Kapitel 30

Mit seinen Wünschen muss man sorgsam umgehen

Gleich am nächsten Abend stand Pin wieder vor Junos Tür.

Von draußen trug der Wind das Gelächter der Leute auf dem zugefrorenen Foedus herein. Wenigstens einen Vorteil hat die Sache, dachte Pin trübsinnig. Wenn der Fluss zugefroren ist, haben wir nicht unter seinem Gestank zu leiden. Er hatte sich erstaunlich gut von seinen kürzlich erlebten Abenteuern erholt, dem allgemein bekannten – sein Entkommen vor dem Silberapfel-Mörder – und dem geheimen – seine qualvolle Zeit in der Leinentruhe.

Er klopfte, aber es kam keine Antwort. Die Tür stand ein wenig offen, deshalb linste er vorsichtig hinein, mehr oder weniger in der Erwartung, dass Juno auf ihrem Bett läge und schliefe. Aber es zeigte sich schnell, dass niemand da war. Nicht einmal das Feuer brannte. Pin roch ihren Duft im Zimmer und sog ihn tief ein. Es war wohltuend, er dachte an all die anderen Gerüche, und auf einmal packte ihn der Wunsch, den Duft von Junos Kräutern einzuatmen. Unter ihrem Bett konnte er den Koffer sehen.

»Eigentlich dürfte ich nicht«, sagte er halbherzig, »aber ich glaube, sie wird dieses eine Mal nichts dagegen haben.«

Pin kniete sich hin und zog den Koffer hervor, ständig in dem Bewusstsein, dass Juno jeden Augenblick hereinkommen könnte. Er klappte den Deckel auf und untersuchte die verschiedenen Beutel voll duftender Inhalte, all die ordentlich eingeräumten Mittelchen und Salben. Was war nun was? Wie oft hatte er ihr zugesehen, wenn sie mit Stößel und Mörser umging, doch jetzt konnte er sich nicht mehr erinnern. Er würde die Sachen an ihrem Geruch erkennen müssen, allerdings entströmte dem Koffer eine derart überwältigende Duftwolke, dass seine Nase streikte. In einer Seitentasche steckte das schmale tropfenförmige Fläschchen, aber es war praktisch leer. Aus Neugier zog er den Stöpsel heraus und hielt sich das Fläschchen unter die Nase. Das wunderbare, doch unglaublich intensive Aroma ließ ihn jäh zurückfahren.

Eine Weile lag er auf dem Boden und schaute zur Decke hinauf. Der Raum schien sich auszudehnen und wieder zu schrumpfen, und er konnte die kleinsten Details wie durch ein Vergrößerungsglas sehen. Oben in der Ecke, dort, wo Wand und Decke zusammentrafen, sah er eine braune Spinne in ihrem Netz hocken. Pin erschien sie nur Zentimeter entfernt. Und dann geschah etwas höchst Eigenartiges: Die Spinne fing an, heftig von einer Seite zur anderen zu schwingen, sodass sie auf diese Weise ihr ganzes Netz in eine schnelle kreiselnde Bewegung versetzte. Pin sah zu, bis ihm schwindlig wurde, dann wandte er sich ab.

Mit seinem letzten Rest von Bewusstsein korkte er die Flasche zu, steckte sie wieder in den Koffer und schob ihn unter das Bett. Er stand auf, doch seine Glieder waren wie abgestorben, er hatte sie kaum unter Kontrolle. Es gelang ihm, zur Tür zu taumeln und dann die Treppe hinauf in seine Dachkammer zu kriechen. Um sein Bett zu erreichen, brauchte er seine ganze Energie, aber hinein kam er nicht. Er schüttelte den Kopf und versuchte sich zu konzentrieren, doch das Letzte, woran er sich erinnerte, war ein strahlend helles Licht, das plötzlich den Raum durchflutete. Dann zerbarst es in Millionen winziger Teilchen und Pin brach geblendet von diesem Hagel zersplitterter Lichtstrahlen auf dem Boden zusammen, zuckend und selig lächelnd, und fiel in Ohnmacht.

Jemand war an der Tür. Pin war verwirrt. Er wusste, wo er sich befand, aber es war so hell. Das konnte doch kein Sonnenlicht sein, das durchs Fenster fiel? Er setzte sich auf und beschirmte seine Augen mit der Hand. Sein Herz flatterte wie ein kleiner Vogel. An der Treppe stand eine reglose Gestalt. Helles Licht umgab sie, ein Schatten fiel wie ein dunkler Fleck über den Boden.

»Wer ist da?«, fragte Pin und war überrascht vom Klang seiner eigenen Stimme.

Die Person trat einen Schritt vor.

»Weißt du nicht, wer ich bin?«, kam die Antwort. »Kennst du denn deinen Vater nicht?«

Pin schnappte nach Luft und spürte plötzlich einen Druck auf der Brust. Sein Atem ging stoßweise, er rappelte sich auf, schwankte und fiel auf sein Bett.

»Vater? Bist du es wirklich?« Ein Schluchzen drängte sich aus seiner zusammengeschnürten Kehle, er schluckte schwer. Mit aufgerissenen Augen starrte er die Gestalt an, konnte aber das Gesicht seines Vaters trotzdem nicht erkennen. »Komm ins Licht«, sagte er. »Ich kann dich nicht sehen.«

Der Mann trat langsam näher. Es stimmte tatsächlich, sein Vater war zu ihm zurückgekehrt. Mit einem Lächeln, das Falten in sein Gesicht grub, stand er da, die Arme weit ausgebreitet. Pin lief durchs Zimmer, ihm war, als berührten seine Füße den Boden nicht. Er sprang hoch und kräftige Arme umschlossen ihn.

»Ich dachte schon, ich würde dich nie wiedersehen«, sagte Pin.

Sein Vater stellte ihn auf den Boden, hielt ihn auf Armeslänge vor sich und musterte ihn. »Du bist gewachsen.«

»Aber es waren doch nur ein paar Monate – so sehr kann ich mich nicht verändert haben. Du siehst ja auch aus wie immer.«

Und das stimmte. Oscar Carpue sah genau so aus, wie Pin ihn seit der Nacht, in der er verschwunden war, in Erinnerung hatte. Unrasiert und mit denselben abgetragenen Sachen am Leib. Pin schossen hundert Fragen durch den Kopf und alle sprudelten gleichzeitig aus ihm heraus.

»Wo bist du gewesen? Wie war das mit Onkel Fabian? Alle sagen, du hast ihn umgebracht.«

Oscar Carpue schüttelte traurig den Kopf.

»Ich hab’s auch nie geglaubt«, sagte Pin entschieden. »Nie! Aber sie haben es immer wieder behauptet. Wenn du es nicht getan hast, warum bist du dann aber fortgegangen?«

Oscar Carpue ging zum Bett und setzte sich. »Ich habe eine Überraschung für dich, Sohn.«

Pin spürte, wie sein Puls schneller ging.

Der lächelnde Mann sagte nichts, sondern deutete nur zur Tür.

Pin drehte sich um und da war ihm, als bekäme er einen schweren Schlag gegen die Brust. »Nein!«, rief er. »Das ist nicht möglich!«

»Doch«, kam eine leise Stimme aus dem Halbdunkel. »Willst du deiner Mutter nicht einen Kuss geben?«

Pin schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte er und seine Knie wackelten wie Pudding. »Ich habe selber gesehen, wie sie dich beerdigt haben. Ich weiß, dass du tot bist.« In seinem Kopf drehte sich alles. Was ging hier vor? Er wich vor den zwei Gestalten zurück. Sie waren auf einmal Fremde für ihn.

Von einem Klopfen wurde er wach.

»Bist du da?« Es war Aluphs Stimme.

Pin kam auf die Beine, kalt und steif, doch sein Kopf war klar.

»Kommt rein!«, rief er.

Aluph erschien, zuerst das gepflegte Kopfhaar, dann sein lächelndes Gesicht. »Ah, Pin! Ich habe über deine Begegnung mit dem Silberapfel-Mörder nachgedacht. Kann sein, dass ich da was Interessantes für dich habe. Komm runter in mein Zimmer, dann zeige ich es dir.«

»Wie spät ist es?«, fragte Pin, denn er hatte keine Ahnung, ob es mitten in der Nacht oder früh am Morgen war.

»Acht Uhr vorbei. Musst du heute Abend noch mal weg?«

»Später«, sagte Pin. »Heute Nachmittag ist ein Toter gebracht worden, ich muss Wache halten.«

»Was ich dir zeigen will, dauert nicht lange«, sagte Aluph.

Noch ein wenig benommen, aber auch froh über die Ablenkung von seinem sonderbaren Traum, ging Pin mit ihm hinunter. Als sie an Junos Tür vorbeikamen, musste er unweigerlich hinsehen, aber von drinnen war kein Laut zu hören. Im Stockwerk darunter hielt Aluph ihm die Tür zu seinem Zimmer auf und Pin trat arglos ein – um wie angewurzelt stehen zu bleiben.

»Teufel auch!«

Es war einer der seltsamsten Anblicke, die sich ihm je geboten hatten: Vor ihm auf einem Regal gegenüber der Tür war eine Sammlung von zweiundzwanzig einfältig grinsenden Totenschädeln aufgebaut, deren Größe von rechts nach links zunahm.

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