Kapitel 33

Ein nächtlicher Auftrag

Aluph Buncombe beschleunigte seine Schritte und verfluchte dabei die beißende Kälte. Es war sehr dunkel, eine einzige Laterne musste für die ganze Länge der Straße herhalten, und auch wenn Aluph keine Menschenseele sah, ahnte er, dass er aus düsteren Eingängen beobachtet wurde. Ein Stück weiter die Straße hinunter flog die Tür einer Wirtschaft auf und spuckte zwei Männer aus, die ihren lautstarken Streit im Rinnstein weiterführten. Aluph zögerte. Er bedauerte bereits, dass er diesen ungewöhnlichen Auftrag überhaupt angenommen hatte. Viel lieber arbeitete er am anderen Flussufer. Was immer er auch von den Nordstädtern hielt, dort war er wenigstens in luxuriöser Umgebung.

Aber Aluph hatte schon eine Nachricht geschickt, dass er unterwegs sei; für einen Rückzieher war es ohnehin zu spät. Er riss sich also zusammen und schritt mit vorgetäuschtem Selbstvertrauen weiter, bis er vor dem Haus Nummer 15 stand. Er klopfte an die Tür und wartete. Nach ungefähr einer Minute wurde sie langsam geöffnet und Aluph ließ sein schönstes Lächeln vor der vor ihm stehenden Hexe aufblitzen.

»Ja?«, krächzte sie.

Aluph beherrschte sich, so gut er konnte, und erklärte, dass er gekommen sei, um Mr Snoad zu besuchen.

»Hä?«, schnarrte sie.

»Mr Snoad.«

»Wassiss?«

»Mr Snoad!«, rief er schließlich, nur Zentimeter von ihren wachsartigen Ohren entfernt.

»Oberster Stock.«

»Verbindlichsten Dank«, sagte Aluph und tippte an seinen Hut. Dann trat er ein und schloss die Tür hinter sich. Sofort bedauerte er seine Zusage wieder und jetzt kamen auch noch Angst und Übelkeit dazu. Der Gestank in dem engen Flur konnte sich kaum stärker von dem köstlichen Duft bei Mrs Hoadswood unterscheiden. Die Wände, die er unwillkürlich streifte, waren schmierig und der Boden unter seinen Füßen fühlte sich irgendwie weich an. Nach unten zu schauen wagte er allerdings nicht. Er wollte lieber nicht wissen, worauf er hier stand.

»’n Abend«, sagte ein verdächtig aussehender Kerl, der von links aus einem Zimmer auftauchte. Als er sich vorbeidrängte, hielt Aluph automatisch seine Geldbörse fest. Und das war gut so, denn er spürte tatsächlich im Vorbeigehen die Finger des Mannes über seine Jacke huschen. Der verschlagene Typ ließ ein leises Lachen hören und huschte hinaus auf die Straße. Aluph atmete auf.

Das ist das erste und das letzte Mal, dass ich so was mache, schwor er sich, als er die Treppe hinaufstieg. Entweder am anderen Foedusufer oder überhaupt nicht. Er hatte den Auftrag nur angenommen, weil er hoffte, dass Deodonatus gefallen werde, was er von ihm zu hören bekäme – dafür würde er, Aluph, schon sorgen. Und dann würde Deodonatus ihn vielleicht lobend im Chronicle erwähnen. Aber dass Snoad in einem derart scheußlichen Stadtteil wohnen würde, damit hatte er nicht gerechnet. Er war stets der Ansicht gewesen, schlechte Werbung sei immer noch besser als gar keine. Jetzt zweifelte er allmählich, ob er überhaupt lange genug am Leben bliebe, um noch etwas von dieser Werbung zu haben.

Er nahm jede Stufe einzeln und ging langsamer, je weiter er sich dem obersten Stock näherte. Dort angelangt, kam er nach der Hälfte des Ganges an die richtige Tür, doch bevor er klopfen konnte, wurde sie langsam geöffnet.

»Mr Buncombe, nehme ich an?«

»Zu Diensten«, erwiderte Aluph und blinzelte in das Halbdunkel. »Ihr seid Mr Snoad?«

»Das bin ich«, kam die Antwort, und die Tür öffnete sich etwas weiter. »Tretet ein!«

Die Stimme klang schroff, beinahe gedämpft, und hatte weder einen nördlichen noch einen südlichen Akzent, wie Aluph auffiel. Der Raum war nur sehr unzureichend beleuchtet: zwei kleine Kerzen an Wandhaltern und der Schein des Kaminfeuers. Bis sich seine Augen an das Halbdunkel gewöhnt hatten, blieb Aluph für ein paar Sekunden stehen, wo er war. Das Zimmer war geräumig und erstaunlich gut aufgeräumt, bis auf den großen Tisch, der mit neuen Zeitungen, Papieren und leeren Tintenfässern übersät war.

Aus der Ecke rechts vom Fenster neben dem Feuer kam eine Stimme.

»So macht Euch an die Arbeit!«

»Selbstverständlich, Mr Snoad. Was interessiert Euch also besonders?«

»Ich habe gehört, Ihr könnt aus den Erhöhungen auf einem Schädel wahrsagen«, sagte Deodonatus barsch. »Ich will wissen, was mir in diesem elenden Leben noch bevorsteht.«

»Nun«, sagte Aluph, »Wahrsager bin ich nicht direkt …«

»Was denn sonst?«, unterbrach ihn Deodonatus. »Wenn Ihr nicht die Zukunft vorhersagt, was macht Ihr dann?«

»Es ist nicht so, dass ich nicht die Zukunft vorhersage«, wandte Aluph vorsichtig ein. Wenn Deodonatus es so wollte, konnte er natürlich einen vorsichtigen Versuch in diese Richtung machen. »Es geht nur einfach darum, dass man sich seines zukünftigen Lebenswegs viel sicherer sein kann.«

»Das klingt so, wie ich es mir vorstelle«, sagte Deodonatus. »Kommt nun zur Sache!«

Hmm, dachte Aluph. Das war nicht ganz das, was er erwartet hatte. Er würde auf der Hut sein müssen. Er bezweifelte, dass Deodonatus Snoad für Schmeicheleien empfänglich wäre. Dazu war er zu scharfsinnig.

»Vielleicht ließe sich etwas mehr Licht heranschaffen?«

»Nein«, war die knappe Antwort.

Aluph fühlte sich eindeutig unwohl. »Ähem«, machte er und wunderte sich über seinen eigenen Mut, als er sagte: »Es ist üblich, dass ich einen Teil des Honorars im Voraus erhalte.«

»Auf dem Tisch«, sagte Deodonatus. »Steckt es gleich ein, aber versucht ja nicht, mich zu betrügen. Ich weiß genau, was dort liegt.«

»Das würde mir im Traum nicht einfallen, Mr Snoad«, sagte Aluph. »Schließlich würde es mit Sicherheit morgen früh im Chronicle stehen.«

Aluph ging zum Tisch und tastete nach dem Geld. Das waren freilich nicht die Arbeitsbedingungen, wie er sie gewöhnt war. Endlich schlossen sich seine suchenden Hände um einen Stapel Münzen. Shillinge, dem Gefühl nach. Er steckte sie in die Tasche, wobei er die ganze Zeit ein auf sich gerichtetes Augenpaar spürte.

»Beeilt Euch«, knurrte Deodonatus. »Ich hab nicht den ganzen Abend Zeit.«

Aluph ging zu dem Stuhl, auf dem Deodonatus saß. An seinen Fingern war etwas Klebriges und er wischte es verstohlen am Hosenbein ab. In diesem Augenblick kam der Mond heraus und in seinem blassen Schein konnte Aluph für ein paar Sekunden Deodonatus’ Konturen sehen. Was für ein außergewöhnlicher Anblick! Diese vorgewölbte Stirn, die Knollennase, das tief auf der Brust liegende knubbelige Kinn. Aluph stockte der Atem, doch es gelang ihm, sich zu beherrschen.

»Vielleicht könntet Ihr Euch ein wenig vorbeugen«, sagte er und stellte fest, dass seine Stimme höher klang als sonst. Deodonatus kam seiner Aufforderung nach und Aluph fing an.

Er legte seine Hände auf Deodonatus’ Kopf. »Was für dichtes Haar Ihr habt«, begann er. Er hätte schwören können, dass etwas darin krabbelte.

Deodonatus grunzte nur.

»Auch gut«, murmelte Aluph, erleichtert, dass hier anscheinend kein Strom von belanglosem Geplapper von ihm erwartet wurde. Langsam bewegte er die Fingerspitzen durch das verfilzte Haar und fand ein seltsames Vergnügen an dem Gedanken, dass er dabei gleichzeitig seine klebrigen Finger säuberte.

»Ihr habt einen vergrößerten Nackenansatz.«

»Was bedeutet das?«, fragte Deodonatus.

»Nun«, sagte Aluph behutsam, »im Grunde genommen etwas Gutes. Es bedeutet, dass Ihr ein besonderes Talent zur … zur Informationsweitergabe besitzt, zum Vermitteln von Gedanken. Habt Ihr das Gefühl, die Menschen hören Euch zu, wenn Ihr sprecht?«

Deodonatus grunzte. »Ich spreche in letzter Zeit nicht mit vielen Menschen. In der Vergangenheit habe ich immer nur die Erfahrung gemacht, dass sie wenig zu sagen wissen. Lieber schauen sie sich etwas an.«

»Wie zum Beispiel das Gefräßige Biest«, sagte Aluph, ohne zu überlegen. »Was für eine Sensation! Ich nehme an, Ihr habt ihm schon einen Besuch abgestatt…«

Mitten im Satz unterbrach er sich und stöhnte innerlich auf. Was redete er da? Er erklärte Mr Snoad ja mehr oder weniger, dass er einer Kreatur ähnlich sehe, die für ihre Hässlichkeit und ihre widerwärtigen Essgewohnheiten berüchtigt war!

Auf Deodonatus’ Gesicht zog sich ein spöttisches Grinsen über die Wangen, so weit, dass seine Oberlippe fast die Nasenlöcher berührte. Das war gar nicht so schwierig, wie es sich vielleicht anhören mag, wenn man an sein unproportioniertes Antlitz denkt.

»Das Gefräßige Biest«, murmelte er. »Ja, ja, das habe ich gesehen und gerochen.« Er hob den Kopf, um Aluph von unten herauf einen wässrigen Blick zuzuwerfen, und als Aluph dabei kurz sein Gesicht zu sehen bekam, musste er unwillkürlich nach Luft schnappen. Deodonatus gab ein gehässiges Schnauben von sich.

»Ich nehme an, Ihr findet es ganz in Ordnung, dass Menschen ein Wesen anglotzen dürfen, das vom Glück weniger begünstigt ist als sie selber?«

»Es ist nicht unbedingt so, dass ich das in Ordnung finde«, sagte Aluph vorsichtig und drückte dabei kräftig auf Deodonatus’ Kopf herum. Allmählich fragte er sich, wohin das führen sollte. »Es ist eben nur sehr unterhaltsam, und … äh … Menschen müssen nun mal unterhalten werden«, schloss er lahm.

Ein tiefes Stirnrunzeln drückte Deodonatus’ Missbilligung aus.

»Ach, Unterhaltung soll das sein, ja? Tiere anzustarren, die in Käfige gesperrt sind, nur weil die auf der einen Seite der Stäbe als normal und die auf der anderen als nicht annehmbar gelten!«

»Nun, so gesehen scheint die Sache freilich weniger angemessen, das ist nicht zu bezweifeln.« Aluph versuchte schleunigst das Thema zu wechseln. »Und was haltet Ihr von dem Leichenmagier?«

Doch Deodonatus ließ sich nicht beirren. »Pah!«, rief er. »Nichts als Trickserei. Er macht’s ja gut, der alte Benedict Pantagus, das will ich dem Mann gern zugestehen. Aber die Bestie? Verdient sie denn nicht unser Mitgefühl?«

In diesem Moment kam Aluph gerade an eine ganz besonders prägnante Erhöhung, und als er sich eingehender damit befassen wollte, stieß Deodonatus einen Schrei aus, der Tote hätte erwecken können. Er heulte auf wie ein verwundetes Tier und sprang vom Stuhl hoch. Aluphs Herz krampfte sich zusammen.

»Entschuldigt bitte, Mr Snoad«, sagte er und wich dabei weiter ins Zimmer zurück. »Eine derart ungewöhnliche Erhöhung am Schädel! Das muss etwas bedeuten!«

»Die … Stelle ist sehr … empfindlich«, knurrte Deodonatus durch zusammengebissene Zähne, während er sich wieder setzte. »Vielleicht seid Ihr so freundlich, nicht noch mal daranzukommen.«

»Ihr habt vollkommen recht«, sagte Aluph. »Diese besondere Stelle, so auffallend angeschwollen, wie sie ist, bedeutet, dass Ihr ein Mann von äußerster Empfindsamkeit für menschliches Leiden seid.«

»Ha!«, schnaubte Deodonatus, inzwischen höchst gereizt. »Empfindsam für menschliches Leiden? Ich? Was für eine launenhafte Welt das doch ist! Es gibt nicht einen einzigen Menschen, der empfindsam für meine Leiden wäre. Wisst Ihr, wie sie mich als Kind genannt haben?«

»Nein«, sagte Aluph, der von ganzem Herzen wünschte, er könnte diesen elenden Ort auf der Stelle verlassen und zu Mrs Hoadswood zurückkehren.

»Krötenjunge haben sie mich genannt!«

»Warum denn das?«

»Was glaubt Ihr wohl, Ihr Narr? Weil ich aussehe wie eine Kröte.«

»Vielleicht braucht Ihr nichts weiter als einen Kuss«, sagte Aluph. »Von, äh, von einer Prinzessin.« Die Angst hatte sein Gehirn so durcheinandergewirbelt, dass er das Gefühl hatte, es müsse einer von Mrs Hoadswoods Rühreiportionen gleichen. Nun bot Deodonatus seinen ganzen Sarkasmus auf.

»Und darf ich fragen, Mr Buncombe, welche Prinzessin bereit wäre, einen wie mich zu küssen?« An dieser Stelle sprang er auf, nahm eine Kerze von der Wand und hielt sie hoch. Aluph schluckte und wich zurück. Noch nie in seinem Leben hatte er etwas so Abscheuliches wie Deodonatus Snoads verzerrtes Gesicht gesehen.

»Beim Jupiter und den Göttern des Olymp!«, rief er. »Ihr seht ja noch abstoßender aus als das Gefräßige Biest!«

»Aaarrhhh!«, brüllte Deodonatus, und Aluph spürte die Spucke an seinen Wangen. »Verschwinde, du … du hirnloser Scharlatan! Ich bin vielleicht hässlich, aber ein Dummkopf bin ich nicht. Du kannst die Zukunft nicht vorhersagen, nicht mal, wenn sie dich beißen würde!«

Aluph brauchte keine weitere Aufforderung. Er lief durchs Zimmer, riss die Tür auf und stürmte auf den Gang hinaus. Während er die Treppe hinunterjagte und dabei drei Stufen auf einmal nahm, konnte er immer noch hören, wie Deodonatus in seinem Zimmer tobte, schrie und mit den Füßen aufstampfte.

Vom Fenster aus beobachtete Deodonatus, wie Aluph die Straße hinunterrannte. Dann nahm er den Spiegel aus der Tischschublade und wickelte ihn aus. Langsam hielt er ihn vor sein Gesicht und sah hinein, aber schon nach wenigen Sekunden warf er ihn auf den Boden, wo er in hundert Stücke zersplitterte.

»Was bin ich für ein Narr!«, tadelte er sich.

In seinen Augen blitzte es auf, als sein Blick auf die zwei Blätter Papier auf dem Schreibtisch fiel. Er warf sie ins Feuer. Dann setzte er sich, nahm einen neuen Bogen aus der Schublade und fing an zu schreiben. Er brummte und murmelte ständig vor sich hin, während seine Feder über die Seite kratzte und dabei Risse im Papier hinterließ. Schließlich rollte und band er das Papier zusammen und läutete nach dem Jungen. Kaum war dieser verschwunden, ging Deodonatus, in Mantel, Schal und Mütze gehüllt, in die Nacht hinaus.

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