Kapitel 9

Fidelma trennte sich auf dem Weg nach Rath Raithlen trotz lauter Proteste ihrer Begleiter von ihnen, um allein die kurze Strecke zur Abtei des heiligen Finnbarr zurückzulegen.

»Es ist Mittag«, erläuterte sie dem besorgten Eadulf. »Was soll mir schon zu dieser Stunde geschehen, wo doch der Mörder, nach dem wir suchen, nachts bei Vollmond handelt?«

Auch Accobran war gegen ihr Vorhaben.

»Solange du dich auf dem Gebiet der Cinel na Äeda aufhältst, bin ich für deine Sicherheit verantwortlich, dalaigh«, wandte er ein. »Zumindest ich sollte dich begleiten.«

»Sowohl dein Beistand als auch Eadulfs ist unnötig«, erwiderte sie. »Ich reite allein zur Abtei und werde danach in die Burg zurückkehren. Übrigens, falls euch das interessiert, ich werde noch vor Sonnenuntergang wieder da sein.«

Erst nach weiteren Beschwichtigungen und dem Einsatz ihrer ganzen Autorität gegenüber Accobran konnte sich Fidelma auf den Weg machen. Sobald Eadulf und Accobran außer Sicht waren, ließ sie ihr Pferd in einen leichten Galopp fallen. Der Wind blies ihr kühl ins Gesicht. Sie mußte vor Freude lächeln. Kaum hatte sie als Kind laufen gelernt, hatte sie auch schon auf einem Pferderücken gesessen, ganz im Gegensatz zu Eadulf. Fidelma genoß das Reiten, und es gab nur wenige Dinge, die für sie den Reiz eines Galopps übertreffen konnten. Sie hatte so lange mit ihrem kleinen Kind im Schloß von Cashel zubringen müssen, daß es ihr guttat, wieder einmal in der Natur zu sein. Auch liebte sie von Zeit zu Zeit die Einsamkeit und war gern mit ihren Gedanken allein.

Auf einmal überkamen sie Schuldgefühle.

In den letzten Tagen hatte sie nicht einmal an Klein Alchü gedacht. War sie deshalb eine Rabenmutter? Sie brachte ihr Pferd zum Stehen. Sie erinnerte sich daran, was ihr Mentor Brehon Morann einmal im Zusammenhang mit einem Rechtsfall gesagt hatte, in dem ein Vater seine elterlichen Pflichten nicht wahrnahm: »Ein Kind zu gebären ist für eine Frau der Weg zur Allwissenheit.« Doch seit Alchüs Geburt hatte sie zu ihrer Beunruhigung feststellen müssen, daß sie das nicht so empfand. Sie hatte weder das Gefühl, weiser geworden zu sein, noch hatte sich jene Freude eingestellt, die ihr die weibliche Verwandtschaft und ihre Freunde prophezeit hatten. Sie war verwirrt. Alchü war für sie wie ein Band, das sie festhielt, eine Beeinträchtigung ihrer Freiheit statt eine Bereicherung ihres Lebens. Sehnte sie sich tatsächlich nach dieser Art von Freiheit, wie sie sie in diesem Augenblick ausleben konnte?

Was hatte noch Euripides gesagt? Glücklich sind die Eltern, deren Kind ihnen Freude und nicht Kummer ist und das ihre Hoffnungen nicht enttäuscht. Warum brachte sie Klein Alchü nicht Gefühle entgegen, wie man sie von ihr erwartete? Es war ja nicht so, daß sie nicht für ihn sorgte oder ihm gegenüber völlig gleichgültig war. Doch man hatte ihr gesagt, die Geburt eines Kindes sei ein alles veränderndes Erlebnis, das auch sie verändern würde. Aber das war bei ihr nicht der Fall. Vielleicht lag die Schwierigkeit darin.

Plötzlich übermannte sie Zorn, sie trat ihrem Pferd heftig in die Flanken und galoppierte los. Diesmal ließ sie ihm freien Lauf. Ihre rotgoldenen Haare wehten im Wind. Sie hob das Gesicht vergnügt der wohltuenden Kühle entgegen. Hatte Brehon Morann nicht auch gesagt, daß ein Galopp an einem frischen, hellen Tag alle bösen Gedanken aus dem Kopf vertreiben könnte?

Nach einiger Zeit beschloß sie, ihr Pferd zu zügeln und umzukehren, denn sie war ein ganzes Stück über ihr Ziel hinausgeritten. Als sie sich auf die Abtei zubewegte, fühlte sie sich zumindest ausgeglichener. Sie grübelte nicht mehr über ihre Mutterrolle nach.

Die Abtei lag im Schatten eines Hügels. Ein großes Fuhrwerk, das von zwei Pferden gezogen wurde, rumpelte langsam auf sie zu. Der Mann auf dem Kutschbock kam Fidelma irgendwie bekannt vor. Es war Gobnuid.

»So schnell sehen wir uns wieder, Gobnuid«, begrüßte sie ihn.

Als der Schmied auf gleicher Höhe mit ihr war, verfinsterte sich sein Blick. Fidelma schaute auf den Wagen, es lagen Felle darauf.

»Merkwürdig, als Schmied eine Ladung Felle zu transportieren, nicht wahr?« sagte sie. »Du scheinst mehrere Tätigkeiten auszuüben, die nichts mit deinem Handwerk zu tun haben - erst bist du Bote und nun Kutscher.«

Gobnuid ging auf ihren sarkastischen Ton nicht ein.

»Ich nehme immer andere Arbeiten an, wenn es in der Schmiede nichts zu tun gibt«, erwiderte er verdrießlich.

»Wo verkaufst du diese Felle?« fragte sie.

»Die hier gehen an die Küste, ins Kloster Molaga oder zur Abtei von Ard Mhor, wo man daraus Lederwaren herstellt.«

»Und du bringst sie den ganzen weiten Weg dorthin?«

»Ich schaffe sie nur bis zur Brücke von Bandan. Von dort werden sie auf dem Fluß nach Molaga befördert.«

Es kam ihr eigenartig vor, daß der sonst so zugeknöpfte Schmied auf einmal so gesprächig ihre Fragen beantwortete.

»Erzielen sie dort gute Preise?«

Gobnuid verzog mürrisch den Mund. »Egal, was sie einbringen, mein Lohn für den Transport ist immer der gleiche.«

»Also sind es gar nicht deine Felle?«

»Ich bin Schmied und kein Gerber.«

Fidelma wurde immer neugieriger. »Dann machst du die Fuhre für Lesren?«

Gobnuid stieß ein rauhes Lachen aus. »Nicht für Lesren, nicht für diesen ...« Er brach den Satz ab. »Nein, die Felle gehören meinem Herrn Accobran. So, ich muß weiter.«

Der Schmied zog an den Zügeln, und das Fuhrwerk setzte sich in Bewegung. Es hinterließ tiefe Rinnen auf dem schlammigen Weg. Fidelma blickte eine Weile darauf, dann ritt sie weiter zur Abtei. Warum hatte Gobnuid ihr so bereitwillig Auskunft gegeben? Sie war sich sicher, daß er für den heimtückischen Anschlag am Morgen verantwortlich war. Eadulf hatte sie es nicht gesagt, aber sie hatte an der Bruchstelle der Leitersprosse deutlich die Spuren eines Messers bemerkt. Das Holz dort war keineswegs morsch gewesen, jemand hatte die Sprosse absichtlich fast ganz durchtrennt, so daß sie zerbrechen mußte, sobald jemand darauf trat.

Bruder Solam, der Verwalter der Abtei, kam ans Tor, um sie zu empfangen. Fidelma schwang sich vom Pferd. Solam hatte gerade mit einem anderen Mönch zusammengestanden, auf dessen Kutte der Staub einer langen Reise lag. Er hielt sein Pferd noch am Zügel. Bruder Solam begrüßte sie respektvoll.

»Wenn du Abt Brogan sprechen willst, Schwester, mußt du dich ein wenig gedulden. Der Abt ist soeben in seine Zelle gegangen, um zu meditieren. Es ist uns nicht erlaubt, ihn dabei zu stören.«

»Dann wollen wir das auch nicht tun, zumal ich gar nicht mit dem Abt reden wollte«, erwiderte sie.

Der andere Mönch kam auf sie zu. Auf seinem eulenhaften Gesicht zeichnete sich ein freundliches Lächeln ab, als würde er sie kennen. Fidelma jedoch konnte ihn nicht einordnen. Er war dunkelhaarig und ziemlich hager.

»Schwester Fidelma? Fidelma von Cashel?« fragte der Fremde. Noch ehe Fidelma nicken konnte, fuhr der Mann fort: »Ich bin Tüan, der Verwalter des Klosters Molaga. Ich war in der Abtei von Ard Mhor, als du dort im letzten Jahr zu Besuch weiltest. Ich glaube nicht, daß du dich an mich erinnerst, oder?«

Fidelma wollte nicht lügen, sie konnte sich nicht an ihn erinnern. Viel wichtiger war ihr der Umstand, daß der Fremde aus dem Kloster Molaga kam.

»Bist du eben erst hier eingetroffen?« fragte Fidelma interessiert.

Bruder Tüan nickte. »Bruder Solam hat mir gerade erzählt, wie ratlos man hier ist und daß man dich gebeten hat, zu helfen.«

Fidelma entschied kurzerhand, daß ihr eigentliches Vorhaben noch ein wenig warten konnte. Sie blickte sich um. Unter einem Apfelbaum im Innenhof stand eine Bank. Sie zeigte darauf.

»Wollen wir nicht einen Moment Platz nehmen, ich würde gern deine Meinung hören, Bruder Tüan. Du entschuldigst uns doch, nicht wahr?« sagte sie mit einem entwaffnenden Lächeln zu Bruder Solam.

Bruder Solam schien wenig begeistert, dennoch erwiderte er: »Ich werde Bruder Tüans Pferd versorgen. Soll ich dein Pferd zum Stall führen?«

»Nein, das ist nicht nötig. Ich bleibe nicht lange.«

Bruder Tüan und Fidelma setzten sich auf die Bank unter dem Apfelbaum, an dem noch viele Äpfel hingen.

»Ich nehme an, daß du im großen und ganzen weißt, was hier passiert ist?« fragte Fidelma ohne viele Umschweife.

»Es heißt, daß hier ein Verrückter sein Unwesen treibt, Schwester. Einer, der bei Vollmond tötet«, erwiderte der Mönch.

»Ist dir auch bekannt, daß ein junger Holzfäller, Gab ran, vom Vater eines der Opfer des Mordes beschuldigt wird?«

»Die Beweise sprechen dagegen«, erwiderte Bruder Tüan auf der Stelle. »Man wird dir sicher gesagt haben, daß sich Gabran in der Mordnacht bei uns im Kloster aufhielt.«

»Und das kannst du persönlich bestätigen?« fragte Fidelma.

»Das kann ich.«

»Ganz sicher?«

Bruder Tüan schob rechtfertigend sein Kinn vor. »Ich bin der rechtaire, der Verwalter des Klosters, und es gehört zu meinen Pflichten, zu wissen und festzuhalten, was Tag für Tag geschieht. Sollte ich da etwa den Monat und die Zeit des Vollmondes nicht kennen? Ich erinnere mich sehr gut an jenen Mond und an den Besuch des Burschen, weil, und das sage ich dir ganz im Vertrauen, Schwester, zwei unserer Brüder Gabran zurück ins Kloster tragen mußten. Man hatte ihn volltrunken in einer Hafenschenke gefunden. Offenbar war er wohl das erstemal von seinen Eltern fort und dabei in schlechte Gesellschaft geraten. Es war pures Glück, daß er das Geld, das das Kloster seinem Vater schuldete, bis zu seiner Heimkehr noch in unse-rer Obhut gelassen hatte. Er wurde zwar ausgeraubt, hat aber nicht viel eingebüßt.«

»Das hat er mir heute morgen nicht erzählt.«

Auf Bruder Tüans Gesicht zeigte sich ein breites Grinsen. »Bist du etwa überrascht? Ich könnte mir denken, daß er das auch seinem Vater und seiner Mutter nicht verraten hat. Er wird daraus gelernt haben. Gab ran traf irgendwann im Laufe des Tages bei uns ein, und am Abend des Vollmonds war er vollkommen betrunken. Als Verwalter habe ich über alles ge-nauestens Buch geführt. Du kannst also gewiß sein, daß Gabran sich in jener Mordnacht auf keinen Fall in der Nähe des Mädchens aufgehalten hat.«

»Vielen Dank für diese erschöpfende Auskunft, Bruder. Ich werde die Sache für mich behalten. Hat Bruder Solam dir gesagt, daß man die drei Fremden verdächtigt?«

Der Mönch wirkte plötzlich mürrisch. »Darüber haben uns Gerüchte erreicht«, bestätigte er.

»Man hat mir erzählt, daß die Fremden zuerst in eurem Kloster Zuflucht gesucht haben.«

»Zuflucht? Das ist nicht ganz korrekt. Ein Sklavenschiff lief vor unserer Küste auf Grund. Teile des Schiffes strandeten im seichten Marschland unterhalb des Klosters. Ein paar Fischer fanden die drei Fremden, man hatte sie an einen Balken gefesselt. Sie waren mehr tot als lebendig. Bei Ebbe holte man sie an Land und brachte sie zu uns.

Und wie das Schicksal es wollte, ist einer unserer Brüder des Griechischen mächtig. Das war die einzige Sprache, in der wir uns mit den drei Sklaven verständigen konnten. Bald fanden wir heraus, daß es sich um Christen aus einem sehr fernen Land handelte - aus Aksum.«

»Gab es noch weitere Überlebende bei dem Schiffbruch?« fragte Fidelma.

»Nur wenige. Zumeist Franken, die sofort auf einem fränkischen Handelsschiff anheuerten, das in der Bucht lag.«

»Ihr habt den Fremden Obdach gewährt?«

»Ja. Wir haben sie von den Fesseln befreit und gesund gepflegt, denn sie waren offensichtlich ziemlich schlecht behandelt worden. Sie blieben eine Weile bei uns, lernten ein wenig unsere Sprache und berichteten uns von ihrer Heimat und wie der christliche Glaube dorthin gelangt war. Unser Schreiber hat viele Dinge festgehalten, im Gegenzug stellten sie ihm Fragen über unser Land, unsere Kultur und unsere Bildung. Merkwürdigerweise besaßen wir sogar ein paar Kunstgegenstände aus ihrem Land: silberne Kreuze, die ihnen unser Abt als Andenken an ihre Rettung aus der Seenot mitgab.«

»Wie man mir sagte, sind sie sehr an dem Werk des Gelehrten Aibhistin von Inis Carthaigh interessiert.«

»Als sie erfuhren, daß sich Bruder Aibhistin mit dem Mond und seinem Einfluß auf die Gezeiten beschäftigt hat, wurden sie ganz aufgeregt. Sie vermochten sich auf nichts anderes mehr zu konzentrieren. Besonders Bruder Dangila war versessen auf Aibhistins Abhandlung über den Mond und die Sterne. Er hat einige der Schriften, die wir im Kloster aufbewahren, darunter auch Abt Sinlans Chronologie und die astronomischen Traktate von Mo Chuaroc von Loch Gar-man geradezu verschlungen.«

»Ihr habt Bruder Dangila offenbar erzählt, daß Aibhistins Schriften hier in der Abtei des heiligen Finnbarr aufbewahrt werden, nicht wahr?«

Bruder Tüan überraschte sie mit seinem Kopfschütteln. »Niemand im Kloster Molaga hat ihm das gesagt, weil es einfach niemand wußte. Wir kennen alle Aib-histins Abhandlungen, doch niemand hatte eine Ahnung, wo sie sich befanden.«

»Woher hat es Bruder Dangila dann erfahren?« wollte Fidelma wissen.

Nachdenklich rieb sich Bruder Tüan das Kinn. »Ich schätze, daß er es von Accobran weiß.«

»Vom Tanist?«

»Genau. Ich war überrascht, daß sich Accobran in diesen Dingen so gut auskennt, auch wenn er natürlich einige Zeit in Molaga studiert hat. Er ist ein kluger Mann und tapferer Krieger. Ohne Leute wie ihn hätten die Ui Fidgente vielleicht längst in Cashel die Macht an sich gerissen und die Eoghanacht wären vernichtet worden.« Auf einmal errötete Bruder Tüan. »Ich möchte nicht unhöflich gegenüber deinem Bruder sein, Schwester.«

»Es ist allgemein bekannt, daß die Ui Fidgente seit vielen Jahren die Macht über dieses Königreich anstreben. Wie oft haben sie versucht, die Nachfolger von Eoghan in Cashel durch ihre Leute zu ersetzen. Außerdem ist es nicht verwerflich, die Wahrheit zu sagen. Doch was wolltest du über Accobran erzählen?«

»Accobran war vor gut zehn Wochen im Kloster Molaga, zur Zeit des Lughnasa-Festes ... Nein, warte, ich will genauer sein, was die Daten betrifft, denn ich weiß, daß du als dalaigh äußerste Präzision verlangst. Es war der Tag nach dem Fest, als Accobran bei uns eintraf. Er hat sich ein paarmal mit den Fremden unterhalten. Bald darauf verkündeten sie, daß sie zur Abtei des heiligen Finnbarr aufbrechen wollten, um dort mit dem Studium der Astronomie fortzufahren. Kurze Zeit nachdem Accobran uns wieder verlassen hatte, machten sie sich auf den Weg. Sicher hat er Bruder Dangila auf Aibhistins Schrift hingewiesen.«

»Das war also ein paar Tage nach dem Lughnasa-Fest? Kurz darauf wurde das erste Mädchen, Beccnat, ermordet«, murmelte Fidelma nachdenklich.

»Willst du damit sagen ...?« fragte Bruder Tüan.

»Ich denke nur über das Geschehene nach, Bruder Tüan. Was hältst du von den Fremden? So ganz allgemein.«

»Was ich von ihnen halte?« Bruder Tüan zuckte mit den Schultern. »Sie sind gewiß hoch gebildet. Sie sind höflich und besonnen. Sie sind reserviert und achten auf Abstand. Ich würde nicht sagen, daß sie besonders zugänglich sind. Sicher kann man leicht Vorurteile ihnen gegenüber aufbauen.«

»Warum?«

Bruder Tüan war unsicher. »Nun, sie sind so anders als wir.« »Meinst du damit ihre dunkle Hautfarbe?«

Bruder Tüan nickte.

»Lassen wir die Hautfarbe einmal beiseite und beurteilen wir die Fremden, wie wir jeden beurteilen sollten - nämlich nach ihrem Charakter.«

»Das ist leicht gesagt. Ich wünschte, alle Menschen könnten sich von ihren Ängsten vor Dingen und Leuten frei machen, die anders sind. Ich denke, daß man so hart über die Fremden urteilt, weil man sie fürchtet.«

»Angenommen, sie wären Fremde, unterschieden sich aber in ihrem Äußeren nicht von uns. Wie würdest du sie dann einschätzen?«

»Sie sind intelligent, gebildet, aber irgendwie unnahbar. Sie sind von einer Aura umgeben, die Argwohn weckt. Nach den Morden läßt das starke Interesse der Fremden an der Sternenkunde die Leute noch mißtrauischer werden.«

Fidelma verriet ihm nicht, daß Brocc behauptete, er hätte gesehen, wie einer der Fremden in der Mordnacht den Mond betrachtete. Sie behielt auch für sich, daß die Fremden nicht preisgegeben hatten, wer es war. Das alles war an sich schon verdächtig, und es brachte sie wieder auf den Anlaß ihres Besuches in der Abtei.

»Vielen Dank, Bruder Tüan. Du hast mir sehr geholfen.«

Sie erhoben sich beide von der Bank.

»Ich stehe dir auch weiterhin gern zu Diensten.«

»Bleibst du länger hier?«

»Ein paar Tage. Ich überbringe Briefe meines Abts an Abt Brogan und werde auf die Antwortschreiben warten, ehe ich wieder zur Küste zurückkehre.«

Er verabschiedete sich und ging zum Hauptgebäude hinüber. Gerade lief Bruder Solam über den Hof. Fidelma winkte ihn zu sich.

»Ich bin nun mit Bruder Tüan fertig«, sagte sie.

»Das freut mich, Schwester. Ich muß dringend mit dir sprechen«, erwiderte er.

Fidelma war ein wenig erstaunt über seine Direktheit. »In welcher Angelegenheit?«

»Nun, es betrifft den Fall, den du untersuchst.« Er sah sich mit verschwörerischem Blick um. »Die Sache mit dem Vollmond geht mir nicht aus dem Kopf. Es wird so viel über die Fremden geredet. Man vermutet, sie würden vom nächtlichen Himmel und dem Mond angezogen .«

»Und du möchtest mir nun etwas über die Fremden anvertrauen?« Fidelma führte ihn zu der Bank unter dem Apfelbaum.

»Nein, ich fürchte, es geht um jemand aus dem engsten Kreis unseres Fürsten Becc. Und ich sage es dir auch nur unter vier Augen und möchte nicht, daß andere erfahren, was ich dir jetzt erzähle.«

Fidelma verzog den Mund. »Bruder Solam, ich kann dir nichts versprechen. Wenn du Beweise hast für ein begangenes Unrecht .«

Bruder Solam schüttelte den Kopf.

»Das ist es nicht, nein«, erwiderte er rasch. »Ich will dich nur von verdächtigem Verhalten in Kenntnis setzen.«

»Nun, wenn das zu dem Schuldigen führen sollte, kann ich deinen Namen nicht verschweigen. Du müßtest dann vor einem Brehon erscheinen und deine Aussage beeiden.«

Eine Weile schwieg Bruder Solam, doch schließlich nickte er bedächtig. »Es läßt mir keine Ruhe. Ich muß es dir einfach sagen. Eigentlich wollte ich es ja für mich behalten, doch dazu bin ich nicht in der Lage.«

»Nun gut, dann fang an.«

Noch einen Moment schwieg Bruder Solam, dann sagte er: »Genau in jener Vollmondnacht, in der Es-crach umgebracht wurde, lief ich quer durch das Eberdickicht zur Abtei zurück. Es war kurz vor Mitternacht, und ich hörte das Angelusläuten der Klosterglocke.«

»Warum warst du so spät unterwegs?«

Bruder Solam beugte sich zu ihr vor. »Ich habe einen Bruder, der hinter dem Paß des Hohen Waldes wohnt, nicht weit von hier, und hatte die Erlaubnis, ihn an jenem Tag zu besuchen. Das tat ich auch. Erst spät machte ich mich auf den Rückweg.«

»Gut. Sprich weiter.«

»Plötzlich sah ich eine Gestalt auf mich zukommen. Nein, diese Gestalt lief vielmehr den Hügel hinauf.«

»Und du hast diese Gestalt erkannt?«

»Natürlich. Es war Escrach.«

Fidelma war erstaunt. Sie hätte eher angenommen, daß Bruder Solam Brocc bemerkt hatte.

»Willst du etwa sagen, du hast Escrach noch kurz vor ihrem Tod gesehen?«

Mit gedämpfter Stimme bestätigte es Bruder Solam. »Ich habe es all die Wochen für mich behalten.«

»Und habt ihr miteinander geredet?«

»Natürlich. Ich fragte sie, warum sie spätnachts so weit von ihrem Zuhause entfernt unterwegs sei. Sie lachte mich nur aus. Weißt du, wie anmaßend die Jugend heutzutage sein kann? Dann meinte sie, ich solle mir keine Sorgen machen, sie wüßte, was sie täte und wen sie treffen würde. Das waren genau ihre Worte.«

»Was geschah dann?« fragte Fidelma.

Bruder Solam hob den Kopf. »Oh, dann ging sie weiter, den alten Pfad entlang.«

»Welchen alten Pfad? Den Hügel hinauf? Wohin führt er?«

»Der alte Pfad führt eigentlich zu den Höhlen oben auf dem Hügel. Ich schätze nur, daß sie bis dahin gar nicht kam, denn ich hörte, man hätte ihre Leiche unterhalb davon gefunden, in der Nähe des Steinkreises, den wir den Kreis der Wildschweine nennen. Wenn ich sie doch nur aufgehalten hätte.«

»Vielleicht hättest du auch nicht verhindern können, was dann passierte. Sag mir, hast du noch eine andere Person bemerkt - zum Beispiel Brocc? Oder jemand anderen?«

»Brocc?« fragte der Verwalter erstaunt. »Was hätte der denn auf dem Hügel zu tun gehabt?«

»Oder jemand anderen?« wiederholte Fidelma eindringlich.

Bruder Solam nickte geschwind. »Und das bereitet mir solche Sorgen.«

Fidelma sah ihn an.

»Wen hast du gesehen?« fragte sie streng.

Nicht zum erstenmal im Laufe dieser Unterhaltung lehnte sich Bruder Solam verschwörerisch zu ihr vor. Sein Atem roch unangenehm nach Zwiebeln. Angewidert schreckte sie zurück.

»Du mußt mir versprechen, daß du diese Mitteilung mit äußerster Vorsicht behandelst.«

»Das mache ich mit allem«, erwiderte sie leicht gereizt. »Aber dir muß klar sein, wie wichtig deine Aussage ist. Du sprichst von demjenigen, der vielleicht der letzte war, der Escrach lebend gesehen hat.«

Bruder Solam hob den Arm, als wolle er sich entschuldigen. »Versteh doch, die Sache beunruhigt mich sehr, und mir liegt daran, daß man äußerst zurückhaltend mit dem umgeht, was ich dir erzähle, damit es nicht falsch ausgelegt wird.«

»Überlaß die Auslegung und die Vorsicht mir. Wenn deine Mitteilung wertvoll ist, werde ich beurteilen, wie und wann sie verwendet wird. Was bereitet dir also solch ein Unbehagen?«

»Escrach ging weiter den alten Pfad entlang. Ich lief den Hügel hinab auf die Abtei zu.«

»Ich verstehe«, sagte Fidelma, als der Mönch wieder innehielt.

»Ich war schon dicht dran, da hörte ich ein Fuhrwerk heranrollen. Der Mond schien hell, ich konnte dunkle Umrisse auf dem Weg erkennen. Ich weiß nicht mehr, warum ich beiseite unter die Bäume trat. Ich glaube, es lag an einem der beiden Männer auf dem Kutschbock.«

»Was für ein Fuhrwerk war das?«

»Ein normaler fen, ein gewöhnlicher Frachtkarren, der von zwei Ochsen gezogen wird. Warum fragst du?«

»Im Detail liegt die Antwort, Bruder Solam. Du hast also ein Gefährt gesehen und dich versteckt. Etwas beunruhigte dich. Wie sah dieser Wagen aus? Hatte er massive oder Speichenräder?«

»Er hatte massive Räder.«

»Diese Art Räder deuten darauf hin, daß der Besitzer nicht so wohlhabend ist wie der eines Wagens mit Speichenrädern. Du hast also einen ziemlich einfachen Karren gesehen. Und dich hat der Anblick des einen Mannes so verschreckt, daß du dich versteckt hast.«

Bruder Solam nickte. »Einen von ihnen habe ich nicht erkannt. Das gebe ich zu. Aber ich sah sein Gewand.«

»Sein Gewand?«

»Es war einer der drei Fremden, die sich im Kloster aufhalten.«

Fidelma blinzelte heftig. Das war aber auch das einzige, was ihre Überraschung verriet. Also hatte Brocc doch recht gehabt. Einer der Fremden war in jener Nacht auf dem Hügel gewesen.

Bruder Solam erzählte weiter. »Ich sah das weiße Gewand, das die Aksumiter tragen, und mir fiel auf, daß der Mann recht groß und sein Gesicht dunkel war.«

»Und du sagst, daß der andere das Gefährt lenkte. Wer war der Mann?«

»Genau das bereitet mir solches Unbehagen.«

Fidelma starrte ihn an. »Der Anblick eines der Fremden in jener Nacht auf jenem Fuhrwerk hat dich nicht beunruhigt? Sondern der Kutscher. Wer war das? Sag es mir.«

Bruder Solam mußte schlucken, dann antwortete er: »Der Kutscher war der Tanist.«

Fidelmas Augenbrauen schossen in die Höhe. »Ac-cobrän?«

»Ja, es war wirklich der Tanist Accobrän«, bekräftigte der Mönch noch einmal.

Einen Moment lang herrschte Schweigen. Mit einer Handbewegung forderte Fidelma Bruder Solam auf fortzufahren.

»Ich fürchtete mich und hatte mich daher verborgen. Was hatte der Fremde wohl nachts draußen zu suchen? Was machte Accobrän auf einem simplen Fuhrwerk, neben dem Fremden? All das ging mir durch den Kopf. Als sie mein Versteck passierten, konnte ich ein paar Fetzen ihrer Unterhaltung aufschnappen, schließlich war die Nacht still und klar. Sie unterhielten sich auf griechisch. Die Fremden scheinen diese Sprache gut zu beherrschen, im Kloster verständigen wir uns auch so mit ihnen.«

»Du sprichst Griechisch?« fragte Fidelma.

»Ich kann Dion Chrysostomos, Hippolytos, Diogenes Läertios, Herodot von Halikarnassus und andere übersetzen«, erwiderte er.

Fidelma unterbrach ihn. »Und was hast du von diesem Gespräch aufgeschnappt?«

»Der Fremde sagte, daß die Dinge unter einem günstigen Stern stünden. Daß sie wie die Tochter von Hyperion und Theia Macht über die Nacht hätte und noch einmal ihren Zauber auf Endymion ausüben würde.«

»Und weißt du auch, was er damit meinte?«

»Ich kenne nur das Griechisch aus den christlichen Texten. Doch er bezog sich wohl auf einen heidnischen Glauben, dem kein guter Christ die Ohren öffnen sollte.«

»Du hast deine Ohren vermutlich nicht verschlossen, oder?«

»Accobran antwortete, daß, solange Selene die Nacht beherrschte, ihnen noch viel Arbeit bevorstünde, denn bald würde Eos ihr Tun unterbrechen, und das Opfer der Nacht müßte noch davor gebracht werden. Mehr habe ich nicht mitbekommen, weil der Wagen an mir vorbei war und den Hügel aufwärts verschwand, in der gleichen Richtung, die Escrach eingeschlagen hatte.«

»Du weißt, wofür Selene steht, nicht wahr?« erkundigte sich Fidelma.

»Ich weiß, daß sie bei den heidnischen Griechen die Mondgöttin darstellte.«

»So ist es. Selene war die Tochter von Hyperion und Theia, und sie war die Mondgöttin. Eos war ihre Schwester, die Göttin der Morgenröte. Selene verliebte sich in Endymion, den König von Elis, einen Menschen, und da sie nicht mit ansehen wollte, wie er älter und gebrechlicher wurde, verbannte sie ihn in eine Höhle und versenkte ihn in tiefen Schlaf, damit er für immer jung bliebe.«

Bruder Solam schaute sie ehrfürchtig an. »Meine Kenntnisse lassen sich nicht mit deinen vergleichen, Schwester. Aber mir war klar, daß sie in jener Nacht über den Mond sprachen.«

»Wie ging es weiter?« fragte Fidelma. »Was hast du dann gemacht?«

»Ich kehrte ins Kloster zurück.«

»Und du hast weder dem Abt davon berichtet noch die Fremden und Accobran zur Rede gestellt?«

»Nein, das habe ich nicht getan.«

»Am nächsten Tag fand man Escrach ermordet auf dem Hügel. Warum hast du nicht spätesten dann die Sache Abt Brogan mitgeteilt?«

»Vielleicht, weil ich ein Feigling bin. Doch wie konnte ich sicher sein, mein Leben nicht zu gefährden, wenn ich preisgab, was ich in jener Nacht gesehen und gehört hatte? In letzter Zeit haben die Emotionen gegen unsere Abtei und die Mönche hier hohe Wellen geschlagen. Da konnte ich schlecht enthüllen, daß ich in der Mordnacht allein auf dem Hügel war und sogar mit Escrach gesprochen hatte. Falls einer der Fremden mit ihrer Ermordung zu tun hatte und ich als einziger Zeuge aussagen müßte, hätte ich vielleicht mein Leben verwirkt. Und dann ist da noch die Tatsache, daß Ac-cobran der Kutscher war und von einer Arbeit sprach, die sie bei Mondlicht verrichten müßten. Er hatte die Worte >Opfer der Nacht< gebraucht. Ich erinnere mich ganz genau daran. Auch wenn ich nicht deine hervor-ragenden Kenntnisse über die Griechen besitze, bin ich doch wenigstens ihrer Sprache mächtig.«

Fidelma saß einen Augenblick nachdenklich da, dann seufzte sie. »Du hast mir sehr geholfen, Bruder Solam. Ich werde das, was du mir anvertraut hast, für mich behalten, bis ich glaube, daß es von Nutzen ist. Ich werde niemandem von unserer Unterhaltung berichten, außer meinem Gehilfen Bruder Eadulf. Ich bürge für seine Verschwiegenheit. Und nun vergiß all deine Ängste.«

Bruder Solam wirkte erleichtert und erging sich in längeren Dankestiraden. Fidelma unterbrach ihn mit erhobener Hand und stand auf.

»Danke für deine Aufrichtigkeit, Bruder Solam. So, jetzt würde ich mich gern mit Bruder Dangila unterhalten.«

»Bruder Dangila?« Der Verwalter wirkte verlegen. Er sah sich nervös um. »Ich sagte doch, daß ich nicht weiß, um welchen Fremden es sich in jener Nacht handelte.«

»Es geht nicht um deine Geschichte. Ich will ihn in einer anderen Angelegenheit sprechen.«

Bruder Solam beruhigte das nicht.

»Ich weiß nicht ...«, fing er an.

»Was gibt es?« fragte Fidelma.

Bruder Solam fuhr sich nervös mit der Zunge über die Lippen. »Bruder Dangila ist nicht hier.«

Fidelma musterte den Mönch von oben bis unten. »Nicht hier? Wo ist er denn?«

»Bruder Dangila hat die Abtei zu einem Spaziergang verlassen.«

»Wenn ich mich recht erinnere, hat Abt Brogan angewiesen, daß die drei Gäste in der Abtei bleiben sollen, bis der Fall geklärt ist. Die Leute haben versucht, Bruder Dangila und seine Gefährten umzubringen, weil sie meinen, daß sie die Morde verübt haben. Bruder Dangilas Leben könnte in Gefahr sein, wenn man ihn draußen antrifft. Es ist deine Pflicht zu verhindern, daß den Gästen etwas zustößt.«

Bruder Solam machte eine hilflose Geste. »Ich habe es ja versucht, ihn zurückzuhalten, Schwester. Doch mit Bruder Dangila läßt sich nicht reden. Er bestand darauf, einen Spaziergang zu unternehmen.«

»Hast du ihm die Gefahr vor Augen geführt? Du hättest mich sofort davon unterrichten müssen. Falls man Bruder Dangila allein und ohne Schutz antreffen sollte ...« Fidelma verlor keine Zeit und lief zu ihrem Pferd zurück. »In welche Richtung ist er gegangen?« rief sie, während sie aufsaß.

»Er ist öfter in jene Richtung gelaufen«, sagte Bruder Solam und zeigte auf das schattige Eberdickicht, das sich über dem Kloster erhob. »Er ist oft ...«

Doch noch ehe er weitersprechen konnte, war Fidelma bereits in den Wald galoppiert, genau in die Richtung, in die der Verwalter gewiesen hatte.

Es war einfach unverantwortlich von Bruder Solam, dem fremden Mönch zu erlauben, sich allein vom Kloster zu entfernen. Solch eine Gedankenlosigkeit machte sie wütend. Ihr Pferd erklomm mühelos den Hügel. Der Wald wurde immer lichter. Bald gelangte sie auf einen kahlen Felsen. Dort standen ein paar verwitterte große Steine, als seien sie in grauer Vorzeit hingeschafft worden, um einen Steinkreis zu bilden. Offensichtlich hatte man das Vorhaben nur halb ausgeführt, denn die Felsbrocken lagen verstreut da, der Kreis war nur halb geschlossen. Da sah sie Bruder Dangila auch schon. Es saß auf einem der Steine, das Kinn auf eine Hand gestützt, der Ellbogen ruhte auf einem Knie. Er schien in die Weite des Himmels zu blicken.

Als er ihr schnaufendes Pferd herannahen hörte, wandte er sich um. Er erhob sich und wartete auf sie. Sein Gesicht blieb unverändert.

Sie ließ sich vom Pferd herab, und er begrüßte sie mit starkem Akzent, aber in ihrer Muttersprache: »Gesegnet seist du, Fidelma von Cashel.«

»Es ist sehr unklug, so allein unterwegs zu sein, Bruder Dangila«, erwiderte sie ohne Umschweife auf griechisch. »Die Leute hier sind immer noch in Panik, und wir sind weit davon entfernt, geklärt zu haben, wer der Mörder ist. Du solltest dich nicht außerhalb des schützenden Klosters aufhalten.«

Bruder Dangila neigte würdevoll den Kopf.

»Danke, daß du dich so um mich sorgst, Fidelma von Cashel«, antwortete er nun auch auf griechisch. »Der Gott König Salomos wird mich beschützen. Ich fürchte mich nicht.«

Fidelma schlang die Zügel ihres Pferdes um einen kleinen Strauch und setzte sich dann auf einen der Steine, die längs hingestreckt lagen. Der hochgewachsene Aksumiter nahm ebenfalls wieder Platz und betrachtete sie neugierig.

»Der Abt hatte mir versichert, daß du die Abtei nicht verlassen würdest«, sagte sie gereizt.

»Hast du mich nur aus Sorge um mein Wohlergehen gesucht?« fragte er. Er lächelte dabei leicht, als wüßte er es besser. Einen Moment lang war Fidelma verlegen. Auf einmal fixierten ihre Augen sein weißes wollenes Gewand.

»Heute trägst du ja gar nicht dein silbernes Kreuz«, stellte sie fest.

Sofort fuhr Bruder Dangilas Hand an seinen Hals. Er zögerte erst, doch dann nickte er. »Ich muß es im Dormitorium vergessen haben. Keine Angst. Dort liegt es gut, ich glaube, ich weiß auch, wo. Hat dich also doch die Sorge um mich hierhergeführt?«

Dabei hob sich fragend eine Augenbraue, die einzige Regung im Gesicht des fremden Mannes.

»Sind das die Steine, die man den Steinkreis der Wildschweine nennt?« fragte sie.

»Ich glaube, ja«, erwiderte Dangila ernst. »Die Steine sehen aus wie kleine Frischlinge, die sich um die Bache geschart haben.«

»Und hier wurde ...?« Sie ließ die Frage offen.

»So hat man es mir gesagt.«

Sie wartete eine Weile, und als ihr Gegenüber nicht sprach, fragte sie: »Kommst du oft hier auf den Hügel, um zu meditieren?«

»Mein Volk sinnt gewöhnlich auf diese Weise über die Werke des Gottes von König Salomo nach, aus dessen Samen mein Volk abstammt«, erwiderte Bruder Dangila. »Steht nicht in den Psalmen geschrieben: >Wenn ich sehe den Himmel, deiner Finger Werk, den Mond und die Sterne, die du bereitet hast: Was ist der Mensch, daß du seiner gedenkst?<«

In seinem Griechisch hatten die Worte des Psalms einen wunderbaren Klang.

»Dann kommst du also nachts her, um Mond und Sterne zu betrachten?« entgegnete sie schnell.

Bruder Dangila blickte sie lächelnd an. »Du hast einen flinken Verstand, Fidelma von Cashel.«

»Ich schätze, daß Brocc dich in jener Nacht gesehen hat, nicht wahr?«

»Habe ich das zugegeben? Wen immer Brocc gesehen haben mag, er muß ihn identifizieren. Ehe er das nicht getan hat, gibt es nichts weiter zu sagen.«

»Das kann er nicht. Das weißt du genausogut wie ich. Was mich bewegt, ist, daß man am nächsten Tag Escrachs Leiche ganz in der Nähe fand, und zuvor die Leiche von Beccnat.«

»Ich gebe dir mein Wort, ich habe sie nicht umgebracht«, erwiderte er mit ruhiger Stimme.

»Dann wollen wir eine Hypothese aufstellen.«

»Welcher Art?«

»Brocc denkt, daß derjenige, der auf dem Felsen saß und den Sternenhimmel betrachtete, böse Absichten hegte, insbesondere da es bei Vollmond war und genau in jener Nacht seine Nichte umgebracht wurde.«

»Das, was Broccs Gedanken so in Aufruhr versetzt, ist etwas, das ganz allein in ihm begründet liegt«, entgegnete Bruder Dangila. »Ich bin nicht verantwortlich für seine Gedanken.«

»So könntest du vielleicht eine unschuldigere Erklärung dagegenhalten. Gehen wir doch von einer anderen Annahme aus, um zu sehen, worin diese harmlosere Deutung bestehen könnte.«

Der Aksumiter dachte einen Augenblick nach, dann zuckte er die Schultern. »Nehmen wir einfach mal an, daß da ein Mann wie ich gesessen hat, der Gottes Schöpfung betrachtete und die Sterne auf ihren Bahnen durch das All beobachtete. Er war einzig in die Geschehnisse am Himmel vertieft und sah nichts um sich herum. Er würde sagen, er sei nach einer Weile wieder fortgegangen - ohne irgend etwas von den bösen Taten mitbekommen zu haben.«

»Du und deine Gefährten - ihr interessiert euch für die Bahnen der Sterne?«

»Diese Wissenschaft ist schon sehr alt, Fidelma von Cashel. Dein Volk befaßt sich seit langem damit, zumindest haben wir das festgestellt. Es könnte sein -und damit fahren wir rein hypothetisch fort«, warf er ernst ein, »daß wir das in den alten Schriften Gelesene direkt mit der Sternenkarte nachts am Himmel, so wie Gott sie uns zeigt, vergleichen wollen.«

»Bist du schon immer Mönch gewesen?« fragte sie unerwartet.

Zum erstenmal zeigte sich im Gesicht des Aksumi-ters ein breites Lächeln.

»Mit Dreißig habe ich beschlossen, Mönch zu werden, mit Dreiunddreißig geriet ich in die Sklaverei und wurde nach Rom geschickt.«

»Und was hast du davor getan?«

»Da habe ich in den großen Goldminen gearbeitet -sozusagen in den Minen von König Salomo.«

»In den Goldminen?«

»Im Schatten des Ras Dashen, unseres höchsten Berges«, bekräftigte Bruder Dangila. »Von Aksum aus wurden die sagenhaften Schatztempel von König Salomo versorgt, und von dort stammt auch dessen unermeßlicher Reichtum. Menelik, der Sohn Salomos und der Königin von Saba, wurde unser Herrscher. Unsere Minen begründen immer noch den Reichtum von Aksum. Mein Vater war Minenarbeiter, und ich tat es ihm gleich. Doch das befriedigte mich nicht. Ein heiliger Mann, der an den Hängen des Ras Dashen lebte, brachte mir mehr bei, als eine ertragreiche Gold- oder Kupferader zu entdecken. Bei ihm lernte ich Griechisch und ein paar Worte Latein und las einige der Heiligen Texte. Ich ging aus den Bergen fort nach Adulis, und den Rest habe ich dir schon erzählt.«

»Ich würde gar zu gern erfahren, wieso ihr drei ausgerechnet das Kloster des heiligen Finnbarr ausgewählt habt.«

»Die Antwort ist ganz einfach. Der Abt verwahrt die Schriften eures gelehrten Aibhistin, und wir wollten sie studieren, nachdem andere Abhandlungen uns darauf verwiesen haben.«

»Ja, davon hast du mir schon erzählt. Von wem wußtet ihr, daß sie hier aufbewahrt werden?«

»Im Kloster Molaga haben wir viel über eure Kultur erfahren, unter anderem auch über euer stetes Interesse an den Vorgängen am Firmament. Und wie ich schon sagte, wir entdeckten gewisse Gemeinsamkeiten zu den Thesen von Aibhistin. Ein glücklicher Zufall wollte es, daß sich ein Mann von hier zu der Zeit im Kloster Mo-laga aufhielt. Er überredete uns hierherzukommen.«

»Oh, war es einer der Mönche aus der Abtei?« Sie wollte herausfinden, ob das, was ihr Bruder Tüan gesagt hatte, der Wahrheit entsprach.

»Nein«, erwiderte Bruder Dangila. »Es war der junge Mann . der Prinz, ich vergesse immer wieder, wie er in eurer Sprache genannt wird . Er heißt Ac-cobrän.«

»Er hat euch auf die Werke Aibhistins in diesem Kloster hingewiesen?«

»So ist es. Wir sind ihm sehr zu Dank verpflichtet. Es handelt sich um einzigartige Untersuchungen, besonders was die Tabellen über den Mond und die Gezeiten angeht. Mir ist noch nie eine Abhandlung untergekommen, die so genau die Beziehung zwischen Gezeiten und den Mondphasen darstellt.«

Leise atmete Fidelma aus.

»Du scheinst beunruhigt zu sein, Lady«, stellte Bruder Dangila scharfsinnig fest.

»Wenn man in deinem Land junge Mädchen kaltblütig ermordet hätte, so wie es hier geschehen ist, würdest du dann nicht auch beunruhigt sein?«

Der hochgewachsene Mann neigte den Kopf.

»Es mag dir kaum etwas nützen, doch ich würde gern einen Eid leisten auf die Bundeslade, die an einem unbekannten geheiligten Ort in meinem Land liegt . Ich würde gern den Eid leisten, daß meine Ge-fährten und ich nichts mit diesen schrecklichen Mordtaten zu tun haben. Und ich muß einräumen, wir wären unter ähnlichen Bedingungen in unserem Land auch sehr mißtrauisch gegenüber Fremden.«

»Ein Eid ist wenig nütze. Auch wenn ich dir vielleicht glaube, die Leute hier tun es nicht.«

»Sie fürchten sich, weil wir eine andere Hautfarbe haben.«

»Eine größere Rolle spielt, daß ihr hier fremd seid und die Leute Angst haben vor Fremden. Geht es deinem Volk in Aksum nicht ebenso?«

»Manchen vielleicht. Aksum liegt an einem Knotenpunkt vieler Kulturen und vieler Glaubensrichtungen. Wir haben gelernt, mit den meisten Nachbarn in Harmonie zu leben, ganz gleich, wie sie aussehen, welche Sprache sie sprechen oder welchem Gott oder welchen Göttern sie huldigen.«

»Das klingt nach einem idealen Ort«, sagte Fidelma ein wenig sarkastisch. »Doch wenn ihr gelernt habt, mit euren Nachbarn in Frieden zu leben, wie konntet ihr da gefangen und als Sklaven verkauft werden?«

Bruder Dangila lächelte. »Selbst im Garten Eden gab es eine Schlange.«

»Deine Worte sind sehr weise, Bruder Dangila.«

»In den Sprüchen Salomos werden uns die sieben Dinge genannt, die Gott verabscheut: ein stolzes Auge, eine falsche Zunge, Hände, die unschuldiges Blut vergießen, ein Herz, das Ränke schmiedet, Füße, die behende sind, Schaden zu tun, ein falscher Zeuge und einer, der unter Brüdern Zwietracht sät.«

»Weise Worte sind in jeder Sprache bedeutungsvoll«, meinte Fidelma.

»Man kann nicht verantwortlich gemacht werden für die finsteren Gedanken und Taten aller Brüder und Schwestern. Es leben viele in Aksum und den Häfen am Meer, die mit Menschenhandel Geld verdienen, darunter auch Christen. In unserer Welt, Schwester, gibt es verschiedene Möglichkeiten, Sklave zu werden. Manchmal verkaufen Eltern ihre Kinder, um sich von Schulden zu befreien. Andere verkaufen sich selbst in die Sklaverei, um kein Leben voller Unsicherheit mehr führen zu müssen oder auch nur, um einen Platz im Leben zu finden. Ich hatte Pech. Meine Freunde und ich wurden gefangengenommen. In Rom erwarb uns dann ein christlicher Bischof.«

»Ach, und er hat versucht, euch freizulassen?«

Bruder Dangila stieß ein entrüstetes Lachen aus. »Er war Sklavenhalter. Keine Freiheit für uns. Er predigte im Sinne des Paulus von Tarsus: Jeder Mensch sollte sich mit den Bedingungen zufriedengeben, in die er hineingeboren wurde. Warst du ein Sklave, als du in diese Welt getreten bist? Das soll dich nicht beunruhigen, doch selbst wenn dir die Freiheit winkt, so entscheide dich lieber dafür, in Knechtschaft weiterzuleben. Er beschloß erst, uns an einen Franken zu verkaufen, als wir zu aufrührerisch wurden und für unsere Freiheit kämpften. Vielleicht sollten wir dir unsere Rücken zeigen, die dafür mit der Lederpeitsche traktiert wurden.« Er nickte, als Fidelma erschauderte. »Ich will dir diesen Anblick nicht zumuten, Fidelma von Cashel. Das ist das Kreuz, das ich trage. Wie ich dir schon sagte, waren wir anschließend auf hoher See unterwegs zu einem gottverlassenen Land namens Franken, als das Schiff auf Grund lief und wir uns ans Ufer retten konnten.«

»Nach unserem Gesetz dürfen Menschen nicht in Knechtschaft gehalten werden«, sagte Fidelma. »Diejenigen aber, die das Gesetz übertreten, büßen oft ihre Rechte als Freie ein. Gelegentlich verkaufen skrupellose Kaufleute sie in ferne Länder, wo das Halten von Sklaven üblich ist. Ich war in den sächsischen Königreichen, in Rom und auch in Iberia und habe etwas von der Welt außerhalb unserer Küsten gesehen. Es ist keine gute Welt.«

»Du tätest wohl daran zu bedenken, daß dieses Land nicht vom Rest der Welt isoliert existiert, sondern die Sünden der Menschheit mitträgt«, bemerkte Bruder Dangila trocken.

Fidelma lächelte leicht. »Das ist gut gesagt, Bruder Dangila. Du hast recht, und du erinnerst mich an unsere Schwächen und meine Pflichten. Kehren wir also zu unserer letzten Hypothese zurück.«

»Ich ändere meine Haltung dazu nicht.«

»Das meine ich gar nicht. Ich möchte nur ein wenig die These ausbauen, daß Brocc dich damals gesehen hat. Du mußt wissen, der war in jener Nacht nicht der einzige auf dem Hügel, den man in den Zeugenstand rufen wird.«

Bruder Dangila schaute sie mit undurchdringlichem Gesicht an. »Dann soll doch der andere Zeuge die richtige Person identifizieren, und wir könnten diese ganzen Spekulationen sein lassen. Ein Brehon akzeptiert schließlich nur bewiesene Tatsachen, wenn er ein Urteil zu fällen hat!«

»Also nennen wir es einmal nur Vermutung. Ich gehe wohl recht in der Annahme, daß du zu deiner Verteidigung vorbringen würdest, einzig aus purem Interesse an der Wissenschaft die Sterne betrachtet zu haben.«

»Aber ja.«

Fidelma sprach nun ganz ernst mit ihm. »Dann möchte ich dies als Warnung anfügen, Bruder Dangila. Wenn sich meine Vermutung als falsch erweist, kann ich zu einem Blitz werden, der in eine hohe Eiche fährt. Die Wirkung wäre ungeheuerlich. Ich glaube, du verstehst mich.«

»Das war sehr deutlich, Fidelma von Cashel. Du bist eine Frau mit Prinzipien und Mut, und dafür bewundere ich dich.«

Fidelma wollte Bruder Dangila gerade fragen, warum er auf Accobrans Wagen gesessen hatte, als plötzlich ein Rufen vom Waldrand herüberdrang. Im nächsten Moment preschte Accobran auf seinem Pferd unter den Bäumen hervor, mit einem Schwert in der Hand. Ihm folgte Eadulf, ebenfalls zu Pferde.

Bruder Dangila sprang auf. Zu Fidelmas Überraschung stellte sich der große Aksumiter vor ihr auf, als wolle er sie vor einem Angriff beschützen.

»Warte!« rief Fidelma. Sie konnte gerade noch Bruder Dangilas Hand ergreifen, in der auf einmal ein Messer aufblitzte. Dann rief sie dem Tanist zu: »Senk dein Schwert! Halte ein, sage ich!«

Accobran zog die Zügel fest an und glitt vom Pferd. Schon stand er mit erhobenem Schwert vor Dangila. Eadulf ließ sich neben ihm vom Pferd.

»Was hat das zu bedeuten, Accobran?«

»Dir ist nichts geschehen, Lady?« fragte der Tanist.

»Natürlich nicht«, erwiderte Fidelma verärgert. »Warum bedrohst du Bruder Dangila mit dem Schwert? Steck es in die Scheide zurück, sage ich. Ich bin nicht in Gefahr.«

Accobrans Augen waren voller Mißtrauen.

»Wie lange bist du schon mit Bruder Dangila hier?« fragte er, ohne ihre Anweisung zu befolgen.

Fidelma zuckte mit den Schultern. »Für eine Unterhaltung hat es gereicht.« Sie blickte zu Eadulf, der nun zu ihr trat. »Eadulf, kannst du mir euer Verhalten erklären, Accobran ist dazu wohl nicht in der Lage.«

Eadulf war zutiefst erleichtert, als er ihre Hand nahm.

»Wir haben um deine Sicherheit gefürchtet .«

»Warum? Ich verstehe das nicht. Habe ich dir nicht gesagt, daß mir nichts geschehen wird?«

»Lesren ist ...« Eadulf zögerte, als müsse er erst die richtigen Worte finden.

»Lesren ist . ? Um Himmels willen, was ist mit ihm?«

Schließlich antwortete Accobran. »Lesren ist vor kurzem aufgefunden worden. Mit durchschnittener Kehle.«

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