Kapitel 8

Ende in den Wellen

DAS GEFRÄSSIGE BIEST

Betty Peggotty, Eigendümerin Einsizerin Besizerin vom Wirtshaus Zum Flinken Finger kann nich verantwortlich gemacht werden für ein Nervenzusammenbruch, Schlaganfall oder ähnliche Leiden, was vielleich die Folgen sein könn für Gäste, die sich mit dem Gefräßigen Biest abgeben (das heißt, es beobachten, mit ihm sprechen oder es füttern). Besucher mit angegrifener Gesundheit oder mit schwachem Herzen werden ausdrüklich darauf hingewiesen, dass sie auf eigene Gefahr da reingehen.

Das Gefräßige Biest is eine ungeheuerliche Abweichung von der Natur, deshalb kann man es nich zähmen und auch nich vernünftig mit ihm reden.

Fragen sinn an sein Besitzer, Mr Rudy Idolice, zu richten (sitzt auf dem Stuhl neben dem Vorhang).

Anordnung von Betty Peggotty

Harry Etcham war stolz darauf, ein gewöhnlicher Urbs Umidaner zu sein, geboren und aufgewachsen südlich des Foedus und von Anfang an vertraut mit dem Gestank, dem Schmutz und dem Alltag der Südstädter. Wie viele andere meisterte er sein Leben mit Schlagfertigkeit, angeborener Gerissenheit und einer merkwürdigen – sehr merkwürdigen – Auffassung von ehrlicher Arbeit. Am Ende des Tages trank er gern ein oder auch drei Bierchen in der nächsten Wirtschaft, meistens im Flinken Finger, und damit ist schon alles Wesentliche über ihn gesagt.

An diesem Abend hatte Harry auf Empfehlung seiner Freunde, aber auch, um seine Neugier zu stillen, beschlossen, sich das Gefräßige Biest anzuschauen. Immerhin hatte er einen in seinen Augen sehr erfolgreichen Tag hinter sich. Nicht nur, dass er zwei Zwiebeln und eine Möhre gefunden hatte, die noch essbar waren (nach seinen Maßstäben) und die später in seinem Eintopf landen würden. Es war ihm außerdem gelungen, acht Pennys aus dem Hut eines blinden Bettlers zu stehlen. Er fühlte sich in Feierlaune, obwohl er noch keinen Tropfen getrunken hatte.

Nun stand er schwerfällig vor der an die Wand gehefteten Mitteilung. Er buchstabierte und las, so gut es ging, und verstand immerhin so viel, dass er sicher sein durfte, weder unter einem schwachen Herzen noch unter einer angegriffenen Gesundheit zu leiden. Wie aus den Zeilen zu entnehmen war, saß der Besitzer der Bestie auf einem Stuhl ganz in der Nähe, und so drückte er dem Mann ein Sixpencestück in die Hand und stieg die Treppe hinter dem Vorhang hinab. Der Gestank, der ihm entgegenschlug, war schier überwältigend und passte zum Foedus. Vergeblich suchte Harry nach einem Taschentuch, das er sich unter die lange Nase hätte halten können, und begnügte sich deshalb mit seinem Kragen. Der Kellerraum war nur spärlich beleuchtet, doch als Harry auf der untersten Stufe stand, hatten sich seine Augen an das Halbdunkel gewöhnt. Kaum drei Schritte vor ihm war ein vergitterter Käfig. In der hinteren Ecke erkannte er eine massige, unförmige Gestalt. Er lauschte angestrengt und hörte etwas grunzen und kauen, knacken und fauchen. Dann ein lautes feuchtes Niesen. Angeekelt spürte er einen Schwall Spucketropfen in seinem Gesicht – er wagte nicht sich auszumalen, was sonst noch dabei sein könnte.

Während er so beobachtete und horchte, merkte er, dass er nicht allein im Raum war. Auf der einen Käfigseite, nahe der Rückwand, stand ein Mann. Das schloss Harry aus dem Umriss des Hutes, denn der Mann selbst war dunkel gekleidet, ziemlich formlos und kaum identifizierbar. Er hatte den Kopf an die Gitterstäbe gelehnt und schien der Kreatur etwas zuzuflüstern. Harry konnte die Worte nicht verstehen, deshalb ging er näher heran, stolperte jedoch über einen Stock und krachte mit einem dumpfen Schlag gegen den Käfig. Die geheimnisvolle Gestalt fuhr zusammen und hastete augenblicklich mit gesenktem Kopf in Richtung Treppe, ohne Harry auch nur einer Geste oder eines Grußes zu würdigen.

Leicht irritiert vom plötzlichen Verschwinden des Mannes wandte Harry seine Aufmerksamkeit wieder dem Käfig zu. Er konnte die Bestie jetzt etwas besser sehen, doch sie nahm seine Anwesenheit überhaupt nicht wahr und setzte ihr grässliches Mahl fort.

»He«, sagte Harry halbherzig. Dafür hatte er doch wohl kein Sixpencestück ausgegeben. »He!«, rief er lauter. Immer noch keine Reaktion. Gerade suchte er auf dem Boden nach einem Gegenstand, mit dem er das Vieh kitzeln könnte, da schoss die Bestie auf einmal blitzschnell von der Rückwand des Käfigs zur Vorderseite und warf sich gegen die Gitterstäbe. Plötzlich fand sich Harry Auge in Auge mit dem wohl absonderlichsten Geschöpf, das er je zu Gesicht bekommen hatte. In seinem Leben in Urbs Umida und in den Kreisen, in denen er verkehrte, hatte er mehr als genug absonderliche Gestalten gesehen, aber diese hier übertraf alle.

Das Gefräßige Biest riss sein riesiges Maul auf und brüllte. Seine Zähne waren bräunlich und gelb, Geifer tropfte ihm über die Unterlippe. Sein Gesicht war dicht behaart und hatte blutunterlaufene Augen mit riesengroßen Pupillen. Eine der haarigen Hände – oder waren es Pranken? – hielt Harrys Kragen mit festem Griff gepackt. Doch ob es nun Hände oder Pranken waren, interessierte Harry in diesem Moment nicht im Geringsten.

»Aaarrggh!«, schrie er, fuhr herum, riss sich aus den Klauen des Monsters los und rannte um sein Leben die Treppe hinauf. Er hastete durch den Vorhang, während der Mann, der auf dem Stuhl saß, ein Auge öffnete und mit kaum verhülltem spöttischen Grinsen hinter ihm herschaute. Dass Leute so reagierten, hatte Rudy Idolice schon oft erlebt, das war nur gut fürs Geschäft.

Draußen auf der Brücke stolperte Harry den Bürgersteig entlang und konnte sich überhaupt nur dadurch im Gleichgewicht halten, dass er einen Fuß immer wieder schwer im Rinnstein aufsetzte. Sein Fuß versank dabei bis zu den Knöcheln im zähen Morast. Er fluchte, als er den Zustand seiner Stiefel sah, und erst recht, als das eiskalte Wasser durch die geplatzten Nähte und durch die Löcher für die Schnürbänder drang. Um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, fuhr auch noch ein Wagen mit hoher Geschwindigkeit vorbei, dessen Räder ihn voll Dreck spritzten. Er knirschte mit den Zähnen und klopfte sich in vergeblichem Bemühen, sich zu säubern, Hemd und Hosenbeine ab.

Harry schwitzte stark, und im Magen hatte er ein Gefühl, als hätte sich dort etwas verknotet, das sich nur schwer würde lösen lassen. Die Geräusche der wilden Bestie dröhnten noch jetzt in seinem Kopf. Das Schlürfen und Rülpsen, das Knacken von Knochen. Und der Gestank! »Bei Gott!«, schimpfte er vor sich hin, wobei sich sein Atem um ihn wölkte. »Was für ein höllischer Gestank!«

Das letzte Mal, als Harry etwas ähnlich Widerliches gerochen hatte, lag ein paar Jahre zurück. Damals hatte im Hochsommer drei Tage und Nächte lang kein Lüftchen über der Stadt geweht und der Fluss war fast zum Stillstand gekommen.

Er machte sich auf den Heimweg und fiel dabei unbewusst in die eigentümliche Gangart, die für alle Einwohner von Urbs Umida typisch war: gesenkter Blick und instinktiv auf der Hut vor den buckligen Pflastersteinen und Schlaglöchern unter den Füßen. Wenigstens schneit’s nicht, dachte er. Und während er so dahinging, verfolgten ihn die Visionen dessen, was er eben gesehen hatte. Tief sog er die kalte Nachtluft in die Lungen. »O Herr im Himmel«, stieß er ein ums andere Mal aus. Sich vorzustellen, dass manche Leute immer wieder dorthin gingen, um sich das Vieh anzuschauen! »Wie können sie das tun?«, überlegte er laut. »Und warum?« Doch schon fing er an, selbst einen zweiten Besuch in Erwägung zu ziehen. Konnte die Bestie denn tatsächlich so abschreckend gewesen sein? Vielleicht würde er noch einmal hingehen, in einer Woche oder so, vielleicht in ein paar Tagen, nur um sich zu überzeugen, dass ihm seine Fantasie keinen Streich gespielt hatte …

Den Kopf tief gesenkt gegen den beißenden Wind, bemerkte Harry den Mann nicht, der aus einer Seitengasse kam und neben ihm herging.

»So habt Ihr es also gesehen?«, fragte der Mann.

Erschrocken blieb Harry stehen und sah auf, doch weil sich ausgerechnet in diesem Augenblick der Mond hinter den Schneewolken verbarg und die nächste Straßenlampe ein Stück entfernt war, wirkte die Gestalt neben Harry nur wie ein Schatten an der Mauer.

»Gesehen? Was?«

»Das Biest«, raunte sein unbekannter Begleiter.

»Ja«, sagte Harry, erleichtert, es laut aussprechen zu können. »Ich habe das Gefräßige Biest gesehen.« Ihm war, als hätte er gerade vor einem Priester gebeichtet. Zumindest stellte er sich dieses Gefühl so vor, denn eine Kirche hatte er seit zwanzig Jahren nicht mehr von innen gesehen.

»Und? Wie war’s?«

Harry runzelte die Stirn. »So abscheulich, dass es mir glatt den Appetit verdorben hat.«

»Erklärt mir«, sagte der Mann, »was hat das Biest an sich, dass Ihr’s unbedingt sehen wollt?«

»Na ja«, sagte Harry und ging langsam weiter. »Ich kann nicht sagen, was es genau ist. Aber es ist wie mit allem Hässlichen: Man will eigentlich wegschauen, aber man kann nicht.«

»Man kann nicht?«, sagte der Fremde zweifelnd.

»Es ist schwierig zu erklären«, sagte Harry fast entschuldigend. »Warum fragt Ihr?«

Der Mann schien ihn nicht zu hören. »Seid Ihr der Meinung, das Biest sollte als Ausstellungsstück dienen?«

»Warum nicht?«, erwiderte Harry, inzwischen ein wenig verunsichert. Es kam nicht oft vor in der Stadt, dass ein vollkommen Fremder eine Unterhaltung anfing. Normalerweise beschränkten sich solche Gespräche auf ein drohendes »Geld her!«. Unter anderen Umständen – das heißt, wenn Harry nicht nach einer derart aufwühlenden Erfahrung unter Schock gestanden hätte – wäre er wahrscheinlich weggelaufen. »Was kann jemand oder etwas wie das Gefräßige Biest denn sonst tun?«, sagte er. »Hat Gott solche Kreaturen nicht zu unserer Belustigung erschaffen? Sie sind eine Mahnung für uns alle, dem Herrn zu danken, dass es nicht uns getroffen hat. Arme Teufel!« Für einen unreligiösen Menschen war Harry in diesem Moment ungewöhnlich stark mit Gott befasst.

»Meint Ihr, dass sich dieses Tier gern anglotzen lässt?«

Allmählich ging Harry dieses Verhör auf die Nerven. »Die Leute brauchen nun mal ihre Unterhaltung. Ich habe bezahlt, um das Biest anzuschauen, und ich habe es gesehen. Und überhaupt muss ich jetzt nach Hause, also gute Nacht.«

Genau diesen Augenblick wählte der Mann, um sich Harry in den Weg zu stellen. Verärgert darüber und ein wenig erschrocken bog Harry in die kurze Gasse zu seiner Rechten, die zum Fluss hinabführte. Er ging schnell, ahnte aber, dass der Mann ihm folgte; er konnte Schritte im gefrorenen Schnee knirschen hören und gleichzeitig vernahm er ein eigenartig schwirrendes Geräusch. Mit dem Rücken zum Fluss gewandt drehte Harry sich um und fragte den näher kommenden Fremden angriffslustig: »Warum folgt Ihr mir?«

»Ihr habt mir alles gesagt, was ich wissen wollte«, erwiderte der Mann, womit er Harrys Frage zum zweiten Mal einfach überging. »Und ich danke Euch, dass Ihr Euch Zeit genommen habt.« Dann, ehe Harry begriff, wie ihm geschah, stieß ihm sein Verfolger einen kurzen Stock gegen den korpulenten Bauch. Harry spürte einen plötzlichen Schmerz durch seinen Körper schießen, sodass er krampfhaft seine Brust umschlingen musste und unwillkürlich zurückwich, fassungslos, außer Atem. Wieder hörte er das Schwirren.

»Was … was … ist das?«, keuchte er.

»Nichts, was Ihr je erfahren werdet«, kam die Antwort.

Dann spürte Harry einen zweiten überraschenden Schlag und stürzte gegen die Mauer. Sein Kopf hing schon über dem Wasser, unter sich konnte er den Foedus hören und riechen. Blitzschnell schob ihm der Mann etwas in die Westentasche, und dann spürte Harry, wie kräftige Hände um seine Fußgelenke griffen und ihn über die Mauerkante hievten. Sein letzter Gedanke war: Was ist das in meiner Tasche? Eine Möhre oder eine Zwiebel jedenfalls nicht. Das Wasser klaffte auseinander wie ein Riss in billigem Stoff, nur um sich sofort wieder über ihm zu schließen. Danach war der Schnitt wie von unsichtbarer Hand geflickt und Harry sank ins Vergessen.

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