4

Noch immer starrte Archimedes den Regenten mit offenem Mund wie ein Idiot an. Nur das Mädchen wirkte völlig ungerührt. »Gute Gesundheit, Vater!« rief sie und lächelte Leptines an. »Dieser edle Herr spielt Aulos und hat mir eine Methode gezeigt, wie man Zwischentöne spielt.«

Der Regent, ein großer, grauhaariger Mann mit grimmiger Miene, gab sich damit nicht zufrieden, sondern trat zum Brunnen und warf Archimedes einen vernichtenden Blick zu.

Archimedes lief knallrot an. Erst viel später fiel ihm ein, daß er sich vermutlich hätte fürchten sollen, aber in dem Moment war er nur peinlichst verlegen. Das war wohl die blödeste Art, einen Auftrag zu verlieren! »Ich, äh, ich wußte nicht, wer da spielt«, stammelte er zu seiner Verteidigung. »Ich habe nicht bemerkt, daß es eine Frau war. Ich habe nur, äh, die Musik gehört und mir gedacht, ich könnte mit einem anderen Aulisten einen Kunstgriff teilen. Ich hatte nichts Despektierliches im Sinn, Herr.«

Dies schien den Regenten etwas zu besänftigen, aber trotzdem fragte er eisig: »Junger Mann, läufst du immer ohne Einladung in den Privatgemächern von anderer Männer Häuser herum?«

»Aber, Vater, wir sind doch gar nicht in einem Privatgemach!« rief das Mädchen. »Wir sind im Garten.«

»Delia, das reicht!« meinte Leptines streng. »Geh in dein Zimmer!«

Delia, dachte Archimedes. Dummerweise freute er sich trotz der kritischen Situation, daß er ihren Namen erfahren hatte. Er hätte nicht danach fragen können, denn eine junge Dame nach ihrem Namen zu fragen, war fast so unschicklich wie ein Gespräch mit ihr unter vier Augen. Delia. »Der Delier« war einer der Beinamen von Apollon, jenem Gott, der ganz eng mit der Mathematik in Verbindung gebracht wurde. Er hielt es für ein gutes Vorzeichen, daß das Mädchen denselben Namen hatte wie sein göttlicher Schutzpatron.

Delia ging nicht in ihr Zimmer, sondern drückte sich nur noch fester auf ihren Platz am Brunnenrand. »Ich werde nicht gehen, solange du so tust, als ob ich etwas Unanständiges gemacht hätte!« fuhr sie ihn an.

Soviel Widerspenstigkeit verschlug Archimedes den Atem, aber noch überraschter war er, als Leptines nur verzweifelt mit den Augen rollte und sie in Ruhe ließ. Von Mädchen wurde Gehorsam erwartet und wenn nicht, durfte sie jeder Haushaltsvorstand bestrafen. Aber natürlich - Leptines war ja gar nicht das Oberhaupt von Delias Haushalt. Sie nannte ihn zwar »Vater«, aber nur aus Höflichkeit. In Wirklichkeit war der Regent lediglich der Schwiegervater ihres Halbbruders, der die eigentliche Autoritätsperson war.

»Ich habe nichts falsch gemacht!« betonte Delia. »Ich bin nur im Garten gesessen und habe etwas Schwieriges auf der Flöte ausprobiert, da ist dieser junge Mann - Archimedes, so heißt er doch? -aufgetaucht und hat mir einen Tip gegeben, wie ich’s besser machen kann. Beim Herakles! Was ist daran unanständig?«

Da der Regent bei diesen Worten noch verärgerter dreinschaute, sagte Archimedes: »Tut mir leid, Herr. Ich, äh, ich begreife erst jetzt, daß es falsch war, daß ich hier ohne Einladung eingedrungen bin. Ich, äh, entschuldige mich aufrichtig dafür. Aber, wie gesagt, ich hatte keine Ahnung, wer da spielt, und deshalb schien es mir zu diesem Zeitpunkt ganz natürlich, einen Kunstgriff mit einem Mitau-listen zu teilen.«

»Na schön«, sagte der Regent förmlich, »ich nehme deine Entschuldigung an.«

Zur großen Überraschung schien die ganze Angelegenheit damit beendet zu sein. Dionysios schaute Archimedes an und zog die Augenbrauen hoch. Archimedes wußte nicht so recht, ob der Blick als Glückwunsch oder Mitleidsbezeugung gedacht war.

Schließlich kam er zu dem Entschluß, daß es nicht der Hauptmann gewesen sein konnte, der derart mißbilligend seinen Namen gerufen hatte, sondern vermutlich dieser exaltierte Türhüter. Nach einem schiefen Blick auf den Türhüter, der immer noch ein äußerst mißbilligendes Gesicht zog, musterte er den vierten Mann, den er noch nie gesehen hatte. Er war vielleicht fünfzig, durchschnittlich groß und hatte ein zerfurchtes Gesicht. Seine braunen Haare wurden schon grau. Über einer Arbeitsschürze trug er einen staubigen Mantel. Er funkelte Archimedes noch wütender an als alle anderen.

»Archimedes, Sohn des Phidias«, sagte Leptines noch immer sehr förmlich, »soweit ich weiß, bist du heute morgen hierhergekommen, um der Stadt als Ingenieur zu dienen.«

»Jawohl, Herr«, pflichtete ihm Archimedes ernsthaft bei. »Hauptmann Dionysios meinte, du brauchtest jemanden zum Bau von einigen Steinschleudern. Ich bedauere, wenn.«

»Außerdem habe ich erfahren«, unterbrach ihn Leptines, »daß du behauptest, du wärest in der Lage, ein Ein-Talenter-Katapult zu bauen, obwohl du in Wirklichkeit noch nie irgendeine Kriegsmaschine gebaut hast.«

Delia machte ein verblüfftes Gesicht, was Archimedes sofort auffiel. Noch vor seiner Antwort warf er ihr einen entschuldigenden Blick zu. »Äh, das stimmt. Aber, äh, aber man muß keines gebaut haben, es reicht, wenn man die mechanischen Grundprinzipien verstanden hat.«

»Absoluter Blödsinn!« rief der Handwerker und schaute noch finsterer drein. »Erfahrung ist der einzig wahre Teil der Mechanik. Man muß ein Gefühl für den Ablauf der Dinge entwickeln, eine Art Weisheit der Hände. Und die bekommt man nur, wenn man Maschinen auch wirklich baut.«

Wieder schaute Archimedes den Handwerker an, der ihn wütend anfunkelte. Die anderen beobachteten das Duell. Der Regent und der Türhüter wie zwei Richter, Dionysios mit erwartungsvoller Miene, und Delia schaute drein, als ob sie ganz konzentriert ein Theaterstück verfolgte.

»Herr«, meinte Archimedes respektvoll. Er zerbrach sich noch immer den Kopf darüber, wer dieser Handwerker war. Hoffentlich nicht Eudaimon, jener Mann, der für die Versorgung der Stadt mit Katapulten zuständig war. Aber insgeheim befürchtete er, daß es genauso war. »Herr, es stimmt, daß man Maschinen gebaut haben muß, um Maschinen bauen zu können. Darüber würde ich mit dir nicht streiten. Allerdings kannst du unmöglich behaupten, daß man einen ganz bestimmten Maschinentyp schon gebaut haben muß, bevor man auch nur ans Bauen denken kann!« Das Lächeln von Delia ermutigte ihn, fortzufahren. »Ich habe schon jede Menge Maschinen gebaut und weiß, was funktioniert und was nicht. Und was die Katapulte betrifft, so habe ich welche gesehen und mich intensiv damit befaßt. Deshalb bin ich auch felsenfest überzeugt, daß ich welche bauen kann. Sonst wäre ich gar nicht hier. Hat denn Hauptmann Dionysios nicht erwähnt, daß ich keine Bezahlung brauche, bis das erste Katapult auch wirklich funktioniert hat?«

»Vergeudetes Holz, Sehnen und Arbeitszeit!« knurrte der Handwerker. Er wandte sich an Leptines. »Herr, du solltest diesen arroganten, jungen Narren hinauswerfen!«

»Ich würde ihn ja hinauswerfen«, meinte Leptines ungeduldig, »wenn du mir versprechen könntest, daß du die Katapulte produzierst, die der König wünscht. Aber da du diesbezüglich versagt hast und er dagegen behauptet, daß er’s kann, bin ich verpflichtet, ihm wenigstens einen Versuch zu gestatten.«

Vor Empörung verkrampfte der Handwerker die Gesichtsmuskeln. Also war dieser Mann doch Eudaimon, dachte Archimedes unglücklich. Damit stand eines von vornherein fest: Sollte Archimedes den Auftrag bekommen, würde Eudaimon das als persönliche Beleidigung und Bedrohung empfinden. Diese neue Beschäftigung machte nicht gerade einen sehr sicheren Eindruck.

Da drehte sich der Regent wieder zu Archimedes um und sagte: »Ich bin geneigt, dir die Berechtigung zur Benutzung der königlichen Werkstatt zum Bau eines Ein-Talenter-Katapults zu erteilen. Dennoch werde ich angesichts deiner geringen Erfahrung darauf bestehen, daß du, falls deine Maschine nicht funktioniert, nicht nur keine Bezahlung erhältst, sondern auch der Werkstatt sämtliches Material ersetzen mußt.«

»Das ist nicht fair!« warf Delia empört ein. »Das Material kann ein anderer wiederverwenden!«

»Delia, sei still!« befahl der Regent.

»Nein!« sagte sie ärgerlich. »Du bist nur unfair zu ihm, weil er sich mit mit unterhalten hat. Du kannst nicht erwarten, daß ich deswegen stumm dasitze!«

Sie warf Archimedes einen besorgten Blick zu. Er wußte nicht so recht, was er davon halten sollte: Einerseits schmeichelte es ihm, daß sie sich um ihn Gedanken machte, andererseits empfand er es als demütigend, daß sie von seinem Scheitern so überzeugt war. Er richtete sich kerzengerade auf, warf seinen fleckigen Mantel zurück und verkündete kühn: »Bitte, sorge dich nicht, gnädige Dame! Meine Maschine wird funktionieren. Deshalb bin ich auch im Fall des Gegenteils damit einverstanden, daß ich das Material bezahle.«

Eudaimon lachte rauh. »Hoffentlich hast du Geld!« rief er Archimedes zu. »Hast du überhaupt einen Schimmer, wieviel Holz und Sehnen man für einen Ein-Talenter braucht?«

»Ja, habe ich«, meinte Archimedes triumphierend, zog erneut seine Berechnungen aus dem Beutel, entfaltete das Blatt und hielt es dem Regenten hin. »Hier sind die geschätzten Zahlen.«

Verblüfft starrte Leptines den Papyrus an, ohne ihn zu berühren. Nur Eudaimon schnappte sich mit einem noch finstereren Gesicht das Blatt. »Was soll dieser Blödsinn?« wollte er wissen, während er es überflog. »Du kannst unmöglich wissen, wie groß der Durchmesser für das Bohrloch bei einem Ein-Talenter sein soll! In der ganzen Stadt steht keine einzige Maschine dieser Art!«

»Die Alexandriner haben sich eine Formel ausgedacht«, antwortete Archimedes mit Genugtuung. »Vermutlich kennst du sie nicht, weil sie noch ganz neu ist, aber sie wurde bereits mehrfach ausprobiert und - sie funktioniert. Man nimmt das Gewicht, das geschleudert werden soll, multipliziert es mit hundert, zieht daraus die Kubikwurzel, addiert ein Zehntel der Summe dazu und erhält den Durchmesser des Bohrlochs in Fingerbreiten.«

Eudaimon grinste höhnisch. »Und was, im Namen aller Götter, ist eine Kubikwurzel?« fragte er.

Archimedes war so erstaunt, daß er nur noch blinzeln konnte. Die Lösung des delischen Problems, dachte er, der Grundpfeiler der Architektur, das Geheimnis der Dimensionen, das Spielzeug der Götter. Wie konnte jemand, der angeblich etwas vom Katapultbau verstand, nicht wissen, was eine Kubikwurzel war?

Eudaimon warf ihm einen abgrundtief verächtlichen Blick zu, dann zerknüllte er absichtlich das Papyrusblatt, tat so, als ob er sich damit den Hintern abputzen würde, und ließ es zu Boden fallen.

Mit einem empörten Schrei sprang Archimedes auf, um seine Berechnungen zu retten, aber Eudaimon stellte den Fuß auf das Papyrus. Archimedes konnte nur noch an der eingeklemmten Ecke herumzerren, die unter der Sandale herausschaute. »Du glaubst also, du könntest Katapulte bauen, weil du etwas von Mathematik verstehst?« fuhr ihn der oberste Katapultingenieur an.

Archimedes, der noch immer zu seinen Füßen kniete und an dem zerknüllten Blatt herumzerrte, warf einen wütenden Blick in die Höhe. »Ja, bei Zeus!« rief er erhitzt. »Ich behaupte sogar, daß ein Mensch, der nichts von Mathematik versteht, logischerweise auch keine Katapulte bauen kann. Du verstehst es nicht oder kannst es nicht, denn sonst wäre ich nicht hier!«

Wütend trat Eudaimon mit dem Fuß nach ihm. Die Geste war mehr als Drohung gemeint. Er wollte ihn nicht richtig treffen, aber als er den Fuß hob, stürzte sich Archimedes auf seine Berechnungen. Der Tritt traf ihn mitten ins rechte Auge. Es war wie eine Explosion, die ihm direkt ins Gehirn schoß. Rote und grüne Sterne tanzten vor seinen Augen. Wie gelähmt sackte er zusammen, umklammerte sein Gesicht mit beiden Händen und wälzte sich keuchend vor Schmerz auf dem Boden hin und her. Er nahm verschwommen wahr, daß ihn Menschen umringten. Jemand versuchte, ihm die Hände vom Gesicht zu ziehen.

Aber er umklammerte mit einer Faust eisern das Papyrus und wehrte sich.

»Na los!« rief eine Männerstimme. Er begriff, daß es Hauptmann Dionysios war. »Laß mich dein Auge sehen.«

Daraufhin ließ Archimedes die Hände sinken, hielt aber immer noch den Papyrus fest umklammert. Vorsichtig untersuchte Dionysios die Verletzung. »Versuch mal, dein Auge aufzumachen«, meinte er. »Kannst du sehen?«

Archimedes blinzelte ihn an. Das Gesicht des Hauptmanns waberte vor seinen Augen hin und her. Die eine Hälfte konnte er klar sehen, während die andere nur ein verschwommenes, rötliches Etwas war. Stöhnend legte er eine Hand über den verschwommenen Fleck. »Unscharf«, sagte er, »du siehst rot aus.«

Dionysios hockte sich auf die Fersen. »Du hast Glück. Hättest das Auge verlieren können. Aber so ist’s kein bleibender Schaden.« Er klopfte Archimedes auf die Schulter und stand auf.

Langsam richtete sich Archimedes auf, setzte sich mit dem Rük-ken gegen die Brunnenschale und rieb wieder sein Auge. Es tat weh. »Beim Apollon!« murmelte er. Mit seinem guten Auge schaute er sich nach Eudaimon um, der mit betretener Miene dastand. Wütend funkelte er ihn an.

Plötzlich beugte sich Delia über ihn, nahm ihm wortlos das zerknitterte Papyrus aus der Hand und gab ihm statt dessen einen nassen Lederklumpen. Das kühle Naß tat seinem brennenden Gesicht unbeschreiblich gut. »Danke!« sagte er bewegt.

Sie merkte, wie ihr sein gutes Auge trotz allem einen Moment lang folgte und sich erst dann wieder auf die anderen richtete, als er sah, daß seinen Berechnungen nichts geschah.

Die Männer fingen eine Diskussion über die Unfallfolgen an: Leptines tadelte Eudaimon. Eudaimon protestierte, alles sei nur Zufall gewesen. Dionysios schlug vor, er wolle seinen Schützling nach draußen bringen, und der Schützling versuchte seinerseits, auf das Thema seiner Anstellung als Katapultmacher zurückzukommen. Delia hielt sich zurück und ließ sie gewähren. Sie strich das zerrissene Papyrusstück glatt und schaute es sich genauer an.

Es enthielt die präzise, sorgfältig ausgeführte Zeichnung eines Katapults mit sämtlichen Maßen. Sie drehte das Blatt um. Auf der Rückseite waren in derselben sorgfältigen Handschrift Skizzen, die für sie weniger Sinn ergaben: Zylinder, von Geraden geschnittene Kurven, mit Wellenlinien oder Pfeilen kombinierte Buchstabenpaare und dazu noch einige Zahlen, die schon beim Katapult gestanden waren. Stirnrunzelnd wanderte ihr Blick wieder zu dem jungen Mann hinüber, der noch immer am Brunnenrand lehnte. Bis zu diesem Augenblick hatte sie ihn gar nicht richtig wahrgenommen. Was er ihr über die Zwischentöne auf dem Aulos erzählt hatte, hatte sie interessiert, und von der Geschichte mit dem Wasseraulos war sie begeistert gewesen. Es hatte ihr gefallen, daß er sich auch dann noch völlig natürlich mit ihr unterhielt, nachdem er entdeckt hatte, wer ihr Bruder war. Mit Sorge hatte sie bemerkt, daß sie ihn vielleicht in Schwierigkeiten gebracht hatte. Aber trotz allem hatte es sie nicht wirklich interessiert, wer er war. Jetzt kam sie sich vor, als ob sie mit dem Zeh an einen Felsen gestoßen wäre und bei genauerem Hinsehen gemerkt hätte, daß er zu einer vergrabenen Stadt gehörte. Er hatte diese unverständlichen Wellenlinien eifersüchtiger als seinen Augapfel gehütet. Welches Gehirn mochte wohl derart merkwürdige Prioritäten setzen?

Dionysios half Archimedes auf die Beine, Leptines erkundigte sich nach seinem Befinden, und Archimedes, schwor, alles sei in Ordnung. Anschließend wurde wieder über den Katapultbau diskutiert und schließlich ein Preis für das fertige Katapult festgesetzt: fünfzig Drachmen - wenn es funktionierte. Als dieser Punkt gelöst war, trat Delia vor und händigte Archimedes seine Berechnungen aus. Schwankend verbeugte sich Archimedes, der noch immer den nassen Lederklumpen ans Auge preßte, wünschte der ganzen Gesellschaft einen guten Tag und taumelte Richtung Tür, gefolgt von Hauptmann Dionysios, der seinen Arm nahm und ihn hinausgeleitete.

Delia wartete. Leptines drehte sich zu ihr um, dann stieß er einen resignierten Seufzer aus und trollte sich wortlos. Sie war noch nie folgsam gewesen, weshalb er schon längst jeden Disziplinierungsversuch aufgegeben hatte. Eudaimon verbeugte sich und stakste in die entgegengesetzte Richtung davon. Der exaltierte Türhüter wartete, bis Regent und Ingenieur verschwunden waren, dann verschränkte er die Arme und musterte Delia auf seine übliche, mißbilligende Art. »Du möchtest doch etwas«, sagte er.

Delia merkte, wie sie rot wurde. Der Türhüter hieß Agathon und war ein cleverer Sauertopf, dem nichts enting. Als Sklave hatte er ihrem Bruder Hieron schon lange vor dessen Königszeit gedient. Seine Loyalität hatte ihm einen Einfluß verschafft, um den ihn freie Männer nur beneiden konnten. Leider wußte er schon immer voraus, wann ihn Delia um etwas bitten würde. Obwohl sie diese Eigenart haßte, tolerierte sie sie genau wie Hieron, denn Agathon war immer besser über die Vorgänge in der Stadt informiert als alle anderen Bewohner des Hauses, den König eingeschlossen.

»Ja«, gestand sie. »Dieser junge Mann, der gerade hier war - ich möchte mehr über ihn erfahren.«

Agathons Mißbilligung wurde so drückend, daß man damit Oliven hätte pressen können. »Eine reizende Frage!« rief er. »Die Schwester des Königs möchte Näheres über einen dahergelaufenen, dreisten, jungen Flötenspieler erfahren!«

Delia wedelte ungeduldig mit der Hand. »Beim Herakles, doch nicht so, Agathon!«

»Du, Herrin, hast ganz und gar kein Recht, dich für Ingenieure mit Weinflecken zu interessieren!«

Delia seufzte. »Hieron hätte Interesse, wenn er da wäre.«

Agathon schaute etwas weniger mißbilligend drein und kniff die Augen zusammen. »He?«

»Zwei Sachen«, sagte Delia, nahm ihre Auloi in die Hand und stützte das Kinn darauf. »Erstens: Obwohl er noch nie ein Katapult gebaut hat, hat er selbstbewußt das Angebot gemacht, daß er ein größeres Katapult als alle anderen in der Stadt bauen wird. Glaubst du nicht auch, daß Hieron das interessieren würde?«

»Hm«, machte Agathon, wobei er zum Zeichen seines Zweifels mit den Fingern wackelte. »Dumme, eingebildete junge Männer gibt’s zuhauf.«

»Möglich, aber bevor du mit Vater aufgetaucht bist, hat er genauso selbstbewußt über Katapulte gesprochen wie über Auloi. Und über Auloi weiß er wirklich Bescheid, Agathon. Da macht mir keiner was vor, das mußt selbst du zugeben.«

»Alles Angabe«, meinte Agathon kurz angebunden, »wie so mancher andere Mann, wenn er ein hübsches Mädchen trifft. Und was wäre der zweite interessante Punkt an Archimedes, dem Sohn des Phidias?«

»Er hat diese Berechnungen mehr geliebt als seine Augen.«

Plötzlich schnaubte Agathon vor Lachen. »Da hast du’s, ein echter Sohn seines Vaters. Phidias soll behauptet haben, Euklids >Ele-mente< wären bedeutender als die >Ilias< von Homer. Angeblich hat er auch den Göttern wegen einiger mathematischer Gestirnsbeobachtungen ein Dankopfer dargebracht.«

»Du weißt etwas über ihn?«

»Fast ganz Syrakus kennt Phidias, den Astronom. Ein kleiner Exzentriker mit einem gewissen Ruf, verstehst du? Unterrichtet auch. Der einzige Mensch in der ganzen Stadt, der höhere Mathematik lehrt. Der Herr hat damals für kurze Zeit bei ihm studiert, tja, muß so fünfzehn, zwanzig Jahre her sein.«

Delia starrte ihn an. Bei Agathon bezog sich das Wort »Herr« immer ausschließlich auf Hieron. »Das habe ich ja gar nicht gewußt!« rief sie.

»Warum solltest du auch?« fragte Agathon. »Ist lange her, noch bevor er mich gekauft hat. Aber der Herr hat einige Male gesagt, er hätte gern mehr Zeit, um bei Phidias Mathematik zu studieren. So waren’s nur ein paar Monate, verstehst du? Dann hat dein Vater nicht mehr für den Unterricht bezahlt, und der Herr ist zum Militär. Vermutlich erinnert sich Phidias nicht einmal mehr an ihn.«

Delia nickte. Diese Geschichte kannte sie nur zu gut. Ihr Vater hatte für die Erziehung seines Bastards bezahlt, allerdings nur, bis der Junge siebzehn war. Fürs Militär war Hieron ein Jahr zu jung gewesen - später kam er dann unfreiwillig dazu - und mußte sich selbst durch die Welt schlagen, mit außerordentlichem Ergebnis.

»Und warum bedauert es Hieron, daß er nicht länger studieren konnte?« fragte sie. »War Phidias ein sehr guter Lehrer?«

»Glaube ich nicht«, meinte Agathon, »nein, aber Könige können doch immer etwas mit Mathematik anfangen. Kriegsmaschinerie, Landvermessung, Bauten, Navigation.« Agathon hielt inne und starrte Delia an, bis seine mißbilligende Miene schließlich ganz verschwunden war. Er löste seine verschränkten Arme und rief: »Na schön! Du hast ja recht. Er würde sich für Archimedes, den Sohn des Phidias, interessieren. Wenn das Selbstbewußtsein dieses Burschen begründet ist, könnte er einiges wert sein.«

Delia nickte.

»Mal sehen, was ich herausfinden kann«, sagte Agathon. Nach einem weiteren Blick auf Delia fragte er: »Und was noch?«

Schon wieder hatte er es geschafft. Delia seufzte. »Wie weit würdest du Eudaimon trauen?« fragte sie.

»Aha«, sagte Agathon, wobei sein Gesicht den leutseligsten Ausdruck annahm, zu dem er überhaupt fähig war. »Du meinst, ob ich es für möglich halte, daß er einen Sabotageversuch auf das EinTalenter-Katapult deines staubigen Musikers unternimmt?«

Einen Augenblick gab Delia keine Antwort. Jede Andeutung, Eudaimon könnte bewußt eine Maschine unbrauchbar machen, die für die Verteidigung der bedrohten Stadt von großer Bedeutung sein könnte, war gleichbedeutend mit einer Anklage auf Verrat. »Ich kenne ihn nicht sehr gut«, sagte sie schließlich bescheiden, »aber Vater hat ihn seit Hierons Abreise verwünscht. Offensichtlich ist er wütend, weil er einen Rivalen hat. Und außerdem mag ich ihn nicht. Das ist alles.«

Agathon zuckte die Schultern. »Er ist ein Mann, der sein ganzes Leben gearbeitet hat und doch in seiner Arbeit nie wirklich gut geworden ist. Er ist der schlechteste Ingenieur unseres Herrn. Deshalb ist er auch hier und nicht in Messana. Er ist verbittert und müde und wird langsam alt. Also verteidigt er seine Position mit Zähnen und Klauen. Er hat keine Lust, daß irgendein in Alexandria ausgebildeter Flötenspieler mit Mathematikbegabung hier hereinplatzt und ihm die Schau stiehlt - soviel steht fest. Meiner Meinung nach wird er sich einreden, daß dieses Katapult sowieso nicht funktionieren wird, aber trotzdem wird er sichergehen wollen, daß es auch so kommt. Ja, wenn sich die Gelegenheit zur Sabotage bietet, wird er sie meiner Meinung nach ergreifen. Du möchtest, daß ich dafür sorge, daß er diese Gelegenheit nicht bekommt.«

»Würde das nicht auch Hieron von dir wünschen?« fragte sie unschuldig.

Wieder prustete Agathon. »Du und der Herr!« meinte er liebevoll. »Ich weiß nicht, woher ihr das habt. Von der Mutter nicht, weil ihr keine gemeinsame habt, und von eurem Vater erst recht nicht, denn der war ein Narr.«

Lächelnd stand Delia auf. »Kannst du dafür sorgen?« fragte sie gespannt. »Natürlich ohne Eudaimon in irgendeiner Weise zu beschuldigen.«

»Oh, ja!« erwiderte Agathon ruhig. »Ein paar Worte ins Ohr des Vorarbeiters in der Werkstatt genügen. Er weiß, wer ich bin, und wird auf beide ein Auge haben, auf das Katapult und auf Eudaimon. Beim geringsten Verdacht wird er mir Meldung machen. Möchtest du, daß ich auch mit dem Regenten ein Wörtchen rede?«

Delia nickte. »Aber«, fügte sie nervös hinzu, »sag ihm nicht, daß ich.«

».irgendein Interesse an Aulos-Spielern mit Weinflecken habe. Nein.«

»Man würde es mißverstehen«, sagte Delia errötend.

»Das will ich doch hoffen«, sagte Agathon. Der mißbilligende Blick war wieder da. »Ich will ganz bestimmt hoffen, daß er alles und doch nichts falsch versteht.«

Dionysios, der Sohn des Chairephon, begleitete Archimedes vom Haus des Königs bis zum Athenetempel an der Hauptstraße, wo er stehenblieb. »Ich bin auf dem Weg zu den Kasernen«, sagte er mit einer Handbewegung nach links. »Ich halte es für besser, wenn du heimgehst und dich ein bißchen hinlegst.« Jetzt deutete er nach rechts zur Achradina hinüber. »Eudaimon hat dich ganz schön zugerichtet.«

»Er ist ein blödes Arschloch!« sagte Archimedes aus tiefstem Herzen. »Bei Apollon! Baut Katapulte und weiß nicht mal, was ’ne Kubikwurzel ist! Wer ist wirklich der Ingenieur von Syrakus?«

»Kallippos«, erwiderte Dionysios sofort. »Ein vornehmer Herr aus gutem Hause mit noch besserer Begabung. Allerdings ist er beim König in Messana. Der König dachte, Eudaimon würde mit den Aufgaben hier in der Stadt fertig werden, aber uns war nicht klar, wieviel getan werden muß. Warte hier. Ich werde deinen Freund Straton holen und ihm sagen, er soll dir nach Hause helfen.«

Archimedes schüttelte den Kopf, aber vorsichtig, weil sein Auge bei jeder plötzlichen Bewegung weh tat. Dann drehte er seinen nassen Lederklumpen herum, um noch eine kühle Stelle zu finden. »Ich würde lieber in die Werkstatt gehen und mein Holz bestellen«, meinte er. Plötzlich fiel das Leder auseinander und entpuppte sich als langer, breiter Streifen. Archimedes blinzelte ihn an. Diese Form kannte er nur allzugut. »Oh«, meinte er verdutzt, »sie hat ihr Mundband ruiniert.« Dann begriff er, daß er eine Entschuldigung hatte, um sie wiederzusehen. Er konnte ihr ein neues Mundband geben. Trotz seiner Augenschmerzen strahlte er. Vorsichtig faltete er das Leder zusammen und legte es sich wieder zärtlich aufs Auge.

»Spielst du denn wirklich Aulos?« fragte Dionysios neugierig.

»Natürlich tu ich das!« sagte Archimedes überrascht. »Glaubst du vielleicht, die Schwester des Königs hätte sich sonst auch nur zwei Sekunden mit mir unterhalten?«

»Ich hatte es gehofft«, antwortete Dionysios. Er war erleichtert, daß sein neuer Partner einschätzen konnte, wann ein Mädchen außerhalb seiner Reichweite lag. »Außerdem, mein Freund, hättest du dich überhaupt nicht mit ihr unterhalten dürfen. Als ich dich so mit ihr im Garten plaudern sah, habe ich nicht nur erwartet, daß man dich auf der Stelle fortschickt. Innerlich hatte ich mich schon darauf eingestellt, daß ich selbst Probleme bekommen würde, weil ich dich als erster eingeladen habe. Nai, beim Zeus, glücklicherweise hast du dich aufs Flötespielen beschränkt! Nun, wenn du wirklich in die Werkstatt willst, kann ich dir den Weg zeigen. Gleich rechts nach den Kasernen.«

Die königliche Katapultwerkstatt bestand aus einer großen Scheune mit gestampftem Lehmboden in der Nähe des Kaps Ortygia und war ringsum durch dieselben Mauern abgesichert wie die Garnison dieses Stadtteils. Hier gab es jede Menge Balken, Pressen und Sägen, und aus einer Mauer ragte eine Esse heraus. An den Wänden stapelten sich bis zur Decke Holz und Eisen, Bronze und Kupfer und geölte Kisten mit Sehnen und Frauenhaar. Letzteres war das beliebteste Material zur Katapultbespannung, ein ständiger Kummer für alle Sklavenmädchen und für arme Frauen eine nützliche Einkommensquelle. Ungefähr ein Dutzend Leute machte sich in der Halle zu schaffen. Einige drängten sich um ein Pfeilkatapult, das halb fertig in der Mitte des Gebäudes stand, andere fertigten Katapultbolzen und Ladestockplatten an. Über allem lag ein Geruch aus Sägemehl, Leim, Holzkohle und heißem Metall. Archimedes blieb im Eingang stehen und atmete diesen Geruch tief ein. Dann lächelte er. Es war ein guter Geruch, der Geruch des Handwerks. Er wünschte Dionysios einen guten Tag und spazierte ungeduldig hinein, um den Vorarbeiter zu suchen und seine Holzbestellung aufzugeben.

Marcus verbrachte den Großteil des Tages mit dem Ausheben der Latrinen. Diese Arbeit war für den jungen Chrestos allein zu schwer gewesen, deshalb hatte man sie seit Sommerbeginn immer wieder aufgeschoben. Obwohl die Arbeit durch die späte Hitzewelle in Sizilien noch übler war als sonst, hatte er sich gelassen darangemacht und die Jauche mit einem geliehenen Esel fortgekarrt.

Als er am Abend nach seiner letzten Fuhre zurückkam, fand er seinen Herrn im Krankenzimmer vor. Er war gerade erst zurückgekommen, ohne Mantel, dafür mit einem Flötistenband quer über einem Auge und ausgesprochen guter Laune. Das geballte Unbehagen, das Marcus irgendwo zwischen den Schultern gesteckt hatte, fiel von ihm ab. Schließlich war ihm nur allzusehr bewußt gewesen, was mit den Haussklaven geschehen würde, falls der junge Herr keinen Auftrag bekommen hätte.

Als Marcus stumm an die Türe trat, schwärmte Archimedes gerade seiner versammelten Familie von der königlichen Katapultwerkstatt vor. »Sie waren heute morgen keine große Hilfe, haben lediglich auf die Vorräte gedeutet und mich dann mir selbst überlassen. Mir war’s gerade recht - ihr solltet mal diese Vorräte sehen! Erstklassiges Eichenholz aus Epirus in jeder gewünschten Stärke und Dutzende von Leimsorten! Aber gegen Mittag kam der Türhüter des Königs vorbei, um zu prüfen, ob ich alles Nötige habe, und danach war allen klar, daß ich einen offiziellen Auftrag habe. Anschließend haben sie mir sämtliche Wünsche erfüllt. Schon erstaunlich, wie so etwas die Dinge beschleunigt. Ich hatte schon gedacht, ich würde einen Monat für dieses Katapult brauchen, und habe die Bezahlung verflucht, aber mit dieser Hilfe kann ich’s innerhalb einer Woche schaffen.«

»Aber wieviel bekommst du denn nun tatsächlich bezahlt?« fragte Philyra besorgt. Beifällig schaute Marcus sie an. Genau das hätte er selbst nur allzugern gewußt, hatte sich aber vor seinen Besitzern und mit dem Latrinengestank am Leib nicht fragen trauen.

»Fünfzig Drachmen«, antwortete ihr Bruder mit Befriedigung.

»Fünfzig!« rief Philyra mit leuchtenden Augen. »Medion, schon fünfzig im Monat wären ein guter Lohn, aber fünfzig in der Woche.!«

Archimedes nickte strahlend. Ihm war ein Monatslohn von fünfzig nicht besonders gut vorgekommen, aber vermutlich war er durch die Wasserschnecken verwöhnt.

»Du mußt doch nicht davon auch noch das Material bezahlen?« fragte Arata ängstlich.

Ihr Sohn nickte. »Ich muß das Material nicht bezahlen, es sei denn, die Maschine funktioniert nicht. Und darüber, Mama, mußt du dir wirklich keine Sorgen machen. Ich weiß, was ich tue.«

Marcus runzelte die Stirn. Plötzlich war ihm nicht mehr so wohl zumute. Philyra merkte seine unruhige Bewegung und warf einen Blick zu ihm hinüber. Als sich ihre Blicke trafen, erkannte jeder im anderen dieselbe besorgte Frage: Wieviel kostet das Material für einen Ein-Talenter? Aber auch diese Sorge wurde schnell verdrängt. »Was ist mit deinem Auge passiert?« erkundigte sich Arata. Nachdem ihnen Archimedes die Geschichte mit Eudaimon erzählt hatte, entfernte er auf ihr Drängen das Mundband.

Inzwischen war das ganze Auge ringsherum blaurot angeschwollen. Aber noch schlimmer war, daß auch das Weiße im Auge rot angelaufen war und ein blutiger Schleier über der hellbraunen Iris hing. »Medion!« schrie Philyra entsetzt. »Du solltest ihn wegen Körperverletzung anzeigen!«

Archimedes zuckte nur die Schultern und erwiderte: »Ich werde ihm soweit wie möglich aus dem Weg gehen.«

»Ganz richtig«, pflichtete ihm seine Mutter bei, »schließlich ist er der Ältere, und du möchtest keinen Ärger haben.« Stirnrunzelnd schnüffelte sie und schaute sich um. Ihr Blick fiel auf Marcus. »Ach, du bist das«, meinte sie. »Geh und wasch dich.«

Marcus nickte und zog sich in den Innenhof zurück. Er war mitten beim Waschen, da trat Philyra immer noch stirnrunzelnd aus der ehemaligen Werkstatt. Als sie ihn bemerkte, blieb sie stehen und kam dann mit energischen Schritten herüber. Sofort zog sich Marcus wieder seine tropfnasse Tunika über. Er wurde verlegen, wenn er nackt vor seiner jungen Herrin stand.

»Wieviel kostet das Material für ein Ein-Talenter-Katapult?«.

»Ich weiß es nicht«, gestand Marcus. »Am teuersten werden wohl die Sehnen sein. Präparierte Haare werden nach Drachmen (ungefähr sechs Gramm, A. d. Ü.) verkauft, und für einen Ein-Talenter muß man sie gleich pfundweise kaufen.«

Einen Augenblick schwieg Philyra. »Er kann doch einen bauen -oder nicht?« fragte sie schließlich.

»Er ist gut«, sagte Marcus nur, »er kann.«

Philyra musterte ihn einen Moment lang, dann atmete sie lange zögernd aus. »Sonst kenne ich keinen anderen Maschinenbauer.«

Er nickte. Selbstverständlich konnte sie das Talent ihres Bruders nicht richtig einschätzen. »In Alexandria«, teilte er ihr mit, »haben ihm die besten Ingenieure der Stadt eine Partnerschaft angeboten. Natürlich hat er nicht angenommen - war ja auch keine Geometrie -, aber er hätte es tun können, wenn er gewollt hätte. Er ist außergewöhnlich. Dieser Eudaimon hat wirklich allen Grund zur Sorge. Meine einzige Sorge, Herrin, ist die Frage, was passiert, wenn etwas schiefläuft, das außerhalb der Kontrolle deines Bruders liegt.«

Wieder atmete sie tief aus und musterte ihn prüfend. Es war ihre Art, herauszubekommen, wieweit sie seinen Worten trauen konnte. Schließlich entspannte sie sich und lächelte. »Medion hat seinen Mantel in der Werkstatt vergessen.«

»Wenigstens wissen wir, wo er ihn vergessen hat«, sagte Marcus. »In Alexandria mußte ich immer durchs ganze Museion rennen und danach suchen.«

Sie kicherte. Der süße, weiche Klang schien einen Moment lang in seinem Herzen nachzuperlen. »Fünfzig Drachmen in einer Woche!« wiederholte sie ehrfürchtig, wobei sie lächeln mußte. »Wir könnten den Weinberg zurückkaufen! Und ich.«

Sie unterbrach sich. Der Weinberg, der zur Bezahlung für das Studium ihres Bruders in Alexandria verkauft worden war, war ihre Mitgift gewesen, aber sie hatte sich immer sehr bemüht, diese schmerzhafte Tatsache zu verdrängen. Ihr Vater hatte gehofft, von seinem Verdienst eine neue Mitgift ansparen zu können - das hatte sie gewußt. Aber seine Krankheit hatte sämtliche Ersparnisse aufgezehrt. Sie war im heiratsfähigen Alter, und einige ihrer Schulfreun-dinnen waren bereits verheiratet, aber ohne Mitgift würde sie kaum einen Bräutigam finden. Das war eine Demütigung, an die sie nicht zu denken versuchte, und schon gar kein Thema, das eine junge Dame einem Haussklaven anvertrauen sollte. Sie schaute Marcus böse an, der mit offener, wacher Miene darauf wartete, daß sie ihren Satz beendete.

Mit einemmal begriff Marcus, wie der Satz geendet hätte. Rasch suchte er sich eine Beschäftigung und bückte sich nach dem Eimer mit Schmutzwasser. Natürlich. Insgeheim hatte er den Verkauf des Weinberges genau aus demselben Grund mißbilligt. Für ihn hieß das, die Tochter des Hauses um etwas Lebensnotwendiges zu betrügen, um dem Sohn einen Luxus bezahlen zu können. Aber inzwischen merkte er, daß er es nicht so eilig hatte, Philyra samt Mitgift verheiratet zu sehen. Er würde sie vermissen. Aber das war bis jetzt kein Grund zum Grübeln. Selbst mit fünfzig Drachmen die Woche würde es eine Weile dauern, bis sie ihre Mitgift angespart hätten. Und angesichts des Krieges.

Er war entschlossen, nicht an den Krieg zu denken. »Wenn du mich nun entschuldigst, Herrin«, murmelte er und ging hinüber, um das Wasser über die mickrigen Kräutertöpfe neben der Tür zu leeren. Verblüfft schaute ihm Philyra einen Augenblick zu. Die Art und Weise, wie er sich spontan aus der Affäre gezogen hatte, hatte sie überrascht. Sie hatte sich nicht vorstellen können, daß er dazu genügend Einfühlungsvermögen beziehungsweise Verstand besaß.

Am nächsten Morgen brach Archimedes schon ganz früh in die Katapultwerkstatt auf. Als Philyra am Vormittag zum Einkaufen gehen wollte, fand sie nur noch Marcus im Hof. Agatha, die sie sonst immer begleitete, half ihrer Mutter in der Küche, und der junge Chrestos hatte das erstaunliche Talent entwickelt, sich immer dann rar zu machen, wenn er gebraucht wurde. Nachdenklich musterte sie Marcus einen Moment, dann klatschte sie in die Hände, um ihn herzurufen, und gab ihm den Korb.

Wie er in der Morgensonne hinter ihr her durch die schmalen Straßen ging und dabei auf ihren kerzengeraden Rücken unter dem braven, weißen Wollmantel schaute, spürte Marcus, wie ihm jeder Schritt durch ein ungewohntes Glücksgefühl leichter wurde. Allmählich vertraute ihm Philyra ein wenig. Insgeheim betete er, daß ihm die Götter eine Gelegenheit bieten würden, seine Ehrlichkeit zu beweisen. Gegenüber dem wahren Grund, weshalb ihm ihre gute Meinung soviel wert war, verschloß er eisern die Augen. Denn hier gab es, außer Leid, nichts für ihn zu gewinnen. Aber wenn er ihre gute Meinung und ihr Vertrauen gewinnen könnte und von ihr gemocht würde - dieses Vergnügen könnte ihm keiner verwehren.

Zuerst gingen sie zum Bäcker und dann ums Eck zum Gemüsehändler. Argwöhnisch musterte sie die Gemüsehändlerin, eine dünne, boshafte Frau namens Praxinoa. Philyra kaufte Lauch und Oliven und bezahlte für alles mit einem von den ägyptischen Silberstücken ihres Bruders. Zuerst prüfte die Gemüsehändlerin das Geld, ehe sie es in ihre Schatulle legte und das Wechselgeld herausholte. »Hat sich dein Bruder schon wieder eingelebt?« erkundigte sie sich eifrig bei Philyra. Das Mädchen war überrascht.

»Sehr gut«, erwiderte Philyra. Sie wollte unbedingt, daß die Nachbarn den verbesserten Status der Familie zur Kenntnis nahmen, und fuhr fort: »Er hat schon eine Arbeit gefunden. Er baut Katapulte für den König.«

»Katapulte, tatsächlich?« fragte die Gemüsehändlerin. »Aha.« Nach einem vorsichtigen Blick in die Runde beugte sie sich näher zu ihrer Kundin und meinte mit leiser Stimme: »Vielleicht ist das dann die Erklärung. Kurz bevor du kamst, hatte ich hier einen Kerl, der hat sich nach deinem Bruder erkundigt.«

»Was?« fragte Philyra erstaunt und aufgeschreckt zugleich. »Wer?«

»Weiß ich nicht«, sagte Praxinoa genüßlich. »Nie vorher gesehen. War auch keiner aus der Nachbarschaft. War aber schick angezogen. Dachte mir, einer von ganz oben. Beamter. Muß mit diesen Katapulten zu tun haben. Sind doch strategisch wichtig, oder?« Ihre Augen glitzerten vor Skandalgier.

»Ja«, sagte Philyra und versuchte, energisch zu klingen, obwohl ihr Herz schneller klopfte. In Syrakus konnte ein Interesse von ganz oben sehr, sehr gefährlich sein. »Wahrscheinlich erkundigen sie sich nach jedem, der in der Katapultwerkstatt arbeitet.«

»In Alexandria tun sie’s jedenfalls«, warf Marcus beiläufig ein. »Hab’s dort selbst gesehen.«

Enttäuscht zog sich Praxinoa zurück. »Hat wohl in Alexandria Katapulte studiert, ja?«

Als sie wieder draußen vor dem Laden waren, schaute Philyra Marcus ärgerlich an. »Glaubst du wirklich, daß es ein Mann des Königs war, wegen der Katapulte?«

»Ich kann mir nichts anderes vorstellen«, erklärte ihr Marcus.

Statt Ärger empfand sie nun Angst und - Verlegenheit, weil sie einen Haussklaven um Rat fragen mußte. »Sind die Leute in Alexandria auch gekommen, um über ihn Erkundigungen einzuziehen?«

Marcus zuckte die Schultern. »Nein, aber in Alexandria hatte er auch keinen Zutritt zu den königlichen Werkstätten. König Ptole-maios hält große Stücke auf seine Katapulte und würde Fremde nie auch nur in die Nähe lassen. Archimedes hat sich lediglich mit einem befreundeten Ingenieur ein paar Maschinen auf der Festungsmauer angeschaut. Aber Katapulte sind wirklich strategisch. Meiner Meinung nach besteht kein Grund zur Sorge.«

Philyra nickte, runzelte aber noch beim Weitergehen die Stirn. Phidias hatte nie irgendein beunruhigendes Interesse von höchster Stelle geweckt. Sicher, Phidias, hatte andererseits auch nie fünfzig Drachmen pro Woche verdient. Die Dinge änderten sich. Wenn sie doch nur mehr Zutrauen haben könnte, daß sich auch alles zum Guten verändern würde.

Archimedes genoß weltvergessen die Werkstatt. In der Vergangenheit hatte er seine Maschinen immer eigenhändig bauen müssen, wobei ihm häufig Marcus half und gelegentlich auch ein ungelernter Sklave, den er sich für eine spezielle Aufgabe ausborgte. Zwischen den interessanten Abschnitten des Maschinenbaus hatte es immer jede Menge zu sägen und zu hämmern gegeben und damit viele Blasen an den Händen. Jetzt mußte er nur sagen: »Ich möchte, daß dieser Balken, so und so groß, mit jenem verzapft wird«, oder: »Ich brauche eine eiserne Ladestockplatte in der und der Form, die genau in diese Öffnung paßt«, und binnen einer Stunde war alles fertig. Das nahm dem Maschinenbau die langweilige Seite und ließ nur das angenehm Kreative übrig.

Die ersten paar Tage in der Werkstatt trug er eine Leinenklappe über dem Auge, die er mit Delias Mundband festband. Wenn er zur Königsvilla ging, um die Fertigstellung des Katapults zu verkünden, würde er der Schwester des Königs ein neues Band überreichen. Das hatte er bereits beschlossen. Inzwischen durchfuhr es ihn jedesmal insgeheim, wenn er das alte festband. Trotzdem verriet er seiner Familie nicht, woher er den schmalen Lederstreifen hatte. Vermutlich würden sie es mißbilligen.

Er folgte seinem eigenen Rat und versuchte, Eudaimon aus dem Weg zu gehen, was natürlich nicht immer möglich war. Schließlich teilten sie dieselbe Werkstatt und die Dienste derselben Zimmerleute. Aber Eudaimon schien genauso glücklich zu sein, wenn er es vermeiden konnte, mit Archimedes zu sprechen, wie umgekehrt Archimedes, und einige Tage ging alles friedlich voran. Auf der Suche nach einem Katapult, dessen Maße er kopieren konnte, machte Archimedes einen Ausflug zu den nächstgelegenen Forts auf der Festungsmauer. Schließlich konzentrierte er sich auf einen Fünfzehn-Pfünder mit besonders ausgeprägter und exakter Wurfbahn und korrigierte dementsprechend die geschätzten Ausmaße seiner eigenen Maschine. Die Tatsache, daß sein Original viel kleiner war als seine Kopie, bereitete ein paar Probleme, die er mit Vergnügen löste. Der Ein-Talenter bekäme eine Armspannweite von fünfeinhalb Metern und würde über neun Meter lang. Damit war er zu schwer und zu stark, um mit den üblichen Methoden ausgerichtet oder gespannt zu werden. Also mußte er sich dafür ein System aus Rollen und Winden ausdenken, und das machte Spaß.

Eudaimon achtete nicht auf die Tätigkeit seines Rivalen, bis Archimedes bereits vier Tage am Katapult gearbeitet hatte und sich nun anschickte, den Ladestock auf der Lafette auszurichten. Jetzt aber kam der oberste Katapultingenieur herbei und schaute schweigend zu, wie der Balken - er war erst teilweise fertig und doch schon so dick wie ein Schiffsmast - mit Hilfe einer Seilkonstruktion über seiner dreifüßigen Lafette aufgehängt und vorsichtig abgesenkt wurde. Als Archimedes den Handwerkern ein Zeichen gab, sie sollten mit dem Absenken aufhören und ihre Taue sichern, erstarrte Eudaimon. Während der Balken ganz knapp über dem Bolzen schaukelte, begann Archimedes, seine ersten Zielgeräte anzubinden.

»Was ist das?« fragte Eudaimon barsch.

Nach einem schrägen Blick in seine Richtung - bei diesem Vorgang mußte er seinen ganzen Körper drehen, da sein Auge noch immer verbunden war -, fädelte Archimedes weiter seine Rollen auf. »Zur Unterstützung der drehbaren Lagerung«, sagte er.

»So etwas gibt es bei dem Fünfzig-Pfünder auf dem Fort Euryalus nicht!« fuhr ihn Eudaimon an. Es klang persönlich beleidigt.

»Wirklich nicht?« sagte Archimedes leicht verblüfft. »Wie wird er dann gedreht?«

»Hast du nicht hingeschaut?« meinte Eudaimon.

Archimedes schüttelte den Kopf. Während er sich vor Konzentration auf die Zunge biß, fädelte er ein Seil um eine Rolle, die oben auf dem Unterbau befestigt war, schlang es durch die Öse auf dem Ladestock und befestigte es dann wieder an einer Winde auf dem Unterbau. Erst danach wurde ihm klar, daß Eudaimon seine Frage nicht beantwortet hatte. Er schaute sich um.

Eudaimon stand noch immer hinter ihm und starrte ihn mit einer Mischung aus Schock und Empörung an. »Was ist los?« fragte Archimedes.

»Du hast dir den Fünfzig-Pfünder auf dem Euryalus also nicht angeschaut?« fragte der oberste Katapultingenieur.

»Nein«, sagte Archimedes. »Bis dort hinaus ist es ein weiter Weg, und außerdem habe ich weit näher dran eine Maschine nach meinem Geschmack gefunden.«

»Aber die Katapulte dort kommen größenmäßig deinem Konstruktionsversuch am nächsten!«

»Ja«, sagte Archimedes, »aber ich müßte sie immer noch vergrößern, und es ist genauso einfach, einen Fünfzehn-Pfünder zu vergrößern. Übrigens, wie dreht man sie denn?«

Es herrschte Stille. Endlich sagte Epimeles, der Vorarbeiter der Werkstatt, ein großer, bedächtiger, leiser Mann in den Vierzigern: »Man dreht sie gar nicht. Zum Ausrichten braucht man ein paar kräftige Burschen, die dann den Unterbau bewegen.«

»Nun, was für ein Blödsinn!« stellte Archimedes fest und begann, seine zweite Rolle einzufädeln. Auf jeder Katapultseite war eine vorgesehen. Der Katapultschütze mußte lediglich auf der gewünschten Seite eine Winde drehen und mit Hilfe einer dritten Winde die Höhe justieren.

Als einer der Handwerker hämisch kicherte, achtete er nicht weiter darauf, erst als ein Schlag und dann ein Schmerzensschrei ertönte, schaute er aufmerksam hoch und sah gerade noch, wie Eudaimon mit großen Schritten fortging und sich ein Handwerker das Ohr hielt. Archimedes ließ sein Seil fallen und rannte hinter dem Oberingenieur her. Eudaimon blieb abrupt stehen und wirbelte mit zornesdunklem Gesicht herum.

»Du hattest kein Recht, den Mann zu schlagen!« fuhr ihn Archimedes wütend an.

»Ich laß mich nicht in meiner eigenen Werkstatt von meinen eigenen Sklaven auslachen!« schrie Eudaimon zurück.

»Das sind nicht deine Sklaven, sie gehören der Stadt. Du hattest kein Recht, ihn zu schlagen! Und außerdem, was hast du überhaupt damit zu schaffen? Schließlich hast du die Fünfzig-Pfünder doch nicht gebaut!«

»Ich bin hier verantwortlich!« erklärte Eudaimon. »Wenn ich will, kann ich diesen Kerl auspeitschen lassen. Vielleicht will ich das sogar. Elymos! Komm her!«

Der Mann, den er geschlagen hatte, trat vor Schreck einen Schritt zurück, und die übrigen Handwerker starrten den Oberingenieur entsetzt an.

»Das wagst du nicht!« schrie Archimedes empört. »Das laß ich nicht zu!« Er wandte sich an den Vorarbeiter. »Du, lauf die Straße hinauf und mach dem Regenten Meldung!«

»Glaubst du, Leptines möchte mit einem Werkstattstreit belästigt werden?« sagte Eudaimon.

»Wenn er auch nur einen Funken Ehrgefühl hat, dann schon!« antwortete Archimedes. »Er ist hier verantwortlich, und niemand sollte erlauben, daß einer den anderen auspeitschen läßt, wenn er nichts angestellt hat!«

»Ich werde dem Regenten Meldung machen «, sagte der Vorarbeiter entschlossen und schickte sich zu gehen an.

Der Vorarbeiter war genauso Sklave wie die übrigen Handwerker, aber ein wertvoller, erfahrener und vertrauenswürdiger Sklave, dessen Wort selbst im Hause des Königs einiges Gewicht besaß. Bestürzt befahl Eudaimon: »Halt!«

Epimeles drehte sich um und schaute Eudaimon seelenruhig an. »Herr«, sagte er, »ihr beide, du und. dieser edle Herr, seid berechtigt, die Werkstatt zu benutzen. Wenn du meinst, Elymos soll bestraft werden, und er dagegen nein sagt, liegt dann nicht die Entscheidung, wem wir gehorchen sollen, bei unserem Herrn und Meister?«

»Ich bin hier verantwortlich!« knirschte Eudaimon.

»In diesem Fall wird der Regent anordnen, daß wir dir gehorchen und Elymos auspeitschen lassen«, sagte der Vorarbeiter ruhig.

Wieder trat Stille ein, dann sagte Eudaimon: »So etwas habe ich nie befohlen.« Wütend starrte er alle an. »Das wißt ihr alle! So etwas habe ich nie befohlen.« Damit drehte er sich auf dem Absatz um und ging weg.

Langsam atmete der Vorarbeiter aus. Elymos stieß erleichtert einen Pfiff aus und setzte sich, während ihm seine Freunde auf die Schulter klopften. Auch Archimedes wollte schon dem Sklaven auf die Schulter klopfen, ließ es aber dann doch sein. Ihm war klar, daß er der Grund für das angedrohte Auspeitschen gewesen war. »Ist alles in Ordnung?« fragte er statt dessen, als er hinüberging.

Elymos nickte und grinste zu ihm hoch. »Besten Dank, Herr«, sagte er, »ich werde mir merken, wie du dich für mich eingesetzt hast.«

»Du hättest nicht lachen sollen«, erklärte ihm Epimeles streng, der gleichfalls herübergekommen war.

Zum Zeichen der Beschwichtigung senkte Elymos den Kopf. Eudaimon konnte vielleicht die Peitsche anordnen, aber in Wirklichkeit war Epimeles derjenige, der in der Werkstatt das Sagen hatte. »Konnte doch nichts dafür! War so lustig!« protestierte Elymos.

»Dabei war er noch nicht einmal schuld, daß sich diese Fünfzig-Pfünder nicht drehen lassen«, sagte Archimedes. »Er hat sie gar nicht gebaut.«

Bei dieser Bemerkung lachte Elymos erneut, aber diesmal noch lauter. »Das macht das Ganze ja nur noch komischer!«

Auch einige andere Handwerker lachten. Perplex starrte Archimedes sie an. Daraufhin stießen sie sich kichernd gegenseitig an. Jetzt begriff Archimedes, daß das Gelächter ihm galt, und wurde rot. Gekränkt ging er zu seinem Katapult zurück und begann schweigend, die Seile erneut einzufädeln. Immer hatte man ihn ausgelacht, und daran würde sich auch nichts ändern. Entweder verlor er sich in seiner Geometrie und damit jedes Gefühl für andere Dinge, oder er begeisterte sich für Sachen, die sie nicht verstanden, und dann lachten sie. Selbst Sklaven, die er verteidigt hatte, lachten ihn aus.

Elymos sprang auf und folgte ihm.

»Ach, Herr, sei doch nicht beleidigt!« sagte er. »Ist doch nur ein Werkstattscherz, nichts weiter.«

»Nun, ich habe ihn nicht kapiert!« entgegnete Archimedes zornig.

Erneut kicherte der Sklave. Aber nach einem scharfen Seitenblick wurde er wieder ernst. »Herr, ich kann das nicht erklären. Jedenfalls nicht dir. Witze sind nie komisch, wenn man sie erklärt. Aber bitte, Herr, sei doch nicht beleidigt. Ist doch nur. ein Sklavenscherz, das ist alles.« Eilends nahm er das dritte Seil und versuchte, es um eine Rolle zu winden.

»Das da nicht!« erklärte ihm Archimedes hastig. »Das gehört oben drauf. Nein - nein, laß die Finger davon! Wenn du schon helfen willst, dann geh und hol mir die Kreide!«

Kurze Zeit schaute der Vorarbeiter Epimeles noch zu, wie der massive Balken auf den Verbindungsbolzen in der Lafette gesetzt wurde. Archimedes hatte im voraus annähernd den Punkt des Gleichgewichts berechnet und befahl, hier entlang eine Reihe Löcher zu bohren. Es stellte sich heraus, daß der Ladestock am besten auf dem mittleren Loch die Balance hielt. Epimeles lächelte. Er wartete noch eine Minute länger, während sich die riesige Maschine als Antwort auf die Winden nach links und rechts drehte. Dann seufzte er und verließ zögernd das Gebäude. Er hatte einen langen Marsch vor sich.

Erst in der Dämmerung kehrte Epimeles auf die Ortygia zurück, begab sich aber nicht direkt in die Kasernen neben der Werkstatt, wo er und die anderen Handwerker lebten. Statt dessen ging er zum Haus des Königs und klopfte an die Tür.

Agathon öffnete - schließlich war das seine Aufgabe - und betrachtete mißmutig den Vorarbeiter der Werkstatt. »Dein Begehren?« wollte er wissen.

»Ich komme, um dir etwas zu zeigen«, erwiderte Epimeles gelassen.

Agathon schnaubte und bat ihn herein.

Gleich neben der Tür hatte der Türhüter seine Pförtnerloge, einen kleinen, aber gemütlichen Raum mit Liege, Teppich und einem steinernen Wasserkühler an der Innenwand. Mit einem Seufzer der Erleichterung setzte sich Epimeles auf das eine Ende der Liege und begann, seine Waden zu massieren. »Bin heute nachmittag bis zum Euryalus hinaufgegangen und wieder zurück«, erklärte er. »Ich könnte gut einen Becher Wein vertragen. «

Agathon zog ein noch mißbilligenderes Gesicht als sonst, nahm aber trotzdem einen Krug, der neben der Wand stand, goß etwas Wein in zwei Becher und fügte ein bißchen frisches, kühles Wasser aus dem Stein hinzu. »Warum sollte es mich interessieren, daß du droben im Euryalus warst?« fragte er, während er an seinem Wein nippte.

Epimedes trank seinen Wein beinahe in einem Zug, dann setzte er den Becher ab. »Weil ich wegen diesem Ingenieur dort oben war, um den wir uns in deinem Auftrag kümmern sollen«, sagte er. »Und das habe ich gefunden.« Er öffnete den kleinen Sack, den er bei sich trug, und zog eine dünne Kordelrolle heraus, die durch eine Reihe regelmäßiger, rot oder schwarz gefärbter Knoten unterteilt war.

Agathon musterte sie mit einem Pokergesicht, dann meinte er: »Was ist daran besonders, wenn ein Fort ein Maßband besitzt?«

Epimedes zog ein zweites Maßband aus dem Sack. Auf den ersten Blick schien es mit dem ersten identisch zu sein, nur älter und ein wenig ausgefranst und verfärbt. Er breitete beide Kordeln nebeneinander aus, und damit war sofort klar, daß die beiden ganz und gar nicht identisch waren. Die Abschnitte der neuen Kordel waren kürzer als bei der alten. »Diese gehört mir«, meinte Epimeles, wobei er die alte Kordel berührte. »Die ist genau.«

Ohne eine Miene zu verziehen, betrachtete Agathon beide Kordeln.

»Du weißt doch, daß man beim Katapultbau unbedingt darauf achten muß, daß alle Teile exakt im richtigen Verhältnis zum Bohrloch stehen?« fragte Epimeles listig. »Dazu nimmt man ein funktionierendes Katapult, vermißt es und reproduziert es im selben Maß oder vergrößert bzw. verkleinert es.«

»Meines Wissens habe ich davon gehört«, sagte Agathon, obwohl er in Wirklichkeit nicht allzuviel von Katapulten verstand. Aber das wollte er keinesfalls zugeben. Jedenfalls verstand er genug, um die ganze Tragweite der Kordelaffäre zu begreifen. »Du willst damit andeuten, Eudaimon habe das hier auf dem Euryalus liegen gelassen«, er deutete auf das neue Maßband, »damit jeder, der die Maschinen vermißt, falsche Zahlen bekommt, also auch jedes nach diesem Vorbild gebaute Katapult nicht funktioniert?«

Epimeles nickte. »Schau«, sagte er, »die beiden Fünfzig-Pfünder auf dem Euryalus sind zur Zeit die größten Katapulte der Stadt. Eudaimon nahm an, Archimedes würde sie vermessen und daraus die notwendigen Vergrößerungen ableiten, um noch einmal zehn Pfund mehr schleudern zu können. So hätte er jedenfalls selbst den Bau eines Ein-Talenters angepackt. Heute nachmittag stellte sich nun heraus, daß sich Archimedes nicht die Mühe gemacht hatte, zum Euryalus hinauszugehen, sondern statt dessen seine Maße von einem kleinen Fünfzehnpfünder ganz in der Nähe abgenommen hatte. Eudaimon war.« zögernd suchte der Vorarbeiter nach Worten, dann sagte er, »empört, schockiert und enttäuscht. Als ich das sah, dachte ich mir, ich gehe mal zum Euryalus hinauf und schaue, was er im Schilde geführt hat. Und peng - habe ich das da im Geräteraum gefunden. Alle Burschen im Fort haben bestätigt, daß dort ihr altes Maßband aufbewahrt wurde, aber dies hier ist neu, und sie hatten keine Ahnung, wie es dort hingekommen war. Allerdings erinnerten sie sich noch daran, daß Eudaimon vor vier Tagen am Nachmittag herausgekommen war.«

»Ich verstehe«, sagte Agathon grimmig.

Das Beweisstück reichte nicht aus, um einen Mann des Verrates zu überführen, das wußten sie beide, aber es könnte eine Tretmine sein, ein Fragezeichen, ein Stein im Schuh. Es könnte Eudaimon weh tun.

Epimeles schob dem Türhüter die Kordel zu. »Ich dachte, du solltest dich darum kümmern.«

Gedankenvoll nickte Agathon, hob das falsche Maßband auf und begann, es um die Hand zu wickeln. »Es überrascht mich, daß du den ganzen weiten Weg zm Euryalus gemacht hast, um danach zu suchen«, sagte er. Die Festung lag genau am entgegengesetzten Ende der Stadt, zehn Kilometer von der Ortygia entfernt.

Bei dieser Bemerkung grinste Epimeles. »Ich wäre doppelt so weit gelaufen, wenn ich deinem Burschen damit zur Oberaufsicht über die Katapulte verholfen hätte. Und die bekommt er doch, oder?«

Verblüfft schaute Agathon auf.

»Nun, du weißt doch, daß er gut ist!« sagte Epimeles, der seinerseits von der fragenden Miene überrascht war. »Auf deinen Auftrag hin sollten wir uns um ihn kümmern und sicherstellen, daß niemand bei seinem Ein-Talenter dazwischenfunkt. Und wir haben rasch kapiert, warum. Er ist so gut, daß ihm nicht einmal klar ist, wie gut er ist. Dieser Ein-Talenter - weißt du eigentlich, was er damit angestellt hat? Klar, der kleine Fünfzehn-Pfünder, den er kopiert hat, läßt sich drehen, also hat er sich ein Windensystem ausgedacht, damit sich auch der Große drehen läßt. Als ich ihm sagte, daß sich die Fünfzig-Pfünder auf dem Euryalus nicht drehen lassen, hat er nur erstaunt geschaut und gemeint: >Nun, das ist aber blöd!<«

Epimeles lachte. Agathon musterte ihn ärgerlich und fragte: »Ist es das denn?«

»Die Leute werden es jedenfalls von nun an behaupten, stimmt’s? Aber bisher hat noch keiner erwartet, daß sich irgend etwas drehen läßt, das größer ist als ein Vierzig-Pfünder. Archimedes hat ganz beiläufig ein völlig neues System erfunden, mit dem sich große Maschinen zielgenau ausrichten lassen - und er weiß es nicht einmal! Der Entwurf fiel ihm leichter als ein Marsch auf den Euryalus, um nachzusehen, wie es andere vor ihm gemacht haben. Einige Burschen mußten darüber lachen, und er hat nicht einmal den Grund dafür verstanden. Beim Zeus! Eudaimon tut mir fast schon leid. Er hat noch nie ein Katapult gebaut, das nicht stückweise von einem anderen Katapult kopiert worden war. Und wenn er keine exakten Maßangaben bekommt - und bei den großen Maschinen fällt jede ein wenig anders aus -, ist er auf Vermutungen angewiesen. Dann plagt er sich ab, rennt in der ganzen Stadt herum und versucht, herauszufinden, welches die richtigen Zahlen sind. Archimedes setzt sich hin, kritzelt eine halbe Stunde herum und hat die perfekte Zahl in den Händen. Beim Zeus! Eudaimon erinnert mich an einen kleinen, ortsansässigen Sportlehrer, der jedes Jahr hart trainiert und dann mühsam den dritten oder vierten Platz bei den Stadtspielen erreicht. Und jetzt versucht er gegen einen Kerl anzutreten, der selbst in Olympia siegen könnte, ohne recht viel Schweiß zu vergießen. Er ist nicht gut genug, um im gleichen Wettbewerb anzutreten. Und er ist nicht einmal so gut, daß er es einsieht!«

»Also betrügt er«, schloß Agathon nachdenklich.

»Natürlich tut er das«, stimmte Epimeles zu. »Denk daran, das würde er bei jedem Gegner tun, und ich kann es ihm nicht einmal sonderlich verübeln. Wenn er seine Arbeit verliert, wo soll er hin? Schließlich hat auch er eine Familie, die von ihm abhängt.«

»Er tut dir fast schon leid?«

Der Vorarbeiter senkte den Blick. »Nein«, sagte er ruhig, »er tut mir wirklich leid. Trotzdem will ich ihn nicht in verantwortlicher Position sehen. Niemand baut gern schwache Katapulte, die sich überschlagen oder nicht geradeaus schießen können. Dagegen dieser Ein-Talenter - das wird mal ein echter Zeus, ein Blitzeschleuderer. Das spürt man schon beim Anschauen. Die ganze Werkstatt dreht sich um ihn wie um einen Strudel. Mir stehen die Haare zu Berge, wenn ich ihn nur anfasse.« Er hielt inne, dann fügte er hinzu: »Aber mach dir keine Sorgen, niemand wird jetzt mehr diese Maschine antasten. Dafür werden wir schon sorgen, die Burschen und ich.«

»Hat dich Archimedes um Bewachung gebeten?«

Epimeles zog ein beleidigtes Gesicht. »Glaubst du, wir müssen uns von ihm darum bitten lassen? So ein göttliches Ding? Dieses Katapult ist schließlich genauso unser Werk! Aber nein, er hat uns nicht gefragt. Meiner Meinung nach hat er noch nicht einmal begriffen, daß er Eudaimon um seine Arbeit bringt. Genausowenig wie es ihm in den Sinn gekommen ist, daß Eudaimon das Katapult zerstören könnte, um ihm weh zu tun. Er nimmt Eudaimon nicht einmal besonders wahr, aber das macht er ja mit allen Leuten so. Und wenn er jemanden nicht mag, nimmt er ihn noch weniger zur Kenntnis. Wenn er’s doch tut, ist er freundlich, und er behandelt auch die Burschen ordentlich. Bei der Zusammenarbeit mit ihm wird’s keine Probleme geben.« Bei dieser Aussicht mußte er grinsen und trank seinen Weinbecher aus. »Wirst du das da«, er deutete auf das Maßband, »dem Regenten zeigen?«

Nachdenklich sog Agathon eine Minute lang die Luft zwischen den Zähnen ein, dann schüttelte er den Kopf. Er hielt nicht viel von Leptines. »Ich werde warten, bis der Herr nach Hause kommt«, sagte er. »Es wird ihn sehr interessieren.«

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