Kapitel 25

Das Gefräßige Biest

Der Flinke Finger war zum Bersten voll mit ausgelassen Feiernden. In abgetrennten Nischen drängten sich Frauen und Männer und machten zweifelhafte Geschäfte. So lebhaft war das ganze Hin und Her, das Nicken und Zwinkern und Schubsen, dass man an eine Vogelschar erinnert wurde, die sich auf einem Dachfirst drängelt. Seltsame Arten des Zeitvertreibs waren zu beobachten; diese Woche war Rüsselkäfer-Rennen die Lieblingsbeschäftigung, und natürlich fanden Glücksspiele aller Art statt. Wie immer gab es Lachen und Triumphgeschrei und verzweifelte Ausrufe, je nachdem, ob Geld gewonnen oder verloren wurde. Es war nur eine Frage der Zeit, bis Getränke über Köpfe gekippt würden, bis Stühle fliegen und Raufereien ausbrechen würden.

Pin ging hinter Juno und sah, wie sich ein Mann, der im Gegensatz zu seinen Kameraden recht prahlerisch gekleidet war, den Schweiß von der gerunzelten Stirn wischte. Nach seinem Äußeren zu schließen, wohnte er wahrscheinlich außerhalb der Stadtmauern. Er hatte ein Blatt Karten in der Hand.

Witternd sog Pin die Luft ein. Du verlierst, dachte er, und zwar schwer.

In diesem Augenblick stöhnte der Mann laut auf und vergrub sein Gesicht in den Händen.

»Zahlen, Mr Ratchet«, knurrte sein einäugiger Gegner, zweifellos ein Seemann, wie sich an dem schmuddeligen Halstuch und dem Ohrring erkennen ließ. Aus seinem Gürtel ragte der Griff seines gekrümmten Messers. Ratchet grub in seinen Taschen und fing an, den Inhalt auf den Tisch zu schütten – aber nicht schnell genug. Im Nu hatte ihm der Seemann sein Messer an die Kehle gesetzt. Damit schien er seinen Zechbruder zu überzeugen, dass Eile geboten war. Der Matrose fing Pins Blick auf und ein Grinsen breitete sich langsam über sein wettergegerbtes Gesicht. Pin zog den Kopf ein und ging hastig weiter. Wenn dieser Ratchet nach Angst roch, so roch der Seemann nach Unberechenbarkeit.

Am hinteren Ende der Schenke stießen sie auf Rudy Idolice, der zusammengesunken auf seinem Stuhl saß. Auch er hatte einen durchdringenden Geruch an sich, und zwar den nach ungewaschenen Achselhöhlen. Er öffnete ein Auge, brachte ein Lächeln zustande, wobei er seine schwarzen Zahnstummel entblößte, und streckte die Hand aus.

»Sechs Pence pro Person«, brummte er. »Die Augen werden euch aus den Köpfen fallen«, behauptete er kurz angebunden, während sich seine zitternden Finger um das Geld schlossen. »Ich garantiere euch, was ihr da unten zu sehen kriegt, habt ihr noch nie gesehen!« Seine Stimme erstarb, der kurze Funke von Begeisterung war wieder erloschen. Das Geschäft mit dem Gefräßigen Biest lief von selbst.

Rudy zeigte mit einer Hand auf das Warnschild von Betty Peggotty und zog mit der anderen den Vorhang beiseite. Dann stieß er die beiden gewissermaßen die Treppe hinunter.

Das Biest saß oder lag – das ließ sich wegen der Dunkelheit schwer sagen – in seinem Käfig hinter dicken Eisenstäben. Sie waren so nebeneinander angebracht, dass ein Mensch gerade noch die Hand hindurchstecken konnte. Vorn im Käfig, direkt hinter den Stäben, war der feuchte Lehmboden mit Heu und Sägemehl bestreut sowie mit den Überresten von etwas, das wie ein Schwein aussah. Fliegen umkreisten das Fleisch und setzten sich darauf, augenlose Maden krochen darüber. In der anderen Ecke war ein großes Strohlager. Es wirkte dicht zusammengepresst, als hätte ein schweres Gewicht daraufgelegen. Daneben stand ein Trog, halb gefüllt mit abgestandenem, von einer grünlichen Schimmelschicht überzogenem Wasser. Vor dem Käfig war der Boden regelrecht platt getreten von all den scharrenden und schabenden Füßen, die den ganzen Tag über hier standen. Und die feuchten Steinmauern warfen die staunenden Rufe und Seufzer derer zurück, die hierherkamen, um in den Käfig zu glotzen und sich über die Kreatur auszulassen.

Juno und Pin standen hinter der kleinen Menschenansammlung, die sich vor dem Käfig drängte. Das Biest jedoch hatte seinem Publikum den breiten behaarten Rücken zugekehrt und verharrte unerschütterlich in regloser Haltung. Auch Zurufe wie »He, Biest!« oder »He, du haariger Kloß!« und ähnliche Begrüßungen konnten es nicht aus der Ruhe bringen.

»Vielleicht schläft’s ja«, sagte einer vorsichtig, ein kleiner Kerl mit einem großen Hut.

»Oder es is beleidigt«, sagte ein anderer und warf eine Möhre durch die Stäbe, die das Tier an der Schulter traf. Es rührte sich kaum.

»Glaube nur nicht, dass es Gemüse frisst«, sagte der mit dem Hut. Er hatte gerade das halb verrottete Fleisch im Käfig entdeckt.

»Egal, ich hab gutes Geld für das hier bezahlt«, sagte ein Dritter und hob einen langen, an einem Ende angespitzten Stock auf, der günstigerweise auf dem Boden lag (man fragt sich, ob er nicht extra zu diesem Zweck dorthin gelegt worden war). Und unter den begeisterten Zurufen der Männer und dem erschreckten Luftschnappen der Frauen schob er ihn zwischen den Stäben hindurch und stieß mit dem spitzen Ende gegen das ausladende Hinterteil des Biests. Ein schwaches Zucken, eine Fliege summte, sonst nichts.

»Noch mal, Charlie«, drängten seine Freunde. »Stoß es doch noch mal an!« Jeder in der Gruppe wünschte insgeheim, er wäre derjenige gewesen, der den Stock gefunden hatte. Und doch war jeder auch gleichzeitig erleichtert, dass er ihn nicht als Erster entdeckt hatte. Charlie, dem nun klar wurde, dass er seine Freunde nicht enttäuschen durfte, führte noch einmal den Stock durch die Stäbe und stieß das Wesen so kräftig, dass er Mühe hatte, den Stock zurückzuziehen. Die Wirkung zeigte sich prompt.

»AAARRRGH!«, brüllte das Biest. Im Nu war es aufgesprungen, schnellte herum und warf sich gegen die Stäbe, dass der ganze Raum von der Wucht des Aufpralls widerhallte. Charlie und seine Freunde sprangen geschlossen zurück, schreiend und kreischend, dann lösten sie sich voneinander und stürmten die Treppe hinauf. Jeder gesellschaftliche Anstand war abgelegt, und Männer und Frauen – es handelte sich gewiss nicht um Damen und Herren – stießen und drängten hinauf und zogen Juno und Pin mit sich.

Das Gefräßige Biest richtete sich zu voller Größe auf, mehr als zwei Meter, umklammerte mit seinen Pranken die Stäbe und rüttelte daran. Wieder brüllte es, wobei es seine gelblichen Zähne samt vier langen braunen Reißzähnen fletschte. Speichel sammelte sich hinter der unteren Zahnreihe, bis er überlief und in langen schleimigen Fäden aus seinem Maul rann.

Doch jetzt war es wieder allein in seinem stinkenden Gefängnis. Sein Publikum war weg, ohne viel mehr als die Spuren von flüchtenden Stiefelabsätzen zu hinterlassen. Auf dem Boden lag ein kleines Spitzentaschentuch. Die Kreatur betrachtete es eine Weile nachdenklich, dann schob sie mühelos den Arm durch die Stäbe und hob es auf. Sie führte das Tüchlein an die Nase und roch daran. Zwischen seinen Falten hing noch ein schwacher Lavendelduft. Mit einem dumpfen Laut setzte sich das Monsterwesen und starrte mit leerem Blick vor sich hin. Lavendel war im Frühjahr immer auf seinem Berg gewachsen.

Dem Biest fiel eine plötzliche Bewegung aus dem dunklen Winkel unter der Treppe in die Augen und es stieß ein tiefes Knurren aus. Eine schattenhafte Gestalt trat furchtlos an den Käfig heran, lehnte sich gegen die kühlen Eisenstäbe und sprach sanft und eintönig flüsternd zu dem Geschöpf. Ob es zuhörte oder nicht, war schwer zu sagen. Es ließ jedenfalls nichts davon erkennen. Nach einer Weile entfernte sich die Gestalt, stieg die Treppe hinauf und war verschwunden. Alles war wieder still, bis auf das hohe Summen einer Fliege und das Grollen aus dem Magen des Biests.

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