Kapitel 7

Kein schlechtes Gewerbe

Juno stand an dem kleinen Fenster, durch das Tageslicht in ihr Zimmer fiel.

Viel Licht gibt es nicht in dieser Stadt, dachte sie traurig, während sie auf den grauvioletten Himmel hinausschaute. Urbs Umida lag schon seit Stunden in tiefer Nacht. Ab und zu kam der Mond hinter den Wolken hervor, verbarg sich jedoch immer schnell wieder, als könne nicht einmal er es ertragen, auf diese Stadt hinunterzublicken. Es schneite wieder. Durch das Fenster spürte Juno einen eisigen Luftzug hereindringen, deshalb klappte sie die Läden zu und legte eine Holzlatte vor. Nun kam das einzige Licht im Raum vom Kaminfeuer neben dem Bett und von den beiden Kerzen an den gegenüberliegenden Wänden.

Juno legte ihren Umhang ab und hängte ihn an einen Nagel an der Tür, dann ging sie zum Feuer und streckte ihre zitternden Hände über die Flammen. Mehrmals machte sie Anstalten, sich umzudrehen, hielt aber immer wieder mitten in der Bewegung inne, bis sie sich schließlich doch wie von selbst auf den Boden niederließ und mit einem Griff unter das Bett einen kleinen braunen Lederkoffer hervorzog. Sie nestelte an den Schnallen, doch ehe sie sie öffnen konnte, klopfte es an der Tür und sie fuhr erschrocken zusammen. Schuldbewusst schob sie den Koffer zurück, erst dann rief sie: »Ja, bitte!«

Ein alter Mann streckte den Kopf zur Tür herein. Sein Gesicht war grau und fahl, und unter den Augen lagen dunkle Ringe.

»Benedict«, rief Juno. »Du siehst entsetzlich aus!«

»Vielen Dank«, sagte er und lachte mühsam, während er ans Feuer trat und sich auf den Stuhl setzte. »Es sind die Stufen«, sagte er. »Die sind noch mal mein Tod.«

»Vielleicht kann ich dir was geben. Ich habe viele Heilmittel …«

Benedicts Blicke wanderten zum Bett hin, unter dem noch eine Ecke des Koffers zu sehen war. Er zog die Brauen hoch. »Danke, nein«, sagte er. »Gegen meine Beschwerden gibt’s kein Mittel; kein Kraut hilft gegen das Vergehen der Zeit. Und du, du verlässt dich zu sehr auf sie.«

»Schimpf nicht mit mir«, fing Juno an, aber Benedict wurde ohnehin von einem solchen Hustenanfall geschüttelt, dass er erst nach einer Weile wieder sprechen konnte.

»Das Wetter ist schlechter geworden.«

Juno lächelte. »Bist du deshalb heraufgekommen? Um über das Wetter zu reden?«

»Nein. Es ist etwas anderes. Etwas Wichtiges.«

»Ich glaube, ich weiß es«, sagte sie ruhig.

»Ich bin kein gesunder Mann mehr, Juno. Für mich ist’s an der Zeit, mit all diesem Umherziehen aufzuhören. Das liegt nun hinter mir. Ich habe ein bisschen Geld gespart, genug, um halbwegs davon leben zu können, und für dich habe ich auch etwas.«

Juno schüttelte den Kopf. »Ich will dein Geld nicht.«

»Es ist nicht meins«, sagte er. »Es ist unseres. Du hast dafür genauso viel getan wie ich, wenn nicht mehr.« Er lachte. »Wo wäre ich schließlich ohne meine Helferin? Ich, Benedict Pantagus, ein unbedeutender Knochenmagier und Totenerwecker.«

Juno wollte widersprechen, doch Benedict bedeutete ihr zu schweigen. »Du könntest natürlich bei mir bleiben«, sagte er, doch Juno hörte aus seiner Stimme, dass er fand, sie solle sich lieber anders entscheiden. »Aber du bist noch jung. Du solltest aus dieser grässlichen Stadt weggehen.«

»Und was ist mit Madame de Bona?«

»Nimm sie mit«, sagte Benedict. »Sie hat dir gute Dienste geleistet. Es ist kein schlechtes Gewerbe. Du kannst dir jemand anders suchen, der dir hilft.«

»Kein schlechtes Gewerbe?«, sagte Juno und lachte kurz auf. »Bist du wirklich dieser Meinung?«

»Du etwa nicht?« Benedict schien gekränkt.

»Es hat nichts mit dir zu tun«, versicherte Juno eilig. »Es liegt an mir. Unsere Vorstellungen sind so erfolgreich wie immer. Diese Leute aus Urbs Umida haben anscheinend einen unstillbaren Hunger nach Madame de Bonas Prophezeiungen. Nur manchmal …« Sie stockte.

Benedict nickte. »Ich verstehe dich. Es ist kein leichtes Leben, aber vergiss nicht, du und ich, wir geben diesen Leuten etwas, das ihnen wichtig ist.«

»Aber manche von ihnen leiden«, sagte Juno. »Sie stellen Fragen, die sie wirklich quälen.«

»Und wir befreien sie von dieser Qual.«

»Vielleicht.«

»Gehen sie nicht jedes Mal glücklich weg?«

Nachdenklich kaute Juno auf ihrer Lippe. »Ja, und um ein Sixpencestück ärmer. Geld, das sie sich kaum leisten können.«

Benedict sah sie an, dann sagte er leise: »Menschen brauchen Trost und Hilfe, gleichgültig in welcher Form. Manchmal frage ich mich, Juno, wie du überleben willst – du hast so ein weiches Herz.«

»Das finde ich gar nicht«, erwiderte Juno leicht betroffen, doch nicht von seinen Worten, sondern von dem Umstand, dass er näher an der Wahrheit war, als er ahnte.

»Dieses Gespräch hatten wir früher schon«, sagte Benedict mit Bestimmtheit. »Wir sind weder Betrüger noch Taschendiebe, die auf der Straße herumlungern. Immerhin geben wir den Leuten etwas für ihr Geld.«

Juno schwieg. Benedict betrachtete sie eine Weile aufmerksam. »Weißt du, Juno, ich glaube, du bist in Gedanken bei ganz anderen Dingen.«

»Mag sein«, räumte sie ein. »Und ich denke, es ist vielleicht an der Zeit, dass ich mich mehr um diese Dinge kümmere.«

Benedict stand auf und nahm ihre Hand. Seine Knöchel waren rot und geschwollen, und auf seinen Wangen brannten tiefrote Flecken. »Wenn dir das wirklich wichtig ist, werde ich dich nicht zurückhalten. Aber vielleicht bin ich dann nicht mehr bei dir, deshalb erlaube mir wenigstens, dir zu helfen. Nimm das Geld.«

Juno lächelte. »Du hast schon genug für mich getan. Du hast mich von Anfang an vor dieser Stadt beschützt.«

»Dasselbe könnte ich von dir behaupten. Egal. Denk nach über das, was ich dir gesagt habe. Du musst jedenfalls nicht aufgeben; du hast die Wahl. Nur bedenke es gründlich, ehe du dich entscheidest.«

Juno nickte. »Und was ist mit dir? Wirst du wieder zu Kräften kommen?«

»Mir wird es gut gehen, sobald ich mich ausgeruht habe«, sagte Benedict, ihre Frage absichtlich missverstehend. Er drehte sich zur Tür um und warf Juno noch einen kritischen Blick zu. »Aber du musst dich auch ausruhen. Diese Stadt laugt die Menschen aus.«

Er ging und Juno wandte sich wieder dem Feuer zu. Benedict hatte ihr nur gesagt, was sie bereits wusste. Er brauchte Ruhe, regelmäßig zu essen und eine Bleibe für den Winter. Einen besseren Ort als Mrs Hoadswood’s Pension würde er nicht finden. Doch Juno ließ die Vorstellung, in Urbs Umida zu bleiben, das Blut in den Adern stocken.

»Ich muss hier weg!«, sagte sie entschieden.

So stand sie eine Weile tief in Gedanken versunken. Die Vorstellungen mit Madame de Bona waren im Grunde genommen nicht so schlecht – zweifellos konnten sie als Unterhaltung durchgehen –, aber diese geheimniskrämerischen Totenerweckungen, das war etwas ganz anderes. Sie bereiteten ihr großes Unbehagen. Die Sache mit Sybil hatte sie gar nicht machen wollen, aber Benedict hatte sie überredet. Sie dachte an den Jungen, den sie unter Drogen gesetzt hatten. Jemanden zu verletzen war nie ihre Absicht gewesen. Sie konnte seine Augen nicht vergessen, eins grün, eins braun.

Juno ging im Zimmer auf und ab. In ihrem Kopf begann ein schwerer Kampf. Wieder zog sie den Koffer hervor und legte ihn vor dem Feuer auf den Boden. Sie hatte bereits die Riemen gelöst, da stand sie noch einmal auf und trat ein paar Schritte zurück, doch den Koffer ließ sie dabei nicht aus den Augen. Schließlich stieß sie einen gequälten Seufzer aus, kehrte um, schlug mit zitternden Händen den Deckel zurück und holte tief Luft, als sie die Reihe der Päckchen und Töpfe darin begutachtete.

Da gab es Tonkrüge und gewachste Baumwollsäckchen, zugekorkte Glasflaschen, weiche Lederbeutel und bauchige Henkelgefäße mit Stöpseln. Juno strich mit den Fingern über die verschiedenen Sachen, dann nahm sie einen kleinen hölzernen Mörser mit Stößel heraus. Rasch und mit geübten Griffen streute sie aus einem der Säckchen Pulver und aus einem anderen zerkleinerte Blätter in den Mörser. Danach gab sie vorsichtig drei Tropfen einer bernsteingelben Flüssigkeit dazu und zerdrückte die Mischung zu einer Paste. Sie schabte die Paste in einen kleinen Tiegel, den sie über das Feuer hängte. Dann legte sie sich auf ihr Bett, inhalierte den Wohlgeruch und ließ sich in köstlich duftende Träume tragen.

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