7

Am selben Abend teilte man Delia mit, ihr Bruder wünsche sie in seiner Bibliothek zu sprechen. Die Wahl des Ortes überraschte sie, denn normalerweise empfing Hieron die Befehlshaber der syrakusi-schen Armee und den Rat der Stadt in seinem Bankettsaal oder im Arbeitszimmer, während er sich mit seinen Familienmitgliedern dort unterhielt, wo sie gerade waren. Die Bibliothek war sein ganz persönliches Reich. Mit einer Mischung aus Neugierde und Vorahnung wählte sie einen Weg durch die Gärten und entlang der Säulenhalle.

Die Bibliothek war ein kleiner Raum - die Büchersammlung einer Privatperson und nicht die einer Stadt - mit einem Blick auf den kleinsten der drei Innenhöfe des Hauses. Sie war an drei Wänden vom Boden bis zur Decke mit Regalen gefüllt, die vorne ordentlich mit kreuzweise angeordneten Latten abgeschlossen waren, zwischen denen die Pergamentschilder mit dem jeweiligen Titel herunterhingen. Der ganze Raum schien dadurch ständig in Bewegung zu sein. In der vierten Wand waren die Tür und ein Fenster angebracht. Eine Liege, ein kleiner Beistelltisch und ein Lampenständer bildeten die einzige Möblierung. Als Delia eintrat, fand sie ihren Bruder auf der Liege vor. Mit gerunzelter Stirn brütete er im Schein der drei brennenden Lampen über einem aufgerollten Buch.

»Hieron?« sagte sie. Lächelnd blickte er hoch, setzte sich auf, nahm die Füße von der Liege und forderte sie mit einer Handbewegung zum Sitzen auf. Dabei warf sie zuerst einen verstohlenen Blick in das offene Buch, schaute dann aber intensiv hinein. Es war voll von geometrischen Diagrammen.

Mit einem Grinsen hielt ihr Hieron die Rolle hin. Das Titelschild verriet ihr, daß es sich um das dritte Buch von Euklid über Kegelschnitte handelte. Abwehrend hob sie mit gespieltem Entsetzen die Hand.

»Ich begreifs auch nicht«, meinte Hieron. »Ich habe mich nur vergewissern wollen, ob etwas darin steht, was ich heute gesehen habe. Tut es nicht.«

Diese Bemerkung verriet Delia den Grund für ihre Vorladung. »Du hast Archimedes, den Sohn des Phidias, getroffen?« fragte sie gespannt. Sie hatte ihrem Bruder von ihrer Entdeckung gleich nach dessen Rückkehr aus Messana berichtet.

Hieron nickte. »Und du hast ihn richtig eingeschätzt«, sagte er.

Sorgfältig wickelte er die Rolle auf. »Er ist ein sehr, sehr kluger junger Mann, der für die Stadt zweifelsohne von Wert sein könnte.« Die Holzstäbe klackten aneinander, er klopfte sie gerade und schob das Buch in seine Pergamenthülle. »Die Frage ist nur«, fuhr er mit tiefer Stimme fort, »wie wertvoll ist er, und wieviel bin ich bereit, für ihn zu bezahlen?« Er stützte das Kinn auf die Rolle, während die Augen nachdenklich ins Leere starrten.

»Hat das Katapult funktioniert?«

»Ach, das Katapult!« meinte Hieron wegwerfend. »Ja, das funktioniert. Was deinen Freund angeht, der hält es für ein gutes, mittelgroßes Katapult und hofft, daß es ihm fünfzig Drachmen und eine Anstellung neben Eudaimon einbringt.«

»Oh«, sagte Delia enttäuscht, »neben ihm.«

Hieron zog die Augenbrauen hoch. »Ich behalte Eudaimon. Zum jetzigen Zeitpunkt kann ich es mir nicht erlauben, auch nur einen einzigen Ingenieur zu verlieren. Und wenn er eine Maschine zum Kopieren hat, liefert er auch brauchbare Arbeit. Jetzt kann er Archimedes kopieren. Wenn er erst mal verstanden hat, was er da kopiert, wird er vermutlich nachgerade enthusiastisch sein. Das wird zwar eine Weile dauern, und leider muß man ihn bis dorthin an einer kurzen Leine halten. Das ist klar.« Wieder tippte sich der König mit der Schriftrolle gegen das Kinn. »Die Frage ist nur, was soll ich mit Archimedes anfangen?«

»Natürlich ihn einstellen!« rief Delia.

Seufzend schüttelte Hieron den Kopf. »Und als was?«

»Als Ingenieur - was sonst? Und wenn du erwartest, daß Eudaimon von ihm kopiert, dann solltest du ihn zum Vorgesetzten von Eudaimon machen.«

»Ja, schon, aber gebe ich ihm den gleichen Rang und das Gehalt von Eudaimon - oder das von Kallippos? Oder ringe ich mich dazu durch, ihn um jeden Preis in Syrakus zu halten, und gestalte meine Pläne dementsprechend? Schwester, du kennst diesen Mann besser als ich. Ich hatte gehofft, du könntest mir ein wenig raten.«

Delia starrte ihn an. »Ich - «, begann sie, änderte dann aber ihren Satz. »Aber eben hast du doch gesagt, es wäre nur ein gutes, mittelgroßes Katapult!«

Hieron schüttelte den Kopf. »Was ihn angeht, das habe ich gesagt. Es handelt sich um einen Eintalenter mit einer Reichweite von hundertfünfzig Meter, der es an Zielgenauigkeit mit dem besten Pfeilgeschütz aufnimmt und den man mit einer Hand drehen kann. Archi-medes ist zu jung und unerfahren, um zu realisieren, wie außergewöhnlich dieses Katapult ist, dagegen wußte Kallippos nicht, ob er vor Bewunderung oder vor Neid platzen sollte.« Nach einer Pause fuhr der König lächelnd fort: »Aber Kallippos bleibt Kallippos. Natürlich hat er nichts dergleichen getan, sondern nur ein finsteres Gesicht gezogen und gezischt. Aber ich gehe jede Wette ein, daß er inzwischen in der Werkstatt sitzt und versucht, den Drehmechanismus nachzubauen.«

»Meiner Ansicht nach kann ich dir gar keinen Rat geben«, sagte Delia kleinlaut. »Ich habe nicht erwartet - ich habe nur gedacht, es ginge darum, daß er Eudaimons Stelle übernimmt. Ist er denn wirklich 50 gut?«

Hieron nickte ernst. »Vielleicht ist er sogar noch besser. Ich habe ihn um einen Beweis für ideale Mechanik gebeten, und er hat mir angeboten, ein Schiff eigenhändig zu bewegen. Ich werde sehen, wie das ausgeht, bevor ich endgültig entscheide, was ich mit ihm anfangen soll.«

»Das verstehe ich nicht«, sagte Delia nach einer Weile. »Wozu mußt du dich jetzt entscheiden? Warum nicht einfach - nun, warum gibst du ihm nicht eine Stelle und beförderst ihn in Zukunft dementsprechend?«

Hieron schüttelte den Kopf, schob sich höher auf die Liege hinauf und drehte sich so um, daß er ihr direkt ins Gesicht schaute. » Stell dir mal vor, ich wäre er.«

»Du schaust ihm aber kein bißchen ähnlich«, sagte sie lächelnd.

»Nun, was soll denn das wieder heißen? Soll ich deiner Meinung nach vielleicht abnehmen? Nein, stell dir vor, ich bin der Sohn des Phidias, ein mathematisch geschulter Ingenieur, der von einem mathematisch geschulten Astronomen erzogen wurde. Ein Mann von der Sorte, die in ihrer Freizeit Theoreme entwickeln, die selbst für Euklid zu fortschrittlich sind. Ich habe im Museion von Alexandria studiert. Und das gern. Ich wollte gar nicht wieder nach Hause, aber dann brach ein Krieg aus, mein Vater wird krank und meine Familie verläßt sich auf mich. Ich bin ein pflichtbewußter, liebevoller Sohn. Ich komme heim, suche nach einer Arbeit, wo ich Kriegsmaschinen bauen kann, und finde sie. Stimmt’s soweit?«

»Ich denke, schon«, pflichtete ihm Delia bei. Allmählich faszinierte sie das Gespräch. »Alexandria hat ihm gefallen, da hast du sicher recht. Selbst mir hat er davon erzählt.«

»Jeder, mit dem sich Agathon über ihn unterhalten hat, hat diesen Punkt erwähnt! Offensichtlich hätte er schon zwei Jahre früher heimkommen sollen. Schau nicht so verdutzt, schließlich hast du ihm doch Agathon auf die Spur gesetzt. Also weiter: Mein erstes Katapult hat seinen Test bestanden, und ich habe mich überglücklich verpflichtet, für irgendein Angebot von Leptines zu arbeiten. Ich baue ein paar sehr große, sehr anspruchsvolle Katapulte und produziere außerdem Abwehrmittel gegen Belagerungstürme und Minen. Selbstverständlich mache ich meine Sache gut. Der Schlüssel für jede Belagerungsmaschinerie liegt in der genauen Berechnung von Größe und Reichweite, und dazu liegt der Schlüssel wiederum in der Geometrie, in der ich Meister bin. Zuerst merke ich gar nicht, wie außergewöhnlich ich bin, weil ich noch nie vorher Kriegsmaschinen gebaut habe und keinerlei Vergleichsmöglichkeit habe. Aber binnen kurzem begreife ich, daß kein Ingenieur in der ganzen Stadt zu den Dingen fähig ist, die ich mache. Und schließlich spricht sich die Qualität meiner Maschinen herum, und auch andere Städte und Königreiche versuchen, mich anzuheuern. Und jetzt heißt es: Bin ich ein loyaler Bürger?«

»Ich denke schon«, sagte Delia. »Schließlich bist du heimgekommen, als du von dem Krieg erfahren hast, und hast deine Begabung so rasch wie möglich deiner Stadt zur Verfügung gestellt.«

»Ja, aber andererseits kann ein Ingenieur während eines Krieges am einfachsten mit Katapultbau Geld verdienen, und meine Familie ist durch die Krankheit meines Vaters auf Geld angewiesen. Trotzdem bin ich, sagen wir mal, genauso ein loyaler Syrakuser wie ein pflichtbewußter Sohn. Ich lehne das Angebot der Karthagerstadt Akragas und des römischen Tarentums ab, Kyrene, Epirus und Makedonien zeige ich die kalte Schulter - und trotzdem bin ich bekümmert. Meine Familie ist nicht reich, meine jüngere Schwester ist im heiratsfähigen Alter und braucht eine Mitgift, und ich weiß, daß ich mehr wert bin, als ich bekomme. Außerdem gilt meine innerste Leidenschaft nicht den Kriegsmaschinen, sondern der Mathematik. Dieses Joch belastet mich. Als mir einer meiner alten Freunde aus Alexandria schreibt, König Ptolemaios würde mir eine Stelle in Ägypten anbieten - bei fünffachem Gehalt und halber Arbeit -, nehme ich an, packe meine Familie ein und gehe. Irgendwelche Kommentare dazu?«

Delia runzelte die Stirn. »Du würdest doch nicht deine Heimatstadt in Kriegszeiten im Stich lassen!«

»Vielleicht haben wir den Krieg bis dorthin hinter uns - bei den Göttern, möge es so sein! Wenn aber nicht, hieße das dann nicht, daß ich meine Familie nur allzugern außer Gefahr bringen möchte? Insbesondere, wenn damit die Rückkehr an einen Ort verbunden wäre, den ich liebe und den ich nie verlassen wollte. Außerdem ist Ägypten ein Verbündeter. Wer ihm dient, betrügt Syrakus nicht.«

»Würde Ptolemaios wirklich soviel bieten?«

»Oh, ganz gewiß!« rief Hieron überrascht. »Ptolemaios hat ein Vermögen für die Erforschung neuer Katapultkonstruktionen ausgegeben, und seine Berater suchen ständig den Horizont nach Verbesserungen ab. Und außerdem ist Ägypten auch noch reich.«

»Nun, in dem Fall«, meinte Delia und lächelte befriedigt, »solltest du ihm von Anfang an mehr bieten, damit er keinen Grund zum Kummer und zur Unzufriedenheit hat!«

Hieron holte tief Luft. »Vielleicht, aber fangen wir noch mal von vorne an: Mein Katapult hat den Test bestanden, und ich habe eine gleichberechtigte Position neben Kallippos, die mir zwei- bis dreimal mehr einbringt, als ich erwartet hatte. Aus diesem Grund kann ich für meine Schwester eine Heirat mit einem Mann aus gutem Hause arrangieren und mir vielleicht auch selbst eine Frau aus guter Familie nehmen. Ich werde ein angesehener Bürger, bin reich und werde respektiert. Ich bin meiner Stadt dankbar. Selbst als mir klar wird, daß ich mein Geld wert bin, bin ich immer noch dankbar, weil die Stadt meinen Wert früher erkannt hat als ich selbst. Wenn nun das Angebot aus Ägypten kommt, lehne ich ab.« Hieron hielt inne, dann fuhr er leise fort: »Oder doch nicht?« Plötzlich stand er auf und ging quer durch den Raum zum Bücherregal, glitt mit seinem dicken Finger die Reihen entlang und steckte die Rolle mit den Euklidischen Kegelschnitten wieder an ihren Platz. »Was ich nicht weiß«, fuhr er bedächtig fort, »ist, ob er nur sehr gut ist oder unschätzbar wertvoll. Wenn er nur gut ist, sollte es genügen, wenn man ihn großzügig behandelt, damit er bleibt. Wenn er aber das ist, was ich glaube, wird er schließlich doch nach Alexandria gehen, egal, wieviel ich ihm bezahle - es sei denn, ich unternähme Schritte, um dies zu verhindern. Ptolemaios kann ihm das Museion bieten, und dafür habe ich keinen gleichwertigen Ersatz. Also würde ich mir vielleicht Zeit und Geld sparen, indem ich ihn ganz normal behandle und bis zu seinem Fortgang aus allem, was er freiwillig tut, Profit schlage. Oder vielleicht - vielleicht sollte ich mich entschließen, ihn ohne Rücksicht auf Kosten zu behalten und augenblicklich an Syrakus zu binden, ehe er seinen eigenen Wert einschätzen und seine Freiheit durchset-zen kann.« Hieron ließ sich wieder auf die Liege fallen und legte einen Fuß auf die Kissen neben Delia. »Also, was denkst denn du, Schwester? Ist er lediglich ein schlauer junger Mann oder ein wahrer Günstling der Musen?«

»Ich weiß es nicht«, sagte Delia, deren Stimme vor Verwirrung ganz tief wurde. Sie hatte sich ausgemalt, wie sie die Aufmerksamkeit ihres Bruders auf eine Leistung lenken und dann voll Stolz zuschauen würde, wie diese Leistung belohnt wurde. Aber bei Hieron war nicht von Belohnen die Rede, sondern von Benutzen, ja sogar von Ausbeuten. Ihr fiel ein, wie Archimedes vor Begeisterung gelacht hatte, als er sich vorstellte, was seine Freunde in Alexandria gerade machten. Und plötzlich bedauerte sie es, daß sie ihn ihrem Bruder gegenüber überhaupt erwähnt hatte.

»Was ist los?« fragte der König.

»Du redest von ihm, als ob er ein Sklave wäre«, sagte Delia beklommen.

Hieron zuckte die Schultern und zitierte leise:


»Ein Mensch ist mir zum Herrn gegeben,

Dir ein Gesetz, das Tausende gebeugt.

Die einen dienen den Tyrannen,

Und der Tyrann der Furcht.

Die einen knien vor Königen,

Und Könige vor Göttern,

Und Götter beugen sich dem Schicksal.

Denn nur das Schicksal, wie du weißt,

Gibt alles und formt Gestalten groß oder gering,

Und ist so Herr für jeden.«


»Obwohl«, fuhr er mit normaler Stimme fort, »ich habe mich selbst vor meiner Zeit als König nie als Sklave eines Königs gefühlt. Vielleicht bin ich ein Tyrann, aber ein Sklave der Furcht bin ich nicht. Aber diese Freiheit und die Götter will ich dem Dichter zugestehen.« Er lächelte seine Schwester an. »Keine Angst«, fügte er hinzu, »ich werde deinem Mitaulisten schon nicht weh tun. Ich habe ihn ja sogar zum Essen eingeladen.«

Archimedes hatte sich zum Essen verspätet. Er hatte den Tag im Flottenhafen verbracht, um seinen Beweis für ideale Mechanik vorzubereiten. Als er am späten Nachmittag noch nicht zum Umziehen zu Hause war, wurde Marcus losgeschickt, um ihn zu holen. Der Sklave fand seinen Herrn und Meister auf dem Dach eines Bootshauses, wie er gerade einen Flaschenzug am Firstbalken befestigte. Er war von Kopf bis Fuß mit Dreck und Ruß verschmiert und roch ziemlich streng nach Hammelschmierfett.

Marcus zerrte ihn herunter und beförderte ihn in die öffentlichen Bäder. Für die begeisterten Erklärungsversuche eines Systems aus kombinierten Flaschenzügen und Rädern - »Zahnräder, Marcus, damit sie nicht herausrutschen« -, mit dessen Hilfe Archimedes ein Schiff bewegen wollte, hatte er taube Ohren. Er sorgte dafür, daß sein Herr gewaschen und rasiert wurde, dann brachte er ihn nach Hause, wo Philyra schon ganz aufgeregt wartete.

»Du wirst dich verspäten*.« erklärte sie ihm aufgebracht. »Du wirst zum Essen beim König zu spät kommen! Medion, wie kannst du eine Bezahlung von ihm erwarten, wenn du ihn derart rüde behandelst?«

»Aber den Beweis hat doch er angeordnet!« protestierte Archimedes blinzelnd.

Frustriert stieß Philyra einen schrillen Schrei aus und warf ihm seine gute Tunika nach. »Bis auf deine blöden Ideen ist dir doch alles egal!«

Arata, die von Natur aus gelassener und auch schon abgeklärter war, kümmerte sich nicht um ihre zankenden Kinder, sondern zog Marcus beiseite. »Du begleitest ihn heute abend«, befahl sie leise, »aber sei vorsichtig.«

Zurückhaltend musterte sie Marcus aus zusammengekniffenen Augen. Er hatte schon vermutet, daß er Archimedes zum Haus des Königs begleiten sollte. Schließlich trug kein Gast, der zu einem Essen ging, wie ein bezahlter Musiker seine Flöten selbst. Da mußte ein Sklave den Träger spielen, und dafür kam er am ehesten in Frage. Aber - sei vorsichtig? »Gibt’s einen besonderen Grund zur Vorsicht, Herrin?« fragte er.

Seufzend strich sich Arata eine graue Haarsträhne zurück. »Ich weiß es nicht«, meinte sie bedächtig, »aber - da waren doch diese Leute, die über meinen Archimedion Erkundigungen eingezogen haben. Vermutlich hängt’s ja nur mit den Katapulten zusammen und ist ganz normal - aber trotzdem, Marcus, es gefällt mir nicht. Wer weiß schon, was im Kopf eines Tyrannen vorgeht? Paß auf, was du zu den Leuten im Haus des Königs sagst.«

»Jawohl, Herrin«, sagte Marcus grimmig.

Sie lächelte. »Ich weiß, ich kann dir vertrauen«, sagte sie. »Marcus, du hast uns treu gedient. Glaube nicht, ich hätte das nicht bemerkt.«

Verlegen zog Marcus die Schultern hoch und schaute weg.

Als sie endlich zum Hause des Königs kamen, wurde Archimedes in den Speisesaal geleitet, wo der König bereits zu Tische lag. Außerdem war sein Schwiegervater Leptines anwesend, zwei Armeeoffiziere - darunter auch Dionysios -, drei vornehme Syrakuser und Kallippos. Insgesamt also eine angenehme Tischrunde aus neun Leuten. Archimedes wurde der unterste Platz auf der linken Liege neben der Tafel angewiesen, der rangniedrigste Platz für den jüngsten Gast.

Marcus wurde in eine Arbeitskammer gleich neben der Küche gebracht. Die meisten Gäste waren in Begleitung ihrer eigenen Sklaven gekommen, und nun platzte der kleine Raum mit dem nackten Erdboden beinahe aus den Nähten. Die meisten der schlicht gekleideten Männer waren ungefähr genauso alt wie Marcus, nur ein hübscher, langhaariger Knabe in einer feinen Tunika hatte sich den einzigen Stuhl geschnappt und rümpfte über die anderen geringschätzig die Nase. Marcus starrte genauso verächtlich zurück. Es war klar, woher gerade der da seine hübsche Kleidung hatte.

»Setz dich«, meinte der Türhüter des Königs leutselig. Er hatte Marcus höchstpersönlich zu seinem Platz gebracht. »Was trägst du da eigentlich?«

Marcus machte es sich auf dem Boden bequem und legte sich den Packen mit den Flötenhüllen in den Schoß. Insgesamt waren es vier. »Die Auloi meines Herrn und Meisters«, sagte er gleichmütig. »Man hat ihn gebeten, sie mitzubringen.«

Der hübsche Knabe kicherte. »Er ist der Flötenknabe, oder?«

»Jetzt reicht’s aber!« befahl Agathon streng. »Mehrere andere Gäste haben ebenfalls Instrumente mitgebracht. Wenn du sie mir gibst, mein Freund, werde ich mich darum kümmern, daß sie zuverlässig mit den übrigen aufbewahrt werden.«

»Ich kann schon darauf aufpassen«, antwortete Marcus.

Man hatte für die Sklaven eine einfache Mahlzeit aus Bohnensuppe und Brot vorbereitet. Jemand verschaffte Marcus eine Schale. Er lehnte sich zurück und fing schweigend zu essen an, wobei er darauf achtete, daß nichts auf die Flöten tropfte.

Offensichtlich hatte es der Türhüter nicht recht eilig, wieder in seine Pförtnerloge zu kommen. Er lehnte sich mit verschränkten Armen gegen die Wand des Lagerraums und erkundigte sich beiläufig: »Kümmerst du dich normalerweise immer um seine Flöten?«

Marcus grunzte zustimmend.

»Bist schon lange bei deinem Herrn?«

»Bin fast dreizehn Jahre in der Familie«, antwortete Marcus gelassen.

»Habe gehört, er sei in Alexandria gewesen. Warst du mit?«

Wieder grunzte Marcus. Jetzt wußte er, daß Arata recht gehabt hatte. Man versuchte, ihn auszuhorchen.

»Ich würde gerne nach Alexandria gehen«, sagte einer der anderen Sklaven neidisch. »Wie ist’s denn dort so?«

Marcus zuckte die Schultern und konzentrierte sich auf seine Bohnensuppe.

»Unser Freund hier ist wohl einer von den Barbaren«, bemerkte der Knabe mit höhnischer Miene. »Er kann nicht einmal genug Griechisch, um es zu beschreiben.«

Marcus warf ihm einen wütenden Blick zu, widmete sich aber dann wieder seiner Suppe.

»Was für ein Barbar bist du denn?« fragte der Türhüter.

»Samnite«, bekräftigte Marcus, »und frei geboren.«

Von da an lief alles schief. Einer der anderen Sklaven stieß einen entzückten Schrei aus und legte blitzschnell auf Oskisch los. Entsetzt starrte ihn Marcus einen Moment lang an. Er verstand zwar Oskisch, aber beim geringsten Sprechversuch würde ihn sein fehlender, sam-nitischer Akzent verraten, den dieser Mann zweifelsohne besaß. Er unterbrach den Wortschwall mit einer hastigen Erklärung - auf Griechisch. Es sei schon so lange her, seit er Oskisch gesprochen habe, daß er seine Muttersprache vergessen hätte.

»Mir war aber so, als hättest du gesagt, daß du erst seit dreizehn Jahren Sklave bist!« protestierte der enttäuschte Samnite.

»Nein, nein, schon viel länger!« sagte Marcus. »Viel länger. Ich hatte schon eine ganze Reihe von Herren - Soldaten -, bevor ich an den Vater meines derzeitigen Herrn verkauft wurde.« Das stimmte zwar, allerdings hatte er sie alle nicht recht lange gehabt.

»Haben dich die Römer versklavt?« fragte der Samnite.

»Ja«, bestätigte Marcus.

»Mögen die Götter sie vernichten!« sagte der Samnite. »Mich auch.« Er streckte Marcus die Hand hin.

Marcus machte eine fahrige Bewegung in seine Richtung und verschüttete Suppe auf die Flötenhüllen. Er fluchte. Der Samnite half ihm beim Aufputzen, während der hübsche Knabe kicherte. Der Türhüter stand reglos da und beobachtete alles mit zynischem Blick.

»Wie heißt du?« fragte der Samnite, aber als es ihm Marcus sagte, rief er entsetzt: »Du solltest keinen Namen tragen, den dir ein Römer gab! Dein Vater muß dich Mamertus genannt haben, und bei dem Namen solltest du auch bleiben.«

»Ich wurde als Marcus verkauft«, sagte Marcus, »und kann das jetzt nicht mehr ändern.«

Der Samnite sagte - auf Oskisch - eine herabsetzende Bemerkung über die Griechen und begann dann Marcus auszufragen, aus welchem Teil von Samnium er käme und wann er versklavt worden wäre. Schwitzend schwindelte sich Marcus durch, wobei ihm entsetzt auffiel, wie zynisch der Türhüter lächelte. Zum Glück war der Samnite schon bald restlos mit einem Bericht seiner eigenen Lebensgeschichte beschäftigt und bedrängte Marcus nicht weiter. Leider wurde er ihn trotzdem nicht los. Selbst als die übrigen Sklaven anfingen, über den Krieg und die Preise zu diskutieren, hing der Samnite wie eine Klette an Marcus und dröhnte ihm die Ohren mit dem wunderbaren Samnium und der Bosheit der Römer voll. Marcus hätte ihm nur allzugern gesagt, er solle still sein, aber das wagte er nicht.

Nach einiger Zeit - es schien wie eine Ewigkeit - kam der persönliche Diener des Königs mit einem Kessel voll überraschend gutem, starkem Wein für die Sklaven herein. Er warf Marcus einen kritischen Blick zu. »Bist du der Sklave dieses neuen Ingenieurs?« fragte er, und als Marcus dies bestätigte, fuhr ihn der Diener erbost an: »Zeichnet er immer auf den Tisch?« Daraufhin konnte sich der hübsche Knabe vor lauter Kichern nicht mehr halten. Als er sich endlich wieder beruhigt hatte, fing der Samnite wieder an.

Nach einer weiteren Ewigkeit tauchte endlich ein anderer Bediensteter des Königs auf und verkündete, die Gäste wären nun für ein wenig Musik bereit. Erleichtert hob Marcus rasch die Flöten auf und machte sich auf den Weg in den Bankettsaal. Ihm war egal, wo er den restlichen Abend verbrachte, solange es nur weit weg von diesem Samniten und - dem Türhüter war.

Archimedes hatte das Essen nicht viel mehr genossen wie sein Sklave. Bei seiner Ankunft hatte sich Hieron zunächst erkundigt, wie es mit den Vorbereitungen für den Beweis voranging. Und dann hatte er einen Fehler gemacht - er hatte geantwortet. Die Vorbereitungen würden gut voranschreiten und das Projekt selbst wäre enorm interessant. Vor Begeisterung wäre er beinahe auf und ab gehüpft. Er erklärte der Gesellschaft bis ins kleinste Detail alles über kombinierte Flaschenzüge und Zahnräder und ging anschließend zu den Hebelprinzipien und den mechanischen Vorteilen der Schraube über. Er skizzierte mit Wein Diagramme auf den Tisch und fuchtelte zur besseren Erläuterung mit Messern und Brotwecken herum. Da Hie-ron und sein Ingenieur Kallippos ab und zu kenntnisreiche und interessierte Fragen stellten, merkte er zuerst gar nicht, daß ihn die restliche Abendgesellschaft wie einen toten Ohrwurm anstarrte, der in ihrer Suppe schwamm. Der Hauptgang war schon zur Hälfte vorbei, als ihm endlich einiges klar wurde: Er hatte praktisch eine geschlagene halbe Stunde ohne Punkt und Komma doziert, die übrigen Gäste betrachteten ihn mit einer Miene zwischen Empörung und absolutem Kopfschütteln, und der persönliche Diener und die Sklaven starrten wütend auf die Sauerei, die er auf dem Tisch angerichtet hatte. Daraufhin lief er knallrot an und verstummte.

Bis zum Ende der Mahlzeit hielt er den Mund, ja er war sogar so verlegen, daß er nicht einmal merkte, was er aß. Der Regent Leptines und die Räte der Stadt diskutierten über Wirtschaftsthemen, in die sich der König gelegentlich mit interessierten Anmerkungen einschaltete. Die Armeeoffiziere und Kallippos besprachen Festungsanlagen, und auch hier beteiligte sich der König immer wieder. Archimedes kam sich unwissend, jung und ungeheuer dumm vor. Endlich trugen die Sklaven den Nachtisch aus Äpfeln und honiggetränkten Mandeln auf. Hieron setzte sich auf und vergoß ein paar Tropfen ungemischten Weins. Mit diesem Opfer an die Götter war das Mahl beendet, jetzt sollte eigentlich der angenehmste Teil des Banketts beginnen. Das Essen war abgetragen, und die Teilnehmer konnten sich voll und ganz dem Wein, den Gesprächen und der Musik widmen.

»Meine lieben Freunde«, sagte Hieron, während die Sklaven eiligst die Becher wieder auffüllten, »ich dachte, angesichts der angespannten und ungücklichen Situation, in der sich unsere schöne Stadt befindet, sollten wir uns ein wenig mit Musik aufheitern. Allen Günstlingen der Musen bereitet das eigene Musizieren sicher mehr Vergnügen als das reine Zuhören. Und da sich unter euch mehrere begabte Musiker befinden, habe ich euch eingeladen, eure Instrumente mitzubringen. Was haltet ihr davon? Sollen wir die Nacht mit Liedern erhellen?«

Selbstverständlich war die ganze Gesellschaft einverstanden.

Und nun eilte eine Anzahl von Sklaven, darunter auch Marcus, mit Schatullen oder Segeltuchhüllen herein. Zu seiner Überraschung sah Archimedes, daß man dem Regenten Leptines eine Kithara und Kallippos eine Lyra reichte. Einer der Räte der Stadt besaß eine Barbitos - eine Art Baßlyra - und einer der Armeeoffiziere eine zweite Kithara. Archimedes war der einzige Aulist. Nervös nahm er seine Flötenhüllen entgegen und warf Marcus einen verblüfften Blick zu. Die Hüllen fühlten sich klebrig an, als ob etwas darauf verschüttet worden wäre. Aber der Sklave zog ein möglichst unbeteiligtes Gesicht und reagierte nicht einmal mit einem Blinzeln auf den Blick. Nach einigem Zögern öffnete Archimedes alle klebrigen Hüllen, steckte die Rohrblätter in die vier Auloi und befestigte sein Mundband.

»Hauptmann Dionysios«, meinte Hieron lächelnd, »ich weiß, daß du eine sehr schöne Stimme hast. Vielleicht könntest du uns beehren? Wie wär’s mit. mit dem »Schwalbenlied«? Das kennt jeder, oder?«

So war es auch. Dionysios, der Sohn des Chairephon, fühlte sich im Hause des Königs kaum weniger heimisch als damals in der Aretbusa. Er stand auf und wartete, bis das Klanggewirr der Instrumente verebbte, dann hob er den Kopf und intonierte das alte Volkslied:

»Komm, komm, Schwälbchen, bring uns den Frühling mit! Bring uns die schönsten Tage, Weißbäuchlein, Schwarzflüglein!«

Marcus hatte es geschafft, durch die äußerste Tür in den Garten zu entwischen. Als die Musik begann, setzte er sich zum Zuhören unter eine Dattelpalme. Im Gegensatz zu dem heißen, stickigen Vorratsraum war die Nacht angenehm kühl, und der Gesang drang klar und deutlich aus dem lampenhellen Bankettsaal herüber. Dionysios hatte tatsächlich eine schöne Stimme, einen klaren, kräftigen Tenor. Für ein Volkslied begleitete ihn Leptines ein bißchen zu getragen, aber dafür griffen die übrigen Spieler rasch den Geist dieser Musik auf, besonders der ausgezeichnete Barbitosspieler. Archimedes hatte sich, wie Marcus bemerkte, für eine Kombination aus Tenor- und Sopranauloi entschieden. Tenor für die Melodie und den Sopran für eine Verzierung aus schwalbenähnlichem Gezwitscher, das wie im Sturzflug hoch über der Melodielinie herumwirbelte. Alles ging gut, und als das Lied zu Ende war, flackerte Beifall auf.

Als das nächste Lied begann, raschelte es unter den Ziersträuchern. Noch jemand bewegte sich durch den dunklen Garten. Ganz vorsichtig bahnte sich die Gestalt ihren Weg durchs Unterholz. Und obwohl sie sich lediglich als Schatten auf der entgegengesetzten Hofseite abzeichnete, war Marcus überzeugt, daß es nur eine Frau sein konnte. Sie bemerkte Marcus erst, als sie beinahe über ihn gestolpert wäre. »Wer bist du?« Ihre geflüsterte Frage klang ärgerlich.

Delia hatte schlechte Laune. Den Großteil des Nachmittags hatte sie sich über die übliche Sitte geärgert, die ihr die Teilnahme am Bankett untersagte. Anständige Mädchen durften nicht bei Männergelagen zu Tische liegen und schon gar nicht nach Ende der Mahlzeit hereinkommen und anbieten, die Flöte zu spielen. Aber selbst wenn sich die ganze Welt einig war, so vertrat sie diesbezüglich, wie auch in vielen anderen Punkten, eine andere Meinung. Deshalb war sie auch leise hergekommen, um der Musik zu lauschen, aber nun stand hier ein Fremder Wache und hielt sie davon ab!

Aber die unförmige Gestalt unter der Dattelpalme flüsterte lediglich zurück: »Entschuldige, ich bin der Sklave eines Gastes. Ich wollte der Musik zuhören.«

»Oh«, machte Delia. Dann hatte es also gar nichts mit ihr zu tun. Außerdem konnte sie schlecht jemandem etwas verbieten, wozu sie selbst hergekommen war. »Du darfst bleiben«, erlaubte sie ihm.

Sie zog sich ein paar Schritte auf eine Steinbank unter einem wilden Weinstock zurück, und eine Zeitlang lauschten beide schweigend. Dem Volkslied folgte eine Arie von Euripides - hier kam die feierliche Spielart von Leptines zu ihrem Recht -, dann ein Trinklied und schließlich eine Klage. Nach einer Pause tönte plötzlich ein Duett zwischen der Barbitos und den Auloi durch die stille Luft -eine feurige Saitenkaskade und ein Flötenwirbel. Das Ohr konnte dem schnellen und dichten Spiel nur mit Mühe folgen. Strahlend klang die Barbitos durch die Nacht, umtanzt von der Flöte, die bald der Melodie folgte, bald sie konterte und sich plötzlich in einer abschließenden Phrase mit ihr in schockierender, atemberaubender Harmonie vereinte. Einen Augenblick herrschte Schweigen, dann brach donnernder Applaus los.

Zufrieden seufzte der Sklave auf. Plötzlich empfand Delia Sympathie für ihn. Wie sie selbst war auch er vom Feste verbannt und saß nun draußen im Dunklen, um die Musik einzusaugen. »Wessen Sklave bist du?« fragte sie mit gedämpfter Stimme, denn die Musik war momentan verstummt. Die Gäste tranken Wein, und Delia wollte nicht gehört werden.

»Der von Archimedes, dem Sohn des Phidias«, sagte Marcus.

Normalerweise hätte er seinen eigenen Namen hinzugefügt, aber zur Zeit wünschte er sich sehnlichst einen unauffälligen, griechischen Namen.

»Oh!« rief Delia.

Aus dem Klang ihrer Stimme merkte Marcus sehr wohl, daß ihr dieser Mann vertraut war, und biß ärgerlich die Zähne zusammen. Offensichtlich hatte sich der ganze königliche Haushalt über Archimedes unterhalten! Er hatte keine Ahnung, wer diese Frau war, aber die Art und Weise, wie sie ihm die Erlaubnis zum Bleiben gegeben hatte, war typisch für eine freie und einflußreiche Frau.

Nach einem Moment sagte Delia warm: »Dein Herr spielt ausgezeichnet Flöte.«

Marcus wälzte diese Bemerkung so lange in seinem Kopf herum, bis er zu dem Entschluß kam, daß sie harmlos gemeint war. Er gab ein zustimmendes Grunzen von sich und fügte dann hinzu: »Der Mensch auf der Barbitos ist aber auch gut.«

Wieder herrschte langes Schweigen, das nur vom Klang der Stimmen unterbrochen wurde, die sich im Bankettsaal unterhielten, und vom dumpfen Ruf einer Schleiereule aus einer Gartenecke. In Gedanken versunken betrachtete Delia den Schatten des zusammengekauerten Sklaven. Sie kämpfte mit dem dringenden Bedürfnis, sich mit ihm zu unterhalten und ihm etwas Wichtiges mitzuteilen - aber was? Da war eine undefinierbare, innere Anspannung, die ihr zuschrie, sie solle diese vom Schicksal gesandte Begegnung benutzen, um Archimedes davor zu warnen, daß.

Mach dich nicht lächerlich, schalt sie sich. Archimedes warnen -vor ihrem toleranten, großzügigen, allseits beliebten Bruder? Das Schlimmste, was Hieron machen konnte, war, daß er Archimedes lediglich sein vereinbartes Honorar bezahlte! Aber vielleicht war ja gerade das die Botschaft, die sie ihm schicken wollte: Verkauf dich nicht zu billig!

Bei diesem Gedanken wurde ihr eines plötzlich klar: Sie war ganz und gar dagegen, daß sich Archimedes verkaufte, nicht einmal an Hieron und an Syrakus.

»Dein Herr«, sagte sie schließlich, weil sie nicht recht wußte, wie oder womit sie beginnen sollte, »ist er ein guter Herr?«

Auch Marcus hatte diese Frage schon im Unterbewußtsein hin und her gewälzt und dabei entdeckt, daß die Antwort schwierig war. In gewisser Weise war es sogar die falsche Frage, denn er empfand Archimedes höchst selten als seinen Herrn und Meister. Und wenn doch, dann lehnte er ihn ab. Die meiste Zeit war Archimedes für ihn schlicht und einfach - Archimedes, ein leidiges, verblüffendes, beispielloses Phänomen. »Ich weiß es nicht«, sagte er überraschend ehrlich. »Meiner Meinung nach vergißt er die meiste Zeit, daß er tatsächlich mein Herr und Meister ist. Macht ihn das nun zu einem guten Herrn oder zu einem schlechten?«

Delia gab einen ungeduldigen Laut von sich. »Magst du ihn?«

»Meistens«, gestand er vorsichtig.

»Dann hör mal zu«, sagte Delia. »Sag ihm, daß ich ihm alles Gute wünsche. Und dann sag ihm... sag ihm, daß mein Bruder den Ausgang dieses Beweises abwartet, ehe er sich entschließt, was für ein Angebot er ihm machen soll. Wenn alles gut ausgeht, muß er mehr auf der Hut sein, als wenn es schiefläuft.«

Marcus starrte sie an. Im nächtlichen Gartenschatten konnte er nur die glühenden Augen in ihrem blassen Gesicht erkennen. Ihr Bruder. »Ich verstehe nicht!« sagte er verwundert und fügte dann hastig hinzu: »Gnädige Dame, falls der König meinen Herrn wegen irgendeiner Sache verdächtigen sollte.«

»Niemand verdächtigt ihn!« sagte Delia. Sie war Syrakuserin genug, um zu verstehen, daß jeder auf ein Interesse von Seiten des Tyrannen innerlich zuerst mit Furcht reagiert. »Glaub das ja nicht! Hieron würde so etwas nie tun. Es ist nur so, daß er nach Hierons Ansicht eventuell unschätzbar wertvoll werden könnte und daß etwas in seinem Vertrag stehen könnte. Ich weiß nicht, was, das ihn auf eine Weise binden könnte, die ihm später leid tut. Sag ihm nur - er soll aufpassen.« Sie brach ab und biß sich auf die Lippe. Jetzt hatte sie ihre Warnung ausgesprochen, und schon schien sie eine ganz andere Bedeutung zu haben. Durch die Nacht und diese unerwartete Gelegenheit hatte sie sich zum Verrat verleiten lassen, zu einem Bruch der Loyalität, die sie ihrem Bruder schuldete. Ihr wurde ganz heiß im Gesicht, und gleichzeitig war ihr übel vor Scham. Sie sprang auf die Füße. »Nein!« flüsterte sie eindringlich, »sag ihm gar nichts!« Dann drehte sie sich um und tappte durch den Garten davon, als ob sie der Sklave verfolgen würde.

Marcus blieb unter der Dattelpalme zurück. Er war viel zu verblüfft, um sich zu rühren.

Nach vielen weiteren Liedern ging das Gelage zu Ende, und Marcus schlich wieder in den Bankettsaal, um die Flöten einzusammeln. Hier fand er Archimedes in ein Gespräch über Tonarten mit dem Barbitosspieler vertieft, der seinerseits von dem hübschen Knaben geholt wurde. Er machte sich einen Spaß daraus, Marcus höhnisch anzugrinsen, während sie beide darauf warteten, daß ihre Herren das Gespräch beendeten. Marcus war ungeheuer erleichtert, als die Diskussion endlich vorbei war und sie das Haus verlassen konnten.

Längst hatte Archimedes seine Demütigung zu Beginn des Essens vergessen. Sein Flötenspiel war ein Erfolg gewesen. Besonders der Barbitosspieler war sehr liebenswürdig gewesen und hatte gesagt, sie müßten unbedingt wieder gemeinsam spielen. Ein erfreuliches Kompliment, da der Barbitosspieler einer der reichsten und wichtigsten Männer der Stadt und ein bekannter Förderer der schönen Künste war. Archimedes redete sich ein, daß dies zwar nicht wichtig war -schließlich war er Demokrat -, aber erfreulich war es trotzdem. Hurtig schritt er die Straße entlang, wedelte dabei mit einer Ecke seines Mantels und summte vor sich hin.

Mit grimmiger Miene und den Flöten im Arm eilte Marcus hinter ihm her. Als sie zur Hauptstraße kamen, lief der Sklave zu ihm vor und sagte mit leiser Stimme: »Herr, dort oben ist etwas vorgefallen, was du wissen solltest.«

»Hm?« machte Archimedes, wobei er abrupt stehenblieb und Marcus anschaute. Der Mond war aufgegangen und schien hell in die breite Straße hinein. Das entzückte Gesicht von Archimedes war deutlich zu erkennen.

Deliaf dachte Marcus ungläubig. »Ich kenne ihren Namen nicht«, sagte er verblüfft, »aber es war die Schwester des Königs. Sie hat gesagt, ich soll dir ausrichten.«

»Delia hat dir eine Nachricht für mich gegeben?« rief Archimedes noch begeisterter.

Marcus starrte ihn an. Jetzt fiel ihm wieder ein, wie zögernd das Mädchen gesprochen hatte und wie sie weggelaufen war, nachdem sie versucht hatte, ihre Botschaft wieder zurückzuziehen. Im nachhinein wirkte alles wie der erste, scheue Schritt einer Jungfrau in Richtung Liebe. »Peru!« rief er laut. Der Fluch in seiner Muttersprache überraschte ihn selbst. »Kein Wunder, daß der König seine Spione hinter dir hergeschickt hat!«

»Was?« Nun war Archimedes seinerseits überrascht. »Hinter mir? Mach dich nicht lächerlich! Da gibt es nichts auszuspionieren.«

»Mögen die Götter verhüten, daß zwischen dir und der Schwester des Königs auch nur das geringste sein sollte!«

»Ich habe sie erst zweimal im Haus des Königs gesehen, als ich dorthin ging, um mich nach dem Katapult zu erkundigen«, sagte Archimedes steif. »Sie spielt auch Aulos, und darüber haben wir uns unterhalten. Sie ist sehr gut. Was war das denn für eine Botschaft? Du hast gesagt, ich sollte sie kennen.«

Marcus fuhr sich mit den Händen durchs Haar. Vielleicht war ja tatsächlich alles ganz unschuldig, dachte er, aber eines stand fest: Die Schwester des Königs - die Schwester des Königs! - ließ Archimedes insgeheim eine Warnung über die Pläne ihres Bruders zukommen. Was sah sie in ihm? Er sah nicht besonders gut aus, war nicht reich und besaß ganz sicher nicht den geschliffenen Charme eines Verführers. Aber schon in Alexandria hatte er die Gunst von Lais gewonnen, und jetzt das!

Zu seinem Bedauern konnte er das nicht einmal Arata erzählen, obwohl er wußte, wie sehr sie sich wegen der Spione des Königs Sorgen machte. Außerdem hatte er einen tiefen Respekt vor ihrem gesunden Menschenverstand. Aber die Mutter seines Herrn konnte er am allerwenigsten mit den romantischen Torheiten ihres Sohnes belästigen.

»Nun?« wollte Archimedes wissen.

»Sie meinte, ich soll dir sagen, daß sie dir alles Gute wünscht«, sagte er schließlich. »Und sie warnt dich, daß du vorsichtig sein mußt, wenn dein Beweis gut ausgeht, weil dich ihr Bruder vielleicht zu einem Vertrag überreden könnte, der dich zu etwas verpflichtet, was du später eventuell bereust.«

Archimedes strahlte. »Das ist ja wunderbar!« Er ging weiter, aber diesmal wirkte sein Gang leicht angeberisch.

»Wunderbar? Hast du denn nicht gehört, was ich gesagt habe?« fragte Marcus wütend.

»Ja, natürlich. Delia wünscht mir Glück, und der König wird mir einen Vertrag anbieten, wenn mein Beweis gut abläuft. Ich danke den Göttern!«

Marcus stöhnte.

»Was ist denn nun schon wieder?«

Nach einem Blick in seine selbstbewußt strahlenden Augen stöhnte Marcus erneut. »Nichts«, sagte er verzweifelt, »gar nichts.«

Im Haus des Königs saß Hieron in der Pförtnerloge des Türhüters. Er hatte die Füße auf die Lehne der Liege gestützt, nippte an einem Becher mit kaltem Wasser und besprach, wie er es nach jedem Bankett zu tun pflegte, den vergangenen Abend mit Agathon. Er hörte seinen Gästen zu, während sein Türhüter den Sklaven der Gäste zuhörte, und hinterher verglichen sie ihre Eindrücke. Diese Technik hatte sich oft als nützlich erwiesen. Der Türhüter hatte herausgefunden, daß sich der Sklave des einen Offiziers Sorgen machte, weil sein Herr zuviel getrunken hatte, während einer der Räte der Stadt kürzlich eine größere Geldsumme ausgegeben hatte.

»Und der Sklave von Archimedes?« fragte der König. »Etwas Brauchbares von ihm?«

Agathon schnaubte. »Meiner Meinung nach hat es irgend jemand gemerkt, daß wir über seinen Herrn Erkundigungen eingezogen haben. Gleich von Anfang an war er wild entschlossen, uns um keinen Preis auch nur ein Sterbenswörtchen zu verraten. Sobald die Musik anfing, hat er sich davongestohlen und im Garten versteckt, damit er mit keinem mehr reden mußte. Allerdings hat er behauptet, er wäre Samnite, wo er doch eindeutig ein Latiner ist.«

»Bist du dir da sicher?«

»Oh, ja. Er heißt Marcus, und als er herausfand, daß der Sklave von Aristodemos ein echter Samnite ist, war er entsetzt.« Agathon lachte meckernd. »Dann mußte er so tun, als ob er vergessen hätte, wie man Oskisch spricht, aber er war so ein armseliger Lügner, daß es einem leid tat.«

Der König runzelte die Stirn.

»Ich werde das überprüfen«, sagte Agathon sofort. »Aber er ist seit dreizehn Jahren im Haushalt von Phidias, und meinem Eindruck nach steht er loyal zu seinem Herrn.«

Hieron nickte nachdenklich und trank einen Schluck Wasser.

»Vermutlich Fehlanzeige«, sagte er, »aber man kann ja nie wissen. Behalte ihn im Auge.«

»Jawohl, Herr«, sagte Agathon. Einen Augenblick beobachtete er seinen Herrn, dann sagte er: »Und du, Herr? Was halten die Gäste vom Krieg?«

Hieron streckte sich und setzte sich auf. »Wir haben nicht darüber diskutiert.«

Agathon zog die Augenbrauen hoch. »Muß aber schwierig gewesen sein.«

Hieron grinste. »Nicht allzusehr. Archimedes hat von den Eiern bis zum Steinbutt über ideale Mechanik doziert. Danach waren sämtliche anderen Gäste absolut selig, sich über irgend etwas zu unterhalten, das nichts mit Mechanik zu tun hatte. Man mußte nur sehr wenig steuern.«

Nervös räusperte sich Agathon. »Herr.«, er hielt inne.

»Was?« fragte Hieron.

Als Agathon keine Antwort gab, beugte sich der König lächelnd vor und meinte: »Möchtest du vielleicht über den Krieg reden, Ari-stion?«

Das war ein alter Spitzname - die Verkleinerungsform von »Bester« anstelle von Agathons richtigem Namen, der »Guter« bedeutete. Der Sklave schöpfte daraus Mut, blickte seinem Herrn in die Augen und sagte: »Was wird geschehen, Herr?«

Hieron seufzte. »Was immer das Schicksal bestimmt, mein Freund. Dennoch hoffe ich, daß mir die Römer bessere Bedingungen anbieten werden als bei Messana, sobald sie sich die Zähne an unseren Verteidigungslinien ausgebissen haben.«

Lange Zeit saß Agathon schweigend da. Es war die nackte Hoffnung, die da sprach, und eine schwer begrenzte obendrein. »Dann gibt das Bündnis also keinen Anlaß zur Hoffnung mehr«, sagte er schließlich, »jedenfalls keine Hoffnung auf Sieg.«

»Die Hoffnung bleibt uns immer«, erwiderte Hieron gelassen, »aber ich erwarte nichts, nein. Karthago hat noch keine Bedingungen mit Rom ausgehandelt und sich nicht offen gegen uns gestellt. Und solange das so bleibt, werde ich in der Öffentlichkeit so tun, als ob es unser fester Verbündeter wäre. Aber die Karthager hatten eine Flotte, die eigentlich die Meerenge bewachen sollte. Offensichtlich ist es ihnen nicht gelungen, die Römer vom Übersetzen nach Sizilien abzuhalten. Und während wir Messana belagert haben, haben die Römer mit mir und mit den Karthagern verhandelt - jeweils getrennt. Als ich meinem verbündeten Oberbefehlshaber den Vorschlag machte, ich würde jemanden als Beobachter zu seinen Verhandlungen schicken und er umgekehrt zu meinen, hat er es abgelehnt. Und als uns die Römer angriffen, haben die Karthager keinen Finger gerührt. Agathon, der Feind, verfügte über zwei Legionen - zehntausend der wildesten Krieger der Welt. In Windeseile machten sie einen Ausfall aus der Stadt und griffen unseren Belagerungsring an. Wir haben sie abgewehrt und den halben Weg wieder Richtung Stadtmauer zurückgetrieben. Wenn die Karthager die Römer bei ihrem Rückzug von der Flanke her angegriffen hätten, wäre es ein echter Sieg gewesen, aber sie haben nichts gemacht - gar nichts! Haben nur ihre Truppen zur Verteidigung des eigenen Lagers aufgezogen und sich dann hingestellt und zugeschaut. Oh, ja, nachher sandte Hanno einen Boten, um mir zu meinem Sieg zu gratulieren, und erklärte, ihm hätte die Zeit gefehlt, um seine Streitkräfte aufzustellen. Aber seit diesem Gefecht war absolut klar, wie Hanno diesen Krieg zu führen gedenkt. Er hofft, daß er uns benutzen kann, um die Römer zu schwächen, die Römer, um uns zu zerbrechen, und wenn alles vorbei ist, Sizilien für Karthago zu beanspruchen. Deshalb bin ich im Schutz der Dunkelheit abgezogen und heimgekommen.

Mein lieber Agathon, erzähle keinem ein Sterbenswörtchen davon. Solange die Chance besteht, daß Karthago mein Verbündeter bleibt, werde ich es so bezeichnen. Und vielleicht ändert sich doch noch etwas in Karthago selbst. Es gibt immer Parteien. Ich habe dort einige Freunde und Hanno ein paar Feinde.«

»Welche Bedingungen haben die Römer bei Messana angeboten?« fragte Agathon trübe, denn beiden war klar, daß Syrakus ohne die Hilfe Karthagos bestenfalls aufs nackte Überleben hoffen konnte.

»Dieselbe, die sie ihren italienischen >Verbündeten< anbieten«, erwiderte Hieron wegwerfend. »Wir akzeptieren eine Besatzung und schicken ihnen im Kriegsfall Hilfstruppen. Ach ja, und bezahlen fünfhundert Silbertalente an die Römer zur Entschädigung für ihre Mühe und Ausgaben beim Krieg gegen uns. Ein höchst unliebsamer Zeitgenosse, dieser Appius Claudius.« Wieder trank er einen Schluck Wasser. »Irgendwelche Anmerkungen?«

Agathon seufzte unglücklich und rieb sich die Nase. »In der Stadt geht das Gerücht um, daß uns die Karthager betrogen haben.«

Hieron schnaubte reuevoll. »Hat aber nicht lange gedauert, bis sie’s herausbekommen hatten! Ich hoffe sehr, es kommt trotzdem nicht zur Panik?«

»Nein, Herr, sie haben gesehen, daß du dich so benimmst, als ob es keinen Grund zur Sorge gäbe. Und außerdem hoffen sie noch immer. Vermutlich ist es richtig, wenn du ihre Ängste nicht noch bestätigst.«

»Ich bin ja so froh, daß du meiner Meinung bist! Soll ich dir mal verraten, worauf sich meine Hoffnung für das Überleben der Stadt gründet?«

Agathon nickte stumm. Hieron schaute in seinen halbleeren Wasserbecher und meinte leise: »Mauern, Agathon, Mauern und Katapulte. Auf offenem Felde sind die Römer fast nicht zu schlagen, aber für die Belagerungstechnik fehlt ihnen die nötige Erfahrung. Sollen sie ruhig Syrakus belagern und vor unseren Mauern sterben. Sollen sie begreifen, wieviel es sie kostet, wenn sie uns zerbrechen wollen. Und dann sollen sie uns akzeptable Bedingungen stellen.« Er leerte den Becher.

»Also das ist der Grund für dein Interesse an Archimedes, dem Sohn des Phidias.«

»Ich würde mich unter allen Umständen für ihn interessieren«, sagte Hieron, während er aufstand und seinen Becher abstellte. »Wenn ich nicht interessiert wäre, die besten Ingenieure zu haben, die es gibt, würde ich es nicht verdienen, König zu sein. Allerdings gebe ich zu, daß es mich momentan schon aufheitert, wenn ich den Burschen nur sehe. Die Römer sind keine großen Katapulte gewöhnt, bereits ein Ein-Talenter wird sie fürchterlich erschrecken - soweit sie überhaupt etwas im Krieg erschrecken kann. Und das ist schätzungsweise nicht allzuviel.« Er gähnte, streckte sich und setzte leichthin hinzu: »Und außerdem spielt er gut Flöte.«

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