Kapitel 14

Eine zufällige Begegnung

Draußen nahm Pin seine Mütze aus der Tasche, zog sie weit über die Ohren und stellte den Mantelkragen so auf, dass er bis an den Mützenrand reichte. Unglücklicherweise war ein Loch in der Mütze, sodass sein Hinterkopf trotz aller Bemühungen zum Teil unbedeckt blieb. Die Kälte umschloss seinen Schädel wie ein Schraubstock. Die Wärme des Biers und der Wirtschaft waren schnell verflogen.

Draußen übernachten bei dieser Kälte, das geht nicht, dachte Pin. Ich wäre tot, bevor der Morgen da ist.

Er konnte sich an keinen derart kalten Winter erinnern. Sogar der Foedus schien noch träger zu fließen als sonst. Pin sagte sich, dass er immerzu in Bewegung bleiben müsse. Er machte sich auf den Weg, ohne zu wissen, wohin, stolperte aber sofort über etwas Hartes. Eine Kartoffel. Vielleicht ist sie warm, dachte er. Diese Hoffnung war gar nicht so abwegig, wie es sich wahrscheinlich anhört. Viele Leute hatten heiße Kartoffeln in den Taschen, einmal, um sich daran zu wärmen, und zum anderen natürlich, um sie letztendlich zu essen. Leider war diese Kartoffel auf der Straße nicht gekocht. Es hingen noch Erdbrocken dran. Außerdem hatte sie eine höchst eigenartige Form: unmäßig dick an dem einen Ende, spitz zulaufend am anderen. Wäre nicht die dunkle Schale gewesen, hätte Pin sie womöglich für eine Karotte gehalten.

»Das ist meine, wenn du nichts dagegen hast.«

Pin blickte in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war, sah aber niemanden.

»Wie bitte?«, sagte er. Da spürte er einen Stupser am Hinterteil, drehte sich um und bemerkte einen kleinen, besser gesagt sehr kleinen, kräftigen Mann, der zu ihm aufsah.

»Oh«, sagte Pin, dem so schnell nichts anderes einfiel, und gab dem Mann die Kartoffel.

Der nahm sie und schob sie in seine Tasche. »Vielen Dank«, sagte er, dann streckte er die rechte Hand aus – in der linken hatte er eine Pfeife –, griff fest nach Pins Hand und stellte sich vor. Seine Finger fühlten sich rau und schmutzig an.

»Beag Hickory«, sagte er freundlich und sah Pin ins Gesicht, was ihm nur mit weit zurückgebeugtem Kopf möglich war. »Freut mich, deine Bekanntschaft zu machen.«

»Bi-yag«, wiederholte Pin. »Wie schreibt man denn das?«

»B-E-A-G. Es bedeutet ›klein‹.«

Pin lachte, doch als er Beags hochgezogene Augenbrauen sah, verstummte er.

»Passt gut«, sagte Pin. Er hatte in Beags Stimme einen ziemlich starken Akzent mit rollendem R gehört; ganz sicher war er nicht hier in der Stadt geboren. »Ihr seid doch …«

»Ein Zwerg«, ergänzte Beag. »Ich bin ein Zwerg, ja, aber schließlich haben wir alle unser Päckchen im Leben zu tragen, nicht wahr? Bei manchen ist es allerdings leichter als bei andern.« Er sah Pin an und wartete geduldig.

»Oh«, sagte Pin, der plötzlich merkte, was der Fremde wollte. »Ich heiße Pin.«

»Nur Pin?«

»Pin Carpue«, sagte er, ohne nachzudenken, dann runzelte er die Stirn, aber Beag sagte nichts. Vielleicht wusste er nichts von der Schande, die über die Familie Carpue gekommen war.

»Pin ist eine Abkürzung von Crispin.«

»Crispin, ja?« Beag, der über dem Namen anscheinend ins Grübeln kam, musterte Pin von Kopf bis Fuß. »Interessant«, war alles, was er sagte. Und dann, während er in Richtung Flinker Finger nickte: »Und? Warst du da drin?«

»Ja«, erwiderte Pin. »Ich wollte den Knochenmagier sehen.«

»Ah ja, Mr Pantagus«, sagte Beag. »Seltsames Gewerbe meiner Ansicht nach, obwohl manche Leute meines auch nicht gerade alltäglich finden. Und warst du auch bei dem Gefräßigen Biest?«

Pin schüttelte den Kopf. »Noch nicht.«

Beag rieb sich die Hände und es hörte sich an wie das Knirschen von Sandpapier. Fragend sah er Pin an. »Du wirst dich bei dieser Kälte ja wohl schnell nach Hause machen? Habe noch nie einen solchen Winter erlebt. Ungewöhnlich! Zweifellos ungewöhnlich!«

»Ich wäre längst daheim«, sagte Pin, was sehr viel kläglicher herauskam, als er wollte. »Aber ich habe heute Abend meine Unterkunft verloren. Wahrscheinlich bleibt mir nichts anderes übrig, als mich auf der Straße aufzuhalten.«

»Da bist du nicht der Einzige in dieser Stadt«, sagte Beag trocken. »Ich selbst wäre längst weg, wenn ich nicht auf einen Freund warten würde. Er müsste jeden Moment hier sein …«

»Warte, mein Lieber«, rief jemand hinter ihnen, dann waren eilige Schritte zu hören.

Pin fragte sich, wen Beag wohl kennen mochte, der so eindeutig mit dem Akzent der Nordstadt sprach. Der Mann, der auf sie zukam, war groß, außergewöhnlich groß, und seine schlanke Gestalt wurde von dem langen dunklen, bis an den Kragen zugeknöpften Mantel noch betont. Pin fand ihn sehr elegant und auffallend gut aussehend.

»Freut mich, dass ich dich gefunden habe«, sagte er und klopfte Beag herzlich auf den Rücken. »Zurzeit bin ich nachts nicht gern draußen. Man wird zu leicht in den Foedus geworfen von diesem Verrückten … Wie nennen sie ihn noch mal? Silberapfel-Mörder.«

»So nennt ihn Deodonatus Snoad«, sagte Beag.

»Und wer ist dieser junge Freund hier?«, fragte der Mann, als fiele ihm plötzlich ein, dass der schmuddelige Junge vielleicht gar zu Beag gehören könnte. »Willst du mich nicht vorstellen?«

»Pin«, sagte Beag, »darf ich dir meinen großen Freund, Mr Aluph Buncombe, vorstellen?«

»Freut mich, Euch kennenzulernen«, sagte Pin höflich und tippte an seine Mütze.

»Welch ausgezeichnete Manieren«, sagte Aluph angenehm überrascht und betrachtete den Jungen von Kopf bis Fuß. »Die hast du gewiss nicht auf dieser Flussseite gelernt?«

»Ich habe sie von meiner Mutter«, sagte Pin. »Sie war auch von der anderen Seite des Flusses. Sie hat immer gesagt, gute Manieren kosten wenig, aber sie sind viel wert.«

»Eine kluge Frau«, erwiderte Aluph, der sich freute, dass Pin ihn für einen aus der Nordstadt hielt. Er hatte viele Stunden darauf verwandt, seine Aussprache zu verbessern und die Vokale weich auszusprechen.

»Ja, das war sie«, sagte Pin leise.

»Pin hat seine Unterkunft verloren«, sagte Beag. »Ich habe überlegt, ob nicht vielleicht Mrs Hoadswood helfen könnte.«

»Nun«, sagte Aluph zuversichtlich. »Wenn es eine Frau gibt, die alles tun würde, um jemandem zu helfen, so ist das Mrs Hoadswood. Ein Abendessen ist gewiss das Mindeste, was sie dir anbieten wird.«

Bei dieser Aussicht leuchteten Pins Augen auf.

»Mehr kann ich dir allerdings nicht versprechen«, warnte Beag.

Aluph konnte es kaum abwarten, ins Warme zu kommen, und hauchte ungeduldig auf seine Handschuhe. Und so machten sie sich zu dritt auf den Weg.

»Sag mal, junger Mann«, fragte Aluph im Plauderton, »wie habt ihr beide euch eigentlich kennengelernt?«

»Ich bin über Mr Hickorys Kartoffel gestolpert.«

Aluph lachte. »Du hast Glück gehabt, dass sie dich nicht am Kopf erwischt hat.«

Verständnislos sah Pin ihn an und Aluph blickte schnell zu Beag. »Hast du ihm nicht davon erzählt?«

»Wovon denn?«, fragte Pin.

Aluph ließ Beag nicht zu Wort kommen. »Nun, von seinen großen Begabungen. Beag hier mag vielleicht klein von Gestalt sein, doch er ist ein Riese an Geist.«

Beag lächelte und machte eine Verbeugung. »Mr Buncombe, Sir, du bist einfach zu liebenswürdig.«

»Was habt Ihr denn für Begabungen?«, fragte Pin, der sich immer noch wunderte, was die Kartoffel damit zu tun haben könnte.

Beag schwoll an vor Stolz und sprach, als stünde er vor einem sehr viel größeren Publikum.

»Ich, Beag Hickory, Sohn ferner Länder, Dichter und Sänger, Gelehrter …«

»Oh, das wissen wir alles«, unterbrach ihn Aluph. »Erzähl ihm doch, was du wirklich tust.«

Beag wirkte ein wenig verärgert, weil er so in voller Fahrt unterbrochen wurde, doch er gehorchte. »Ich bin Dichter, das ist wahr, aber da die Leute von Urbs Umida solche Begabungen nicht zu schätzen wissen, habe ich wohl oder übel einen anderen Lebensweg eingeschlagen. Obwohl das kaum die Zukunft ist, die mir damals auf dem Cathaoir Feasa vorausgesagt wurde.«

»Auf dem Cathaoir was?«, fragte Pin.

»Vergiss es«, sagte Aluph ungeduldig. »Nun sag ihm doch einfach, was du machst.«

»Ich bin Kartoffelweitwerfer«, erklärte Beag.

Zum zweiten Mal an diesem Abend unterdrückte Pin das Lachen. Beag blickte die Straße hinauf und hinunter, dann deutete er in die Ferne.

»Siehst du den Pfosten dort?«

Pin schaute in die angegebene Richtung. Tatsächlich stand dort ein Laternenpfahl.

Beag zog eine Linie in den Schnee und ging drei Schritte zurück. Er nahm die Kartoffel aus seiner Tasche, wischte die lockeren Erdkrümel ab und fasste sie an dem griffig geformten Ende. Dann rannte er auf die Linie zu und schleuderte die Kartoffel laut prustend von sich. Pin sah ihr nach, wie sie in weitem Bogen durch die Luft flog und laut krachend gegen den Laternenpfahl prallte.

»Nicht schlecht für einen Dichter, wie?«, sagte Beag mehr als stolz und wischte sich die Hände ab.

»Ihr seid bestimmt der einzige dichtende Kartoffelweitwerfer der Welt«, sagte Pin vorsichtig und grinste.

Beag schüttelte den Kopf und lachte leise.

»Er nimmt ja auch nur die beste Sorte, verstehst du«, sagte Aluph mit der Andeutung eines Lächelns. »Die rote Hickory.«

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