13

Marcus wurde buchstäblich an die Stelle seines Bruders gesteckt: in die mittlere der drei Steinbruchhütten, mit den Fußeisen von Fabius an den Knöcheln. Die anderen Gefangenen reagierten auf seine Ankunft erstaunt und mißtrauten seinem Lebensbericht. Ihm war das ziemlich egal. Den ersten Gefängnistag verschlief er zum Großteil. Gegen Mittag weckten ihn die Wachen, als sie die Gefangenen im Zuge der verstärkten Sicherheitsmaßnahmen aneinander ketteten. Die durchgesägten Bretter der Hüttenwand hatte man schon vor seiner Ankunft ausgetauscht. Nun bezogen zwei weitere Wachen jeweils im Inneren der Hütte an den Seitenwänden Position. So konnten sie all das im Auge behalten, was den beiden Türposten eventuell entging. Aber auch das war Marcus - wie inzwischen fast alles - herzlich egal. Eigentlich hätte er ein Gefühl von Freude und Begeisterung empfinden müssen - schließlich sollte er allem Anschein nach wieder ein freier Mensch sein und am Leben bleiben. Aber er war viel zu erschöpft. Sie mußten ihn nicht einmal töten, er fürchtete bereits die Anstrengung, die ihn das Eingewöhnen unter seine Landsleute kosten würde. Er verzehrte das Essen, das ihm die Wachen gebracht hatten, und legte sich wieder schlafen.

Er erwachte mit dem Gefühl, beobachtet zu werden, und setzte sich abrupt auf. Am Ende seiner Matratze kauerte Archimedes mit besorgter Miene und ließ die Hände über die Knie baumeln. Argwöhnisch beäugten die übrigen Gefangenen von allen Seiten stumm den Besucher. Wenige Schritte entfernt stand ein Wachsoldat nervös herum. Im Dämmerlicht der Hütte konnte man nicht sehr viel erkennen, aber Marcus hatte das Gefühl, als ob es Abend wäre.

»Tut mir leid, daß ich dich aufgeweckt habe«, sagte Archimedes.

»Ich habe den ganzen Tag verschlafen«, antwortete Marcus verlegen. Er wußte nicht, was er sagen sollte. Der andere Mann kam ihm fast wie ein Fremder vor, und doch kannte er Archimedes genauso in- und auswendig wie Gaius. Er hatte ihn aufwachsen sehen, vom Kind zum Mann, gemeinsam hatten sie in einem fremden Land Logis und eine knappe Kasse geteilt. Innerlich hatte er Archimedes nur selten als seinen Herrn und Meister betrachtet, aber sein Sklaventum hatte dennoch die Grenzen ihrer Beziehung festgelegt. Inzwischen hatte sich laut dem Urteil Hierons herausgestellt, daß er, rein rechtlich gesehen, eigentlich nie ein Sklave gewesen war. Nachdem auch dieses Band zerschnitten war, trieb er jetzt nur noch hilflos in einem Meer aus vagen Gefühlen herum.

»Ich, äh, habe dir ein paar Sachen mitgebracht«, sagte Archimedes, der genauso verlegen war wie Marcus, und stellte ein Bündel ans Matratzenende.

Marcus erkannte sofort, worin das Bündel eingewickelt war: in seinen eigenen Wintermantel. Er zog es zu sich her und knotete die Enden auf. Drinnen lag seine zweite Tunika, die für den Winter, eine Terracottastatue der Aphrodite, die er in Ägypten mit dem Geld aus den Wasserschnecken gekauft hatte, sowie einige andere Kleinigkeiten, die er im Laufe der Jahre aufgehoben hatte. Außerdem befand sich ein kleiner Lederbeutel darin, in dem es klingelte, und eine längliche Schatulle aus poliertem Pinienholz. Erst starrte er die Schatulle nur an, dann hob er sie auf und öffnete sie: drinnen lag der Tenoraulos von Archimedes. Das harte Bergahornholz war rund um die Grifflöcher schon ganz dunkel und hatte glänzende Gebrauchsspuren. Schockiert blickte er hoch.

»Ich, äh, dachte, du könntest dir vielleicht selbst das Spielen beibringen, solange du hier bist«, sagte Archimedes. »Es wäre eine Beschäftigung, während du auf den Austausch wartest.«

Marcus nahm die Flöte in die Hand. Das Holz fühlte sich unter seinen Händen warm und so glatt wie Wasser an. »Das kann ich nicht, Herr«, sagte er. »Sie gehört dir.«

»Ich kann mir eine andere kaufen. Endlich kann ich mir das leisten. Ich weiß gar nicht, warum du bisher nie ein Instrument gelernt hast.«

»Das ist nicht Römerart«, erklärte ihm Marcus hilflos. »Mein Vater hätte mich geschlagen, wenn ich darum gebeten hätte.«

Archimedes blinzelte. »Nur wegen der ganzen Witze über Flötenjungen?«

»Nein«, erwiderte Marcus leise. »Nein - er hielt Musikunterricht für einen unmännlichen Zeitvertreib. Außerdem hätte er gesagt, Musik sei ein Luxus, und Luxus verderbe die Seele. Während der Arbeit oder als Zeitvertreib hat er sie toleriert, aber sonst hat er immer behauptet, Landwirtschaft und Krieg wären die einzigen Dinge, die es wert sind, daß sich ein Mann mit ihnen intensiv beschäftigt.«

Wieder blinzelte Archimedes, während er versuchte, sich geistig auf diese bizarre Idee einzustellen. Auch die Griechen vertraten die Meinung, Luxus führe ins Verderben, aber Musik war für die Griechen kein Luxus, sondern etwas Lebensnotwendiges. Ohne sie waren Menschen keine wahren Menschen. »Dann willst du sie also nicht haben?« fragte er und gab es auf, darüber nachzudenken.

Marcus fuhr mit seinem schwieligen Daumen über die Flöte, dann flüsterte er: »Ich will sie, Herr.« Aber plötzlich klopfte sein Herz schneller. Wenn er zu seinem eigenen Volk zurückging, dann mußte das noch lange nicht heißen, daß er alles aufgab, was er gelernt hatte. Warum sollte er nicht Flöte spielen? Mit seinem Vater war er sowieso nie einer Meinung gewesen! »Danke.«

Archimedes lächelte. »Gut. Ich habe drei Rohrblätter in die Schatulle gesteckt, das sollte eine Weile reichen. Solltest du länger hier sein, werde ich dir Nachschub bringen. Oder du kannst dir auch von deinen Wärtern ein paar besorgen lassen. Und sobald du mit dieser Flöte zurecht kommst, wirst du eine zweite wollen. Du kannst selbst entscheiden, welche Stimmlage sie haben soll. Hier ist ein bißchen Geld.« Er deutete vage auf den Lederbeutel.

»Danke«, sagte Marcus erneut. »Herr, es tut mir leid.«

Archimedes schüttelte rasch den Kopf. »Du konntest doch deinen eigenen Bruder nicht im Stich lassen.«

Marcus schaute ihm in die Augen. »Vielleicht nicht. Trotzdem habe ich dein Vertrauen mißbraucht und dich in Gefahr gebracht. Wenn Fabius damals, als du hereinkamst, klargewesen wäre, wer du bist, hätte er dich vermutlich getötet. Ich hätte ihn nie in dieses Haus bringen und ihm nie dieses Messer geben dürfen. Deshalb - verzeih mir.«

Archimedes blickte zu Boden, er wurde rot im Gesicht. »Marcus, mein Vertrauen wurde zu Recht mißbraucht. Weißt du noch, wie wir damals nach dem Bau der Wasserschnecken wieder nach Alexandria zurückgekommen sind? Wie ich dir gesagt habe, du sollst das ganze Geld in unsere Wohnung bringen? Später haben mir meine Freunde erklärt, ich sei ein Idiot, weil ich dir einen derart hohen Betrag anvertraut habe, aber ich bin einfach nie auf den Gedanken gekommen, daß du es stehlen könntest.«

Marcus schnaubte. »Ich schon!«

»Tatsächlich? Nun, warum auch nicht! Schließlich hätte es für dich Freiheit und Unabhängigkeit bedeutet. Aber du hast es nicht gemacht. Du hast es nach Hause getragen und mich dann tagelang bedrängt, bis ich es auf eine Bank gebracht habe. Aber was ich damit sagen wollte: Ich hatte kein Recht, dich mit soviel Vertrauen zu belasten. Das war arrogant von mir. Ich hatte nie etwas getan, um eine derart hohe Loyalität zu verdienen. Ich war ein nachlässiger, leichtsinniger Herr, der sich voll und ganz auf dich verlassen hat. Nie habe ich auch nur im entferntesten daran gedacht, wieviel Anerkennung du dafür verdienst, daß du mich nicht enttäuscht hast. Also -verzeih auch du mir.«

Marcus spürte, wie ihm heiß wurde. »Herr.«, fing er an.

»Du mußt mich nicht so nennen.«

»Selbst vor diesem Morgen stand ich schon wegen vieler Dinge in deiner Schuld. Die Musik ist eines davon, die Mechanik ein anderes. Jawohl, das ist eine Schuld. Ich habe, glaube ich, noch nie so gerne gearbeitet wie beim Bau der Wasserschnecken. Und seit heute morgen schulde ich dir noch mehr. Wenn ich der Sklave eines anderen gewesen wäre, hätte man mich ausgepeitscht und in die Steinbrüche geschickt. Der König hat mich milde behandelt, weil du dich für mich eingesetzt hast. Und das weißt du genausogut wie ich. Ich habe keine Möglichkeit, meine Schuld zurückzuzahlen. Deshalb belaste mich nicht auch noch mit deinen Entschuldigungen. «

Archimedes schüttelte den Kopf, gab aber keine Antwort. Nach einem Moment wechselte er das Thema und fragte: »Möchtest du, daß ich dir zeige, wie man diese Flöte spielt?«

Es folgte eine kurze Lektion im Aulosspiel: Fingersatz, Atemtechnik und die Positionierung der Metallringe. Marcus spielte zittrig einige Tonleitern, dann saß er da und streichelte das seidige Holz. Allein das Berühren war wie ein Versprechen für die Zukunft. Es verlieh ihm unerwartet Hoffnung.

Archimedes räusperte sich verlegen. »Nun«, meinte er, »ich werde daheim erwartet. Wenn du etwas brauchst, benachrichtige mich.« Marcus öffnete den Mund, aber Archimedes beschwor ihn: »Tu’s nicht! Seit ich ein Kind war, warst du ein Mitglied meines Haushaltes. Verständlicherweise möchte ich dir helfen, wenn ich kann.«

Plötzlich verstand Marcus, warum er sich so betäubt gefühlt hatte. Zum zweiten Mal in seinem Leben verlor er Heim und Familie.

»Bitte sage allen im Haus«, flüsterte er, »wie leid es mir tut. Und richte Philyra aus, ich hoffe, daß sie in ihrer Ehe sehr glücklich wird, ob mit Dionysios oder mit einem anderen. Ich wünsche euch allen eine gute Zeit.«

Archimedes nickte und stand auf. »Ich wünsche dir auch alles Gute, Marcus.« Er wandte sich zum Gehen.

Bei diesem Anblick überwältigte Marcus urplötzlich ein Gefühl größter Dringlichkeit, das fast schon an Panik grenzte. Irgend etwas zwischen ihnen war noch offen. Schon der Gedanke, daß er mit diesem unverdauten Klumpen von Gefühlen zurückbleiben sollte, jagte ihm entsetzliche Angst ein. Er sprang hoch, daß die Fußeisen nur so klirrten, rief »Medion!« und biß sich sofort auf die Zunge. Zum ersten Mal hatte er den familiären Kosenamen verwendet.

Archimedes schien das gar nicht bemerkt zu haben, er schaute nur fragend zu Marcus zurück. In der hereinbrechenden Dunkelheit konnte man seine Miene gerade noch erkennen.

Einen Augenblick lang wußte Marcus nicht, was er sagen sollte, aber dann hielt er ihm die Flöte hin und fragte: »Könntest du mir die Melodie vorspielen, die du letzte Nacht gespielt hast?«

Langsam streckte Archimedes die Hand aus und nahm das Instrument. Er regulierte den Metallring. »Eigentlich brauchte ich dazu auch noch die Sopranflöte«, meinte er entschuldigend. »Ohne die wird’s nicht so klingen.« Trotzdem setzte er die Flöte an die Lippen und intonierte sofort dieselbe liebliche Tanzmelodie, die in der vergangenen Nacht den Innenhof erfüllt hatte.

Die Hütte schien den Atem anzuhalten. Einer der Wächter war fortgegangen, um eine Lampe zu holen. Nun war er wieder da und stand stumm im Mittelgang und lauschte. Ringsherum leuchteten die Augen der Gefangenen im Lampenschein auf. Auch sie wurden von diesem Tanz magnetisch angezogen, bis sich diese unerklärliche Trauer in die Musik schlich und sie verwirrte. Auf einer Einzelflöte klang die Melodie klarer, die Tempi- und Tonlagenwechsel waren präziser zu hören. Aber eines blieb gleich: das Gefühl des Auseinanderbrechens und die Auflösung, die am Ende wie ein Wunder schien. Und zum Schluß ging der vertraute Trauermarsch ganz sanft in Stille über. Einen Augenblick blieb Archimedes mit gesenktem Kopf stehen und betrachtete seine Finger auf den Grifflöchern.

»Und jetzt wünsche ich dir alles Gute«, sagte Marcus leise in die Stille hinein.

Archimedes schaute auf, ihre Blicke trafen sich. Das Ungelöste zwischen ihnen hatte sich wie von selbst gelöst, die Bindungen vertieft. Mit einem traurigen Lächeln gab Archimedes Marcus die Flöte zurück. »Möge dich wirklich nur Gutes erwarten, Marcus Valerius«, sagte er. Der fremde Familienname ging ihm ein wenig zögernd über die Lippen.

»Dich auch, Archimedes, Sohn des Phidias«, sagte Marcus. »Mögen dir die Götter gewogen sein.«

Langsam ging Archimedes vom Steinbruch durch die dunklen Straßen nach Hause. Weil er nicht an Marcus denken wollte, dachte er statt dessen über die Melodie nach, die er gespielt hatte. Ein Lebewohl für Alexandria hatte er es genannt. Es gefiel ihm gar nicht, daß sich sein Inneres anscheinend bezüglich Alexandria entschieden hatte, ohne ihn vorher gefragt zu haben. Und das obendrein, ehe die Sache mit Delia entschieden war. Wenn Delia.

Einen Augenblick verlor er sich in der Erinnerung an Delias Kuß, dann gingen die Gedanken weiter, allerdings wesentlich grimmiger. Er mußte jetzt unbedingt wissen, ob ihn Hieron als Verbündeten betrachtete oder nur als wertvollen Sklaven.

Delia war der Test dafür. Hieron könnte sein Einverständnis zu dieser Verbindung aus vielen, guten Gründen verweigern, falls aber schon die Bitte als Beleidigung aufgefaßt würde, wäre er in Ägypten besser aufgehoben, und wenn er Syrakus dazu bei Nacht und Nebel incognito verlassen müßte.

Zu Hause brannten Lampen im Innenhof, die Familie erwartete ihn: Arata und Sosibia beim Spinnen, die kleine Agatha wickelte Wolle auf, Philyra spielte Laute, und Chrestos saß ohne Beschäftigung unter der Tür. Archimedes war den ganzen Tag nicht zu Hause gewesen. Er hatte lediglich einen von Hierons Sklaven nach Hause geschickt, um der Familie den Vorfall berichten zu lassen und Chrestos anzuweisen, er solle sämtliche Habseligkeiten von Marcus zusammenpacken und zu ihm in die Katapultwerkstatt bringen. Er hatte nicht mit seiner Familie reden wollen, weder über Marcus, noch über Delia - noch nicht. Jetzt warteten alle auf ihn, um mit ihm zu sprechen.

Mit ihrer üblichen Geduld und ihrem klaren Sinn für Prioritäten erkundigte sich Arata zuerst, ob er schon gegessen habe. Als er verneinte, brachte sie ihn ins Eßzimmer und setzte ihm einen Teller Fischeintopf vor. Philyra saß mit roten Augen schniefend am Tisch, stützte die Ellbogen auf und schaute ihm beim Essen zu.

Die Sklaven standen verstört herum, und selbst seine Mutter runzelte besorgt die Stirn. Nach den ersten Bissen gab er auf und begann, ihnen die ganze Geschichte von Marcus zu erzählen.

»Wird’s ihm wieder gutgehen?« fragte Philyra und kaute auf ihren Fingernägeln herum, obwohl ihre Mutter energisch dagegen angekämpft hatte. Jetzt fiel sie nur noch in diese Gewohnheit zurück, wenn sie zutiefst unglücklich war.

»Ich hoffe es«, war alles, was Archimedes dazu sagen konnte. »Hieron hat gesagt, er dürfe gerne jede Frage des römischen Generals beantworten. Und außerdem ist ja noch sein Bruder da, um für ihn einzutreten. Ich würde schon meinen, daß er wieder in Ordnung kommt.« Innerlich war er sich leider nicht so sicher. Eigentlich müßte Marcus wieder in Ordnung kommen - aber er war so kompromißlos ehrlich. Er hatte einem Taraser Söldner nicht den Gefallen getan, für die Zerstörung Roms zu beten, und er würde es auch nicht für die Eroberung von Syrakus tun, nicht einmal einem römischen Konsul zuliebe.

Aber vielleicht würde es der römische Konsul gar nicht verlangen. Man würde Marcus mit achtzig weiteren Gefangenen ausliefern, und dann würde ihn wahrscheinlich sein Bruder im Heer begrüßen und beschützen. Eigentlich müßte er wieder in Ordnung kommen.

»Sie sind Barbaren«, sagte Philyra, der schon wieder die Tränen in den Augen standen. »Die wären in der Lage, ihm alles anzutun! Kann er denn nicht einfach wieder zu uns kommen? Es war doch nicht seine Schuld. Medion, das hast du doch auch dem König erzählt, oder? Ich meine, es war sein eigener Bruder, sonst hätte er nicht.«

»Der König hat bereits große Milde walten lassen«, sagte Arata ruhig. »Deinem Bruder zuliebe, Philyra. Mehr können wir nicht verlangen. Schließlich wurde durch die Tat von Marcus ein Mann getötet.«

Unglücklich räusperte sich Archimedes und sagte dann: »Als ich vor kurzem bei Marcus war, hat er, äh, gesagt, ich soll allen ausrichten, wie leid es ihm tut. Er wünscht uns alles, alles Gute.

Und dann hat er noch gesagt, Philyra, er hofft, daß du sehr glücklich wirst, egal, ob du Dionysios heiratest oder einen anderen.«

Philyra nahm ihre zerkauten Finger aus dem Mund und starrte ihn an. Da begriff er, daß er ihr noch gar nichts von Dionysios erzählt hatte.

»Dionysios hat erst letzte Nacht um deine Hand angehalten«, sagte er zu seiner Verteidigung. »Ich wollte es dir, äh, heute morgen mitteilen.«

Anschließend erzählte er ihr von Dionysios. Es folgte eine beträchtliche Diskussion über den Mann und seinen Antrag, bis man sich schließlich darauf einigte, daß Archimedes den Hauptmann zum Essen einladen würde, damit ihn auch die restliche Familie näher begutachten könne. Aber als die anderen zu Bett gingen, saß Philyra noch eine Weile allein im Hof unter den Sternen und spielte auf der Laute. Ihre Gedanken waren nicht bei Dionysios.

»Ich möchte nicht, daß du schlecht von mir denkst«, hatte Marcus ihr erst letzte Nacht erklärt. »Egal, was passiert, ich habe diesem Haus nie auch nur im geringsten schaden wollen, bitte glaube mir.«

Sie glaubte ihm tatsächlich, und sie dachte nicht schlecht von ihm. Durch sein ruhiges Geständnis hatte das Wort Mut seit heute morgen eine neue Definition für sie bekommen. Sie merkte, daß sie ihn nicht mehr als Sklaven betrachtete. Wenn sie nun an ihn als freien Mann dachte, dann war es ein Mann, den sie liebte. Ein tapferer, ehrenwerter und stolzer Mann, der sie - das erkannte sie inzwischen klar - geliebt hatte.

»Weißt du noch«, sang sie und zupfte sachte die Lautensaiten, »Weißt du noch, als ich zu dir dies heilig’ Wort gesagt?


>Die Zeit ist süß, doch schnell vorbei,

kein Flügelschlag sie je erreicht<.

Sieh her! Sie liegt im Staub, die Blume dein.«


Vermutlich würde sie ihn bis ans Ende ihres Lebens als etwas in Erinnerung behalten, das auf tragische Weise gescheitert war - eine versäumte Verabredung, ein verlegter Brief, eine Person, die man mit schrecklicher und unwiederbringlicher Konsequenz mißverstanden hat. Aber es war längst zu spät, um das Verwehte zurückzuholen. Die zerpflückten Blütenblätter lagen zerstreut im Staub. Sie spielte noch eine Weile weiter, dann legte sie die Laute weg und ging zu Bett.

In derselben Nacht griff eine römische Streitmacht im Schutze der Dunkelheit die Seemauer von Syrakus an, aber Hieron hatte zusätzlich Wachen aufgestellt. Sie sahen die heimlichen Truppenbewegungen, die sich vor der schimmernden Meeresoberfläche abzeichneten, und schlugen Alarm. Als die Römer entdeckt wurden, hatten sie bereits die Katapultreichweite unterlaufen, waren jedoch schon so nahe am Kliff, daß man sie mühelos direkt von den Mauern aus mit Katapultgeschossen bombardieren konnte. Einigen Zentnern Steinen folgten mehrere Katapultkartätschen, die explodierten und die Angreifer mit brennendem Pech und Öl bespritzten. Kleidung und Körper der Männer fingen Feuer und erhellten die Szenerie. Auf der Flucht vor dem Feuer sprangen viele Römer ins Meer, aber die starke Strömung riß ihnen die Beine weg. Sie ertranken. Die übrigen flohen. Am Morgen konnte man sehen, daß sie Seile und Leitern mitgebracht hatten, die aber für die hohen Klippen jämmerlich zu kurz gewesen waren. Jetzt lagen sie zusammen mit den Leichen über das ganze Geröllfeld am Fuße der Klippen verteilt - darunter auch noch ein paar verwundete Gefangene für den Steinbruch.

In der nächsten Nacht zogen die Römer ab. Die Syrakuser, die weiterhin auf der Nordmauer Wache hielten, sahen, wie sich das Lager abends für die Nacht einrichtete. Die dunklen Stunden über brannten die Lagerfeuer, aber am Morgen war das Heer fort. Zurück blieben nur noch die Feuerstellen und fein säuberliche Abdrücke im Gras, wo die Zelte gestanden hatten.

Hieron schickte seine Späher hinter ihrer Fährte her und außerdem einen Brief an den karthagischen Oberkommandierenden.

Weil sein Sekretär zu so früher Morgenstunde noch nicht in der Villa eingetroffen war, hatte er ihn eigenhändig geschrieben. Er warnte General Hanno vor, daß die Römer vielleicht nun in seine Richtung marschieren würden, und bot ihm an, sie von hinten anzugreifen, falls die Karthager von sich aus den Kampf eröffnen würden. Als die Römer zum ersten Mal vor Syrakus erschienen waren, hatte er schon einmal eine ähnliche Nachricht abgeschickt, in der er die Karthager zu einem ähnlichen Kunststück eingeladen hatte, aber es war keine Antwort gekommen.

Während er den Brief versiegelte, grübelte er darüber nach, wie lange es wohl dauern würde, bis die Karthager begriffen hatten, daß sie angesichts eines Feindes wie Rom auf ein intaktes, starkes Syrakus an ihrer Seite angewiesen waren. Pure Dummheit, dachte er, als er sein Lieblingssiegel ins Wachs drückte, das die rote Briefkordel zusammenhielt. Auch der römische Feldzug war ein Akt von eklatanter Dummheit. Wenn ihnen die Karthager tatsächlich in den Rük-ken gefallen wären, wären sie äußerst übel drangewesen. Außerdem hatten sie Messana nur unter leichter Bewachung zurückgelassen, obwohl dort der überwiegende Teil ihres Nachschubs und ihre gesamten Schiffe lagerten, die sie von Italien herübergebracht hatten. Hätten die Karthager dort während ihrer Abwesenheit einen Sturmangriff gestartet, wäre die gesamte Armee gezwungen gewesen, sich zu ergeben. Diesen Streich hätte Hieron am liebsten selbst ausgeführt: seine eigene Armee auf die eigene Flotte zu verfrachten, einige große Katapulte und Brandsätze auf einzelne Schiffe zu montieren und dann die Küste hinaufzusegeln, mitten in den messanischen Hafen hinein. Und dann - Feuer frei auf die Römerschiffe und die Stadt gestürmt!

Ja, aber das hieße auch, Syrakus zu schwächen, während die Römer noch ungemütlich nahe waren. Und wer wußte schon, wie die Karthager reagieren würden? Sie wollten Messana immer noch für sich. Und das letzte, was sich Hieron leisten konnte, war, sie in ein offenes Bündnis mit Rom hineinzutreiben.

Gut möglich, daß sie längst mit Rom gewisse Abmachungen getroffen hatten. Vielleicht unternahmen sie gegenwärtig nur deshalb nichts, weil sie versprochen hatten, sich in keinen römischen Feldzug gegen Syrakus einzumischen. Aber selbst wenn es ein derartiges Versprechen geben sollte, war und blieb Appius Claudius ein schrecklicher Narr, wenn er sich darauf verließ. Genauso ein Narr wie Hanno, wenn er sich die einzige Chance auf einen Sieg entgehen ließ. Hierons Gesandter war aus Karthago mit der Nachricht zurückgekehrt, daß der karthagische Senat allmählich die Geduld mit seinem General verlor. Es war äußerst dumm von Hanno, zu glauben, er hätte genügend Zeit, nichts zu unternehmen. Dummheit. So wie der ganze Krieg dumm, blind und sinnlos war. Und er war noch längst nicht vorbei, davon war Hieron überzeugt. Diese Gewißheit machte ihn ganz krank. Er warf den versiegelten Brief auf seinen Schreibtisch und klatschte in die Hände, um einen Boten herbeizuholen.

Der Bote kam herein und mit ihm Agathon, der ein Bündel weiterer Tagespost in der Hand hielt. Der Bote nahm den Brief des Königs in Empfang, schwor, ihn innerhalb von drei Tagen an Hanno auszuhändigen, salutierte und marschierte hinaus. Agathon schaute ihm nach, dann legte er die übrigen Briefe auf Hierons Schreibtisch. Hieron nahm sie zur Hand und blätterte sie flüchtig durch. Neben dem Schreibtisch stand ein Lampenständer. Obwohl es Morgen war, machte sich der Türhüter daran, den Docht an einer Lampe zu kürzen und sie anzuzünden. Hieron hielt inne und schaute fragend zu seinem Sklaven hoch.

Wie üblich lächelte Agathon säuerlich. »Du hast gesagt, du möchtest alle Briefe sehen, die für Archimedes aus Alexandria kommen«, bemerkte er. »Gestern kam einer. Ich habe ihn vom Zollbeamten umleiten lassen.« Damit zog er eine kleine, dünne Klinge aus seinem Gürtel und begann, die Messerspitze in der Lampenflamme zu erwärmen.

Hieron sah ganz unten im Bündel nach, fand den entsprechenden Brief und reichte ihn ihm. Schon lange vor seiner Königszeit hatte er es sich gemeinsam mit Agathon angewöhnt, die Post anderer Leute abzufangen. Sollte er darüber je irgendwelche Gewissensbisse empfunden haben, dann waren sie längst verschwunden. Vorsichtig schob Agathon das heiße Messer zwischen Pergament und Wachssiegel, anschließend überreichte er dem König mit einer Verbeugung den Brief. Hieron setzte sich zurück und las ihn. Zu dieser Zeit war es üblich, laut zu lesen, aber zur Enttäuschung seines Sklaven las Hieron fast unhörbar und bewegte kaum die Lippen dabei.

Conon, der Sohn des Nikias von Samos, an Archimedes, den Sohn des Phidias von Syrakus, mit den besten Grüßen.

Liebster a...

Hieron runzelte leicht die Stirn: »Liebster Alpha«. Hatte der Schreiber diese Anrede benutzt, weil es der erste Buchstabe im Namen von Archimedes war - oder weil er gleichbedeutend mit der Nummer eins war?

»Liebster Alpha, Du bist jetzt noch kaum einen Monat fort, aber ich schwöre beim delischen Apollon, daß es mir wie Jahre vorkommt, und obendrein noch leere Jahre mit nichts als nassen Nachmittagen darin. Immer wenn ich eine Flöte höre, muß ich an Dich denken, und seit Deiner Abreise gibt es keinen, der auch nur annähernd etwas Intelligentes über die Tangenten von Kegelschnitten zu sagen hat. Eines schönen Tages hat Diodotos irgend etwas über Hyperbeln gequatscht. Da habe ich ihm erklärt, was du über das Verhältnis gesagt hast. Da hat er sich wie ein Frosch aufgeblasen und mich zu einem Beweis aufgefordert. Natürlich konnte ich das nicht. Statt dessen habe ich ihm aber eine Liste mit Thesen gegeben. Später kam er dann wieder an und meinte, er hätte tatsächlich eine davon bewiesen, was nicht stimmt. Aber davon später noch mehr.

Denn das ist der Hauptgrund für meinen Brief: Ich habe eine Stelle im Museion, und Du kannst auch eine haben! Eigentlich habe ich’s ja Dir zu verdanken, daß ich jetzt meine eigene Stange im Vogelkäfig der Musen habe. Der König hat bei Arsinoiton viel Geld in gigantische, technische Konstruktionen investiert, und als er zur Besichtigung hinaufgefahren ist, fiel sein Blick zuerst auf eine Wasserschnecke. >Was ist denn das?< fragte der König. »Beim Zeus, so etwas habe ich in meinem ganzen Leben noch nicht gesehen!« Und kurz danach hat Kallimachos .«

Der Dichter? überlegte Hieron. Der Leiter der Bibliothek von Alexandria?

».Kallimachos höchstpersönlich schweißgebadet an meine Tür geklopft und gesagt: >Du bist mit Archimedes von Syrakus befreundet, wo ist er? Der König möchte ihn kennenlernen<. Also habe ich ihm erklärt, Du wärest wieder nach Syrakus zurück. Daraufhin hat er beim Hades und der Herrin der Dreiwege (Hekate, A. d. Ü.) losgeflucht (ganz ehrlich! Auch wenn man das einem solchen Dichter und Gelehrten nicht zutrauen würde) und als Ersatz mich zum König geschleift. Ptolemaios hat mich erstaunlich höflich behandelt und zum Essen eingeladen, und anschließend haben wir uns unterhalten. Kallimachos war auch dabei, saß aber nur da, zupfte an seinen Fingernägeln herum und machte den Sklavenjungen schöne Augen. Aber der König versteht wirklich eine Menge von Mathematik - Du weißt ja, Euklid war sein Lehrer. Er hat gemeint, der Ausspruch von Euklid, daß es keinen Königsweg zur Geometrie gäbe, würde schon stimmen. Er wäre damals selbst dabei gewesen. Was ich ihm über die Sonnenfinsternis erzählt habe, hat ihn sehr interessiert, und er hat mich gefragt, wann die nächste sein würde. Aber das hat nun gar nichts mit dem Grund meines Briefes zu tun. Also, nachdem wir noch ein wenig geplaudert hatten und ich ihm noch mehr von Dir erzählt hatte (glaube mir, Alpha, ich habe Dich in höchsten Tönen gelobt:), hat er gemeint, das hätte er liebend gern früher gewußt. Dann bat er mich, Dir zu schreiben und Dich einzuladen, zurückzukommen und eine Stelle im Museion anzutreten, samt Riesengehalt und allem Drum und Dran. Anschließend hat er auch mir eine Stelle angeboten (Dionysios ist schon ganz grün vor Neid), aber eigentlich möchte er Dich haben. Meiner Meinung nach ist er in Wirklichkeit hinter technischen Sachen her. Er hat mir immer wieder erzählt, wie toll diese Wasserschnecke sei, und als ich ihm meinen Diopter gezeigt habe, wollte er ihn unbedingt kaufen. Da habe ich ihm erklärt, daß ich eher mein Haus und meinen letzten Mantel verkaufen würde. Daraufhin hat er gelacht und gemeint, er würde es mir nicht übelnehmen. Ich habe ihn aber schon vorgewarnt, daß du kein Interesse hast, noch mehr Wasserschnecken zu bauen, und er meinte, das ginge schon in Ordnung. Ich weiß ja, daß Du gern Maschinen baust, wenn’s nur nicht immer dieselben sind und sie Dich nicht von der Geometrie abhalten. Schreibe ihm oder auch mir, wenn Du willst, dann wird er Dir sofort eine Bevollmächtigung schicken. Bitte, Alpha, komm schnell zurück! Warum willst Du in Syrakus arm bleiben, während Du hier in Alexandria reich sein kannst? Falls Du Dir Sorgen um Deine Familie machst, dann bring sie doch einfach mit. Hier ist es sowieso sicherer, und keine knoblauchfressenden Barbarenheere weit und breit. Was mich betrifft, ich sieche während Deiner Abwesenheit dahin, besser gesagt, ich würde es tun, wenn ich nicht zum Trost hin und wieder Doras Kuchen verspeisen würde. Übrigens: die Bankette im Museion haben homerische Ausmaße. Die These, die Diodotos angeblich bewiesen hat, ist.«

Es folgten mehrere Seiten mit abstrusen, geometrischen Erörterungen, die Hieron überblätterte. Er las nur noch den herzlichen Abschiedsgruß und die noch innigere Hoffnung, daß der Schreiber den Empfänger recht bald wiedersehen möge, »bei Hera und allen Unsterblichen!« Dann faltete er den Brief wieder zusammen und legte ihn mit einem Seufzer hin.

»Nun?« fragte Agathon.

»König Ptolemaios bietet ihm das Museion an«, sagte der König resigniert.

Agathon nahm den Brief zur Hand und musterte ihn mit einem schiefen Blick. »Es ist nicht das königliche Siegel«, stellte er fest.

»Nein«, pflichtete ihm Hieron bei. »Das Angebot kommt über einen Freund - ein enger Freund, dem Ton nach zu urteilen. Aber meiner Meinung nach ist es zweifelsohne ernst gemeint. Offensichtlich war Ptolemaios von einem Bewässerungsapparat schwer beeindruckt. Ich werde Archimedes fragen müssen, wie er funktioniert.« Er wedelte mit der Hand Richtung Brief. »Versiegle das besser wieder und gib ihn zurück.«

»Du willst nicht, daß er verlorengeht?«

Niedergeschlagen schüttelte Hieron den Kopf. »Er würde es merken. Ich möchte lediglich die Antwort sehen.« Damit wandte er sich wieder seinen anderen Briefen zu. Die meisten kamen aus der Stadt selbst und waren geschäftlicher Art, aber einer stach ihm ins Auge. Agathon war schon im Gehen begriffen, da hob er die Hand, um den Türhüter aufzuhalten. »Eine Nachricht von Archimedes persönlich«, sagte er, dann überflog er sie. »Er meint, der Drei-Talenter wäre in drei Tagen fertig. Nach dem Probeschießen lädt er mich auf dem Rückweg in die Stadt zu einem kurzen Besuch in sein Haus ein, entweder zum Essen oder einfach nur zu Wein und Kuchen.«

»Er will etwas«, erklärte Agathon kategorisch.

»Gut!« antwortete Hieron. »Er kann es haben.« Er klopfte mit der Einladung gegen den Tisch. »Dieser andere Brief - verzögere ihn, bis ich weiß, was er will. Und erkläre demjenigen, der ihn übernimmt, er soll sagen, man hätte den Brief verlegt, bis er persönlich gekommen sei, um das Schiff abzufertigen.«

Agathon schaute seinen Herrn zweifelnd an. »Findest du nicht, daß du an diesen Mann mehr Zeit verschwendest, als er verdient?«

Hieron warf ihm einen entnervten Blick zu und erwiderte: » Ari-stion, denk doch mal eine Minute nach. Vor kurzem habe ich noch die Idee einer Flottenattacke auf Messana durchgespielt. Wenn ich so etwas wirklich durchführen möchte, müßte ich dafür mehrere Schiffe miteinander vertäuen und darauf Plattformen für Geschütze montieren. Das Ganze müßte stabil genug sein, um das Gewicht des Katapults auszuhalten, sonst wären beim ersten Schuß nur noch Trümmer übrig. Außerdem müßte ich den messanischen Hafenverteidigungsanlagen contra geben können, das heißt, ich brauchte jemanden, der noch aus sicherer Entfernung ihre Reichweite und Schlagkraft berechnen kann. Anschließend brauchte ich Sturmleitern - und das in der richtigen Höhe, sonst hätten wir wegen nichts und wieder nichts eine Menge Toter. Ferner Rammböcke, die stark genug sind, um ihren Zweck zu erfüllen, und im Einsatz doch wieder leicht zu handhaben. Mit anderen Worten, Erfolg oder Scheitern eines derartigen Angriffs hinge voll und ganz von meinem Ingenieur ab. Nun, Kallippos ist zwar gut, trotzdem würde ich nicht meine ganze Flotte in der Hoffnung aufs Spiel setzen, daß er’s richtig macht. Dagegen gäbe es bei Archimedes kein Risiko. Erstklassige Technik - das ist der eigentliche Unterschied zwischen Sieg und Niederlage. Nein, meiner Ansicht nach verschwende ich nicht zuviel Zeit damit.«

»Oh«, machte Agathon beschämt.

»Du und Philistis«, fuhr der König lächelnd fort, »ihr mögt Archimedes nicht, weil ihr glaubt, er hätte mich respektlos behandelt.«

»Hat er ja auch!« sagte Agathon erregt. »Noch gestern früh.«

»Aristion! Wenn einer kommen würde, um dich zu verhaften, würde ich mich auch respektlos benehmen!«

Agathon grunzte ärgerlich. Unter diesem Aspekt hatte er darüber noch gar nicht nachgedacht.

»In Wirklichkeit hat er mich genauso behandelt, wie ich es mir wünsche. Außerdem hat er mir erklärt, ich sei eine Parabel. Ich finde, das ist das ungewöhnlichste Kompliment, was man mir je gemacht hat. Gut möglich, daß ich’s mir auf mein Grabmal meißeln lasse.«

»Wenn du das sagst«, antwortete Agathon, der keine Ahnung hatte, was eine Parabel war. Er war noch längst nicht überzeugt. Nach einem Moment fragte er mit tiefer Stimme: »Und was wird aus der Flottenattacke?«

Hieron schüttelte den Kopf und wandte sich wieder seiner Post zu. »Geht nicht, solange ich nicht weiß, wo die Römer stecken und wie sich die Karthager im Falle eines Erfolges verhalten würden. Aber die Sache mit der erstklassigen Technik stimmt. Wenn wir unsere Katapulte nicht gehabt hätten, würden die Römer noch immer vor der Nordmauer hocken und sich von den Feldern unserer Bauern ernähren.«

Der Drei-Talenter »Schönen Gruß« wurde genau zur festgelegten Zeit im Hexapylon installiert. Archimedes war damit nicht zufrieden. Er ließ sich nur schwer drehen, der Lademechanismus war heikel, und die Reichweite lag seinem Gefühl nach unter dem, was möglich war. Alle anderen waren dagegen über die Maschine entzückt - das größte Katapult der Welt! Als sich nachmittags beim Probeschießen der erste Riesenstein genau in das Feld bohrte, wo erst eine Woche vorher Römer gestorben waren, brach ein riesiges Jubelgeschrei aus. Der Königssohn Gelon hatte gebettelt, daß er mit seinem Vater zu diesem Schauspiel gehen durfte. Sein schriller Jubel übertönte alle anderen.

Den ganzen Weg zur Stadt zurück redete der kleine Junge begeistert auf Archimedes ein. Er saß vor seinem Vater im Sattel und beugte sich herunter, um seine Ideen für eine Verbesserung der Verteidigungsanlagen von Syrakus zu erklären. Archimedes reagierte irritiert und erleichtert zugleich auf das plappernde Kind, denn innerlich scheute er wie ein Hund vor einem Skorpion vor dem Moment zurück, in dem er den König um die Hand seiner Schwester bitten mußte. Alles war einfacher als ein Gespräch mit Hieron. Aber auch ohne die bedrückende Last seiner unerhörten Bitte, die drohend immer näher rückte, hätte Archimedes die Gesellschaft Hierons als anstrengend empfunden. Der König versuchte ständig, ihn zu überzeugen, er solle sich doch ein Pferd leihen. Für Archimedes waren Pferde gefährliche, übellaunige Riesentiere, die ihn höchstwahrscheinlich abwerfen und zertrampeln würden. Deshalb blieb er lieber auf seinen eigenen Füßen.

Anläßlich des königlichen Besuches hatte sich das Haus am Löwenbrunnen beinahe bis zur Unkenntlichkeit verändert. Entsetzt hatten Arata und Philyra erfahren, daß Archimedes den König zu Kuchen und Wein eingeladen hatte. Es war schon schockierend genug gewesen, daß eine derart hochgestellte Persönlichkeit während der Totenwache aufgetaucht war, aber damals war es wenigstens nicht nötig gewesen, für eine Unterhaltung zu sorgen, die dem Status des Gastes angemessen war. Weil man aber Hieron schlecht wieder ausladen konnte, hatten sie sich darangemacht, die Familienehre zu wahren. Man hatte das Haus gefegt, frisch mit Lehm verputzt und mit Girlanden verziert, und aus dem Hof waren sämtliche Waschbretter und Eimer verschwunden. Jetzt wirkte er ziemlich leer und traurig. Im Eßzimmer tropfte Honig aus den Sesamkuchen vom besten Zuckerbäcker in ganz Syrakus auf die schönsten Taraser Tonteller, und in der antiken, rotfigurigen Mischschale zitterte dunkler Wein vom besten Weinhändler. Die Sklaven hatten neue Kleider bekommen und standen bei Hierons Ankunft frisch gewaschen und verlegen an der Tür, um ihn zu begrüßen. Der König sah sie an und wußte sofort, daß er sich schwer anstrengen mußte, wenn dieser Besuch ein Erfolg werden sollte.

Er wies einen seiner Begleiter an, sein Pferd zum nächsten öffentlichen Platz zu bringen und sich dort darum zu kümmern. Den Rest schickte er auf die Ortygia zurück und betrat das Haus nur in Begleitung seines Sohnes und Dionysios’, der ebenfalls eine Einladung zu diesem nachmittäglichen Treffen hatte, das anstelle eines großen Abendessens stattfand. Bei einem derart zwanglosen Anlaß untertags durften auch Arata und Philyra ihr Gesicht zeigen. Sie tauschten mit den Gästen steife Grüße aus und boten ihnen Kuchen und Wein an. Dann begab man sich ins Eßzimmer, wo sich die Sklaven ängstlich darum bemühten, Essen und Getränke anzubieten. Schließlich sagte Hieron beiläufig zu Archimedes: »Ich habe aus Alexandria Näheres über deine Wasserschnecke erfahren. Könntest du mir erklären, wie sie funktioniert?«

»Ich habe den Prototyp hier«, antwortete Archimedes, der die Formalitäten nur allzugern fallenließ. »Marcus hat ihn irgendwo verstaut. Mar.« Mitten im Wort hielt er inne und errötete.

»Ich denke, er liegt im Vorratsraum«, sagte Philyra rasch.

Die Wasserschnecke wurde herbeigeschafft, und mit ihr kehrten auch die Waschbretter und Eimer an ihren rechtmäßigen Platz zurück. Gelon, der sich bisher still mit Sesamkuchen vollgestopft hatte, vergaß alle Süßigkeiten und stürzte sich auf dieses neue Spielzeug, sobald es aufgestellt worden war. Er durfte gerne daran drehen. Nach einer Erklärung und dem Rat, langsam zu drehen, schaute er mit ungetrübter Begeisterung zu, wie das Wasser oben aus der Maschine herauslief.

»Bei Apollon!« sagte Hieron leise, kauerte sich neben seinen Sohn und betrachtete aufmerksam die Maschine. Er hatte sich nach dem Gerät erkundigt, um Archimedes zu beruhigen, aber bei diesem Anblick vergaß er völlig, daß es dazu je einen anderen Grund gebraucht hatte als seine eigene Begeisterung für geniale Erfindungen. »Ich glaube, das ist das schlaueste Ding, das ich je im Leben gesehen habe«, sagte er und strahlte den Erfinder mit der gleichen kindlichen Freude wie sein Sohn an.

Innerhalb von Minuten war auch der letzte Rest von steifer Atmosphäre verschwunden. Der König von Syrakus, sein Sohn und bald auch der Hauptmann der Ortygia-Garnison hockten im Hof und spielten mit der Wasserschnecke. Gelon wurde naß - was ihm an einem heißen Sommertag besonderen Spaß machte. Auch Dionysios wurde naß. Rasch mußte man Lumpen herbeischaffen, um seine Rüstung trockenzureiben, bevor sie Flecken bekam. Beim Anblick des Hauptmannes, der im scharlachroten Mantel an sich herumputzte, mußte Philyra kichern. Verlegen schaute er zu ihr hoch, aber beim Anblick ihrer Augen mußte auch er grinsen. Ein Kuchenteller wurde auf den Boden gestellt, damit sich die Gäste selbst bedienen konnten, und prompt trat einer hinein. Kurz danach konnte man aus dem hinteren Teil des Hauses eine schimpfende Sosibia hören, die Chrestos die Schuld daran gab. »Ach, sei nicht so hart zu dem Jungen!« rief ihr Hieron zu. »Wir sind selbst daran schuld, wenn wir auf dem Boden sitzen.«

Als die Faszination der Wasserschnecke nachließ, zog Philyra weitere Maschinen ihres Bruders aus dem Durcheinander im Vorratsraum hervor: ein astronomisches Instrument, einen Kran und eine Kombination von Geräten, die sich lediglich gegenseitig drehten. »Das sollte mal ein Teil einer Hebemaschine werden«, gestand Archimedes schamrot, »aber sobald man ein Gewicht daranhängt, ist alles blockiert.«

»Du hast eine Maschine gebaut, die nicht funktioniert?« fragte Dionysios sehr amüsiert. »Ich bin schockiert.«

»Er war doch erst vierzehn!« protestierte Philyra. »Ich habe sie trotzdem immer gemocht.« Liebevoll drehte sie das oberste Rad. »Seht ihr? Alle drehen sich unterschiedlich schnell.«

»Gelon mag sie auch«, sagte Gelons Vater trocken, als er die Gier im Gesicht des Jungen bemerkte, der mit offenem Mund dastand.

Archimedes räusperte sich. »Nun«, sagte er, »ähem - Gelon, Sohn des Hieron, möchtest du das gerne haben?«

Gelon schaute mit strahlenden Augen zu ihm auf, nickte und schnappte sich die Geräte.

»Gelonion«, sagte Hieron scharf, »wie sagt man?«

»Danke!« sagte der Junge mit aller erforderlichen Wärme.

Einen Moment lächelte Hieron über die Begeisterung seines Sohnes, dann schaute er Archimedes fragend an. Er spürte, daß es Zeit war, sich die persönliche Bitte von Archimedes anzuhören.

Auch Archimedes fühlte, daß sich wie von selbst die ideale Gelegenheit ergeben hatte. »Ähem«, sagte er und versuchte, seine flatternden Magennerven zu beruhigen, »königlicher Herr, könnte ich dich einen Augenblick privat sprechen?«

Sie gingen ins Eßzimmer zurück. Zum Fenster drangen verschiedene Geräusche herein: Arata redete mit dem kleinen Gelon, Dionysios fragte Philyra etwas über Musik. Während es sich Hieron auf der Liege bequem machte, setzte sich Archimedes auf den Rand eines Stuhles. Jetzt, im entscheidenden Moment, war sein neues Selbstbewußtsein wie weggeblasen. Er hatte geglaubt, es wäre besser, die Frage in seinem eigenen Hause zu stellen, wo er der Herr war. Aber auch herausgeputzt und mit Girlanden geschmückt, blieb das Haus, was es war: das Wohnhaus eines Lehrers aus der Mittelschicht, ein Haus mit verputzten Wänden und einem gestampften Lehmboden. Wenn er es mit der Villa auf der Ortygia und ihrem Marmorboden verglich, schämte er sich. Er gehörte nicht zu jener Schicht, die um die Schwester eines Königs anhalten konnte. Trotzdem räusperte er sich und sagte so leise, daß es die anderen im Hof nicht hören konnten: »Königlicher Herr, vergib mir, falls meine Bitte zu kühn ist, aber du selbst hast mich ermutigt, um Dinge zu bitten, die jenseits meiner Erwartung liegen.«

»Ich habe dir alles versprochen, was du auch in Ägypten bekommen kannst, mit Ausnahme des Museions«, antwortete Hieron ernst. »Ich freue mich, wenn du mich um etwas bitten möchtest.«

»Was ich möchte, könnte ich in Ägypten nicht bekommen«, sagte Archimedes. Er ballte seine großen, knochigen Hände zusammen und holte tief Luft. »Mein Herr und König, du hast eine Schwester, die.«

Unter den völlig erstaunten Blicken von Hieron war seine schön vorbereitete Rede wie weggeblasen. »Das heißt«, redete er stockend weiter, »Sie - ich.« Erneut mußte er daran denken, wie er sie geküßt hatte. Er spürte, wie ihm ganz heiß im Gesicht wurde. »Ich weiß, ich habe weder Reichtümer noch eine vornehme Abstammung noch andere Qualitäten vorzuweisen, die mich ihrer würdig machen. Außer dem, was mein Verstand ersinnen und meine Hände formen können, habe ich nichts zu bieten. Wenn das genügt, gut, und wenn nicht, nun, dann habe ich dich um das gebeten, was ich wollte, und du hast nein gesagt.«

Lange Zeit sagte Hieron kein Wort. Er war fassungslos, auch wenn ihm sofort klar wurde, daß er diese Bitte vorhersehen hätte müssen. Doch gerade weil er es nicht getan hatte, war er schockiert. Er hatte sich daran gewöhnt, in Delia das kluge, abenteuerlustige Kind zu sehen, das er vor ihrem schrecklichen Onkel gerettet hatte. Ein Mädchen, dessen scharfe Beobachtungsgabe und kluger Verstand ihn wegen der Ähnlichkeit mit ihm selbst begeistert hatte. Er hatte bemerkt, daß sie ins heiratsfähige Alter gekommen war, aber dieses Wissen schien etwas zu sein, das mit Delia selbst nichts zu tun hatte - etwas für die Zukunft, etwas, das jenseits des Krieges lag. Er hatte ebenso bemerkt, daß sie sich für Archimedes interessierte, hatte dies aber als oberflächliches, zufälliges Interesse gewertet, das bald abflauen würde. Aber er hatte sie nicht verstanden. Betrübt und beschämt dachte er über sein eigenes Versagen nach.

»Du weißt«, sagte der König schließlich, »daß Delia den gesamten Besitz unseres Vaters erbt.«

Archimedes wurde noch röter im Gesicht. »Nein«, krächzte er, »das wußte ich nicht.«

»Vor dem Gesetz bin ich nicht ihr Bruder«, erklärte Hieron rundheraus. »Vor dem Gesetz ist sie das rechtmäßige Kind unseres Vaters, und ich nicht. Unser Vater war ein reicher Mann. Um ihretwillen habe ich mich sorgfältig um seinen Besitz gekümmert. Das Gesamteinkommen im letzten Jahr betrug vierundvierzigtausend Drachmen.«

»Ich will den Besitz nicht«, sagte Archimedes, der inzwischen blaß geworden war. »Du kannst ihn behalten.«

»Ich könnte es - wenn ich das Gesetz brechen und sie bestehlen würde«, sagte Hieron kalt. »Ich bin immer davon ausgegangen, daß ich ihn nur für ihren zukünftigen Ehemann treuhänderisch verwalte. Ich habe nie Geld herausgezogen, sondern es immer wieder investiert, um den Besitz für sie zu vergrößern.« Er hielt inne. »Du hast bereits mit Delia darüber gesprochen, nicht wahr?«

»Ich.«, flüsterte Archimedes, »das heißt - sie würde nie gegen deinen Wunsch handeln.«

»Mit anderen Worten, sie liegt nachts wach und grübelt darüber nach, wie meine Antwort ausfallen könnte. Ich dachte mir schon, daß sie müde und unglücklich aussieht. Zeus!« Er nahm sich einen Weinbecher, schöpfte ihn aus der Mischschale voll und stürzte die Hälfte auf einen Schluck hinunter. »Und wenn ich nein sage, wirst du dich vermutlich nach Alexandria begeben?«

»Ich habe noch keinen festen Entschluß gefaßt«, sagte Archime-des langsam. »Auf alle Fälle werde ich alles zur Verteidigung der Stadt tun, was ich kann. Aber, nun ja.« Er hielt inne, dann sagte er mit ziemlichem Nachdruck: »Ich bin kein gedungener Handwerker.«

»Na schön, solltest du vorhaben, sie nach Ägypten mitzunehmen, dann werde ich sicher nicht ja sagen!« sagte Hieron. »Gesetzt den Fall, du heiratest meine Schwester, dann wirst du schön hierbleiben und dafür sorgen, daß du mich tatsächlich mit allem versorgst, was dein Verstand erfinden und deine Hände formen können.«

»Du meinst. du würdest vielleicht ja sagen?« fragte Archimedes zuerst atemlos, rief dann aber entsetzt: »Du meinst doch nicht etwa, ich soll die Mathematik aufgeben? Ich habe dir gesagt.«

»Ja, ja, du hast es deinem Vater auf seinem Totenbett geschworen, und so weiter! Nein, ich habe damit nicht gemeint, daß du die göttliche Mathematik aufgeben sollst.« Er betrachtete den verschreckten jungen Mann und setzte dann seinen Weinbecher ab. »Schau mal«, sagte er, »ich werde dir jetzt erzählen, welche Gesichtspunkte für mich in Betracht kommen, wenn ich an einen Ehemann für meine Schwester denke. Erstens: Geld spielt dabei keine Rolle. Ich brauche ihr Geld nicht, ich habe selbst genug davon, aus den verschiedensten Quellen. Und sie hat auch selbst genug und muß es sich nicht erheiraten. Zweitens: Politik.« Er machte eine wegwerfende Handbewegung. »Sicher gibt es Situationen, wo es nützlich ist, ein Bündnis durch eine Heirat zu verstärken. Ohne meine Heirat mit Philistis wäre ich vermutlich noch im selben Jahr gestorben, in dem ich Tyrann wurde. Es war Leptines, der mir die Stadt gesichert hat. Aber insgesamt gesehen, wird ein Bündnis aller Wahrscheinlichkeit nach auch mit einer Heirat nicht halten, wenn es ohne sie zerbrechen würde. Und, ehrlich gesagt, ist es etwas anderes, ob ich jemandem eine Halbschwester verspreche, die vor dem Gestz gar nicht mit mir verwandt ist, oder ob ich selbst die Tochter eines anderen heirate. Also: Politik zählt, steht aber nicht an erster Stelle. Was wirklich an erster Stelle steht.«, er unterbrach sich. Draußen im Hof stimmte Philyra ihre Laute. »Dionysios hat um deine eigene Schwester angehalten«, sagte Hieron wesentlich gelassener. »Wenn du dich entscheiden mußt, was zählt in erster Linie dabei für dich?«

»Ich halte mich für keinen besonders guten Richter«, antwortete Archimedes blinzelnd. »Das überlasse ich Philyra und meiner Mutter. Ich möchte nur, daß Philyra glücklich wird - und daß ihr Ehemann ein Mensch ist, mit dem ich gerne verwandt bin.«

Hieron lächelte. »Ganz genau«, sagte er leise, hob wieder den Be-cher an und rollte ihn zwischen seinen Handflächen hin und her. »Du weißt, daß ich ein Bastard bin«, fuhr er fort, wobei er konzentriert in den flachen Becher hineinschaute. Der Obermanipulator fürchtete sich, einen winzigen Teil seines eigenen Herzens bloßzulegen. »Vermutlich schätze ich deswegen meine Familie mehr als diejenigen, für die sie selbstverständlich ist. Ich habe gerne eine Schwester und wußte auch immer ganz genau, daß ich sie nie an einen Fremden verheiraten würde, egal, wie wichtig er ist. Ich möchte durch sie eine Familie bekommen und nicht verlieren. Und ich will sehen, daß sie glücklich ist.« Wieder trank er einen Schluck Wein, dann wanderte sein Blick zu Archimedes zurück. »Nun, eines läßt sich bestimmt nicht leugnen: Du bist nicht im entferntesten der Mann, den ich mir als künftigen Schwager vorgestellt habe. Aber - bei allen Göttern! -, glaubst du wirklich, daß gerade ich wegen Geld und Abstammung Einwände erheben könnte? Du weißt genau, daß ich beidem nicht das geringste verdanke! Von Natur aus könntest du sicher mehr mit mir verwandt sein als einer, der lediglich in eine wichtige Position hineingeboren wurde. Und obendrein mag ich dich. Ich möchte nun zu Delia zurück und mit ihr reden und mich selbst überzeugen, daß sie eine bewußte Entscheidung getroffen hat. Aber wenn sie glücklich damit ist und du versprichst, mit ihr in Syrakus zu bleiben, dann lautet die Antwort ja.«

Archimedes schaute ihn eine lange Weile nur an. Hinter dem Nichtglaubenkönnen brach langsam eine ungläubige Freude durch, die schließlich in ein breites Grinsen aus reinstem Entzücken überging.

Hieron grinste ebenfalls. »Offensichtlich zweifelst du nicht an ihrer Antwort«, stellte er fest. Vergnügt registrierte er, daß sein zukünftiger Verwandter rot wurde, und fügte scherzhaft hinzu: »Normalerweise gilt Bescheidenheit bei einem jungen Mann als schickliche Tugend.«

Archimedes lachte. »Und du, o König von Syrakus, warst du ein sehr bescheidener junger Mann?«

Hierons Grinsen bekam einen boshaften Zug. »Ich bin als junger Mann arrogant gewesen, denn ich war mir ziemlich sicher, daß ich wußte, wie man diese Stadt viel, viel besser regiert als all die Leute, die sie tatsächlich regiert haben.« Er hielt inne und ließ diese Zeit mit Befriedigung vor seinem inneren Auge passieren, dann fügte er leise hinzu: »Und ich hatte auch recht.«

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