Kapitel 15

Beag Hickory

Ob nun die Rote Hickory tatsächlich die bevorzugte Sorte eines Kartoffelweitwerfers ist oder nicht, wahr ist, dass niemand an Beag heranreichte, wenn es darum ging, mittelgroße schwere Gegenstände durch die Luft zu schleudern. Und es war nicht nur die Entfernung, es war auch die Zielgenauigkeit, mit der er warf.

Beag war ein Mann mit vielen Talenten. Er hatte sein Heimatdorf als junger Mann verlassen, um die Welt zu sehen, um zu lernen und sein Glück zu suchen. Seinen Mangel an Körpergröße ließ er nicht zum Hindernis werden und im reifen Alter von vierundzwanzig Jahren hatte er zwei seiner drei Vorsätze erreicht. Er hatte ausgedehnte Reisen unternommen und hinterher Lieder und Gedichte darüber geschrieben. Aluph hatte nicht unrecht, wenn er behauptete, sein Freund sei geistig ein Riese. Beag hatte sich Kenntnisse angeeignet, die nur wenige Urbs Umidaner glauben, geschweige denn sich merken würden, und er hatte schon mehr vergessen, als die meisten von ihnen je wissen würden. Nur mit dem dritten Plan, der Sache mit dem Glück, war er nicht recht vorangekommen. Von allem, was er gelernt hatte, war die Erkenntnis, dass sich mit Dicht- und Gesangskunst kein Geld verdienen ließ, die schwerste gewesen. Doch vielleicht konnte er seinen Lebensunterhalt ja mit Kartoffelweitwerfen bestreiten. Das war eine Begabung, die der unterentwickelten Fantasie der Urbs Umidaner wahrscheinlich mehr entgegenkam.

Beag war vor zwei Wintern in die Stadt gekommen. Er hatte kaum mehr dabeigehabt als die Kleider, die er am Leib trug, die Schuhe an seinen Füßen und einen alten Lederbeutel mit breitem Riemen, den er sich vor die Brust geschnallt hatte. Dieser Beutel enthielt unter anderem seine Werke: Gedichte und Lieder – größtenteils romantisch und tief melancholisch –, die er gern vortrug und von denen er hoffte, eines Tages damit Anerkennung zu finden.

Als er damals vor den Stadtmauern ankam, war es spätabends, und er ging so lange daran entlang, bis er eines der vier bewachten Eingangstore erreichte. Unglücklicherweise war es das Nordtor, das natürlich in den nördlichen Teil der Stadt führte. Kaum hatten die Wachen seine schäbige Kleidung und seine feuchte Wollmütze gesehen, kaum hörten sie den fremden Akzent in seiner Stimme, war es für sie beschlossene Sache, ihm den Zutritt zu verwehren. Sie traten einen Schritt vor, höchst aggressiv und unfreundlich, und versperrten ihm mit ihren gekreuzten Musketen den Weg. Doch wegen Beags geringer Größe kreuzten sich die Musketen vor seinem Gesicht. Die Wachen senkten also die Waffen etwas, blieben in unbequemer Stellung vornübergebeugt stehen und fragten nach Beags Absichten.

»Mein Name ist Beag Hickory«, sagte er stolz, »und ich komme in Eure schöne Stadt, um mein Glück zu machen.« Er verstand nicht, warum diese Ankündigung solche Heiterkeit bei den Wachposten auslöste.

»Oho!«, rief der Hässlichere der beiden. »Und wie gedenkt Ihr das anzustellen?«

Beag richtete sich zu voller Größe auf, indem er sich verstohlen auf die Zehenspitzen stellte und gleichzeitig den Zipfel seiner durchweichten Mütze hochzog (er fiel augenblicklich wieder herunter). »Ich bin Dichter, Gelehrter, Unterhaltungskünstler, Geschichtenerzähler …«

»Dann bist du hier am verkehrten Tor«, unterbrach ihn der zweite Wachposten missmutig.

»Ist das denn nicht Urbs Umida?«, fragte Beag.

»Doch. Aber du bist trotzdem am falschen Tor. Versuch’s mal südlich vom Fluss«, sagte der erste Wachmann, der es nicht einmal für nötig hielt, sein Gähnen zu unterdrücken. »Da unten wirst du mehr Leute deinesgleichen finden – besser gesagt, mehr kleinesgleichen.« Über diese witzige Anspielung mussten die zwei Männer herzhaft lachen.

Beag zog die Stirn kraus. »Was meint Ihr mit ›meinesgleichen‹

»Hungerleider, Ehrgeizlinge, Zirkuskünstler«, antwortete der Torwächter, und seine Stimme klang jetzt unnachgiebig.

»Versuch’s im Flinken Finger, auf der Brücke«, sagte der andere. »Betty Peggotty, die Wirtin, stellt manchmal seltsame Kreaturen aus.« Von dieser Bemerkung bekam der andere Wächter einen derartigen Lachkrampf, dass er nicht mehr sprechen konnte.

Beag, der gelernt hatte, wann man beharrlich bleiben und wann man besser nachgeben sollte, schätzte diesen Augenblick zu Recht als einen zum Nachgeben ein. »Nun gut«, sagte er und zog sich zurück. Seine Würde war unversehrt geblieben, nur auf seiner Weste zeugte ein schwacher Fleck Schießpulver von dem unsanften Stoß mit den Musketen. »Der Flinke Finger, sagt Ihr? Nun, vielleicht sehen wir uns dort. Ich wünsche Euch eine gute Nacht und alles Gute.«

Und so fand Beag kurz darauf Einlass durch das Südtor, wenn auch nicht ganz so großartig, wie er es erhofft hatte. Die Wachen dort winkten ihn durch, ohne ihn auch nur eines zweiten Blickes zu würdigen. Beag entging nicht, dass der Geruch südlich des Foedus ganz besonders unangenehm war, und es dauerte nicht lange, bis ihm klar wurde, dass es am Fluss selbst liegen musste. Gewiss, auch die Straßen waren schmutzig und voller Abfälle, das meiste davon Gemüsereste und tierische Überbleibsel, doch dieser Geruch, bei dem er unwillkürlich die Nase rümpfen musste, ging eindeutig vom Fluss aus. Beag hielt sich am Ufer des Foedus, da er logischerweise annahm, die gesuchte Brücke müsse hier irgendwo sein. So kam er zum Marktplatz. Die Markthändler packten gerade zusammen, doch es liefen noch viele Leute auf dem Platz herum und suchten nach billigen Resten. Da nahm Beag ein Holzbrett aus seinem Beutel, das geschickt mit Scharnieren versehen war, sodass es sich zu einem kleinen Ein-Mann-Podest aufklappen ließ.

»Guten Abend, werte Damen und Herren«, fing er an. Diese wohlmeinende Einschätzung der versammelten Menschen entlockte zwar nur ein paar Lacher, weckte jedoch auch die allgemeine Aufmerksamkeit. »Erlaubt mir, dass ich mich vorstelle. Mein Name ist Beag Hickory und ich möchte Euch mit einem Lied unterhalten.«

Er begann mit klagender, zweifellos melodischer Stimme zu singen, war aber kaum beim ersten Refrain (einem von vielen) angekommen, als er ein ungewöhnliches Zischen in der Luft vernahm. Weil er die Augen geschlossen hatte, war er auf das Geschoss nicht gefasst – und bekam einen halb verfaulten Kohlkopf an den Kopf.

Als er jäh die Augen aufriss, sah er schon ein zweites Gemüsestück auf sich zufliegen, und dieses Mal duckte er sich. Der arme Kerl, der hinter ihm stand, bekam es mitten ins Gesicht. Trotzdem sang Beag unbeirrt weiter, mutig oder treuherzig. Vielleicht war es beides.

»Gib endlich Ruhe!«, rief jemand, und dann wurde Beag wieder getroffen.

»Aber«, stotterte er empört, den Mund voll Tomatenbrei, »ich hab doch gerade erst angefangen!«

»Nein, hast du nicht!«, rief ein kleiner Junge von hinten. »Du bist fertig!« Und damit ließen er und seine Freunde einen Hagel matschiger Äpfel auf ihn niederprasseln.

Beag war wütend. Noch nie in seinem Leben war sein Bemühen auf derartige Feindseligkeit gestoßen. »Du Rotznase!«, rief er dem kleinen Jungen zu. Er sprang von seinem Podest, hob den erstbesten Gegenstand auf, der ihm in die Hand fiel, eine große faulige Kartoffel, und warf sie mit solcher Kraft und Zielgenauigkeit, dass sie den Jungen zu Boden riss.

»He! Das ist mein Sohn! Was fällt dir ein?«

Beim Anblick des Mannes stand Beag erst einmal wie angewurzelt; es war der größte Mann, den er je gesehen hatte. Dieser riesige Affe überragte die ganze Menge und bahnte sich nun einen Weg auf Beag zu, dem das Herz in die Hose rutschte.

Herr im Himmel!, dachte Beag, dessen Beine im Nu wieder beweglich wurden. Er machte auf dem Absatz kehrt und verschwand wie der Blitz. Als er zur Brücke kam, wurde er immer noch von dem Mann und einer kleinen johlenden Horde verfolgt. Er rannte den Kopfsteinweg entlang, der über den Fluss führte, und sah sich verzweifelt nach einem Versteck um.

»Hierher«, zischte eine Stimme. »Schnell!«

Abrupt drehte sich Beag um und sah einen langen Finger, der ihm von der Ecke einer kleinen Seitengasse aus zuwinkte. Ohne weiter nachzudenken, stürzte er darauf zu.

»Rein da!«, sagte der große Mann, dem der Finger gehörte, und damit stieß er eine Tür in der Mauer auf und zog Beag mit sich hinein – gerade in dem Moment, als die Meute die Einmündung des Seitengässchens erreichte. Beag folgte seinem Retter eine kurze Treppe hinauf, auf der anderen Seite wieder hinunter und kam in einen überfüllten, von Rauch und Gelächter durchwaberten Raum mit niedriger Decke.

»Wo sind wir?«, fragte er seinen namenlosen Gefährten.

»Im Flinken Finger«, sagte der Mann. »Ich weiß nicht, wie Ihr darüber denkt, aber ich hätte nichts gegen einen Krug Bier einzuwenden.«

Minuten später hatten Beag und sein neuer Freund es sich in einer dunklen Ecke bequem gemacht und schlürften Bier aus einem großen Krug, den das Serviermädchen gebracht hatte. Gerade wollte Beag etwas sagen, als ein Tumult vom Eingang her sein Herz wieder rasen ließ. Es war der Affenmann.

»Ich suche einen Zwerg«, sagte er, und die ganze Schankstube verstummte. Eine energische Frau – die Respekt einflößende Betty Peggotty – stemmte die Hände in die Hüften und funkelte ihn wütend an. Sie hatte einen exotischen Hut auf dem Kopf, der schon weit bessere Tage gesehen hatte.

»Hier ist kein Zwerg, Samuel!«, sagte sie entschieden. »Also trink entweder ein Bier oder verschwinde!«

»Pah!«, rief der Affe, doch da er schon vor eine solche Wahl gestellt wurde, entschied er sich ohne Frage für das Bier, und so kam es, dass er bald genauso ausgelassen war wie alle anderen.

Beag entspannte sich und wandte sich seinem Gefährten zu. »Darf ich fragen, wer Ihr seid?«

»Mein Name ist Aluph Buncombe.«

»Nun, Mr Buncombe, ich verdanke Euch mein Leben«, sagte Beag und schüttelte ihm dankbar die Hand.

»Keine Ursache«, sagte Aluph mit breitem Lächeln. »Bin immer gern bereit, einem Menschen aus der Patsche zu helfen. Wenn ich mir auch nicht vorstellen kann, wie Ihr dazu kommt, einen Mann wie Samuel Lenacre gegen Euch aufzubringen.«

Beag erzählte die ganze unglückselige Geschichte und Aluph hörte voller Verständnis zu.

»Ihr sucht Arbeit, sagt Ihr. Welche Fähigkeiten habt Ihr denn? Schlagt Ihr Purzelbäume?«

Beag lachte trocken und schüttelte den Kopf. »Natürlich kann ich das. Gibt es einen Zwerg, der das nicht könnte? Aber ich denke, Ihr bevorzugt vielleicht eher meine anderen Talente.«

Aluph hob eine Braue. »Und die wären?«

»Ich bin Dichter und Liedermacher.«

Aluph runzelte besorgt die Stirn. »Ich bin überzeugt, dass Ihr so etwas könnt, doch wenn Ihr in einer Stadt wie dieser genug zum Leben verdienen wollt, müsst Ihr Euer Publikum kennen. Seht Euch um, mein Freund, und sagt mir: Sind das Leute, die Geschichten oder Verse hören wollen?«

Als Beag prüfend seinen Blick durch den Raum wandern ließ, spürte er, wie sich Verzweiflung in seinem Herzen breitmachte. »Aber die Dichtkunst ist meine Leidenschaft«, sagte er. »Ich bin schon auf dem Cathaoir Feasa gewesen!«

»Auf dem was?«

Doch Aluph gab Beag keine Möglichkeit zu antworten, sondern schüttelte nur den Kopf und legte ihm seine makellos gepflegte Hand auf die Schulter. »Beag, Beag«, sagte er sanft, »schaut sie Euch doch an. Könnt Ihr denn gar nichts anderes?«

Schließlich, als Beag sich noch einmal in der Wirtschaft umgesehen hatte, verstand er. »Ich kann gut Kartoffeln werfen«, sagte er trübsinnig.

»Aha!« Aluphs Gesicht hellte sich auf. »Ein Kartoffeln werfender Zwerg. Damit lässt sich wohl eher etwas anfangen.«

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