Kapitel 29

Pins Tagebuch

Es ist spät nach Mitternacht, aber ich muss das jetzt und auf der Stelle schreiben. Es handelt sich nämlich um ein Geständnis. Heute Abend habe ich etwas gemacht, das mir keine Ruhe lässt, weil es mit Täuschung und Verstellung zu tun hat. Zugegeben, ich scheue davor zurück, es niederzuschreiben, aber dieses Tagebuch soll meine Geschichte erzählen, meine ganze Geschichte und nicht nur die Teile, die ich andere gern lesen lassen würde.

Seit ich vor ein paar Tagen auf der Eisschicht des Foedus gelandet bin und zufällig den Fängen des Silberapfel-Mörders entkam, habe ich lange und gründlich über die Vereinbarung, die ich mit Juno getroffen habe, nachgedacht. Und je länger ich überlege, desto bestimmtere Formen nimmt mein Plan an. Meine Zukunft liegt nicht in dieser Stadt. Es gibt nur noch den einen einzigen Punkt zu bedenken: Gehe ich mit der Antwort, nach der ich schon so lange suche – ist mein Vater schuldig oder ist er es nicht –, oder gehe ich ohne sie?

Die Zeit läuft mir in jedem Fall davon. Ich war, um dem Rätsel der Leichenmagie auf die Spur zu kommen, ein zweites Mal bei der Vorführung mit Madame de Bona, doch ich bin um keinen Deut schlauer geworden, nur um ein Sixpencestück ärmer. Madame de Bona hat ihre Rolle perfekt gespielt. Benedict organisiert die ganze Sache und Juno schafft die passende Atmosphäre, denn genau das ist es, was sie mit diesen Kräutern tut: die widerlichen Kneipengerüche überdecken. Für gewöhnlich kann man oben im Vorführraum sogar das Gefräßige Biest aus dem Keller riechen. Meiner Meinung nach sollte sie ihr Fläschchen allerdings etwas weniger schwungvoll bewegen – der Duft ist schier überwältigend –, aber wahrscheinlich bin ich einfach empfänglicher dafür als andere. Nie werde ich glauben, dass diese Auferstehung echt ist. Mein Vater hat immer gesagt, es gibt für alles auf der Welt eine Erklärung, wir müssen nur danach suchen. Aber womit will ich beweisen, dass es Täuschung ist? Sogar Deodonatus Snoad scheint überzeugt.

Diese ganze Skelett- und Leichenangelegenheit ist mir tagsüber dauernd durch den Kopf gegangen, und ich war so unaufmerksam bei der Arbeit, dass Mr Gaufridus mich früher gehen ließ. Das hat er aber nicht zum ersten Mal getan. Ich denke, manchmal will er mich nur unter einem Vorwand loswerden, damit er in Ruhe an einem neuartigen Gerät arbeiten kann. Bevor er damit fertig ist, hält er es nämlich gern geheim. Es ist aber nicht schwer zu erkennen, wenn er etwas austüftelt. Er arbeitet ziemlich achtlos, ich finde oft Dinge auf dem Boden, die nichts mit Sargtischlerei zu tun haben – Schrauben, Bolzen, ölige Kettenglieder und dergleichen. Bestimmt bewahrt er solche Sachen heimlich in der »Cella Moribundi« auf.

Dadurch, dass ich so früh wieder in Mrs Hoadswoods Pension war, hatte ich Gelegenheit, ein sehr interessantes Gespräch mitzuhören. Ich blieb wie immer kurz an der Treppe stehen, um den Essensduft zu erschnuppern – etwas, das ich mir zur Gewohnheit gemacht habe. Und da wurde ich Zeuge einer Auseinandersetzung zwischen Benedict und Juno. Sie mussten allein sein, denn der Wortwechsel, der unten stattfand, klang hitzig und schonungslos. Ich wusste, dass ich nicht lauschen sollte, aber ich brachte es auch nicht fertig, einfach die Treppe hinaufzugehen. Ich hörte heraus, dass Benedict Juno zu einer weiteren Totenerweckung in privatem Kreis überreden wollte. Juno weigerte sich hartnäckig.

»Wir haben ausgemacht«, sagte sie entschieden, »dass Sybil die Letzte war. Und überhaupt, was sollen wir tun, wenn dort wieder ein Leichenwächter sitzt? Müssen wir dem auch ein Schlafmittel verabreichen, so wie wir’s mit Pin gemacht haben?«

»Dort ist keiner«, sagte Benedict. »Der Mann hat mir versichert, dass die Familie glücklich wäre, wenn wir kämen. Sie wollen weiter nichts, als sich ein letztes Mal von ihrem armen Vater, der so plötzlich gestorben ist, zu verabschieden. Das ist doch wohl kaum zu viel verlangt. Übernächste Woche bist du hier weg und brauchst dich nicht mehr mit diesem Geschäft abzugeben. Tu’s einfach als einen letzten Gefallen für mich, einen alten Mann, der andere nicht leiden sehen kann.«

Juno schwieg lange. Sie hatte eine Schwäche für Benedict, deshalb überraschte es mich nicht, dass sie nachgab. »Also gut«, sagte sie schließlich. »Aber ich schwöre beim Andenken meines Vaters, es ist das letzte Mal.«

Benedict schien zufrieden mit dieser Abmachung und sie vereinbarten, dass sie vom »Flinken Finger« aus über die Brücke gehen würden, wo die Familie mit dem betreffenden Verstorbenen wohnte. Und in diesem Augenblick kam mir die Idee. Was, wenn ich ihnen einfach nachginge? Ich konnte die Gelegenheit, noch so eine merkwürdige Veranstaltung von Leichenmagie mitzuerleben, nicht ungenutzt lassen. Wer weiß, vielleicht bekäme ich ja die Chance, das Rätsel ein für alle Mal zu lösen. Mit diesem Plan im Kopf wollte ich die Treppe hinuntergehen, da sagte Juno noch etwas.

»Pin hat mich gefragt, ob er mit mir gehen darf.«

»Verstehe«, kam Benedicts Antwort. »Nun, er ist ein guter Junge, zuverlässig und fleißig.«

Junos Reaktion hörte sich so an, als sei sie sich dessen nicht sicher. »Meine Befürchtung ist nur, dass er mich aufhalten wird. Wenn ich hier weggehe, dann, weil ich etwas Bestimmtes suche.«

»Mir scheint«, sagte Benedict langsam, »ihr seid beide auf einer ähnlichen Suche.«

Ich hörte das scharrende Geräusch eines Stuhles, der zurückgeschoben wird, und ahnte, dass jeden Moment jemand heraufkommen würde. Deshalb schlich ich die Treppe hinauf in mein Zimmer. Kurz danach hörte ich Junos Tür, und bald konnte ich auch riechen, dass sie Kräuter verbrannte – nicht die Sorte zum Einschlafen, sondern die zum Beruhigen. Manche der Mischungen kenne ich inzwischen ganz gut.

Ich bezog gegen neun Uhr Position vor dem »Flinken Finger«, und gerade als es halb zehn schlug, öffnete sich die Tür zu der engen Seitengasse und heraus kamen Juno und Benedict. Vorsichtig folgte ich ihnen über die Brücke. Wie angenehm, die saubere Luft am nördlichen Flussufer einzuatmen und auf so breiten, gut beleuchteten Straßen zu gehen! Leider war es nicht ganz einfach, sich immer in Deckung zu halten, und so musste ich ziemlich weit zurückbleiben. Es dauerte nicht lange, da klopfte Juno an die glänzende Tür eines großen Hauses, das am Rand eines gepflegten Platzes stand.

Ich spitzte die Ohren und hörte einen kurzen Wortwechsel, bevor sie eingelassen wurden. Dies alles machte einen viel seriöseren Eindruck als die Geschichte mit Sybil – immerhin verschafften sie sich auf legale Weise Zutritt. Doch wie sollte ich ins Haus kommen? Bestimmt nicht in ihrem Schlepptau. Ich schlich die eiserne Kellertreppe hinunter, und wie es das Glück wollte, erschien gerade ein Küchenmädchen mit einem Kohleneimer. Ich versteckte mich, und kaum hatte sie angefangen, im Kohlenkeller zu rumoren, ergriff ich die Gelegenheit beim Schopf und huschte ins Haus.

Ich fand mich in einem schmalen Gang direkt vor einer aufwärts führenden Treppe wieder, die Küche vermutete ich am anderen Ende des Ganges. Noch bevor ich Benedicts spitze Schuhe oben an der Treppe auftauchen sah, hörte ich das leise Rascheln der Quasten daran und schlüpfte schnell hinter eine Tür zu meiner Rechten. Wieder hatte ich Glück, denn im Licht der an den Wänden befestigten Kerzen erkannte ich, dass ich genau in dem Raum gelandet war, in dem die Leiche aufgebahrt lag. Dann hörte ich Stimmen näher kommen. Ich schaute mich hastig um, sah eine große Truhe an der Wand stehen und versteckte mich darin. In diesem Moment wurde die Tür langsam geöffnet.

In der Truhe lagen Decken und Tücher, so bot sie ein ganz bequemes Versteck. Ich drückte das lockere Holz aus einem Astloch heraus und konnte auf diese Weise nun sehr gut sehen, was im Raum vorging. Ich suchte mir eine gute Position mit meinem grünen Auge dicht am Loch und war fest entschlossen, genau zu beobachten, wie Benedict sein Wunder vollbrachte. Der Tote, ein alter Mann, lag direkt vor mir auf einem Tisch. Nun wurden Benedict und Juno von zwei schwarz gekleideten jungen Männern hereingeführt. Ihnen folgte eine ältere Frau, ebenfalls in Trauerkleidung. Nach den dunklen Brauen und den weit auseinanderliegenden Augen der drei Personen zu urteilen, waren sie Mutter und Söhne. Sie schienen ganz guter Dinge zu sein, wenn man die Umstände bedachte, und lachten und scherzten sogar ein wenig. Trauer wirkt sich bei jedem Menschen anders aus, so viel hatte ich bei Mr Gaufridus gelernt, aber irgendetwas an diesem Trio war mir unangenehm. Ich hatte das Gefühl, dass hier nichts so war, wie es schien.

Zuerst lief alles so ab wie erwartet. Benedict und Juno nahmen ihre Plätze ein. Sie hatten glänzende Oberlippen von der Salbe, die sie daraufgestrichen hatten. Und bald drang der Duft von Junos Mittel in dem Fläschchen bis in mein Versteck herein, wenn auch nur sehr, sehr schwach. Weil ich auf alle Fälle einen klaren Kopf behalten wollte, band ich mir ein leinenes Tuch um Mund und Nase und war von der hemmenden Wirkung angenehm überrascht. Junos Duftmittel zum Rufen der Toten hatte ich schon immer übermäßig süß gefunden. Benedict hob die Arme und begann seine mir inzwischen vertraute Rede. Ich muss sagen, sie spielten ihre Rollen gut, die beiden. Benedicts Gewand und seine Haltung gaben ihm etwas beinah Königliches, und Junos ruhige Bewegungen verliehen dem Anlass die entsprechende Würde und Feierlichkeit.

Ich beobachtete das Trio der Zuschauer und fand, dass sie weniger nervös als vielmehr ungewöhnlich gespannt auf den Beginn des Ganzen zu warten schienen. Benedict beendete seinen magischen Sprechgesang und ich wartete ungeduldig auf die Wirkung. Die Jungen und ihre Mutter schienen ganz fasziniert von ihrem toten Vater und Ehemann, doch zu meiner Überraschung rührte sich die Leiche nicht. Benedict sah aus, als wollte er eben etwas sagen, doch bevor er dazu kam, sprang der kleinere der beiden jungen Kerle vor, packte seinen Vater grob bei den Schultern und fing an, ihn zu schütteln.

»Wo ist es, du gemeiner alter Bock?«, fragte er schroff. »Sag schon, wo du’s versteckt hast!«

Juno und Benedict wechselten entsetzte Blicke, und dann hörte ich Juno ganz deutlich sagen: »Was meint Ihr?«

»Das Geld«, sagte der zweite Sohn und sah sie nicht einmal an. »Unser Erbe.« Er trat an den Tisch und gab dem Toten ebenfalls einen derben Stoß.

»Ich weiß nicht, wovon Ihr redet«, sagte Juno entschieden.

Ich dagegen wurde allmählich unruhig. Die zwei Söhne wurden zunehmend brutaler, und ihr Vater sah inzwischen ziemlich unordentlich aus. Sein Haar, zuvor gekämmt und eingeölt, war jetzt völlig zerzaust, und Kragen und Krawatte hatten sich gelöst. Ein Arm hing über die Tischkante herunter. Mr Gaufridus wäre schrecklich aufgebracht gewesen, einen seiner geschätzten Kunden in derartiger Verfassung zu sehen, und mit »Kunden« meine ich den Toten. Mir war schon früh aufgefallen, dass Mr Gaufridus sich viel mehr Zeit für die Toten als für die Lebenden nahm. Ich persönlich hatte noch nie einen so offenen Wutausbruch gegen einen Menschen erlebt, ob tot oder lebendig.

Schließlich schritt Benedict ein. »Bitte, meine Herrn«, sagte er fest, »ich muss Euch bitten, dieses Verhalten zu unterlassen. So geht das nicht …«

»Zurück, Alter!«, sagte der erste Sohn, während er nach dem Jackenkragen seines Vaters griff und noch einmal fordernd rief: »Sag schon, wo’s ist!«

Aber der Tote schwieg hartnäckig.

»Warum will er es uns nicht sagen?«, fragte die Mutter, und ihr Ton klang merkwürdig drohend für ein so gebrechlich wirkendes Wesen. Sie trat einen Schritt auf Benedict zu und richtete vorwurfsvoll den Finger auf ihn. »Habt Ihr nicht gesagt, Tote müssen die Wahrheit sprechen?«

»Ja, ich weiß«, sagte Benedict. »Aber so darf man nicht mit ihnen umgehen. Die Toten muss man achten.«

»Die Toten achten?«, kreischte sie. »Hier liegt irgendwo ein Vermögen in Goldstücken versteckt, und dieser geizige Schuft ist gestorben, ohne uns zu sagen, wo! Und das ist alles, was Ihr dazu sagen könnt?«

Inzwischen galt Benedicts Sorge weniger dem Toten als den Lebenden, speziell sich selbst und Juno, die ihn nachdrücklich am Arm zog.

»Komm, wir gehen«, drängte sie flüsternd. »Sofort!«

Ich beobachtete mit zunehmendem Schrecken, wie die beiden aus dem Zimmer eilten.

»Durchtriebenes Südstadtpack!«, schrie die Mutter und rannte hinter ihnen her zur Tür. »Ich wusste gleich, dass man euch nicht trauen kann. Glaubt bloß nicht, dafür werdet ihr auch noch bezahlt! Wir könnten euch wegen Vorspiegelung falscher Tatsachen verklagen!«

Wie gern hätte ich mich ebenfalls davongemacht! Stattdessen lag ich halb tot vor Angst in dieser Truhe. Die beiden Söhne hatten anscheinend begriffen, dass sie auch durch noch so heftiges Schütteln nichts über das Goldversteck in Erfahrung bringen würden. Sie traten zurück und fingen über ihren zerzausten Vater hinweg zu streiten an.

»Wusste ja gleich, dass es nicht funktionieren würde!«

»Aber es war doch deine Idee!«

»Was!«

Wie zu erwarten, kam es nun zu Handgreiflichkeiten, und ich konnte weiter nichts tun als abwarten. Die Brüder prügelten sich eine Ewigkeit, so kam es mir zumindest vor. Einmal kullerten sie gegen die Truhe und schoben sie dadurch weiter nach hinten. Sie waren unfaire Kämpfer, zogen sich gegenseitig an den Haaren, verteilten Schläge unter die Gürtellinie und schüttelten einander auf übelste Weise. Als ich schon dachte, jetzt käme es gleich zu Blutvergießen, zog ihre Mutter sie endlich auseinander und verpasste dabei jedem eine schallende Ohrfeige. Schließlich verließ das Trio unverrichteter Dinge den Raum.

Ich weiß nicht, wie lange ich noch in dieser Truhe liegen blieb, wie gelähmt vor Angst, sie könnten zurückkommen. Als ich endlich den Mut aufbrachte, mein Versteck zu verlassen, schoss ich die Treppe hinauf wie ein Stein aus einer Schleuder und rannte, bis ich in der Squid’s Gate Alley war. Ich war maßlos enttäuscht von dem ganzen Unterfangen und bei der Lösung des Rätsels hatte es mich um keinen Schritt weitergebracht.

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