Kapitel 16

Artikel aus dem

Daily Chronicle


von Urbs Umida

Gruselige Vorgänge im Flinken Finger

Von Deodonatus Snoad

Verehrte Leser,

Es gibt wohl kaum einen Bürger dieser Stadt, der noch nichts von dem Knochenmagier gesehen oder wenigstens gehört hätte. Es überrascht mich nicht, dass es wiederum Mrs Peggotty vom Flinken Finger ist, der wir die Begegnung mit derart faszinierenden Persönlichkeiten zu verdanken haben. Im oberen Raum der Schankwirtschaft treten zurzeit auf: Mr Benedict Pantagus, wie er sich nennt, und seine Assistentin, eine Miss Juno Pantagus – ich glaube, es handelt sich um seine Nichte. Auch sei nicht vergessen, dass in Mrs Peggottys Kellerraum das Gefräßige Biest zu besichtigen ist. So viele Attraktionen auf einmal! Wir stehen wirklich tief in ihrer Schuld.

Leichenmagie, die Kunst der Totenerweckung, hat eine lange Geschichte. Das lässt sich von Kartoffelwerfern nicht unbedingt behaupten – von dieser Spezies habe ich gestern einen auf der Brücke gesehen. Ich fürchte, ein solch gefährlicher Sport kann nur mit ernsthaften Verletzungen enden. Doch Knollengewächse beiseite – ich möchte denjenigen meiner Leser, denen die Praktik der Totenerweckung nichts sagt, gern die wenigen mir zur Verfügung stehenden Kenntnisse auf diesem Gebiet weitergeben.

Von allen Rätseln, die uns das Leben aufgibt, ist der Tod wohl das größte. In früheren Jahrhunderten glaubten die Menschen fest an die Macht des Todes. War ein Mensch von der diesseitigen in die jenseitige Welt hinübergegangen, sprach man ihm große Kräfte zu. Doch nur ein Knochenmagier konnte mit solchen Kräften in Verbindung treten, und zu diesem Zweck musste er die Toten ins Leben zurückholen. Nach ihrer Wiederbelebung wurden diese weisen Seelen dann angerufen, um den Lebenden Ratschläge zu geben und die Zukunft vorauszusagen.

Ich habe Benedict Pantagus und die merkwürdige Madame de Bona gesehen, und sie bot, ehrlich gesagt, keinen schönen Anblick. Hoffentlich war sie zu Lebzeiten etwas attraktiver. Abgesehen von ihrem Äußeren jedoch lässt sich nicht bestreiten, dass sie ihren Verpflichtungen nachkam und die verschiedenen Fragen zur augenscheinlichen Zufriedenheit der Betroffenen beantwortete. Mr Pantagus verdient Anerkennung für seinen Einfallsreichtum und seine ausgezeichnete Darbietung. Zweifellos ist sie den gewöhnlichen Betrügereien, die in dieser Stadt an der Tagesordnung sind, um einiges überlegen. Zu der Frage, ob Madame de Bona wirklich ins Leben zurückkehrte oder nicht, kann ich mit Gewissheit nur sagen, dass ich mich gründlich nach Schnüren umgesehen habe, aber nichts dergleichen finden konnte.

Doch genug davon. Was gibt es Neues vom Silberapfel-Mörder?, höre ich meine Leser fragen. Nun, leider ist zu berichten, dass gestern Vormittag eine weitere Leiche, inzwischen die sechste, glaube ich, aus dem Foedus gezogen wurde. Auch sie hat der Silbertod heimgesucht. Und noch immer kann uns Mr Coggley, unser geschätzter Oberwachtmeister, keine Hinweise zur Identität des Teufels liefern, der dafür verantwortlich ist. In der Tat düstere Zeiten für die Stadt.

Deodonatus lächelte vor sich hin, als er das Geschriebene noch einmal las. »Der Silberapfel-Mörder«. Ja, der Name gefiel ihm. Er klang so schön gruselig. Dann kam ihm das Gefräßige Biest in den Sinn. Deodonatus besaß ein kaltes Herz, das würde er selbst als Erster zugeben – er empfand wenig für andere, höchstens Verachtung oder Hass –, doch mit dem Gefräßigen Biest verhielt es sich anders. Wenn er es ansah, hatte er jedes Mal das Gefühl, als verknote sich etwas in seinem Innern. Doch warum das so war, darüber wollte er lieber nicht nachdenken.

Es überraschte ihn nicht, dass die Urbs Umidaner so begeistert von dem Gefräßigen Biest und dem Knochenmagier waren. Die Leute wollten erschreckt und unterhalten werden, und außerdem wollten sie die Erfahrung machen, dass es Dinge auf der Welt gab, deren Dasein noch eine Spur schlimmer war als ihr eigenes. Das Biest war der eindeutige Beweis dafür. Doch wo lag das Unglück im Leben des Knochenmagiers? Geld brachte seine Vorführung zweifellos ein. Für mich wär’s trotzdem nichts, dachte Deodonatus, stand abrupt auf, legte eine Hand an seinen Kragenaufschlag, schwenkte mit der anderen die Seiten, die er eben geschrieben hatte, und verkündete gebieterisch:

»Ας εξασκήσει ο καθένας την τέχνη που ξέρει.«

Mit einem Lächeln setzte er sich wieder. »Ich hole mir lieber Rat von Aristophanes. Ein jeder betreibe die Kunst, auf die er sich versteht.«

Dann setzte er wieder die Feder aufs Papier und schrieb weiter. Gerade als er seine charakteristische Schlussformel »Bis zum nächsten Mal« unter den Text setzte, klopfte es an der Tür.

»Bist früh dran«, brummte Deodonatus, während er die Blätter schnell einrollte und zusammenband. Er schob sie durch den Türspalt, ließ einen Penny folgen und lauschte den eiligen Schritten des Jungen auf der Treppe nach. Dann ging er zum Fenster, sah auf die Straße hinunter und schlug dabei geistesabwesend nach einer Fliege, die ihm um den Kopf schwirrte. Wie überstanden sie bloß dieses verdammte Wetter? Sollte er heute Nacht ausgehen? Vielleicht nicht. Er war müde. Vom Kaminsims nahm er sich einen abgegriffenen Band und schlug seine Lieblingsgeschichte auf. Er war kaum über die erste Seite hinausgekommen, da fielen seine schweren Lider zu. Das Buch rutschte auf den Boden, wo es offen liegen blieb und im flackernden Licht des Kaminfeuers das Bild einer grün glänzenden Kröte mit Juwelenaugen erkennen ließ.

Загрузка...