der Ortygia-Garnison rauh angefaßt und jede Gelegenheit genutzt, um ihn zu bestrafen. Sie wußten, daß er den Mördern Stratons geholfen hatte, und Straton hatte viele Freunde gehabt. Trotzdem war Marcus der einzige unter den Gefangenen, der wirklich fließend Griechisch sprach, weshalb man seine Dienste als Dolmetscher jeden Tag Dutzende Male in Anspruch nehmen mußte. Die Wachen konnten es kaum vermeiden, mit ihm zu reden, und nach einer absolut normalen Unterhaltung ließ sich auch ihr abgrundtiefer Haß nicht mehr aufrechterhalten. Die angekündigte Verlobung half wieder ein Stück weiter, denn die Garnison war daran genauso interessiert wie der Rest der Stadt, und die Gelegenheit, den Sklaven von Archimedes darüber auszufragen, war viel zu günstig, um sie sich entgehen zu lassen. Nachdem Marcus seinen anfänglichen Schock überwunden hatte, erzählte er bereitwillig von Flöten und von Alexandria und beteuerte, daß es dem König in erster Linie nicht um Katapulte gegangen war. »Archimedes hätte auf alle Fälle so viele gebaut, wie gebraucht werden«, sagte er. »Dafür mußte ihm der König nicht das Mädchen geben. Nachdem er den >Begrüßer< gebaut hatte, wollte ihm der König zweihundert Drachmen mehr bezahlen, als vereinbart, aber er hat es abgelehnt. >Ich bin Syraku-ser<, hat er gesagt, >ich werde mich nicht an dem bereichern, was Syrakus braucht<.«
Das beeindruckte die Wachen, nur einer fragte zynisch: »Und was hast du davon gehalten?«
»Ich habe mich gefreut«, sagte Marcus ruhig. »Ich habe immer geglaubt, daß ein Mann seine Heimatstadt lieben sollte.«
Nachdem die Wachen wieder auf ihre Posten gegangen waren, lehnte sich Marcus gegen die Hüttenwand und dachte lächelnd über die Neuigkeiten nach. Er wußte noch genau, wie Archimedes gestrahlt hatte, als er Delias Warnung bekommen hatte. Und er dachte daran, wie begeistert Delia bei dem mechanischen Versuch Beifall geklatscht hatte. Sein Stolz und seine Freude waren merkwürdig diffus. Es waren weder die Gefühle eines Freundes noch die eines Dieners. Vielleicht hatten sie etwas von einem älteren Bruder an sich, aber auch dieser Vergleich paßte nicht. Als loyaler Römer hätte er sich wünschen müssen, daß Archimedes Syrakus verließ, aber seine Freude kannte kein Bedauern. Der Junge hatte seine Sache gut gemacht, und nun wünschte er ihm viel Glück!
Am nächsten Morgen fingen die Besichtigungstouren an. Dreißig Gefangene wurden in Zehnergruppen aneinandergekettet und dann im Gleichschritt zum Hafen hinunter befördert. Dort zeigte man ihnen die Seemauern, die Handelsschiffe, die am Kai entlang vertäut waren und trotz des Krieges unbehindert ihrem Geschäft nachgingen, sowie die Kriegsschiffe, die man in die Bootsschuppen hinaufgezogen hatte. Marcus hatte man zum Übersetzen mitgenommen. »Falls die Gefahr einer Flottenattacke droht«, teilte der Reihenführer, der für die Gruppe verantwortlich war, den Gefangenen mit, »läßt sich der gesamte große Hafen mit einer Barriere absperren. Aber dazu habt ihr Kerle sowieso nicht die richtigen Schiffe, stimmt’s?«
»Warum zeigen sie uns das?« fragte einer der Gefangenen Marcus.
»Das verstehst du doch sicher, oder?« antwortete Marcus entrüstet. »Damit du dem Konsul erzählen kannst, daß er Syrakus nicht aushungern kann.«
Nachmittags wurden zwanzig weitere Gefangene ausgewählt und an der Stadtmauer entlang zum Euryalus-Fort gebracht, wo man ihnen die Katapulte zeigte. Dort standen zwei Hundert-Pfünder und die beiden Zwei-Talenter-Kopien von »Gute Gesundheit«. »In ein paar Tagen bekommen auch wir noch einen Drei-Talenter«, teilte ihnen der Hauptmann des Forts genüßlich mit. »Der Obermechaniker arbeitet schon daran.«
»Ich dachte, der käme auf den Hexapylon«, sagte Marcus.
Der Hauptmann des Forts starrte ihn überrascht an, während der Reihenführer murmelnd erklärte, wer Marcus sei. Der Hauptmann warf ihm einen ärgerlichen Blick zu. »Der Hexapylon hat den ersten bekommen«, gab er zu, »aber man hat uns gesagt, unserer würde noch besser.«
»Du hättest ihn statt dessen um einen Zweihundert-Pfünder bitten sollen«, sagte Marcus.
Der Hauptmann zögerte unschlüssig. Einerseits gebot ihm sein Stolz, die Anmerkung eines Sklaven zu ignorieren, andererseits war er ganz versessen darauf, ein größeres Katapult als der Hexapylon zu haben. Die Gier behielt die Oberhand. »Könnte er das denn?« fragte er eifrig.
»Ganz bestimmt«, sagte Marcus, »aber nun hat er den DreiTalenter schon zur Hälfte gebaut. Zum Fragen ist’s jetzt zu spät.«
»Erklär denen da, daß er einen Zweihundert-Pfünder bauen könnte«, befahl der Reihenführer und deutete mit der Hand zu den übrigen Gefangenen hinüber.
Marcus nickte, drehte sich zu seinen Mitgefangenen um und berichtete lakonisch, das Fort erwarte einen Drei-Talenter und hätte gerne als nächstes einen Zweihundert-Pfünder.
»Gebaut von deinem ehemaligen Herrn, dem Flötenspieler?« fragte einer der Gefangenen.
»Ja«, gab Marcus zu, »das kann er wirklich, glaube mir.«
Die Gefangenen betrachteten die Munitionshaufen neben den Forttürmen - Hundert-Pfund-Geschosse und Zwei-Talenter-Steine -und sackten innerlich zusammen. »Warum zeigen sie uns das?« wollte einer wütend wissen.
»Damit wir es dem Konsul berichten«, antwortete Marcus. »Damit er weiß, daß er Syrakus nicht im Sturm nehmen kann.«
»Und warum wollen sie, daß wir ihm das berichten?«
Eine Minute stand Marcus stumm da und betrachtete die Gefangenen in ihren Ketten und die Wachsoldaten in ihren Rüstungen. »Damit er ein Friedensangebot macht«, sagte er. Sein Herz schlug schneller. Da wußte er, daß er recht hatte.
Am nächsten Tag gab es noch mehr Besichtigungstouren: eine auf die Ortygia und die andere zum Hexapylon, wo der Drei-Talenter vorgeführt wurde. Nicht alle Gefangenen waren so gesund, daß man sie durch die ganze Stadt schleifen konnte, aber jeder, der noch gehen konnte, bekam eine intensive Vorführung von syrakusischer Stärke und Pracht. Anschließend diskutierten sie untereinander unglücklich darüber und suchten Marcus auf, um Genaueres zu erfahren. Zuerst hatten sie ihn bei seinem Erscheinen als getarnten Spion verdächtigt, aber die anfängliche, feindselige Haltung der Wächter und seine offenmütig geäußerten Sympathien hatten sie davon überzeugt, daß er wirklich der Mensch war, als der er sich vorgestellt hatte. Wie Fabius waren auch sie der Ansicht, er sei sehr griechisch geworden, aber sie akzeptierten, daß man ihn wegen seiner Loyalität zu Rom mit ihnen eingesperrt hatte. Und so glaubten sie das meiste, was er ihnen erzählte.
Früh am nächsten Morgen kamen zwei unbekannte Wächter in die Hütte und gingen die Reihen der Gefangenen entlang, bis sie zu Marcus kamen. Dann schlossen sie seine Fußeisen auf und sagten ihm, er solle aufstehen. Langsam erhob sich Marcus und wartete im Stehen stumm auf weitere Befehle, bis ihm der eine Mann einen Hieb versetzte. »Der König will dich sehen«, sagte er. »Mach schon!«
Bevor er dem Befehl gehorchte, bückte er sich noch rasch und nahm die Flötenschatulle mit - nur für den Fall, daß er nicht mehr wiederkommen sollte.
Die beiden Männer brachten ihn zum Pförtnerhaus hinunter, wo sie ihm einen Eisenkragen umlegten und die Hände fesselten. Er schaffte es gerade noch, sich die Flötenschatulle in den Gürtel zu stecken, ehe sie sie ihm entreißen konnten. Dann befestigten sie an dem Kragen eine Kette, als ob er ein Hund wäre, und rissen probehalber so heftig daran, daß er taumelte. »Ich werde bestimmt keinen Fluchtversuch unternehmen«, erklärte er ihnen milde, als er wieder Tritt gefaßt hatte.
»Ihr müßt nicht grob sein«, pflichtete der verantwortliche Reihenführer im Steinbruch bei, der das Ganze beobachtet hatte. »Er ist ein Philhellene.«
Bei diesem Attribut blinzelte Marcus. Also fanden auch die Wächter, daß er ganz griechisch geworden sei? Aber die Fremden starrten ihn nur wütend an, und einer sagte barsch: »Er hat mitgeholfen, Straton zu töten.« Jetzt konnte der Reihenführer nur noch die Schultern zucken.
Die beiden Neuen aus der Ortygia brachten Marcus durchs Tor auf die Straße hinaus, dann bogen sie nach rechts ab, Richtung Nea-polis. Beinahe wäre Marcus durch die Kette erneut umgerissen worden. Er hatte damit gerechnet, daß sie direkt zur Ortygia marschieren würden. »Wohin gehen wir?« fragte er amüsiert, bekam aber keine Antwort.
Sie gingen am Amphitheater vorbei und kletterten dann auf das Epipolae-Plateau hinauf, das an dieser Stelle gänzlich unbewohnt war und nur aus verdorrtem Gestrüpp bestand. Jetzt begriff er, daß sie erneut Richtung Euryalus gingen. Nach einem kurzen Seitenblick auf seine Wächter beschloß er, keine weiteren Fragen zu stellen. Er würde den Zweck dieser Reise noch früh genug erfahren.
Der Euryalus lag auf dem höchsten Punkt der Kalksteininsel Epi-polae, eine Trutzburg, von der aus das Land nach zwei Seiten hin abfiel. Als sie den Innenhof betraten, fanden sie dort jede Menge Soldaten vor, ein ganzes Bataillon aus zweihundertsechsundfünfzig Mann. In der Nähe des Äußeren Tores stand ein Pferd angebunden, das Marcus wiedererkannte. Sein Geschirr war mit Purpur behängt und mit goldenen Ziernägeln beschlagen. Die Wächter marschierten mit ihm zum Torturm hinüber und anschließend in den Wachraum hinauf. König Hieron war tatsächlich hier, mitten in einer Diskussion mit einer Anzahl hochrangiger Offiziere, von denen Marcus keinen kannte. Seine Wächter donnerten ihre Speere auf den Boden und blieben in Habachtstellung stehen, woraufhin der König flüchtig herüberschaute.
»Aha«, sagte Hieron, »gut.« Er ging durch den Raum, die Offiziere in ihren roten Mänteln hinterdrein wie der Seetang hinter einem Schiff. Vor Marcus blieb er stehen und musterte die Fesseln mit hochgezogenen Augenbrauen. »Ihr habt wohl eine Vorliebe für Ketten, was?« Seine Bemerkung war an die Wächter gerichtet. »Aber vermutlich war’s ja gut gemeint. Marcus Valerius, wie geht’s deiner Stimme?«
»Meiner Stimme, königlicher Herr?« wiederholte Marcus erstaunt.
»Hoffentlich hast du dich nicht erkältet«, sagte Hieron. »Du siehst so aus, als ob du ein Paar kräftige Lungen hättest. Kannst du dir normalerweise Gehör verschaffen, falls es nötig ist?«
»Jawohl, königlicher Herr«, sagte Marcus, dem wilde Bilder von schreienden Menschen in einem Bronzestier durch den Kopf schossen. Obwohl er nicht daran glaubte, waren sie da.
»Gut. Deine Landsleute haben soeben beschlossen, auf diesem Weg zurückzukommen. Ich möchte ein paar Worte mit ihnen reden. Weil ich aber kein Latein spreche, brauche ich einen Dolmetscher. Du scheinst mir dafür der richtige zu sein. Bist du bereit, meine Worte so genau wie möglich zu übersetzen?«
Marcus schüttelte sich erleichtert, daß die Ketten nur so rasselten. Die meisten gebildeten Römer sprachen Griechisch, also ganz sicher auch der Konsul. Wenn Hieron einen Dolmetscher haben wollte, bedeutete das, daß er mit Absicht nicht nur von den Offizieren verstanden werden wollte, sondern auch von den Truppen. Wenn ihn aber der König tatsächlich mit den anderen Gefangenen zurückgeben wollte, könnte er Probleme bekommen, falls er jetzt als syrakusischer Dolmetscher auftrat. Da er andererseits gefesselt und offensichtlich ein Gefangener war, könnten ihm seine Leute schlecht einen Vorwurf daraus machen, daß er die Worte seiner Wächter übersetzt hatte. Außerdem hatte ihn Hieron immer gnädig behandelt. Beim Gedanken an die Freiheit wollte in ihm noch immer keine rechte Freude aufkommen, aber inzwischen konnte er sich vorstellen, daß sich die Freude rechtzeitig einstellen würde. Eine Sache war er der Gnade also noch schuldig. »Ich bin bereit, Herr«, sagte er.
Hieron lächelte, schnippte mit den Fingern und ging in den Hof hinaus. Die Wächter eskortierten Marcus hinter dem König her, während die Offiziere mit flatternden Scharlachmänteln und schimmernder Goldrüstung den Abschluß bildeten.
Der König bestieg seinen Schimmel, und unter Trompetengeschmetter öffneten sich die Tore des Euryalus. Hieron ritt voran, gefolgt von den Offizieren in Speerformation. Marcus fand sich zwischen seinen Wächtern unmittelbar hinter dem königlichen Pferd wieder. Ringsherum wogte die prächtig schimmernde Reiterschar der Offiziere. Nach ihm kam das Syrakuser Bataillon, das zu fröhlichen Flötenklängen in geschlossener Formation marschierte. Die langen Spitzen der Speere über den Schultern glitzerten in der Sonne, während ihre Schilde eine bewegliche Mauer bildeten, auf der eine endlose Reihe von Sigmas prangte, das Symbol ihrer Stadt.
Hinter einem Pferd und zwischen zwei kräftigen Wachsoldaten eingeklemmt, konnte Marcus zuerst nicht viel von der Szenerie vor sich erkennen, aber als sie die Anhöhe hinter sich gelassen hatten, machte die Straße eine Kurve und gab einen klaren Blick frei. Jetzt sah er mit eigenen Augen, daß die römische Armee tatsächlich nach Syrakus zurückgekehrt war. Auf dem flachen, fruchtbaren Land südlich des Plateaus hatte man ein neues Lager aufgeschlagen, ein schnurgerades Rechteck, das mit Wall und Graben und einem Palisadenzaun befestigt war. Davor stach ihm ein purpurgoldener Fleck ins Auge, und dann ein Reiter, der nur knapp unter ihnen den Hügel heraufkam. Aber dann waren sie auch schon um die Kurve herum, und der glänzende Rumpf von Hierons Pferd versperrte wieder den Blick.
Wenige Augenblicke später trabte der Reiter, der ihm aufgefallen war, den Hügel herauf und reihte sich neben dem König ein. Marcus sah, daß es ein Herold war. Zum Zeichen seines Ranges hielt er einen vergoldeten Stab über den Knien, der auf der ganzen Länge mit zwei ineinander verschlungenen Schlangen verziert war. Herolde standen unter dem Schutz der Götter, wer sich an ihnen verging, beging ein Sakrileg. Sie konnten sich frei zwischen feindlichen Armeen bewegen. Offensichtlich hatte man diesen hier schon früher vorausgeschickt, um die Verhandlung vorzubereiten.
»Er hat sich geziert«, erzählte der Herold Hieron. Seine Stimme ging im Dröhnen der Marschschritte beinahe unter.
»Aber er hat zugestimmt?« fragte der König.
»Er konnte sich schlecht weigern«, antwortete der Herold. »Das ist er, dort unten, direkt vor uns. Allerdings hat er sich ausgebeten, daß du’s kurz machst.«
»Königlicher Herr«, sagte einer der Offiziere und lenkte sein Pferd näher an das des Königs heran, »ist es weise, wenn wir direkt zu ihnen hinaufreiten?«
Mit einem sanft tadelnden Blick wandte sich der König zu ihm und sagte: »Sie brechen keinen Waffenstillstand. Das ist eine ihrer guten Seiten. Selbst wenn mich Claudius am liebsten auf der Stelle eigenhändig umbringen möchte, wüßte er ganz genau, daß ihn dann sein eigenes Volk bestrafen würde, weil er den Namen Roms entehrt und die Götter beleidigt hätte. Und darin sind sie sehr abergläubisch. Solange wir uns an den Waffenstillstand halten, werden wir in Sicherheit sein.« Damit ritt er im gemütlichen Trab weiter.
Marcus folgte ihm. Inzwischen hatte er wirklich Angst. Unten am Fuße des Hügels wartete Appius Claudius, Konsul von Rom, widerwillig und ungeduldig auf Hieron. Marcus hatte es zwar immer abgelehnt, sich von Rang und Namen beeindrucken zu lassen, aber ein Konsul verkörperte die Majestät Roms, der die tiefste Ehrerbietung gebührte. Das hatte man ihm von Kindesbeinen an beigebracht. Und nun ließ er sich von Claudius beeindrucken. Er schämte sich vor sich selbst. Verstohlen schaute er an sich herunter: auf seine Tunika aus ungebleichtem Leinen, die schon vor dieser Woche andauernder Gefangenschaft nicht gerade sauber gewesen war, auf seine staubigen Beine, auf die abgetragenen Sandalen. Mit Bartstoppeln und in Ketten sollte er nun vor den Augen eines Konsuls für einen König übersetzen. Wieder fiel sein Blick nach oben, auf Hierons Rücken unter dem Purpurmantel. Da begriff er: Der König hatte ihn vermutlich bewußt in diesem Zustand ausgewählt - um Rom zu demütigen. Ich bin der König von Syrakus - und das hier ist ein römischer Bürger. Nie hätte er vergessen dürfen, wie raffiniert der König war. Und doch - etwas war er der Gnade schuldig.
Sie kamen den Hügel herunter. Direkt auf der Straße vor ihnen standen die Pferde der gegnerischen Abordnung. Hinter dem purpurgoldenen Geleitzug des Konsuls funkelten die Standarten der Legionen. Dahinter standen vielleicht zehn Manipel, alle fein säuberlich in Quadraten aufgereiht, einer hinter dem anderen, bis zum Palisadenwall hinüber, auf dem es von Zuschauern nur so wimmelte. Der Herold hob seinen Stab und trabte voraus, der Geleitzug des Königs gelassen hinterdrein. Erst als sie sich mit normaler Lautstärke unterhalten konnten, zogen sie die Zügel an. Mit einer Handbewegung bedeutete Hieron den Wächtern, sie sollten Marcus nach vorne bringen. So blickte also Marcus von der Seite des Königs mit beschämter Miene dem Feind von Syrakus ins Gesicht: seinem eigenen Herrscher.
Wie Hieron ritt auch Claudius einen Schimmel und trug einen Purpurmantel. Sein Brustpanzer und der Helm waren vergoldet und schimmerten in der Sonne. Links und rechts von ihm standen die Liktoren, deren Aufgabe es war, jeden seiner Befehle auszuführen. Sie trugen rote Mäntel und in den Händen die Rutenbündel mit den
Äxten, das Symbol seiner Amtsgewalt. Er durfte strafen und töten. Hinter ihnen saßen die Tribunen seiner Legionen auf ihren eigenen Rössern. Ihre Mäntel waren aus phönizischem Purpur und ihre Rüstung aus Gold. Marcus starrte sie mit trockener Kehle an. Sie wirkten auf ihn völlig unpersönlich, ihre Majestät war ihr einziges Kennzeichen.
»Gute Gesundheit, Konsul der Römer!« sagte Hieron. »Und auch euch, Männer von Rom. Ich habe heute morgen um eine Unterredung mit euch gebeten, um die Lage eurer Landsleute zu klären, die wir gefangengenommen haben.« Er stupste Marcus leicht mit dem Fuß an der Schulter und fügte leise hinzu: »Übersetze!«
Marcus fing an. Er beeilte sich, die Worte des Königs zu übersetzen und schrie so laut, daß man es noch möglichst weit entfernt verstehen konnte.
Claudius zog ein finsteres Gesicht. Zum ersten Mal wurde Marcus bewußt, wie der Konsul tatsächlich aussah: ein großgewachsener Mann mit Hängebacken und einem fleischigen Gesicht, aus dem nur die Nase messerscharf herausragte. »Wer ist das?« wollte der Konsul auf Griechisch wissen und starrte dabei Marcus an.
»Einer der Gefangenen«, sagte Hieron. »Er spricht fließend Griechisch. Ich habe ihn als meinen Dolmetscher mitgebracht, damit auch alle deine Offiziere meine Worte so gut verstehen wie du selbst, o Konsul der Römer. Ich habe in der Vergangenheit bemerkt, daß sie unsere Sprache nicht so gut beherrschen wie eure eigene.« Wieder berührte sein Fuß Marcus an der Schulter.
Marcus fing zu übersetzen an, aber sofort schnauzte ihn Claudius auf Latein an: »Halt!« Marcus hielt inne. Claudius funkelte ihn einen Augenblick wütend an, dann sagte er zu Hieron: »Er wird nicht gebraucht.«
»Möchtest du denn nicht, daß mich deine Männer verstehen?« fragte Hieron. Seine Stimme klang leicht überrascht. »Du möchtest ihnen doch sicher nicht die Neuigkeiten über ihre Freunde und Kameraden vorenthalten?«
Als Marcus einen raschen Blick auf die Gesichter hinter dem Konsul warf, sah er unbehagliche und unzufriedene Mienen. Möglicherweise sprachen die römischen Offiziere nicht so gut Griechisch wie ihr Konsul, aber sie verstanden genug und waren nicht glücklich, daß Claudius das Schicksal der Gefangenen vor den gemeinen Soldaten verheimlichen wollte. Auch Claudius mußte dies bemerkt haben, denn er sagte mit finsterer Miene: »Ich habe vor meinen loyalen Gefolgsleuten nichts zu verheimlichen. Wenn es dein ausdrücklicher Wunsch ist, dann laß diesen Mann übersetzen, Tyrann. Trotzdem ist er überflüssig.«
Hieron lächelte, und sofort war Marcus überzeugt, daß Claudius soeben einen bösen Fehler gemacht hatte.
Hieron fing an. Er redete rasch und deutlich und machte nach jedem Gedanken eine Pause, damit Marcus seine Übersetzung lauthals verkünden konnte: »Als das Fatum einige eurer Leute in meine Hände gab, o Römer, hatte ich die Absicht, sie so schnell wie möglich zu euch zurückzuschicken. Ich habe erwartet, daß ihr einen Herold sendet, um euch nach dem Lösegeld zu erkundigen, aber ihr habt keinen geschickt. Statt dessen habt ihr Syrakus bei Nacht und Nebel verlassen und eure Leute mir ausgeliefert. Liegt dir denn nichts an ihnen, o Konsul?«
Claudius richtete sich kerzengerade auf und starrte Hieron wütend an. »Wenn Römer Krieg führen, Tyrann von Syrakus«, erklärte er auf lateinisch, »dann akzeptieren sie den Tod und stellen sich tapfer diesem Risiko. Alle, die das nicht tun, sind keine wahren Männer und damit auch kein Lösegeld wert. Wie dem auch sei, vielleicht hast du ja schon vernommen, daß wir die Stadt Echetla, deine Verbündeten, belagert und erobert haben. Wenn du es wünschst, werden wir die Frauen von Echetla gegen unsere eigenen Leute eintauschen. Die Männer haben wir getötet.«
»Was hat er gesagt?« wollte Hieron von Marcus wissen. Während Marcus rasch übersetzte, dachte er über Echetla nach. Die Stadt lag nordwestlich von Syrakus und war eigentlich eine syrakusische Kolonie. Wer sie als Stadt bezeichnete, verzerrte damit die Dimension des Kampfes. Es handelte sich lediglich um einen befestigten Marktflecken, der gegen eine riesige Römerarmee keine Chance gehabt hatte. Zweifelsohne waren die Römer bei ihrem Angriff gereizt und wütend über ihre Verluste vor Syrakus gewesen. In dieser Stimmung kamen für sie weder Verhandlungen noch Gnade in Frage. Innerlich sah er den verzweifelten Widerstand und das Massaker an allen waffenfähigen Männern vor sich. Ihm wurde schlecht.
»Ich hatte nicht vor, für deine Leute Lösegeld zu fordern, Konsul der Römer«, sagte Hieron vorwurfsvoll. »Wie Pyrrhus von Epirus, an dessen Seite ich einst gekämpft habe, hätte ich sie ohne Bezahlung zurückgegeben. Denn genau wie er ehre auch ich den Mut des römischen Volkes.«
Als Marcus dies übersetzte, ging zum ersten Mal ein Flüstern durch die römischen Ränge. Männer, die seine Worte mit eigenen Ohren gehört hatten, wiederholten sie für diejenigen, die weiter hinten standen. Der Name von König Pyrrhus war ein guter Einfall, dachte Marcus, denn vor ihm hatten die Römer mehr Respekt als vor jedem anderen Feind, gegen den sie je gekämpft hatten.
»Dann gib sie ohne soviel Gerede zurück, Tyrann!« fauchte ihn Claudius an. »Und wir werden die Echetlaner als unsere Sklaven behalten.«
Hieron legte eine Pause ein, damit seine nächsten Worte auch wirklich deutlich zu verstehen waren, dann antwortete er: »Was die Echetlaner betrifft, o Konsul, so nenne mir einen Preis und ich werde sie freikaufen. Aber was deine eigenen Leute betrifft, so läßt mich deine Antwort zögern. Ich habe meine Gefangenen mit all dem Respekt behandelt, der tapferen Feinden gebührt. Sie bekamen gut zu essen und eine ordentliche Unterkunft, und ihre Wunden hat mein eigener Leibarzt versorgt. Allerdings ist mir aufgefallen, daß du vor deinem Aufbruch ihre überlebenden Kameraden dazu gezwungen hast, ihre Zelte außerhalb des Lagers aufzuschlagen. Und jetzt sieht es so aus, als ob du herzlich wenig Wert auf die Männer, die in meiner Gewalt sind, legen würdest. Du stellst sie auf eine Stufe mit Sklaven. Wodurch haben sie dich beleidigt?«
»Sie haben keinen Mut«, antwortete der Konsul barsch. »Sie haben sich ergeben. Wir Römer sind nicht wie ihr Griechen. Wenn wir versagen, nehmen wir die gebührende Strafe auf uns.«
»Sie haben keinen Mut?« wiederholte Hieron. »Die Männer in meinem Gefängnis haben Wunden aushalten müssen, die der beste Beweis für ihre Tapferkeit sind. Nur wenige von ihnen sind unverletzt. Unmöglich war allerdings die Aufgabe, die man ihnen abverlangt hat. Man hat zwei Manipel in loser Formation ohne Belagerungsgeräte bei hellem Tageslicht gegen schwere Geschütze geschickt. Dies war kein Befehl zur Schlacht, sondern zur Exekution! Ich bin erstaunt, daß sie trotzdem gehorcht haben. Was ihnen gefehlt hat, war sicher nicht der Mut, sondern ein kluger General.«
Claudius machte den Mund auf, aber im selben Augenblick verwandelten sich die Flüsterparolen in ein wütendes Knurren und schließlich in ein Gebrüll aus voller Kehle. Hinter ihm donnerten die Legionen ihre Speere auf den Boden und ließen die beiden hingeschlachteten Manipel wütend hochleben. Die Männer, die von den Palisaden aus zusahen, schlugen ihre Schanzwerkzeuge klirrend gegen den Wall. Claudius lief knallrot an, dann wirbelte er zu den Tribunen herum und brüllte: »Ruhe! Sorgt dafür, daß dieser Pöbel still ist!«
Wegen des Tumults tänzelte Hierons Pferd unruhig hin und her, der König tätschelte ihm den Hals.
»Meine Soldatenkameraden!« bellte Claudius, als der Lärm endlich zu verebben begann. »Meine Soldatenkameraden, hört nicht auf diesen Mann! Er versucht nur, eure Disziplin aufzuweichen. Und du, Soldat« - das galt Marcus - »hör auf, seine Lügen zu wiederholen!«
Marcus mußte wieder an Gaius denken, wie er mit bleichem Gesicht und schmerzhaftem Keuchen in die Stadt geführt worden war. Plötzlich packte ihn selbst eine brennende Wut. Später sollte er sich an diesen Moment wie ein Augenzeuge an einen tödlichen Unfall erinnern. In Gedanken schrie er sich selbst an: Nein, hör auf, nicht so, du Narr! Aber er konnte nicht aufhören. Wegen diesem Mann hatte Gaius leiden müssen. Wegen diesem Mann hatte er selbst alles verloren. Es durfte nicht angehen, daß Claudius diese Schuld einfach wegwischte.
»Er spricht die Wahrheit!« rief Marcus leidenschaftlich und deutete mit beiden Fesseln den Hügel zum Euryalus hinauf. »Was dachtest du denn, was sie dort oben haben? Kinderschleudern? Kennst du nicht die durchschnittliche Reichweite eines Katapults? Oder hast du einfach erwartet, daß eine Stadt wie ein Ei zerbricht, die die Karthager mit einer zehnmal so großen Armee wie diese hier belagert haben? Beim Jupiter! Du hattest keine Ahnung, was du gemacht hast. Es ist unentschuldbar, daß du dein eigenes Versagen den Männern in die Schuhe schiebst, die darunter leiden mußten! Wenn du wirklich ein Römer bist, Konsul, dann solltest auch du die Strafe auf dich nehmen!«
Wieder brach ein Tumult aus. Claudius starrte Marcus erstaunt und wütend an, Hieron beklommen. »Was hast du gesagt?« fragte der König, aber Marcus gab keine Antwort, sondern senkte seine gefesselten Hände und erwiderte mit stolzer Haltung den wütenden Blick des Konsuls.
»Ich hoffe, dieser Mann hat dich nicht beleidigt«, sagte Hieron und wandte sich im normalen Tonfall direkt an Claudius. »Sein Bruder wurde während eurer Attacke schwer verwundet, daher vielleicht diese erregte Rede. Du mußt ihn entschuldigen. Ich selbst habe nicht den Wunsch, dich oder dein Volk zu beleidigen.«
Jetzt funkelte Claudius Hieron wütend an. »Ist es etwa keine Beleidigung, wenn behauptet wird, ich sei kein kluger General?« fragte er.
Hieron lächelte. »Mit Belagerungen hast du sicher wenig Erfahrung, o Konsul - wenigstens was die Belagerung von griechischen Städten betrifft, die eine gute Artillerieausrüstung haben. Bist du denn nicht auch der Meinung, daß ein kluger General immer dann vorsichtig agiert, wenn er nicht so gut Bescheid weiß? Falls du besser verstehen möchtest, was dich erwartet, bist du gerne eingeladen, unter meinem persönlichen Schutz auf die Wehrmauer zu steigen und die Verteidigungsanlagen zu besichtigen. Konsul, du hast uns unterschätzt und mit einer Verachtung behandelt, die wir keinesfalls verdienen.«
Claudius spuckte aus. »Dein persönlicher Schutz ist genauso wertlos wie deine Prahlerei, Tyrann! Ich traue keinem von beiden!«
»Du hast recht mit deiner Behauptung, daß beide gleich wertvoll sind«, antwortete der König. Erneut flaute der Lärm ab. Mit erhobenen Armen wandte sich Hieron wieder an die Armee, und sofort fing Marcus lauthals zu übersetzen an. Claudius versuchte zu protestieren, aber nicht einmal seine eigenen Offiziere achteten auf ihn. Mit einem Schlag wurde es in der Truppe still, alle wollten hören, was Hieron zu sagen hatte. Während der Konsul vor Wut kochte, trug eine neue Flüsterwelle die Worte des Königs weiter: »Männer von Rom, Berichten zufolge soll ich arrogant und grausam sein, aber diese Berichte lügen, denn ich habe immer mit Bedacht gehandelt und die Götter geehrt.«(»Und das stimmt«, fügte Marcus mit einem trotzigen Blick auf den Konsul hinzu. »Diese Geschichten von Bronzestieren und Pfählungen haben die Mamertiner erfunden, um die Hilfe Roms zu bekommen.«) »Bis jetzt gibt es in ganz Syrakus keinen einzigen Bürger, der gegen mich Anzeige erstattet hat. Meine schöne Stadt ist genauso einig wie stark - und ihre Stärke habt ihr ja alle selbst gesehen. Wenn ich eure Landsleute zurückgebe, können sie sich dafür verbürgen. Solltet ihr sie in allen Ehren in Empfang nehmen, dann werde ich sie euch noch heute zurückgeben, und wie versprochen, ohne Lösegeld. Wenn nicht, werde ich ihnen kein Haar krümmen und sie so lange behalten, bis mich der erstbeste Römer um ihre Freilassung bittet.«
»Das ist ein Trick!« brüllte Claudius.
»Das ist ein ehrenvolles Angebot in gutem Glauben«, antwortete Hieron. »Wünschest du, daß ich sie schicke?«
Claudius sah aus, als ob er jeden Moment platzen wollte. »Der Wunsch nach Frieden treibt dich zum äußersten, Tyrann!« schrie er.
»Wo sind die Verbündeten, die du vor Messana im Stich gelassen hast?«
»Und du hast es mit einem Triumph ziemlich eilig, Konsul!« erwiderte Hieron scharf. »Dafür bist du sogar bereit, den Karthagern zu trauen. Nur für die vage Möglichkeit, daß sie sich heraushalten, bist du bereit, das Leben all deiner Männer aufs Spiel zu setzen. Ja, wo sind die Karthager? Hinter deinem Rücken? In Messana? Plündern sie in deiner Abwesenheit die Stadt und zerstören die Schiffe, auf denen du nach Hause segeln wolltest? Statt gegen Karthago zu kämpfen, hast du dich für einen Kampf gegen Syrakus entschieden und dabei vergessen, daß du damit beiden den Kampf angesagt hast. Seid ihr dazu fähig, ihr Römer? Aber, Konsul, du hast mir noch nicht meine Frage beantwortet. Zweiundneunzig deiner Leute sind meine Gefangenen. Willst du sie zurückhaben?«
Während Claudius lange Zeit nichts sagte, verbreiteten sich die Flüsterparolen in seiner ganzen Armee. Das Gemurmel wütender Diskussionen übertönte beinahe die Übersetzung. Endlich sagte der Konsul mit erstickter Stimme: »Ja. Gib sie zurück.«
»Du wirst sie ehrenhaft empfangen?«
»Da du sagst, sie hätten tapfer gekämpft, so werden sie auch wie tapfere Männer empfangen«, knirschte der Konsul.
Hieron neigte gnädig das Haupt. »Und die Frauen von Echetla -welchen Preis willst du für sie?«
»Gar keinen!« rief plötzlich eine Stimme aus den Legionen. Claudius fuhr herum, aber inzwischen war schon ein Dutzend weiterer Stimmen eingefallen: »Ehre denen, die das römische Volk ehren! Gib die Echetlaner ohne Lösegeld zurück!« Speere donnerten auf den Boden, und dann brüllten alle lauthals: »Ehre dem römischen Volke!«
Claudius schaute wieder Hieron an. Noch nie hatte Marcus einen derart rachsüchtigen Blick gesehen. »Du sollst sie ohne Lösegeld haben«, murmelte er.
»Ich werde deine Männer aus dem Gefängnis holen und sie dir hier übergeben lassen«, sagte Hieron. »Das wird vielleicht vier Stunden dauern. Ich nehme an, daß dieser Waffenstillstand bis dahin hält?«
Claudius nickte, dann wendete er sein Pferd. Er mißtraute seinen eigenen Worten.
Hieron schnippte mit den Fingern, und der Syrakuser Aulist stimmte wieder das Marschlied an. Die Reihen teilten sich, um eine Gasse für den König freizumachen. Marcus folgte seinen beiden Wächtern. Hinter ihm machte das Syrakuser Bataillon eine Kehrtwendung und marschierte den Hügel hinauf.
Als sich die Tore des Euryalus hinter ihnen geschlossen hatten, zog der König die Zügel an und schaute nachdenklich auf Marcus hinunter. »Was hast du zum Konsul gesagt?« fragte er.
»Daß deine Worte wahr waren«, antwortete Marcus kurz.
Hieron seufzte. »Das war unklug.«
»Es war wahr.«
»Normalerweise ist es keine gute Idee, wenn man zu Königen -oder zu Konsuln - die Wahrheit sagt. Trotzdem werde ich dich zurückgeben müssen. Wenn ich dich behalte, wird Claudius behaupten, du wärst ein verkleideter Grieche gewesen. Damit könnte er seine Armee leichter überzeugen, daß er letztlich doch recht gehabt hat.«
Marcus nickte. Hieron betrachtete ihn noch einen Augenblick, dann seufzte er wieder. »Du bist ein echter Römer, stimmt’s? Du bist bereit, die Strafe für deine Handlungen auf dich zu nehmen - ob sie gerechtfertigt ist oder nicht. Was hast du denn da in deinem Gürtel?«
Marcus wurde heiß im Gesicht. »Eine Flöte«, sagte er. »Mein Herr und - Archimedes hat sie mir gegeben. Er dachte, im Gefängnis hätte ich Zeit, um es zu lernen.«
»Ich bete, daß dir die Götter die Zeit schenken, bis du so vollendet spielen kannst wie er selbst!« Hieron schnippte mit den Fingern und sagte zu den Wächtern: »Nehmt ihm die Ketten ab und bringt ihn irgendwo in den Schatten, bis die anderen kommen. Gebt ihm etwas zu essen und zu trinken. Der Weg hierher war lang, und Übersetzen macht durstig.«
Die Wächter brachten Marcus in einen Raum in einem der Türme, auf eine Katapultplattform ohne Geschütz. Sie nahmen ihm die Ketten ab und gaben ihm Brot und Wein. »Nichts für ungut«, sagte einer der Wächter, als er ihm den Wein anbot, »ich hätte Apollodoros glauben sollen, als er gesagt hat, daß du ein Philhellene bist.«
Marcus trank durstig den mit Wasser gemischten Wein, hatte aber keinen Appetit auf das Brot. Immer wieder mußte er daran denken, mit welchem Blick Claudius Hieron angeschaut hatte. Der Konsul hätte seinen Feind liebend gern bei lebendigem Leibe gekocht, ob in oder außerhalb eines Bronzestieres. Hieron würde hinter den Mauern von Syrakus außer Reichweite sein, aber er, Marcus, mußte ihm in ungefähr vier Stunden wieder gegenübertreten.
Am liebsten hätte er seine zusätzliche Bemerkung rückgängig gemacht. Wenn er sich doch nur darauf beschränkt hätte, Hierons Wort zu übersetzen, und sonst nichts! Schließlich war Hieron nicht auf Hilfe angewiesen gewesen. Inzwischen kam ihm die Verhandlung von heute morgen wie ein Ringkampf vor, bei dem Claudius in jeder Hinsicht unterlegen war. Claudius war eindeutig ein Mensch, der sich liebend gern einen Sündenbock für seine eigenen Fehler suchte. Und Marcus wäre geradezu ideal dafür: ein abtrünniger Hellenenfreund, ein Feigling, der sich seiner gerechten Strafe durch Flucht in die Sklaverei entzogen hatte. Möglicherweise würde Claudius versuchen, die Wahrheit in Mißkredit zu bringen, indem er den Mann, der sie ausgesprochen hatte, entehren und hinrichten ließ.
Aber vielleicht würde es der Konsul vorziehen, Marcus einfach zu vergessen. Eine rachsüchtige Bestrafung würde nur seinen Ruf als gefühlloser und arroganter Mensch bestätigen, den ihm Hieron eben erst angehängt hatte. Marcus blieb nur noch eine Hoffnung: daß der Konsul intelligent genug war, dies einzusehen.
Die Zeit verging. Die Wächter ließen ihn allein im Turmzimmer. Während des Wartens beobachtete er das Römerlager durch die Schießscharte. In der Nähe des Tores konnte er eine graubraune Menschenmasse erkennen, zweifelsohne die Frauen von Echetla. Vermutlich hatte es keine Möglichkeit zur Rettung von Echetla gegeben. Als Hierons Späher herausgefunden hatten, daß die Römer dorthin marschiert waren, war es für jede Hilfe längst zu spät. Trotzdem tat ihm Echetla immer noch leid.
Vier Stunden hatte Hieron gesagt. Das müßte ungefähr stimmen. Zuerst mußte man einen Reiter in den Steinbruch schicken, um den Wachen mitzuteilen, daß alle Gefangenen zum Stadttor gebracht werden sollten. Erst dann konnte man die notwendigen Vorbereitungen treffen: Fußeisen abnehmen, Begleitwachen zusammenstellen und Tragbahren für die Männer suchen, die immer noch nicht gehen konnten. Schließlich mußte der ganze Zug noch den langen Marsch zum Euryalus herauf zurücklegen. Vier Stunden - Marcus kam es vor, als wären vier Jahre vergangen, als der Sonnenhöchststand vorbei war.
Um wenigstens irgendeine Beschäftigung zu haben, zog er den Aulos hervor und fing zu üben an. Seitdem er ihn geschenkt bekommen hatte, hatte er täglich geübt und konnte jetzt schon ganz einfache Melodien spielen, allerdings nur sehr, sehr langsam. Mühsam arbeitete er sich durch ein Lied der Nilfischer. Doch dann stieg in ihm eine schmerzhafte Sehnsucht nach verschwundener Sicherheit auf. Plötzlich spielte er ein Wiegenlied, das seine Mutter zu Hause am Herd gesungen hatte.
»Das kenne ich nicht«, sagte Hieron. »Ist es römisch?«
Marcus setzte den Aulos ab und stand auf. Er hatte nicht gehört, wie sich die Tür geöffnet hatte. Der König war allein. Er schien sehr hart geritten zu sein, sein Mantel war ganz staubig.
»Ja«, sagte Marcus mit leiser Stimme, »es ist römisch, königlicher Herr.«
»Seltsam«, meinte Hieron. »Man möchte nicht glauben, daß deine Leute irgend etwas Zärtliches hervorbringen. Ist noch Wein in der Phiale drin?«
Ein bißchen Wein war noch übrig. Hieron trank ihn in einem Zug aus, dann setzte er sich. Das kleine Turmzimmer war unmöbliert. Deshalb machte er es sich im Schneidersitz auf dem Boden bequem und gab Marcus ein Zeichen, er solle es ihm gleichtun. Marcus sank ihm gegenüber in die Hocke und beobachtete ihn argwöhnisch.
Hieron schaute grüblerisch zurück. »Ich wollte mit dir reden«, sagte er, »und hatte gehofft, daß noch genug Zeit dafür bleibt. Es gibt da ein oder zwei Dinge, die ich sagen wollte.«
»Mir?« fragte Marcus verwirrt.
»Warum nicht? Du glaubst also, ich hätte dich wegen Archimedes verschont, nicht wahr?«
Marcus sagte nichts, sondern schaute ihn nur mit der undurchdringlichen Miene eines Sklaven an.
»Mit Archimedes hatte das gar nichts zu tun. Übrigens, seine Freunde in Alexandria haben ihn Alpha genannt, ja? Weißt du, warum?«
»Weil er immer als erster eine Antwort wußte, wenn jemand auf ein mathematisches Problem gestoßen war«, erwiderte Marcus verblüfft und dann: »Wie...«
»Ich dachte mir schon, daß es so etwas sein könnte«, sagte Hieron. »Alpha - kein schlechter Spitzname, und ich brauche einen für ihn. Sein richtiger Name will einem nicht so recht von den Lippen. Nein, ich habe dich verschont - du mußt schon entschuldigen -, weil ich dich brauchen konnte. Du bist der einzige hellenisierte Römer, den ich kenne.«
Marcus starrte ihn an.
»Ich weiß. Griechisch ist die erste Fremdsprache, die deine Leute lernen, trotzdem beherrschen es die meisten nur sehr schlecht. Eure Münzen - falls ihr Silbergeld prägt -, basieren auf unseren. Ob Keramik, Mode, Möbel und so weiter - alles eine Nachahmung. Ihr dingt griechische Architekten, um Tempel im griechischen Stil zu bauen und sie mit griechischen Götterstatuen zu füllen - oft sogar mit den griechischen Göttern selbst. Ihr verehrt doch Apollon, oder? Aber alles wirkt irgendwie schal, wie ein Wasserfilm über einem Granitblock. Ein bißchen Tünche über eure eigene Natur, die hart und brutal ist und jeder Phantasie zutiefst mißtraut. Schon möglich, daß ein römischer Edelmann unsere Lyrik liest und unserer Musik lauscht. Trotzdem wäre es für ihn unter seiner Würde, wenn er selbst dichten oder spielen würde. Unsere Philosophie wird als atheistischer Nonsens abgetan, unsere Sportarten gelten als unmoralisch und unsere Politik - nun, Tyrannei ist etwas Schlechtes und Demokratie ein solches Übel, daß einem dafür die Worte fehlen. Bin ich ungerecht?«
Marcus sagte nichts. Trotz seiner Betroffenheit blieb er mißtrauisch. Bei einem Mann wie Hieron schien es ratsam zu sein, daß man sich vor einer Antwort erst einmal vergewisserte, was hinter dieser Rede steckte.
Hieron lächelte. »Ich freue mich, daß du auch vorsichtig sein kannst«, bemerkte er. »Na schön, ich werde mal an deiner Stelle die Position deiner Landsleute vertreten. Ihr seid mutig, diszipliniert, fromm, ehrenwert und außergewöhnlich hartnäckig. Wir können nicht darauf hoffen, mit euch so umzugehen, wie es sonst die Griechen mit Barbaren machen: sie auszahlen und zum Abzug überreden. Ihr habt ganz Italien erobert. Solltet ihr beschließen, auch Sizilien zu erobern, dann gibt es nichts, was Syrakus tun könnte, um euch aufzuhalten. Auch Karthago wird immer mächtiger und damit kein ebenbürtiger Gegner mehr für uns.« Plötzlich stand er auf und ging zur offenen Tür hinüber, wo er sich gegen den Türrahmen lehnte und über das Plateau auf die Stadt schaute. »Bevor Alexander die Welt erobert hat«, sagte er leise, »haben Menschen in Stadtstaaten gelebt. Jetzt leben sie in Königreichen, und die Stadtstaaten müssen so gut wie möglich überleben. Ich habe versucht, Syrakus auf Karthago auszurichten, aber dort gibt es nicht viel zu hoffen. Die Antipathie ist viel zu alt. Bleibt nur noch Rom übrig. Allerdings sind die Römer für meinen Geschmack, schwierig.«
»Mit Appius Claudius bist du aber spielend fertig geworden«, sagte Marcus ärgerlich. »Drei Schultersiege, und er war draußen.«
Hieron warf rasch einen Blick zurück, dann drehte er der Aussicht den Rücken zu und schaute ihn lächelnd an. »Du magst Ringkämpfe, stimmt’s?« fragte er. »Ich war nie gut darin.«
»Du hast Appius Claudius gezwungen, mit dir zu sprechen«, sagte Marcus bestimmt. »Einer Verhandlung über die Gefangenen konnte er sich nicht entziehen. Du hast ihn dazu gebracht, mich als Dolmetscher zu akzeptieren, und dann - hast du dich mit jeder Rede über seinen Kopf hinweg direkt an die Legionen gewandt. Er ist Senator und Patrizier, während sie, genau wie ich, Plebejer sind. Wie ein Mann, der einen Ziegel aus einer kaputten Mauer bricht, hast du deinen Finger bewußt auf diesen Unterschied gelegt und darin herumgebohrt. Du hast gesagt, er sei arrogant und unfähig und würde sie zu Unrecht für seine eigenen Fehler verantwortlich machen. Du hast gesagt, er würde Karthago unterschätzen und damit ihrer aller Leben in Gefahr bringen, nur um seinen eigenen Ehrgeiz zu befriedigen. Und dann hast du noch gesagt, du wärest ein ehrlicher, bescheidener Mann, der das römische Volk ehre. Dem allen konnte er nichts entgegensetzen. Aber das römische Volk im Heer hat es gierig aufgesaugt und dich hochleben lassen. Claudius wird weder einen Triumph bekommen noch zum zweiten Mal das Oberkommando über die römischen Streitkräfte in Sizilien.«
Hieron holte tief Luft und atmete langsam aus. »Andererseits«, bemerkte er, »werden der Senat und das Volk von Rom ganz sicher beschließen, daß man nicht genug Truppen geschickt hat, um mit der Situation auf Sizilien fertigzuwerden. Die Stadt Syrakus ist eben doch mächtiger, als sie zuerst geglaubt hatten, und an Karthago hat man bisher noch nicht einmal gekratzt. Sie werden sich nie zurückziehen, stimmt’s? Also werden sie noch mehr Männer unter einem neuen General schicken. Unter wem? Ich gestehe, daß ich unbedingt folgendes erreichen wollte: Ich wollte die Partei der Claudier in Mißkredit bringen und damit einen winzigen Einfluß auf den weiteren Kriegsverlauf nehmen. Aber vielleicht wird das römische Volk auf seine übliche, unbeugsame Art einen zweiten Claudius oder einen Aemilius aussuchen, der meiner Meinung nach fast genauso schlimm sein würde. Wäre das möglich?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete Marcus hilflos, »es ist lange her, seit ich in Rom war. Ja, vermutlich. Die Aemilier und die Claudier sind von jeher Verbündete und wollten schon immer die Vorstöße nach Süden durchsetzen.«
Hieron nickte. »Selbst wenn der nächste General kein Aemilius oder Claudius ist, besteht die Chance, daß ich nicht wissen werde, welche Partei er repräsentiert. Und selbst wenn, wird es für mich wenig genug zum Bearbeiten geben. Ich verstehe die Römer nicht. Zum Beispiel habe ich nicht erwartet, die Echetlaner umsonst zu bekommen. Griechen hätten dafür Geld gefordert. Ehre ist zwar eine feine Sache, aber Lösegeld ist auch nicht schlecht. Bei Griechen weiß ich, woran ich bin. Römer sind da wesentlich schwieriger, und doch - muß ich sie verstehen, wenn ich für Syrakus einen sicheren Weg zum Frieden finden soll. Also siehst du«, er löste sich von der Tür und kauerte sich vor Marcus hin, um ihm Auge in Auge gegenüberzusein, »ein hellenisierter Römer wie du könnte für mich möglicherweise äußerst nützlich sein.«
»Nützlich als was?« fragte Marcus hart.
»Nicht als Spion, das schlag dir mal gleich aus dem Kopf! Agathon meinte, du wärest ein so schlechter Lügner, daß du einem schon wieder leid tätest. Und er hat recht! Nein. Du bist anders als die anderen, dein Hellenismus ist nicht nur eine Tünche. Deine Sympathien sind ehrlich und gleichmäßig verteilt, zwischen uns und deinem eigenen Volk. Für dich zweifelsohne eine ungemütliche Situation, aber für mich unschätzbar wertvoll, falls wir Frieden oder auch nur einen soliden Waffenstillstand schließen sollten. Du könntest mir die Art deiner Landsleute erklären und mir helfen, daß sie auch uns verstehen. Das würde ich gerne von dir bekommen. Geh zu deinem eigenen Volk zurück, mach dich wieder mit ihm vertraut und warte, bis Syrakus diesen Krieg überstanden hat. Und ich bete zu allen Göttern, daß ich das recht bald schaffen werde! Und dann komm wieder hierher zurück. Ich würde dir sofort eine Stelle als Lateindolmetscher geben. Dein Gehalt kannst du selbst bestimmen. Wir werden in Zukunft mit deinem Volk noch viele Jahre verhandeln müssen, und dazu müssen wir es verstehen.«
Marcus starrte ihn noch einen Moment mit heißem Gesicht an, dann sagte er: »Das würde ich liebend gerne tun, königlicher Herr. Allerdings weiß ich nicht, ob ich morgen noch leben werde.«
Hieron seufzte. »Hier liegt natürlich das Problem. Ich wünschte, du hättest dich dem Konsul gegenüber ein bißchen weniger unverblümt verhalten. Genauso wie ich mir wünschen würde, daß ich es wagen würde, dich hier zu behalten. Aber ich habe ziemlich hart daran gearbeitet, um Claudius bloßzustellen. Nun darf man ihm nicht die geringste Gelegenheit bieten, um sich selbst zu decken. Zuviel hängt davon ab. Aber hör auf mich und - denke immer daran, was ich zu dir gesagt habe: lüge, wenn es geht. Wenn dir ein Fluch auf Syrakus das Leben retten kann, dann verfluche es. Die Götter lachen über erzwungene Eide. Es wäre kein Verrat.«
»Ich werde es versuchen«, flüsterte Marcus, »aber.«
Wieder seufzte Hieron, dann fügte er mit ganz leiser Stimme hinzu: »Versuch’s. Und falls du es nicht schaffst, habe ich hier - ein Geschenk für dich.«
Er griff in eine Mantelfalte und zog einen kleinen, runden Tonflakon mit schwarzer Glasur hervor. Er war ungefähr so groß wie eine Kinderfaust. Sein Verschluß bestand aus einem Stück Holz, das man in einen kleinen Lappen gezwängt hatte. Schweigend hielt er ihn Marcus hin. Marcus nahm ihn langsam, seine Hände waren plötzlich eiskalt.
»Es dauert ungefähr eine halbe Stunde, bis es wirkt«, sagte der König. »Ein Drittel davon dämpft Schmerzen, falls es sich nur ums Auspeitschen oder eine Prügelstrafe dreht. Wenn es aber ein Todesurteil sein sollte, dann trinke alles.«
»Königlicher Herr«, sagte Marcus, »du warst zweimal gnädig zu mir. Ich danke dir dafür.«
Hieron schüttelte ärgerlich den Kopf. »Ich habe dich verschont, weil ich mich deiner bedienen wollte. Und was diese Gnade betrifft, so flehe ich die Götter an, daß du sie nicht brauchen wirst. Hast du einen Platz, wo du es verstecken kannst? Gut. Dann wünsche ich dir alles Gute, Marcus Valerius, und hoffe, daß wir uns wiedersehen.«
Marcus schluckte und nickte, dann sagte er: »Sag Archimedes und seinem Hause, daß ich für die Sicherheit von Syrakus bete. Und - danke.«
Hieron berührte leicht seine Schulter, dann stand er entschlossen auf und verließ mit großen Schritten den Raum.
Marcus stellte den Flakon vorsichtig in die Flötenschatulle, an die Stelle, in der normalerweise die Rohrblätter steckten. Er war bei seinem letzten Rohrblatt angelangt und überlegte, ob er wohl noch ein neues brauchen würde. Er machte die Schatulle zu und schob sie sich durch den Gürtel.
Als er in den Innenhof hinunterstieg, sah er, daß die Wächter vom Steinbruch sein kleines Gepäckbündel mitgebracht hatten. Er schlang es sich über die Schulter und nahm seinen Platz in der Reihe der anderen Gefangenen ein, die vor Freude über ihre Entlassung lachten. Die Tore des Euryalus flogen auf, die Flöte stimmte einen Marsch an, und dann begann sein Abstieg von Syrakus zum Römerlager hinunter.