Kapitel 11

Trautes Heim

Pin kniete auf dem Boden und goss vorsichtig ein wenig Wasser in die Kokosnussschalen, die er unter jedem Bettfuß platziert hatte. Es war die beste Möglichkeit, die er kannte, um Wanzen und Läuse von seiner Matratze fernzuhalten. Kaum dachte er an Ungeziefer, kam ihm Deodonatus Snoad in den Sinn. Er hatte seinen neuesten Artikel im Chronicle gelesen.

Dieser schäbige Kakerlak, dachte Pin giftig. Was fällt ihm ein! Schon wieder diese Andeutung, mein Vater könnte der Silberapfel-Mörder sein. Reichte es nicht, dass er in den Wochen nach Fabian Merdegraves Ermordung täglich über Oscar Carpues mutmaßliche Rolle bei dessen Tod geschrieben hatte? Dass er ihn Tag für Tag verleumdet und ihn des Mordes beschuldigt hatte? Ohne den geringsten Beweis! Abwesenheit ist doch nicht dasselbe wie Schuld, dachte Pin. Er ballte die Fäuste und knirschte mit den Zähnen. Um die Wahrheit scherte sich Deodonatus wenig. »Der Mann steht tiefer als ein Mistkäfer. Wenn ich ihm je begegne, dann … dann …« Es war ein Satz, den er immer wieder unterschiedlich beendete, gewöhnlich aber kam eine Gewalttätigkeit darin vor.

Mit einem erschöpften Seufzer legte sich Pin auf sein Bett. Er lag nicht lange. Die Matratze fühlte sich an, als wäre sie nicht viel dicker als ein Strohhalm, und die Bretter darunter waren hart wie Stein. Barton Gumbroot gehörte nicht zu den Hausbesitzern, die sich jemals Gedanken um die Bequemlichkeit ihrer Mieter machten. Pin musste es schon als Vergünstigung ansehen, dass er überhaupt ein Bett hatte; in den meisten Zimmern lagen die Matratzen direkt auf dem Boden.

Die rätselhafte Begegnung in der Cella Moribundi konnte er noch jetzt, Tage danach, nicht aus den Gedanken verbannen – und auch nicht aus der Nase. Der Duft von Wermut und Myrrhe hing noch in seinem Hemd und erinnerte ihn ständig an diese unheimliche Nacht.

Mr Gaufridus war, auch wenn er es nicht zeigen konnte, auf seine Weise ein feinfühliger Mensch, und als er Pin am Morgen nach seinem Erlebnis mit der armen Sybil sah, wusste er sofort, dass etwas geschehen sein musste. Pin schien ganz und gar nicht bei der Sache, zog übertrieben fest an Zehen und stach tiefer als nötig in Fußsohlen. Abgesehen von Pins unausgeglichenem Arbeitseifer deuteten auch das aufgebrochene Türschloss und die Fußspuren in der Cella Moribundi darauf hin, dass außer dem Jungen und einer Leiche noch jemand hier gewesen sein musste.

»Möchtest du mir vielleicht etwas sagen?«, fragte Mr Gaufridus.

Pin war nicht der beste Verstellungskünstler. Unter Mr Gaufridus’ starrem Blick erzählte er die ganze Geschichte, und es war ihm eine Erleichterung, sie loszuwerden.

»Es war alles wie ein Traum«, schloss er. »Ich weiß nicht, ob es überhaupt passiert ist, ich war ja auch halb betäubt. Ganz bestimmt bin ich das Opfer eines raffinierten Zauberkünstlers geworden. Denn was ich da gesehen habe, ist einfach unmöglich.«

Der nüchterne Mr Gaufridus war der gleichen Meinung. Er verstand Pins Verstörtheit durchaus – schließlich hatte man den Jungen bewusstlos gemacht –, und dass Sybil eine kurze Unterbrechung ihrer ewigen Ruhe erfahren haben sollte, ließ sich natürlich nicht beweisen. Ihre Leiche wurde an diesem Vormittag zum Friedhof gebracht, und als Mr Gaufridus die Tür hinter den Sargträgern schloss, senkte Pin den Kopf und krampfte die Zehen in seinen schäbigen Stiefeln zusammen.

»Ich hätte die Einbrecher hören müssen! Ich hätte sie aufhalten müssen«, sagte er unglücklich. »Wollt Ihr mich trotzdem weiter hier arbeiten lassen?«

Mr Gaufridus räusperte sich lautstark. Wäre es ihm möglich gewesen, hätte er gelächelt. Er mochte den Jungen. Pin arbeitete schwer. Man konnte ihm für das, was geschehen war, keine Schuld geben. Gut, er, Mr Gaufridus, machte ihm ab und zu selbst ein wenig Angst, indem er sagte, es gebe genügend andere auf den Straßen, die für Geld Leichen an den Zehen ziehen würden. Doch er musste zugeben, dass er über ihre wahre Zahl im Zweifel war. Außerdem war er überzeugt, dass er keinen finden würde, der so aufrichtig und gewissenhaft war wie Pin. Und in der Frage, ob sein Vater als Mörder einzustufen sei oder nicht, war Mr Gaufridus seiner Zeit voraus, im Gegensatz zu vielen Urbs Umidanern. Er fand, Schuld müsse bewiesen, nicht nur vermutet werden.

»Ja«, sagte er freundlich, konnte aber doch nicht anders, als sicherheitshalber hinzuzufügen: »Aber sieh zu, dass so etwas nicht noch einmal vorkommt.«

Pin saß also auf der Bettkante und versuchte, nicht mehr an Sybil oder Deodonatus Snoad zu denken. Draußen auf der Holztreppe waren Schritte zu hören. Er erkannte den schwerfälligen Gang und stöhnte auf. Mag sein, dass Barton seine Arbeit leicht von der Hand ging, doch leichtfüßig war er ganz sicher nicht.

Pin wartete auf den unvermeidlichen Schlag an die Tür. Barton klopfte immer mit der flachen Hand an, nicht mit den Fingerknöcheln. Pin ging an die Tür und rümpfte unwillkürlich die Nase. Bartons sonderbarer Geruch kündigte dessen Anwesenheit sogar durch die Holztür an. Er roch nach vielerlei, besonders ausgeprägt aber nach getrocknetem Blut (dem Blut anderer Leute) und nach schlechtem Atem (seinem eigenen).

In gewohnter Aufmachung stand er draußen auf dem düsteren Flur: graues Hemd (es mochte früher einmal weiß gewesen sein) mit weiten, an den Umschlägen von Bindfäden zusammengehaltenen Ärmeln, verdächtig fleckige Weste und Kniebundhose aus dunklem Tuch von undefinierbarer Natur. Sein Halstuch war steif von getrockneten Essensresten, und auf den Stiefeln tummelten sich Dreckspritzer und andere Substanzen, die keine nähere Untersuchung lohnten.

Aber es war nicht Bartons Kleidung, die Pin beunruhigte. Es war sein unsteter Blick. Er ahnte, dass dieser Blick nur zweierlei bedeuten konnte. Entweder Barton würde mehr Miete verlangen (wie er es in den vergangenen Monaten schon drei Mal getan hatte) oder er würde ihm kündigen.

»Neuigkeiten für dich, Freundchen«, fing Gumbroot an. Er rieb mit der schuppigen Handfläche über seine Knöchel, was ein leises Kratzgeräusch verursachte.

Pin verschränkte die Arme vor der Brust und baute sich mit gespreizten Beinen vor Gumbroot auf. Dieses Auftreten hatte sich als das Wirkungsvollste erwiesen, um mit dem Mann zu verhandeln. Ausdruckslos musterte er ihn von oben bis unten.

»Und was?«

»Die Miete wird erhöht.«

»Aber Ihr wisst genau, dass ich nicht noch mehr zahlen kann!«, protestierte Pin.

Barton blickte durch den Türspalt ins Zimmer und schätzte die Größe ab. »Ich könnte hier drin viermal so viele Mieter unterbringen.«

»Ihr meint vier Leute?«

Gumbroot wirkte irritiert. Rechnen war nicht seine Stärke. Er schnaubte. Vor einem Rausschmiss war er immer etwas nervös. Das hatte jedoch nicht etwa mit Fürsorge für den betroffenen Mieter zu tun, sondern damit, dass er die damit verbundenen Auseinandersetzungen fürchtete. Aus Barton Gumbroots Pension gewiesen zu werden bedeutete für gewöhnlich, dass ein verzweifelter Mensch auch noch den letzten Strohhalm verlor, und verzweifelte Menschen reagieren leicht mit verzweifelten Handlungen.

»Spiel dich nicht auf, Freundchen. Morgen früh will ich dich hier nicht mehr sehen.«

»Dann bleibt mir ja wohl keine Wahl«, sagte Pin bitter.

Gumbroot zupfte mit Daumen und Zeigefinger an seiner Nase und hielt den Kopf schräg. »Damit hast du’s ungefähr auf den Punkt gebracht«, sagte er selbstgefällig. »Hab ja gewusst, dass du’s verstehen wirst. Warst schon immer ein gescheiter …«

Pin machte ihm die Tür vor der Nase zu.

»Wenn du mir allerdings den Gefallen tun könntest, schon heut Abend auszuziehen«, kam Mr Gumbroots körperlose Stimme von der anderen Seite, »wäre ich dir sehr verbunden.«

Und so kam es, dass Pin am späten Abend seine Sachen packte. Er wusste, wenn er nicht sofort ginge, würde er seine Habseligkeiten bei der nächsten Rückkehr auf der Straße vorfinden und eine ganze Familie würde in sein Zimmer eingezogen sein. So war das hier. Er packte seine wenigen Besitztümer in seinen Beutel und brach auf.

»Vielleicht finde ich am Ende doch noch etwas Besseres«, redete er sich ein und versuchte, optimistisch zu bleiben. Und immerhin würde er nicht mehr die Schreie aus dem Keller hören müssen. Heute Nacht passierte dort unten bestimmt etwas Furchtbares. Doch trotz all seines Optimismus machte sich Pin Sorgen. Der Winter war keine gute Zeit, um in Urbs Umida eine Unterkunft zu suchen, und zumindest heute Nacht würde ihm wohl nur die Straße übrig bleiben.

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