Kapitel 6

Pins Tagebuch

Als ich, auf den Vorschlag meiner Mutter hin, mit diesem Tagebuch anfing, hätte ich nie gedacht, dass ich je einen so seltsamen Eintrag schreiben würde wie den Bericht über die Nacht bei Sybil in der »Cella Moribundi«. Von meiner Bank aus konnte ich sehen, dass meine unerwarteten Gäste zu dritt waren, unterschiedlich groß, alle dunkel gekleidet, zwei mit Kapuzen, einer mit Mütze. Sie achteten nicht auf mich, und so entschloss ich mich, ein drittes Mal am Foeduswasser zu schnuppern. Gerade als ich nach der Flasche griff, sagte der junge Mann am Tisch: »Seid Ihr sicher, Mr Pantagus, dass mit ihm alles in Ordnung ist?«

»Keine Sorge, Mr Belding«, kam die Antwort, und ich sah, wie der ältere Mann dem besorgten Burschen beruhigend auf die Schulter klopfte. »Dem Jungen wird’s bald wieder gut gehen. Mag sein, dass ihm hinterher der Schädel brummt, aber das ist auch alles. Er wird’s als Erfahrung betrachten.«

Mr Belding, ein junger Mann von etwa achtzehn Sommern, schien mit dieser Erklärung zufrieden. Außerdem waren ihm jetzt andere Dinge wichtiger als die Sorge um mich. Er wandte sich wieder dem Tisch zu und nahm die Hand des toten Mädchens.

»Sie ist so kalt! Sybil, armer Liebling!« Es klang überrascht.

»Was habt Ihr denn erwartet?«, murmelte das Mädchen (die dritte Person im Bunde), und ich hörte Nervosität in ihrer Stimme. Mr Pantagus sah zu ihr hin und lächelte wohlwollend. »Bleib ruhig, Juno«, sagte er. »Es wird nicht lange dauern.«

Ich sah, wie Juno an einer dünnen Schnur um ihren Hals zog, doch was daran hing, konnte ich nicht erkennen, da sie es in der Hand hielt. Dann fuhr sie mit dem Finger unter ihrer Nase entlang und strich sich etwas zwischen Nase und Oberlippe, eine Art Salbe vermutlich. Die Stelle schimmerte im Kerzenlicht. Nach dem leichten Glanz über Mr Pantagus’ Oberlippe zu schließen, hatte er die Salbe ebenfalls benutzt.

»Was ist das?«, fragte Mr Belding. »Muss ich es …?«

Juno schüttelte den Kopf und bedeutete ihm zu schweigen. In der rechten Hand hielt sie ein schmales tropfenförmiges Fläschchen an einer Silberkette. Langsam schritt sie um den Raum herum und schwenkte dabei mit beschwörenden Bewegungen das Fläschchen hin und her und hin und her. Als sie an mir vorüberging, wehte ein süßer, frischer Hauch mich an, so frisch, wie der Hauch aus meinem Fläschchen Foeduswasser beißend war – und mindestens genauso kräftig. Unwillkürlich sog ich ihn tief ein. Sie ging weiter, und als sie zu Mr Belding kam, blieb sie einige Sekunden hinter ihm stehen. Kaum atmete er den Duft ein, musste er husten und niesen.

»Was machst du da?«, fragte er in Panik.

»Es ist nur ein Mittel, um sie zu rufen«, sagte sie beschwichtigend.

»Tut mir leid«, flüsterte er, »aber ich hab so was noch nie gemacht.«

»Wir schon«, sagte Juno freundlich. »Und wir müssen zügig weitermachen.«

Schließlich war der ganze Raum von dem kräftigen Duft erfüllt. Ich kniff die Augen zusammen und beobachtete gespannt, wie sich das Mädchen am Kopf der Toten neben Mr Pantagus aufstellte. Im Kerzenlicht schimmerte ihr blasses Gesicht unter der Kapuze. Mr Belding stand erwartungsvoll an Sybils Seite.

Nun griff Mr Pantagus in seinen Umhang und holte einen kleinen Beutel hervor. Er lockerte das Zugband und nahm ein Häufchen getrockneter Kräuter heraus, die er um den Kopf der Leiche streute. Dabei murmelte er hörbar, wenn auch unverständlich, vor sich hin. Danach fasste er wieder in den Beutel und brachte eine Handvoll brauner Stäbchen zum Vorschein. Er zerkrümelte sie schnell zwischen den Fingern und streute das Pulver über den ganzen Körper der Leiche. Manche der Düfte kannte ich, Zimt und Anis zum Beispiel, doch andere waren mir fremd.

Als Nächstes zog er aus seinem bauschigen Ärmel ein Glasgefäß mit weiter Öffnung. Er tauchte den Finger in die dunkle Flüssigkeit und schnippte sie durch den Raum. Die Luft wurde schwer vom Duft nach Wermut und Myrrhe. Sogar im Liegen spürte ich, dass mir von diesem Duftangriff auf meine Sinne inzwischen schwindlig war. Der junge Mr Belding war scheinbar unempfänglich für den berauschenden Duft und beobachtete das Schauspiel mit offenem Mund, während Juno die ganze Zeit in seiner Nähe stand und sacht das tropfenförmige Fläschchen schwenkte.

Heftig und mit dramatischem Effekt klatschte Mr Pantagus auf einmal in die Hände. Selbst mein mattes Herz fuhr bei dem jähen Geräusch zusammen. Dann legte er dem toten Mädchen die Hände auf die Stirn, warf den Kopf zurück und fing an, unter seiner dunklen Kapuze hervor zu sprechen.

»Ich rufe dich an, Hades! Herr der Unterwelt! Gebieter im Schattenreich der Toten!«

Seine düstere Stimme jagte mir einen Schauder über den Rücken und ich zitterte. Mr Pantagus fuhr mit seiner Beschwörung fort.

»Und deine geduldige Königin, Persephone, Gebieterin der Jahreszeiten. Hört mich! Hört mich an und erfüllt meine Bitte! Gebt uns für eine kurze Weile die Seele dieses Mädchens zurück und erlaubt dem jungen Mann hier, noch einmal mit seiner Geliebten zu sprechen!«

Seine Worte hingen in der kalten Luft. Nichts geschah. Doch auf einmal zog Mr Belding hörbar die Luft ein und wich einen Schritt zurück. Und wäre es mir möglich gewesen, hätte ich genauso gekeucht: Sybil, bis zu diesem Moment leblos wie ein Stein, fing an, sich zu bewegen!

Ein Beben durchlief ihren Körper von Kopf bis Fuß und sie stieß ein lang gezogenes Stöhnen aus. Ich hätte mir am liebsten die Ohren zugehalten, aber noch besser wäre es gewesen, ich hätte meine Augen bedeckt. Zu meinem Entsetzen und meiner Verblüffung zuckten die Augenlider des toten Mädchens und öffneten sich! Sie drehte ihren Kopf zu Mr Belding hin und langsam breitete sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht aus. Ich blinzelte angestrengt. Konnte das sein? Fasziniert und ungläubig beobachtete ich die Szene, doch ich kann nicht leugnen, dass was ich da sah, sehr wirklich erschien.

Mit Tränen in den Augen beugte sich Mr Belding vor und sprach mit fassungslosem Staunen: »Bist du es, meine liebste Sybil? Bist du es wirklich?«

»Ja, Henry«, flüsterte das Mädchen mit seltsam rauer Stimme. »Ich bin es, deine Sybil . Sprich schnell, mein Liebster, wir haben nicht viel Zeit.«

Der junge Mann sah Juno an und sie ermutigte ihn mit einem Nicken. Da fiel er auf die Knie nieder, ließ seinen Kopf neben Sybil auf den Tisch sinken und fing an zu schluchzen.

»Du musst mir vergeben«, sagte er mit erstickter Stimme. »Meine letzten Worte an dich waren so hart und im Zorn dahingeredet. Ich kann dir nicht sagen, wie sehr ich sie bereue. Und bevor ich mich entschuldigen konnte, bist du … hat dich …« Überwältigt von seinen Gefühlen, versagte ihm die Stimme und er konnte erst nach einer Weile weitersprechen. »… hat dich diese Kutsche überrollt wie einen Straßenköter.« Mit einem verzweifelten Schluchzen schlang er die Arme um das tote Mädchen, seine Brust hob und senkte sich schwer, seine Schultern bebten. So verharrte er eine Weile, bis Juno ihn leicht am Ellbogen berührte.

»Wir haben nicht mehr viel Zeit«, flüsterte sie.

Mr Belding versuchte, seine Fassung wiederzugewinnen. Er wischte mit dem Handrücken unter der Nase vorbei und strich sich das Haar glatt. Stockend sprach er weiter.

»Es tut mir leid, Sybil, was ich zu dir gesagt habe. Bitte lass mich diese harten Worte nicht für den Rest meines Lebens bedauern müssen, geh nicht einfach so fort! Ich flehe dich an, sag, dass du mir verzeihst!«

Ich hätte nie für möglich gehalten, dass ich einmal eine drei Tage alte Leiche freundlich lächeln sehen würde, doch Sybil, von dieser flehentlichen Bitte scheinbar so tief berührt wie ich selbst, tat genau das. Sie hob die Hand, um ihrem armen Henry über die Wange zu streichen.

»Ich verzeihe dir«, sagte sie, dann ließ sie ihre Hand zurück auf das Polster sinken. Als der junge Mann nun wieder von unkontrolliertem Schluchzen geschüttelt wurde, warf Mr Pantagus Juno einen etwas besorgten Blick zu. Behutsam zupfte sie Mr Belding am Ärmel.

»Es ist vorüber, wir müssen gehen«, sagte sie ruhig, aber bestimmt. »Länger zu bleiben, wäre gewagt. Wenn man uns entdeckt …«

»Natürlich«, sagte er und schluckte.

Mr Pantagus öffnete die Tür und frische kalte Luft strömte herein. Juno dirigierte Mr Belding zu Mr Pantagus hin, der ihn zur Tür hinausschob. Sie tat, als folge sie den beiden, doch plötzlich machte sie noch einmal kehrt, ging durch den Raum, trat an meine Bank und blickte in meine starren Augen. Sie war so nahe, dass ich ein Wimpernhärchen auf ihrer Wange erkennen konnte. Ich erinnere mich, dass sie nach Wacholder roch; aber dann war sie verschwunden.

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