Kapitel 3

Am nächsten Vormittag verließen Fidelma, Eadulf und Becc Cashel, allerdings nicht bei Morgengrauen, wie Fidelma es vorgeschlagen hatte. Die Sonne stand fast schon im Zenit, als sie sich auf den Weg machten. Das Fest mit Musik und Tanz hatte bis tief in die Nacht angedauert. Barden, die sich auf Saiteninstrumenten begleiteten, hatten Preislieder auf die Vorfahren von Colgü angestimmt. Solche Preislieder nannte man forsundud, wie Fidelma Eadulf erklärte. Sie stellten die älteste Dichtkunst ihres Volkes dar und priesen die edlen Taten der einzelnen Könige von Cashel. Ihr Vortrag wurde von einer ausgelassenen Musik begleitet, die in Eadulfs Ohren eher fremd und wild klang. Der Wein war reichlich geflossen. Als die drei zum Land der Cinel na Äeda aufbrachen, lag das Schloß von Cashel noch ganz verschlafen da. Und auch Eadulf und Becc schienen müde zu sein und waren sehr schweigsam. Fidelma ahnte, daß wohl ihr ausgiebiger Alkoholgenuß daran schuld war, und hatte kein Mitleid mit ihnen.

Nach einem gemächlichen Dreitageritt erreichten sie kurz nach Einbruch der Dunkelheit die Festung der Cinel na Äeda namens Rath Raithlen. Im Hof wurden sie von Accobran, dem Tanist, empfangen. Der junge Mann war hochgewachsen und muskulös, seine dunklen Haare trug er der Mode nach schulterlang, sein Gesicht war glattrasiert. Er wirkte freundlich, doch um seinen Mund zeigten sich harte Züge, eine kaum wahrnehmbare Grausamkeit ging von ihm aus. Er hatte dunkle Augen, und Fidelma mißtraute sofort seinem allzu schnellen Lächeln.

»War alles ruhig, während ich in Cashel war?« war Beccs erste Frage, als er vom Pferd stieg.

Accobran machte eine vage Handbewegung. »Brocc hat sich von seiner Verletzung erholt. Er verlangt, freigelassen zu werden.«

»Der ist ungestüm wie ein wilder Stier«, murmelte Becc. »Ich dachte, ich hätte ihm eine Lektion erteilt und er würde keine Unruhe mehr stiften.«

Accobran lächelte, doch er wirkte angespannt. »Er braucht niemanden zu etwas anzustiften. Die Leute sind ziemlich wütend darüber, daß wir ihn festhalten.«

»So laß ihn frei. Aber mit der Auflage, sich nur bei seinem Bruder aufzuhalten, bei Seachlann«, erklärte Becc. »Und Seachlann wird sich für jedes Vergehen von Brocc verantworten müssen, bis wir den Fall, dem Gesetz entsprechend, gelöst haben.«

Der junge Tanist nahm den Befehl entgegen und wandte sich um. Da sah er, wie Eadulf Fidelma vom Pferd half. Sein Gesicht verdüsterte sich.

»Ich habe geglaubt, du würdest einen Brehon mitbringen. Das letzte, was wir hier benötigen, sind noch mehr Mönche und Nonnen. Die Leute sind schon mißtrauisch und zornig genug.«

Becc schnalzte verärgert mit der Zunge.

»Neffe, das ist Fidelma von Cashel, die Schwester des Königs und unsere Cousine. Du solltest auch wissen, daß sie eine ausgebildete dalaigh ist ... Und das ist ihr Gefährte Eadulf von Seaxmund’s Ham.«

Accobrans Augen weiteten sich überrascht, doch er hatte sich sofort wieder in der Gewalt.

»Verzeih mir, Lady.« Accobran lächelte nun besänftigend. »Ich kannte dich nicht von Angesicht, aber von deinem Ruhm ist schon viel an mein Ohr gedrungen. In diesem Königreich erwähnt man häufig deinen Namen.« Seine charmanten Äußerungen stießen Fidelma sofort ab. Der Tanist fuhr jedoch unbeirrt fort. Eadulfs abschätzigen Blick bemerkte er offenbar nicht. »Du erweist uns eine große Ehre mit deinem Besuch.«

»Es ist wohl kaum eine Ehre, von so traurigen Verbrechen hierhergeführt zu werden, Nachfolger des Herrschers der Cinel na Äeda«, erwiderte Fidelma ruhig, wobei sie den jungen Mann neugierig musterte. Sein Gesicht wirkte wie eine je nach Anlaß wandelbare Maske. Sie mißtraute jedem, der Gefühle so spielerisch äußern und sie gleich wieder ablegen konnte, hielt ihn für eitel und selbstgefällig. »Mein Gefährte Eadulf ist gut vertraut mit den Gesetzen, und er ist auch mein fer comtha.«

Obwohl Accobran diese Auskunft über ihre eheähnliche Beziehung zu dem Angelsachsen sicher erstaunte, zeigte er sich sehr respektvoll.

»Ich werde euch Gästezimmer und ein warmes Bad richten lassen«, murmelte er. »Entschuldigt mich.« Er verschwand in dem Gebäudeteil der Festung, in dem sich Beccs private Gemächer befanden.

»Mein Nachfolger ist jung, Cousine. Erst vor einem Jahr ist er in dieses Amt gewählt worden. Daher ist sein Verhalten, was die Formen betrifft, noch nicht sonderlich ausgefeilt. Wenn er mich einst ersetzen und das Schicksal der Cinel na Äeda lenken muß, wird er hoffentlich besonnener reagieren.«

»Du mußt dich nicht entschuldigen«, meinte Fidelma leise, denn sie war überrascht, daß ihre Reaktion so deutlich gewesen war.

Der alte Fürst lächelte rasch.

»Ich will es nur erklären, nicht entschuldigen«, erwiderte er ruhig. »Und nun tretet in meine Halle und nehmt eine Erfrischung zu euch, während eure Räume vorbereitet werden.«

Sie folgten ihm in die Halle, die nicht übermäßig groß war. Ein Feuer prasselte, und der Wein war schon wohltuend warm. Sie nahmen vor dem Feuer Platz. Ein paar Bedienstete trugen ihre Taschen herein, während andere die Pferde versorgten.

»Wann werdet ihr mit der Untersuchung anfangen?« fragte Becc, nachdem er die nötigen Befehle erteilt hatte, der Glühwein gereicht war und sich Accobran mit der Mitteilung zu ihnen gesellt hatte, daß in einer Stunde das Bad fertig sein würde.

Fidelma genoß den warmen Wein.

»Ich werde sofort anfangen«, antwortete sie zur Überraschung aller Anwesenden.

»Aber es ist doch schon dunkel ...«, warf Becc ein.

»Ich meine damit, daß ich gleich etwas über den Hintergrund der Opfer wissen will«, erwiderte sie geduldig. »Wer waren die Mädchen?«

Becc runzelte die Stirn und blickte Accobran an, dann wandte er sich wieder Fidelma zu.

»Ich weiß kaum mehr, als ich bereits gesagt habe. Ich könnte Lesren, den Gerber, und Seachlann, den Müller, morgen herholen lassen.«

»Das sind die Väter von Beccnat und Escrach, den ersten beiden Opfern«, fügte Accobran hinzu.

»Ich würde sie lieber dort aufsuchen, wo sie wohnen und arbeiten«, entgegnete Fidelma rasch. »Ich hatte gehofft, daß du mir weiterhelfen könntest.«

Accobran wirkte erstaunt. »Ich bin nicht sicher, ob ich .«

»Komm schon, Accobran. Du bist ein junger Mann und kennst gewiß die meisten jungen Mädchen in dieser Gegend, oder?«

Der Tanist rang sich ein Lächeln ab. »Das hängt davon ab, welche Auskünfte du benötigst.«

»Nun, fangen wir mit dem ersten Opfer an, Becc-nat. Das war die Tochter des Gerbers Lesren?«

»Ja. Lesren arbeitet auf der anderen Seite des Hügels, in dem Tal am Fluß.«

»Was weißt du von ihr? War sie hübsch?«

»Sie war jung, gerade siebzehn, und sollte bald Golls Sohn heiraten. Goll ist der Holzfäller hier.«

»Das stimmt«, warf Becc nun ein. »Lesren mochte den Jungen nicht, Golls Sohn, das heißt - zuerst hielt man ihn sogar für den Mörder. Also vielmehr Lesren tat das, er beschuldigte den Jungen.«

»Wie heißt er?«

»Golls Sohn? Er heißt Gabran.«

»Und du sagst, daß man ihn verdächtigt hat? Welche Beweise haben ihn denn von dem Verdacht befreit?«

»Höchstwahrscheinlich verdächtigt Lesren ihn immer noch«, meinte Accobran. »Doch Gabran hat ein hieb- und stichfestes Alibi. Er war nicht hier im Dorf, sondern unterwegs, um Arbeitsgeräte einzukaufen. Bei Vollmond befand er sich zwölf Meilen von hier entfernt, im Kloster Molaga an der Küste.«

»Ich kenne das Kloster Molaga.« Fidelma nickte. »Wie wurde Beccnat umgebracht?«

»Wie ich schon sagte«, fuhr jetzt Becc fort, »ihre Leiche wurde im Wald, nur dreihundert Meter von hier entfernt, gefunden. Es sah aus, als wäre sie von einem Rudel Wölfe zerfetzt worden.«

Fidelma lehnte sich vor. »Warum meinen dann die Dorfbewohner, daß es sich um Mord handelt, und warum fiel der Verdacht auf Gabran, Golls Sohn? Könnten nicht auch Wölfe oder andere Raubtiere das Mädchen angefallen haben?«

»Vorstellbar ist das schon, aber nicht wahrscheinlich«, erwiderte Accobran. »Normalerweise fallen Wölfe keine Menschen an, noch dazu erwachsene Personen, es sei denn, sie werden vom Hunger dazu getrieben. Li-ag, unser Heilkundiger und Arzt, hat jedoch festgestellt, daß Beccnats Wunden von Messerstichen verursacht wurden. Erst nachdem er sich die Leiche angesehen hatte, wurden wir uns der Tatsache bewußt.«

»Hat dieser Liag . Hat er alle drei Opfer untersucht?«

»Ja«, bestätigte Becc.

»Dann wollen wir ihn auch aufsuchen«, erklärte Fidelma. »Wohnt er in der Festung?«

Accobran schüttelte den Kopf. »Er wohnt im Wald auf einem kleinen Hügel am Fluß Tuath - ein merkwürdiger Mann, der sich der Gesellschaft anderer entzieht. Er lebt fast wie ein Eremit. Aber er weiß sehr viel und hat schon die verschiedensten Leiden erfolgreich kuriert.«

»Hat er feststellen können, ob zwischen den Opfern irgendein Zusammenhang bestand?«

»Ich weiß nicht, ob ich die Frage richtig verstanden habe«, fragte Becc verblüfft.

»Ich meine die Art ihres Todes. Sind sie alle auf die gleiche Weise umgekommen? Gab es Parallelen?«

»Oh, Liag war sich sicher, daß sie alle von Menschen getötet wurden und nicht von wilden Tieren. Außerdem sagte er, alle drei starben durch ein und dieselbe Hand. Hier scheint ein Besessener am Werke gewesen zu sein.«

»Habe ich richtig verstanden, daß das zweite Mädchen genauso alt war wie das erste?«

Becc nickte traurig. »Escrach, die jüngste Tochter von Seachlann, war ein nettes junges Mädchen.«

»Ihr Tod hat Seachlann schwer getroffen«, fügte Accobran hinzu. »Brocc, der die Leute gegen die Klostergemeinschaft aufgebracht hat, ist sein Bruder.«

»Derjenige, der behauptet, die Fremden seien die Mörder?« Fidelma wollte es genau wissen.

»So ist es.«

»Sieht Seachlann die Sache genauso wie sein Bruder?«

»Ja.«

»Dann müssen wir beide befragen und herausfinden, warum sie die Mönche beschuldigen. Welches Handwerk übt Seachlann aus?«

»Er ist der Müller. Seine Mühle befindet sich auf dem Hügel genau südlich von hier.«

»Was ist mit dem dritten Mädchen, dieser Ballgel?«

»Wir kannten sie gut. Sie half in meiner Küche ihrem Onkel Sirin. Er ist hier der Koch«, sagte Becc.

»Wohnte sie auch hier?«

Accobran antwortete mit einem Kopfschütteln. »Nein. Sie lebte bei Berrach, einer älteren Tante ...«

»Ist das Sirins Frau?« fragte Eadulf.

»Sirin ist nicht verheiratet. Nein, Berrach ist Sirins Schwester, sie war aber auch die Schwester von Ballgels Mutter. Ballgels Eltern sind beide tot. Berrach hat sich um sie gekümmert. Sie besitzt eine kleine Hütte, eine halbe Stunde von hier entfernt. Mein Verwalter Adag hat sicher einen Fehler gemacht, das Mädchen nach Mitternacht allein nach Hause gehen zu lassen, wo es doch schon zwei Morde gegeben hat.«

Nachdenklich blickte Fidelma zu Accobran hinüber.

»Eine logische Schlußfolgerung«, erwiderte sie, ehe sie sich wieder an Becc wandte. »Warum ließ man sie allein gehen? Warum war sie überhaupt in jener Nacht noch so spät hier?«

»Ich hatte an jenem Abend Gäste. Sirin und Ballgel wurden hier gebraucht. Das war nicht ungewöhnlich, und zuvor ist auch nie etwas passiert. Ich habe mich um meine Gäste gekümmert und wußte nicht, wann genau das Mädchen weggegangen ist . « Er schwieg, fügte dann aber, sich ein wenig verteidigend, hinzu: »Ich bin der Fürst der Cinel na Äeda.«

Fidelma lächelte ruhig. »Becc, ich wollte damit nicht sagen, daß du persönlich für den Arbeitsablauf der in deinem Dienst Stehenden zuständig bist. Du könntest aber nach deinem Verwalter schicken, der darüber Bescheid wissen müßte.« Sie hielt inne. »Hält sich der Koch Sirin gerade in der Festung auf?«

Accobran nickte.

»So laß ihn rufen.«

Accobran erhob sich, um ihrer Bitte Folge zu leisten.

»Ich schätze, alle deine Gäste übernachteten hier, und ihr habt bis tief in die Nacht hinein gezecht?« fragte Fidelma nun Becc.

»Bis der Morgen graute. Nur Abt Brogan machte sich früher zur Abtei auf; er ging als erster.«

»Wann ging er weg? Noch vor Ballgel?«

»Das weiß ich nicht. Da mußt du meinen Verwalter fragen. Erst am nächsten Morgen teilte mir Adag mit, daß Ballgel kurz nach Mitternacht aufgebrochen war. Wann aber der Abt gegangen ist, weiß ich nicht. Vielleicht kann es dir Adag sagen.«

»Von dem Abt mal abgesehen, wer waren die anderen Gäste?«

»Fürsten benachbarter Stammesgebiete. Drei an der Zahl. Sie schliefen fest und wurden nicht gestört, selbst als Adag mich am nächsten Morgen früh aufweckte. Zu dem Zeitpunkt zogen die Leute, nachdem sie auf Ballgels Leiche gestoßen waren, vor die Abtei.«

Fidelma runzelte die Stirn. »Mir ist aufgefallen, daß Accobran jünger und stärker ist als du, Becc. Warum hat er sich nicht mit den Unruhestiftern auseinandergesetzt?«

»Er war nicht hier«, erklärte Becc.

»Ach? Er hat an dem Abendessen nicht teilgenommen?«

»Er hielt sich in jener Nacht nicht in der Festung auf.«

Da betrat Accobran wieder die Halle und kündigte an, daß Adag und Sirin sofort erscheinen würden.

»Ich hörte, daß du in der Nacht von Ballgels Tod nicht hier warst«, sprach Fidelma ihn an.

Der Tanist nickte und setzte sich wieder. »Ich hatte etwas an der Grenze unseres Gebietes am Fluß Comar zu erledigen. Es ging um den Diebstahl eines Rindes, also bin ich hingeritten, um die Sache zu klären. Am nächsten Tag kehrte ich zurück, vormittags, kurz bevor Becc nach Cashel aufbrach.«

»Der Comar ist ein kleiner Fluß westlich unseres Gebietes«, erklärte Becc. »Er bildet dort die Grenze.«

»Hat dich jemand begleitet?« fragte Fidelma.

»Ich war allein unterwegs«, antwortete Accobran.

Sie wurden von einem Klopfen an der Tür unterbrochen. Adag, der Verwalter, trat ein. »Hast du nach mir geschickt, Lord?«

»Und nach Sirin, dem Koch«, fügte Fidelma hinzu.

Adag blickte zu Fidelma hinüber, dann sagte er zu Becc:

»Sirin wartet draußen.«

»So hol ihn herein«, befahl ihm Fidelma streng.

Der Verwalter schaute wieder Becc an, der ihm zunickte. Sirin war fast doppelt so breit wie Adag, hatte ein rundes Gesicht, eine rundliche Figur und lichtes Haar. Im ganzen wirkte er sehr traurig. Zuerst meinte Fidelma, sein trauriges, freudloses Auftreten entspringe dem Kummer um den Tod seiner Nichte, doch sie merkte bald, daß die melancholische Miene einfach zu ihm gehörte.

Der korpulente Mann schlurfte auf Becc zu, während Adag sich im Hintergrund hielt.

»Sirin, das ist Fidelma von Cashel. Sie ist eine dalaigh und wird die Mordfälle untersuchen. Sie möchte dir ein paar Fragen stellen, und du mußt nach bestem Wissen darauf antworten.« »Das werde ich, mein Lord«, erwiderte der Mann mit volltönender Stimme, die seiner Leibesfülle entsprach. Er schaute Fidelma fragend an.

»Sirin, zuerst möchte ich dir sagen, wie leid mir das Unglück tut, das deine Familie heimgesucht hat.«

Sirin neigte den Kopf ein wenig, schwieg aber.

»Ich brauche deine Hilfe. Erzähl mir etwas über deine Nichte und ihre Familie.«

Sirin breitete die Hände auf eine Art aus, die beinahe tragikomisch wirkte.

»Sie war so jung, erst siebzehn Jahre alt. Ihre Eltern starben vor zwei Jahren an Gelbfieber. Diese furchtbare Seuche hat beinah unsere ganze Familie dahingerafft. Nur meine Schwester, die arme Ballgel und ich überlebten. Und nun, nun gibt es Ballgel nicht mehr.«

»Wie ich hörte, wohnte sie bei ihrer Tante?«

»Bei meiner Schwester Berrach ... Ja. Seit zwei Jahren hat sie mir hier in der Küche geholfen.«

»Und sie war weder verheiratet noch verlobt? Hatte sie einen Freund?«

Sirin schüttelte den Kopf. »Sie sagte immer, der Richtige müsse noch kommen. Es stimmt, daß viele Burschen gern ihre Gesellschaft suchten. Aber sie ging nicht weiter darauf ein.«

»Um welche jungen Männer handelte es sich denn?«

Sirin lächelte traurig. »Sie war hübsch. Ich könnte fast alle Burschen von Rath Raithlen aufzählen. Es gab niemand speziellen.« Auf einmal verfinsterte sich sein Blick. Fidelma bemerkte es.

»Was ist dir gerade eingefallen?«

Sirin zuckte mit den Schultern. »Ach, nur eine kleine Geschichte. Gobnuid, einer der Schmiede hier in der Festung - ach, es war nichts.«

Fidelma beugte sich zu ihm vor. »Laß mich das beurteilen.«

»Nun, es war bei einem Fest vor einem Monat.« Er blickte zu Becc. »Der Feiertag des heiligen Finnbarr, der unsere kleine Abtei gegründet hatte«, erklärte er bereitwillig.

»Und was geschah?«

»Eigentlich nichts Wichtiges. Gobnuid wollte mit Ballgel tanzen, sie lehnte ab, daraufhin wirkte er gekränkt. Ballgel war mit ihren anderen Freundinnen zusammen, und offen gesagt, Gobnuid ist so alt, er hätte ihr Vater sein können. Ich fürchte, daß sich die jungen Burschen über ihn lustig gemacht haben, also ließ er ein paar zornige Worte fallen und verließ das Fest. Das ist alles.«

»Ich verstehe. Um auf die Mordnacht zurückzukommen: Ballgel hat die Festung gegen Mitternacht oder kurz darauf verlassen, stimmt das?«

»Ja.«

»Wann hat man die Leiche gefunden?«

»Einer der Dorfbewohner fand sie in aller Frühe beim Pilzesammeln.«

»Und kurz darauf sind sie gegen die Abtei gezogen. Warum?«

»Ich war nicht dabei.« Sirins Stimme klang nun ungewöhnlich barsch. »Ich habe Trauer, meine Schwester Berrach ebenso. Mein Cousin Brocc hat die Leute aufgewiegelt. Brocc hatte schon seine Nichte verloren.«

Becc mischte sich ein. »Es ist wahr. Sirin befand sich nicht unter den Leuten, die die Mönche bedrohten. Er und Berrach waren ganz sicher nicht dabei.«

Fidelma nickte, wandte sich aber weiterhin direkt an Sirin.

»Glaubst du, daß die Fremden in der Abtei die Täter sind?«

Sirins Gesicht blieb ausdruckslos. »Das weiß ich nicht. Viele behaupten, ja. Mir fehlen die Beweise dafür.«

»Hat sich dein Cousin mit dir über seinen Verdacht unterhalten?«

»Er mag die Fremden nicht, weil sie Fremde sind.«

»Du scheinst da anderer Ansicht zu sein«, sagte Fidelma.

»Ich möchte, daß die Schuldigen bestraft werden, doch zuerst muß festgestellt werden, ob sie wirklich schuldig sind.«

»Verdächtigst du sie oder jemand anderen? Was meinst du, warum hat man Ballgel ermordet?«

Sirin schüttelte den Kopf. »Ich glaube, daß nur ein wildes Tier oder ein Verrückter sie so schrecklich zugerichtet haben kann. Mehr weiß ich nicht. Doch ich sage dir noch eins, Schwester: Weiß ich erst einmal, wer schuldig ist, so will ich Rache. Erzähl mir nichts von Gerechtigkeit. Ich bin Christ, und hat nicht Paulus von Tarsus an die Galater geschrieben: >Denn was der Mensch sät, das wird er ernten

Fidelma hatte Mitleid, blickte den Koch aber dennoch mißbilligend an. »Neues Blut wird unser Blut nicht fortwaschen, Sirin.«

»Auge um Auge, Zahn um Zahn .«

Fidelma seufzte. »Nun dann, Sirin.«

Er wollte sich gerade von ihr abwenden, denn er glaubte wohl, daß sie ihre Befragung beendet hatte, da lehnte sich auf einmal Eadulf vor.

»Du hast gesagt, daß Brocc dein Cousin ist, Sirin. Bist du auch mit Adag verwandt?«

Sirins Miene verdüsterte sich.

»Nein«, sagte er schroff. »Darf ich nun gehen?«

»Du darfst in die Küche zurückkehren«, erwiderte Fidelma ein wenig erheitert. Es stimmte, daß der Verwalter und der Koch aufgrund ihrer Ähnlichkeit Brüder hätten sein können.

Als Sirin fort war, lächelte Fidelma den Fürsten traurig an.

»Heraklit sagt, daß es schwierig ist, gegen Zorn anzukämpfen, denn ein Mensch wird mit seiner ganzen Seele Rache verlangen. Scheinbar ist Brocc nicht der einzige, der hier nach Rache trachtet, Becc.«

Nun herrschte ein unangenehmes Schweigen. Dann sprach Fidelma den Verwalter an, der geduldig neben der Tür gewartet hatte.

»Man sagte mir, daß in jener Nacht der Abt als erster das Fest verließ. Wann genau war das?«

Adag blickte seinen Fürsten fragend an.

Fidelma stieß aufgebracht die Luft aus. »Adag, hör gut zu. Wenn ich dir eine Frage stelle, mußt du, bevor du sie beantwortest, weder um Beccs Erlaubnis ersuchen noch um die eines anderen. Wenn du schon nicht respektierst, daß ich eine Richterin bin, obwohl du das Gesetz befolgen solltest, so respektiere, daß ich die Schwester unseres Königs bin, der in Cashel sitzt. Selbst dein Fürst, Becc, mein Cousin, muß sich mir in dieser Sache unterordnen.«

Becc wirkte verlegen.

»Ich muß mich für meinen Untergebenen entschuldigen, Fidelma. Er hat eine seltsame Vorstellung von Treue«, sagte er und sah Adag voller Zorn an. »Du wirst meiner Cousine Fidelma genauso bereitwillig Rede und Antwort stehen wie mir, Adag. Sonst sehe ich mich nach einem neuen Verwalter um.«

Adag errötete und wirkte nervös.

»Wie war deine Frage?« Seine Stimme klang reumütig.

»Ich fragte, zu welcher Zeit der Abt in jener Nacht die Festung verlassen hat?«

»Kurz nach Mitternacht, glaube ich«, erwiderte er.

»Und war das vor oder nach Ballgel?«

Überrascht starrte er sie an und zögerte, ehe er ihr antwortete.

»Ich glaube, er ging nach ihr.«

»Glaubst du?« Fidelmas Stimme klang sehr bestimmt. »Gibt es jemanden, der das genau weiß?«

Verärgert lief Adag erneut rot an. »Ich war am Tor und verabschiedete mich von Ballgel. Sie ist vor dem Abt fortgegangen. Da bin ich mir sicher.«

»Also bist du der letzte, der sie lebend gesehen hat?« wandte nun Eadulf ein, der die ganze Zeit über geschwiegen hatte.

Adag rümpfte verächtlich die Nase. »Ihr Mörder war der letzte, der sie gesehen hat, sächsischer Bruder.«

»Wieviel Zeit verstrich zwischen Ballgels Aufbruch und dem des Abts?« fragte Fidelma. »Ging er kurz darauf oder erst später?«

»Es war etwas später ... Ungefähr eine halbe Stunde oder so.«

»Und die Abtei liegt in der gleichen Richtung wie der Wald, in dem das Mädchen aufgefunden wurde?«

»Am Fuße des Hügels geht es rechts zur Abtei, Ballgel fand man aber in der anderen Richtung. Der Abt hätte sie nicht mehr einholen können.«

Fidelma betrachtete ihn erheitert.

»Warum ist diese zusätzliche Information deiner Meinung nach wohl wichtig?« wollte sie wissen.

Adags Mund wurde vor lauter Verärgerung ganz schmal. »Ich dachte, daß du den Abt beschuldigst .«

»Wenn ich jemanden beschuldige«, warf Fidelma ein, wobei ihre Stimme nach wie vor ganz gelassen klang, »dann sage ich das auch klar und deutlich. Zur Zeit trage ich verschiedene Aussagen zusammen. Ich stelle Fragen und erwarte Antworten, keine Meinungen oder verdrehte Tatsachen. Auch Bruder Eadulf von Seaxmund’s Ham, der mein fer comtha ist, darf respektvolle Antworten erwarten, denn in seinem Land ist er Anwalt.«

Adag ließ demütig den Kopf hängen. Seine Wangen waren tiefrot. »Ich wollte nur sagen .«

»Ich weiß genau, was du sagen wolltest«, erwiderte Fidelma kurz und knapp. »Gut, kommen wir auf deinen letzten Wortwechsel mit Ballgel zurück .«

Adag schien verwirrt. »Den letzten Wortwechsel?«

»Eure Unterhaltung am Tor, als sie nachts heimging. Ich vermute, daß ihr euch unterhalten habt.«

»Wie ich schon sagte, ich habe sie nur verabschiedet«, meinte Adag rasch. »Dann ging sie los, und das war das letztemal, daß ich sie sah.«

Nachdenklich schwieg Fidelma.

»In jener Nacht war Vollmond. Es war hell. Fürchtete sich Ballgel davor, allein nach Hause zu gehen? Sie wußte doch, daß zuvor zwei Mädchen im Wald ermordet worden waren, oder?«

Adag seufzte und nickte. »Ballgel war ziemlich störrisch und eigenwillig. Nichts schien sie zu beunruhigen. Doch eigentlich ist erst nach ihrem Tod den meisten von uns klargeworden, welche Bedeutung der Vollmond hatte.«

»Bedeutung?« mischte sich Eadulf wieder ein.

»Alle drei Morde geschahen in einer Vollmondnacht.« Der Ton des Verwalters war nun höflicher. »Ich glaube, es war Gabran, der Holzfäller, dem es zuerst auffiel, und er teilte es unserem verstorbenen Brehon Aolü mit ...«

»Das stimmt«, warf Becc ein. »Doch niemand nahm ihn ernst. Erst als Liag, unser Heilkundiger, seine Ansicht teilte, änderte sich das allmählich, und zwar nachdem man auf die zweite Leiche gestoßen war. Li-ag kennt sich mit solchen Dingen aus. Er bringt unseren Kindern dies und das über den Mond und die Sterne bei. Was Adag eben sagte, stimmt. Obwohl Gabran und Liag darauf hingewiesen hatten, daß der Mörder bei Vollmond agierte, wurde es den anderen erst bei Ballgels Tod klar.«

Fidelma dachte eine Weile darüber nach, ehe sie fortfuhr.

»Also ist Ballgel losgegangen, und etwas später machte sich der Abt auf den Weg?«

»Ja, so war es«, sagte Adag. »Dann ging ich ins Bett, denn ich wußte, daß die Gäste meines Fürsten über Nacht bleiben würden.«

»Das genügt mir vorerst, Adag«, stellte Fidelma fest.

Adag blickte zu seinem Herrn, und Becc bedeutete ihm zu gehen.

Fidelma wartete, bis er fort war, dann sagte sie zu Becc: »Wir werden uns morgen mit den Familien der anderen beiden Opfer unterhalten. Doch vielleicht sollten wir mit dem Heilkundigen beginnen. Da er die drei Leichen untersucht hat, könnte ihm einiges aufgefallen sein. Wie war noch sein Name? Liag?«

»Ja, Liag heißt er«, bestätigte ihr Becc. »Ich gebe euch am besten Accobran mit. Er soll euch führen, denn der Wald ist tief und dunkel. Liag wohnt auf einem kleinen Hügel am Fluß, der schwer zu finden ist, und Besucher sieht er nicht gern, besonders Fremde nicht.«

»Wenn er ein Einsiedler ist«, meinte Eadulf, »dann solltest du dich für dein Volk vielleicht nach einem anderen Arzt umsehen. Gibt es in der Abtei einen Kräuterkundigen?«

Becc nickte. »Ja, es gibt einen. Doch Liag gehört zu unserer Gemeinschaft. Er ist kein richtiger Einsiedler. Er hat sogar Schüler.«

»Schüler?« warf Fidelma nachdenklich ein. »Ach ja. Du sagtest, daß er eure Kinder unterrichtet. Lernen sie bei ihm etwas über Pflanzen und Kräuter und ihre Verwendung?«

Becc schüttelte den Kopf. »Nein, nein. Er lehrt Sternenkunde.«

»Sternenkunde?«

»Die Symbolik von Sonne und Mond, die Götter und Göttinnen, die über sie herrschen, und .« Becc wirkte verlegen. »Ich will damit nicht sagen, daß er etwas lehrt, was im Gegensatz zum neuen Glauben steht. Aber er ist der Hüter des alten Glaubens und der alten Legenden. Und obendrein ist er ein guter Mediziner. Meine Leute vertrauen ihm und seinen Heilmethoden.«

»Es spricht für seine Fähigkeiten, wenn die Kranken und Verletzten auf ihn vertrauen, obwohl er als Eremit lebt und keine Besucher mag«, meinte Eadulf. »Weshalb schwören sie so auf ihn?«

Becc lächelte. »Wegen seiner Heilkünste. Es heißt, daß er von jenen abstammt, die noch über das uralte Wissen verfügten und es lange vor der Einführung des christlichen Glaubens anwandten.«

»Ich bin begierig darauf, ihn kennenzulernen«, versicherte Fidelma dem Fürsten, als sie aufstand. »Und nun .«

»Adag wird euch eure Räume zeigen. Ich glaube, euer Bad wird inzwischen bereitet sein.« Becc hatte ihren Fingerzeig verstanden. »Und hinterher bitte ich euch zu einem kleinen Festmahl zu eurer Begrüßung im Land der Cinel na Äeda.«

Später, als sich Fidelma und Eadulf nach dem erfrischenden Bad und dem Festmahl in der Halle bei Harfenmusik und Dichtung erholt hatten, machten sie sich zum Schlafen fertig. Eadulf lächelte zufrieden. »Becc lebt in einer recht bequemen und angenehmen Burg.«

»Das mag schon sein«, erwiderte Fidelma, doch es war klar, daß sie Eadulfs Zufriedenheit nicht teilte. »Denk daran, warum wir hier sind, Eadulf. An diesem Ort treibt das Böse sein Unwesen. Und dieses Böse bringt bei Vollmond auf grausame Weise junge Mädchen um. Laß dir nicht von den schönen Speisen oder der Gesellschaft und Umgebung deine Sinne benebeln und dir falsche Behaglichkeit vorgaukeln. Das Böse, das in dem dunklen Wald hier lauert, kann wieder zuschlagen . Und vielleicht nicht nur bei Vollmond.«

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