Kapitel 28

Artikel aus dem

Daily Chronicle


von Urbs Umida

Ein glücklicher Ausgang

Von Deodonatus Snoad

Verehrte Leser,

es gibt wohl inzwischen kaum mehr jemanden, der nichts von dem Wunder gesehen oder zumindest gehört hat, das sich in der vorgestrigen Nacht zutrug, als der Foedus nach stundenlangem Ächzen endlich zur Ruhe kam und vollständig zufror. Nach bestätigten Angaben ist das Eis mindestens einen halben Meter dick. Schon wimmelt es auf der Fläche von Buden und Verkaufsständen, in denen alles Mögliche angeboten wird: Strumpf- und Schnürbänder, heiße Getränke und Gebäck, Schinken in Brotteig, und natürlich treten Unterhaltungskünstler auf. Ich glaube, auch unser hiesiger Kartoffelweitwerfer führt Hinz und Kunz seine fragwürdige Fertigkeit vor.

Doch trotz all dieser Belustigungen und Spielereien gibt es weitaus wichtigere Dinge zu bedenken. Urbs Umida ist ohne Zweifel (und damit möchte ich keinen der werten Bürger kränken) eine grässliche Stadt, die in elenden Zeiten dahinvegetiert. Eine Stadt, bewohnt von hässlichen, gemeinen Kreaturen, manche kaum als Menschen zu erkennen; eine Stadt ohne Selbstachtung, eine Stadt, durchdrungen von Hoffnungslosigkeit und Schmutz und durchquert vom stinkenden Wasser des Foedus.

Und es ist eine Stadt, die Mörder hervorbringt.

Diese Gattung ist es, mit der ich mich heute näher befassen möchte, und hier wiederum besonders mit dem Silberapfel-Mörder, der uns in diesen Wochen in seinem tödlichen Griff hat. Wir wollen uns diesen Mann also genauer ansehen, und ich spreche von einem »Mann«, da es keinen Anhaltspunkt dafür gibt, dass es eine Frau oder ein Tier sein könnte. Außerdem ist auch die Überzeugung zu hören, dass das schöne Geschlecht weder den Verstand noch die Kraft zur Ausführung derart schrecklicher Verbrechen besitze. Ich für meine Person kann mich dieser Meinung nicht ohne Weiteres anschließen, doch das ist ein Thema für ein andermal.

Deodonatus legte seine Feder auf den Tisch und lehnte sich im Sessel zurück. Er grinste spöttisch und runzelte gleichzeitig die Stirn, was ziemlich anstrengend war. Frauen konnten nicht grausam sein? Wie töricht. Er musste fast lachen und hätte es auch getan, wäre nicht ein schmerzhafter Stich durch sein verwundetes Herz geschossen, wenn er an seine Mutter dachte. Sein Vater hatte ihn geschlagen, und zwar aus keinem anderen Grund als der Tatsache, dass ihn das Gesicht seines Sohnes an seine eigenen Unzulänglichkeiten erinnerte. Doch seine Mutter war es gewesen, die den größten Einfluss auf ihn ausgeübt hatte. Ihre Methode, ihn zu quälen, hatte anders ausgesehen. Sie wirkte nicht äußerlich, hinterließ keine sichtbaren Spuren auf seinem Körper, dafür aber tiefe Verletzungen in seiner Seele. Tag und Nacht hatte sie ihn mit ihren boshaften Blicken und bissigen Bemerkungen verfolgt. Er erinnerte sich an den Augenblick, als er die beiden zum letzten Mal gesehen hatte. Sein Vater unter der Tür stehend, ein Grinsen im Gesicht und die volle Geldbörse in der Hand. Und seine Mutter, wie sie zum letzten Mal das Wort an ihn richtete. Hatte er denn wirklich etwas anderes erwartet?

»Du Teufel!«, keifte sie. »Du elende Missgeburt! Scher dich hin, wo der Pfeffer wächst!«

Unbewusst wischte sich Deodonatus über die Wange, dort, wo ihn vor so vielen Jahren ihr Speichel getroffen hatte. Er nahm die Feder zur Hand und schrieb weiter.

Ich muss wohl kaum erklären, wer meiner Meinung nach für diese Gewalttaten verantwortlich ist. Schon lange bin ich zu dem Schluss gekommen, dass es sich bei dem Silberapfel-Mörder und dem flüchtigen Oscar Carpue um ein und dieselbe Person handelt. Es liegt durchaus im Bereich des Vorstellbaren, dass ein Mann, der verbittert ist durch den Verlust seiner Frau, einen seelischen Zusammenbruch erleidet und schlichtweg wahnsinnig wird. In diesem Zustand kann er gut in der Menge untertauchen, unsichtbar für uns alle, denn in dieser Stadt gibt es weiß Gott keinen Mangel an Verrückten.

Was sein Motiv angeht, nun, Unzurechnungsfähigkeit ist Motiv genug. Doch ob wahnsinnig oder nicht, wichtiger ist meiner Ansicht nach, dass wir ergründen, warum diese Morde stattfinden. Und dazu müssen wir versuchen, den Mörder besser zu verstehen. Er will uns etwas sagen. Das zeigt schon allein der Silberapfel.

Mir ist der Gedanke gekommen, er glaubt vielleicht, der Gesellschaft einen Dienst zu erweisen, indem er die Straßen befreit von denen, die er für unerwünscht hält. Bisher jedoch waren seine Opfer immer einfache Bürger. Das erste war eine Wäscherin, das zweite ein Schornsteinfeger, das dritte ein Straßenkehrer, das vierte ein Kohlenhändler, das fünfte ein Dienstmädchen, das sechste ein Hausierer, der Gin verkaufte, das siebte ein Perückenmacher, und auch das achte – das letzte Opfer, das explodierte – war ein unbedeutender Mann.

Soweit ich verstehe, hält unser geschätzter Wachtmeister George Coggley die Morde für willkürliche Taten, Pech eben für das Opfer, und bisher hat er noch keine Verbindung zwischen den acht Toten hergestellt. Ich glaube jedoch, dass es einen Zusammenhang geben muss. Und ich möchte sogar so weit gehen, zu behaupten: Wenn es uns gelingt, dieses fehlende Verbindungsglied zu finden, dann können wir diesen grässlichen Gewalttaten Einhalt gebieten.

Meine Frage ist nun folgende: Tun die betreffenden Menschen unwissentlich etwas, das ihnen der Mörder übel nimmt? Führen sie damit ihr tragisches Ende unbeabsichtigt selbst herbei? Ich möchte sogar ganz unverblümt fragen: Haben sie ihr Schicksal etwa selbst verschuldet?

Ich schließe mit einer erstaunlichen Nachricht. Aus einer meiner Quellen habe ich erfahren, dass in der vorgestrigen Nacht eine neue Tat des Silberapfel-Mörders vereitelt worden ist. Das Opfer, ein junger Bursche, befand sich bereits in seinen Händen. Der Junge wurde in den Fluss gestoßen, und zweifellos rasten ihm die letzten Gedanken durch den Kopf, während er stürzte und sich auf den tödlichen Moment des Eintauchens gefasst machte. Doch Fortuna, die launischste aller Gebieterinnen, war mit ihm, denn der Junge landete nicht im Wasser, sondern auf der soeben zugefrorenen Oberfläche. Wer hätte gedacht, dass exakt in dem Moment, in dem sich das Eis über dem Fluss schloss, ein Junge darauffallen würde? Nur wenige Sekunden früher, und er wäre darunter gefangen gewesen. Was so leicht sein Ende hätte sein können, wurde ihm zur Rettung. Des einen Freud, des anderen Leid. Und wenn dem Jungen das Glück zu Hilfe kam, welche gegensätzliche Macht war dann mit dem Mörder? Wie es so schön heißt: Es lässt sich an allem auch etwas Gutes finden.

Bis zum nächsten Mal,

Deodonatus Snoad

Deodonatus rieb sich über den Kopf. Er fühlte sich müde in diesen Tagen, körperlich und seelisch erschöpft. Die zwei beschriebenen Seiten in der Hand ging er zum Feuer. Aus einer Kanne, die er neben dem Kamin aufbewahrte, goss er sich einen Krug Bier ein, setzte sich und betrachtete nachdenklich sein hässliches Gesicht. Urbs Umida. Er hatte die Stadt zu seinem Zuhause gemacht und sie hatte gut für ihn gesorgt. Dennoch verachtete er ihre Bewohner, jeden Einzelnen von ihnen. Denn was sie auch sagen oder tun mochten, er wusste, wenn sie ihn zu sehen bekämen, würden sich seine »verehrten Leser« genauso entsetzt von ihm abwenden wie alle, denen er in seinem Leben begegnet war.

»Sie verdienen den Silberapfel-Mörder«, sagte er mit wohlbedachter Boshaftigkeit.

Deodonatus schüttelte heftig den Kopf, um derartige Gedanken zu vertreiben, erreichte damit jedoch kaum mehr, als dass sich das Dröhnen in seinem Schädel verschlimmerte. Seufzend blickte er auf die Seiten, die er eben geschrieben hatte. Während er sie durchlas, huschte ein seltsamer Ausdruck über sein Gesicht, so als sei ihm soeben etwas sehr Naheliegendes klar geworden.

»Sie werden es nie lernen«, murmelte er. »Sie haben Ohren und hören doch nicht.« Das galt heute genauso wie in dem Jahrhundert, als Aischylos diese Worte geschrieben hatte.

Deodonatus trank sein Bier aus und räumte flüchtig sein Zimmer auf, wobei er ein kleines Gefäß auf seinem Schreibtisch umstieß. Er fluchte, unternahm aber nur eine halbherzige Anstrengung, um die Pfütze aufzuwischen. Dann setzte er sich wieder, holte seine Uhr aus der Tasche und sah nach der Zeit. »Hmm«, überlegte er laut. »Nicht mehr lange.«

Er streckte die Hand aus und nahm sein Buch Houndseckers Märchen von Feen und Frohnaturen vom Kaminsims. Es öffnete sich von selbst auf einer viel gelesenen Seite:

Es war einmal eine wunderschöne Prinzessin, die alles besaß, was eine Prinzessin sich nur wünschen konnte …

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