Kapitel 10

Artikel aus dem

Daily Chronicle


von Urbs Umida

Unerfreuliche Vorgänge im Flinken Finger

Von Deodonatus Snoad

Verehrte Leser,

es gibt wohl kaum einen Bürger dieser Stadt, der noch nichts von den neuesten Ereignissen gesehen oder wenigstens gehört hätte, die im Flinken Finger vor sich gehen, diesem verrufenen Wirtshaus auf der Brücke – verdientermaßen verrufen, wie ich behaupten möchte. Wenn sich auch nichts Positives über diesen Ort sagen lässt, so muss man doch den Geschäftssinn der Wirtin Betty Peggotty loben. Wer könnte die Seejungfrau vergessen, die sie vor einigen Wochen ausgestellt hatte? Zugegeben, ihr Schwanz war ein wenig schlaff und sie war vielleicht auch keine solche Augenweide, wie man es sich von einem göttlichen Meerwesen vorstellt. Sie schien ziemlich fortgeschrittenen Alters, weshalb es vermutlich überhaupt gelungen war, sie einzufangen. Trotzdem aber war sie eine lebende, hin und wieder nach Luft schnappende Meerjungfrau.

Wenn ich mich recht erinnere, hatte Mrs Peggotty vorher einen Zentaur namens Mr Ephcott ausgestellt. Ich persönlich habe zwar nie mit dem Burschen gesprochen, habe jedoch gehört, er sei erstaunlich belesen und zeige ausgezeichnete Manieren. Etwas steifbeinig, besonders die Hinterbeine, doch gewiss eine höchst amüsante Unterhaltung. Und das ist es ja schließlich, wonach wir armen Bürger von Urbs Umida verlangen, nicht wahr?

Aber lassen wir Seejungfrauen, Zentauren und derartige exotische Kreaturen einmal beiseite – ich muss sagen, dass sich die gute Mrs Peggotty nun offenbar selbst übertrifft. Nicht nur tummeln sich in ihrem Lokal von morgens bis nachts betrunkene Horden (manch einem würden diese Gestalten zur Belustigung ausreichen), die die Kasse füllen. Nein, sie hält jetzt auch noch ein wildes Tier von gänzlich anderer Art in ihrem Keller, nämlich das Gefräßige Biest. Ihr Haus ist der reinste Zirkus!

Wie immer fühle ich mich meinen verehrten Lesern verpflichtet. Geleitet von diesem Grundsatz machte ich mich also auf, um das Gefräßige Biest mit eigenen Augen zu sehen. Und ich kann bestätigen, dass alles, was ich vorher gehört hatte, zutrifft. Das Biest ist eine entsetzliche Kreatur von unklarer Gattung und unstillbarem Appetit. Es hinter Gittern zu halten ist zwingend erforderlich. Sein Wesen ist unberechenbar, und es ernährt sich von rohem Fleisch der minderwertigsten Art, obwohl es eigentlich eine Vorliebe für Jocastar hat, dieses schafähnliche, wegen seiner Wolle so geschätzte Tier. Nichts geht über ein Biest mit kostspieligem Geschmack, sage ich. Damit ist es nicht allein in dieser Stadt!

Bestie hin oder her, ich muss, auch wenn es mich schmerzt, zu anderen, ernsteren Angelegenheiten kommen. Zu meinem großen Bedauern und Leid habe ich zu berichten, dass der Silberapfel-Mörder wieder zugeschlagen hat. Heute am frühen Morgen wurde eine weitere Leiche aus dem Foedus gezogen, die vierte, die der Silbertod ereilt hat. Wir alle haben noch nicht die Geschichte mit Oscar Carpue und dem Mord an Fabian Merdegrave vergessen. Mr Carpue, meiner Meinung nach höchstwahrscheinlich der Täter, muss noch gefunden werden. Viele glauben, er sei aus der Stadt geflüchtet, um dem Galgen zu entkommen. Doch dieser Ansicht bin ich nicht. Ich frage mich: Was könnte er uns über den Silberapfel-Mörder erzählen? Nicht umsonst heißt es: Gleich und Gleich gesellt sich gern. Es wäre nicht ganz aus der Luft gegriffen, wenn man auf den Gedanken käme, dass es sich bei diesen beiden, dem Silberapfel-Mörder und Oscar Carpue, in Wirklichkeit um ein und dieselbe Person handelt. Zugegeben, in Fabians Tasche wurde kein Apfel gefunden, aber wer weiß schon, was im Kopf eines Mörders vorgeht?

Bedenkt es wohl, verehrte Leser, und Ihr werdet nicht umhinkönnen, mir beizupflichten!

Bis zum nächsten Mal,

Deodonatus Snoad

Mit einer schwungvollen Geste rollte Deodonatus das Papier auf und band es mit einem Faden zusammen.

Das Böse war überall. Es lag in der Natur des Menschen. Genau wie die Liebe zur Macht, Macht, wie sie Deodonatus mit seinem geschriebenen Wort ausübte. Was bereitete es ihm für ein Vergnügen, bei Nacht durch die Straßen zu schlendern und zu hören, wie die Leute über das sprachen, was er geschrieben hatte!

Deodonatus hatte eine begeisterte Anhängerschaft unter den Lesern des Chronicle. In Cafés und Kneipen gab es tägliche Zusammenkünfte, und an Straßenecken versammelten sich die Menschen, nur um zu hören, was Deodonatus zu den neuesten Vorgängen in der Stadt zu sagen hatte. Sie verstanden nicht immer, was er schrieb, aber sie glaubten es (wenn es im Chronicle gedruckt stand, musste es schließlich wahr sein). Und außerdem waren sie stolz darauf, als verehrte Leser angesprochen zu werden. Es gab ihnen das Gefühl, von jemandem ernst genommen zu werden, und mehr bedurfte es nicht, um ihrer lebenslangen Treue sicher zu sein. Deodonatus dagegen verachtete seine Leserschaft.

Ungeduldig zog er an einem Griff, der neben der Tür von der Decke hing, und von irgendwo im Haus kam das gedämpfte Bimmeln einer Glocke.

Eine Minute später waren leichtfüßige Schritte auf der Treppe zu hören, dann ein Klopfen an der Tür. Deodonatus öffnete sie ein paar Zentimeter.

»Habt Ihr was für mich, Mr Snoad?« Die Frage wurde von einem Gähnen begleitet. Es war schon spät am Abend.

Deodonatus reichte die Papierrolle durch den Türspalt.

»Für morgen, eh?«, sagte der Junge. »Wir freuen uns schon alle aufs Lesen!«

»Mhmm«, grummelte Deodonatus und schloss die Tür.

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