Kapitel 10

Nachdem sie Bruder Dangila zurück zum Kloster begleitet hatten, machten sich Fidelma, Eadulf und Ac-cobran auf den Weg zur Gerberei. Eadulf hatte spöttisch gesagt, möglicherweise sei Fidelma Bruder Dan-gila begegnet, kurz nachdem er Lesren umgebracht hatte. Denn vom Hügel über dem Kloster ging man nur eine halbe Stunde bis zur Gerberei, wo man dessen Leiche entdeckt hatte.

»Aber warum sollte Bruder Dangila Lesren töten?« fragte Fidelma betroffen.

Eadulf zog es vor zu schweigen.

»Lesrens Tod gibt der Sache eine ganz neue Wendung«, stellte Fidelma nach einer Weile fest.

»Ich verstehe nicht.« Accobran runzelte die Stirn.

»Wenn Lesrens Tod mit den anderen drei Morden in Zusammenhang steht, müssen wir unsere bisherige Theorie noch einmal überdenken.«

Als Fidelma sah, daß die beiden Männer nicht begriffen, was sie meinte, zeigte sie auf den blauen Herbsthimmel über sich.

»Wann wurde die Leiche gefunden?« fragte sie.

»Kurz nach Mittag.«

»Und wann hat man Lesren zum letztenmal gesehen?«

»Kurz nach dem Mittagessen und ... Oh.« Eadulf errötete leicht. »Dieser Mord läßt sich nicht einem mondbesessenen Täter zuschreiben. Er paßt nicht in die Serie der Vollmondmorde.«

»Genauso ist es.«

»Gabran! Der hätte einen triftigen Grund, Lesren umzubringen! Es könnte sein, daß er nach unserem Besuch heute vormittag so aufgebracht war, daß er die Sache ein für allemal aus der Welt schaffen wollte.«

Das war Fidelma auch schon in den Sinn gekommen. Lesren hatte Gabran schließlich unverändert für Beccnats Tod verantwortlich gemacht.

»Ich glaube, wir sollten Bruder Eadulfs Vermutung nachgehen«, meinte Accobran.

»Ja, das sollten wir tun, jede Spur kann wichtig sein«, erwiderte Fidelma.

»Auch Finmed kommt als Täterin in Frage«, meinte Eadulf seufzend, als er weiter über die Sache nachdachte. »Alle drei, Goll, Finmed und Gabran, waren auf Lesren nicht gut zu sprechen. Das mag ein ausreichendes Motiv für einen Mord sein.«

»Andererseits muß da nicht unbedingt ein Zusammenhang bestehen«, bemerkte Fidelma. »Aber wir müssen die drei im Auge behalten. Wie habt ihr von Lesrens Tod erfahren?«

Accobran erzählte es ihr: »Wir hatten uns von dir getrennt und waren gerade in der Festung angelangt, als mir einer von Lesrens Gehilfen aufgeregt die Nachricht überbrachte. Also ritten wir sofort los. Les-ren lag am Waldrand, genau hinter der Gerberhütte. Als wir sahen, daß wir nichts mehr ausrichten konnten, machten wir uns umgehend auf die Suche nach dir, denn wir fürchteten um deine Sicherheit.«

»Und der Mann, der den Toten gefunden hat?«

»Der bewacht die Leiche und tröstet Bebhail, so gut er kann.«

Sie ritten auf dem Weg am Flußufer entlang und kamen bald zur Gerberei. Nirgendwo schien jemand zu arbeiten, weder an den Rahmen noch bei den Farbbottichen.

»Wo ist die Leiche jetzt?« fragte Fidelma, als sie vor Lesrens Hütte absaßen.

Accobran zeigte zum Waldrand. Ein Mann trat unter den Bäumen hervor und winkte ihnen zu.

»Das ist Tomma, Lesrens Gehilfe. Er hat mich benachrichtigt. Ich habe ihn gebeten, hier aufzupassen«, erklärte der Tanist und winkte zurück.

»Hat Tomma etwa die Leiche unbewacht gelassen, als er zur Festung eilte?«

»Nein. Er und Creoda hatten das grausige Verbrechen entdeckt. Er hat dann Bebhail gerufen. Sie sagte, sie würde bei dem Toten bleiben, während sich Tomma zur Festung aufmachte.«

Sie banden ihre Pferde an das Geländer vor dem Haupthaus.

»Wo ist Bebhail?« fragte Fidelma und sah sich rasch um. Von der Frau fehlte jede Spur. Accobran zuckte die Schultern.

Als sie sich dem Wald näherten, sah Fidelma schon von weitem, daß der Ermordete auf dem Rücken lag -lang hingestreckt und friedlich, als warte er auf seine Bestattung. Offensichtlich hatte jemand Lesren sorgfältig aufs Gras gebettet und die Arme über der Brust gefaltet. Als Fidelma den Toten genauer betrachtete, fiel ihr auf, daß man ihn sogar gewaschen hatte. Beinahe hätte sie ärgerlich losgezischt. Wichtige Indizien waren nun verloren. Wütend blickte Fidelma Tomma an.

»Hast du das getan?« Sie zeigte auf die Leiche. Im selben Moment wurde ihr bewußt, daß ihre Geste falsch verstanden werden konnte. Sie fügte hinzu: »Hast du die Leiche so ordentlich hingelegt und sie gesäubert?«

Tomma war etwa genauso alt wie Lesren. Ihre Frage überraschte ihn sichtlich; er schüttelte den Kopf.

»Nein, Schwester. Das war Bebhail.«

»Du hättest sie davon abhalten müssen«, tadelte Eadulf ihn. »Wo ist sie denn jetzt?«

»Bebhail ist in der Hütte«, erwiderte Tomma. »Sie ist zusammengebrochen, und es wäre sinnlos, ihr deswegen Vorhaltungen zu machen.«

»Deine Rücksichtnahme in Ehren, Tomma, aber das erschwert natürlich meine Arbeit ungemein«, meinte Fidelma. Sie beugte sich hinunter und sah sich den Toten genauer an. Auf den ersten Blick konnte sie nichts Ungewöhnliches feststellen.

»Tomma, erinnerst du dich, wie er dalag, als ihr ihn gefunden habt?« fragte sie. »Wie mag er wohl zu Tode gekommen sein? Ja, und wie bist du auf die Leiche gestoßen?«

Der Gehilfe trat nervös von einem Bein aufs andere. »Es war kurz nach Mittag. Es gab nicht mehr viel zu tun, also hatte Lesren die anderen Arbeiter bereits nach Hause geschickt. Da bin ich ihm das letztemal lebend begegnet, Schwester. Ich ging auch heim, kam aber am Nachmittag wieder, um Lesren und Creoda beim Abnehmen der großen Häute zu helfen .«

»Creoda? Was hatte der hier zu tun?«

»Er gehört zu den jüngeren Gehilfen in der Gerberei. Wir konnten Lesren nirgends finden, also lief ich zum Haus. Bebhail war da, sagte aber, sie hätte ihren Mann seit dem Mittagessen nicht mehr gesehen. Da machten wir uns auf die Suche nach ihm.«

»Und fandet ihr ihn?«

»Ja, wir fanden ihn.«

»Tot?«

Tomma zögerte. »Noch nicht ganz.«

Fidelma hob den Kopf und sah ihm genau ins Gesicht. »Willst du damit sagen, daß er noch am Leben war?«

»Er lag im Sterben.«

»Hat er noch etwas gesagt?«

Wieder zögerte Tomma. »Er hat etwas vor sich hin gemurmelt. Ich konnte nur den Namen Biobhal verstehen.«

»Biobhal? Nicht Bebhail? Hat er nicht nach seiner Frau gerufen?«

»Nein. Ich hörte ganz deutlich Biobhal. Das habe ich auch zu Creoda gesagt, denn Lesren starb, als er den Namen aussprach. Ich kenne niemanden, der so heißt.«

»Wo ist Creoda eigentlich jetzt?«

»Er ist nach Hause gegangen.« Tomma machte eine entschuldigende Geste. »Creoda ist kaum achtzehn, er wohnt nicht weit von hier. Ich schätze, daß ihm das Ganze hier Angst einjagte und ...«

»Schon gut. Wir werden Creoda später aufsuchen. Wo steht seine Hütte?«

Tomma zeigte nach Westen. »Den Weg am Fluß entlang, zwischen den Bäumen. Ihr könnt sie nicht verfehlen.«

»Sehr gut. Wo also habt ihr nun Lesren genau gefunden?«

»Hier bei den Bäumen. Da lag er, aber ganz anders. Ein Bein war angewinkelt, das andere unter den Körper geschoben. Die Arme waren ausgestreckt - so.« Tomma öffnete nun selbst die Arme.

»Und nachdem er den unbekannten Namen gemurmelt hatte, war dir klar, daß er tot war?«

Tomma dachte eine Weile nach. »Da war ich mir ziemlich sicher. Überall befand sich Blut. Creoda war fortgerannt. Ich holte Bebhail. Sie bat mich, zur Festung zu laufen.«

»Wann fing sie an, den Toten zu reinigen?«

Jetzt antwortete Eadulf: »Als wir Tomma und Bebhail hier zurückließen, lag er noch so da, wie Tomma ihn gefunden hat.«

Der Gehilfe nickte. »Nachdem sich der Tanist und der Bruder zu dir auf den Weg gemacht hatten, meinte Liag, daß Bebhail sich um ihren toten Mann kümmern sollte.«

Diese Mitteilung traf Fidelma wie ein Schlag. »Der alte Heilkundige? War der etwa auch hier? Was hatte der denn hier verloren?«

Sie schaute Eadulf und Accobran an, doch ihre erstaunten Mienen verrieten ihr, daß auch sie erst jetzt davon erfuhren. Daß Liag hier gewesen war, das war für sie ebenfalls neu.

»Gleich nachdem der sächsische Bruder und unser Tanist aufgebrochen waren, kam Liag aus dem Wald und sah sich Lesren an«, erklärte Tomma. »Er wies Bebhail an, mit den Vorkehrungen zur Bestattung zu beginnen.«

Fidelma verfluchte den Heilkundigen insgeheim. »Und das tat sie dann auch, oder?«

»Wie du selbst siehst.«

»Du weißt nicht genau, zu welcher Stunde Liag hier auftauchte?«

Tomma zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nur, daß ich hier mit Bebhail allein war. Als der Tanist und der sächsische Bruder fort waren, war er plötzlich da.«

Fidelma machte sich daran, die Kleider des Toten aufzuknöpfen. Wunden am Hals und auf der Brust zeigten, daß jemand mehrmals auf ihn eingestochen hatte. Ein Rasender mußte ihn angegriffen haben, denn die Wundränder waren stark ausgefranst. Ein Jagdmesser oder das Skalpell eines Arztes hinterlassen saubere Einstiche, schoß ihr durch den Kopf. Man hatte Lesren zweimal von hinten in den Nacken gestochen, dann in die Kehle, dann einmal in die Brust.

Fidelma erhob sich und schüttelte langsam den Kopf. Sie hatte nichts Aufschlußreiches feststellen können. Noch einmal besah sie sich den Tatort genau, konnte aber weder die weggeworfene Tatwaffe entdecken noch ein anderes bedeutendes Detail. Zu viele Spuren waren bereits verwischt worden.

»Dann wollen wir jetzt zu Bebhail gehen«, sagte sie. »Du bleibst am besten hier, Tomma. Sorge dafür, daß niemand die Leiche anfaßt, bis ich es erlaube.«

Als sie außer Hörweite waren, sagte Accobran mit gewissem Nachdruck zu ihr: »Bei genauer Betrachtung gibt es in diesem Fall eine Reihe von Verdächtigen. Ich glaube, ich sollte sie alle festnehmen lassen.«

Fidelma wußte, was in ihm vorging, doch sie wollte, daß er sich klarer ausdrückte. »Um wen handelt es sich deiner Meinung nach?«

Ungeduldig gestikulierte der Tanist mit den Händen. »Darüber haben wir doch schon gesprochen. Wer sonst als Goll oder sein Sohn Gabran kämen in Betracht? Ich habe gehört, wie Lesren Gabran beschuldigte. Und ich habe mitbekommen, in welch unangenehme Lage er die Familie gebracht hat. Ich wüßte schon, was ich als stolzer junger Mann voll Zorn in der Brust tun würde.«

»Wenn du es tun würdest, heißt das nicht, daß es ein anderer getan hat.«

»Ich glaube, daß Lesrens Mörder in der Holzfällerhütte zu suchen ist.«

»Da magst du vielleicht recht haben, Accobran«, stimmte ihm Fidelma zu. »Doch ich werde die Untersuchung des Falls auf meine Weise fortführen und an den Prioritäten festhalten, die ich gesetzt habe.«

Bebhail saß auf einem Stuhl vor dem Feuer. Als sie eintraten, blickte sie auf, ihre Augen waren trocken. Dann sah sie wieder ins Feuer.

»Es ist so unendlich traurig, noch am Leben zu sein, nun, wo Lesren nicht mehr da ist«, murmelte sie. Ihre Stimme klang emotionslos, sie vermochte kaum zu sprechen. Fidelma gab ihren Begleitern durch einen Blick zu verstehen, daß sie sich zurückziehen sollten. Es war wohl besser, wenn sie allein mit der Witwe redete. Sie setzte sich Bebhail gegenüber.

»Bebhail, es tut mir leid, dir folgende Fragen stellen zu müssen. Aber wenn wir Lesrens Mörder finden wollen, ist das unvermeidlich. Wann hast du deinen Mann zum letztenmal gesehen?«

Bebhail starrte Fidelma an, als würde sie sie gar nicht wahrnehmen. Fidelma mußte ihre Frage einige Male wiederholen, ehe sie eine verständliche Antwort von sich gab. Lesren hatte mit ihr zu Mittag gegessen und war dann wieder an die Arbeit gegangen. Irgendwann danach war Tomma gekommen, um ihr mitzuteilen, daß er und Creoda Lesren suchten. Später kehrte Tomma mit der schrecklichen Nachricht zurück. Und während Tomma nach Rath Raithlen lief, um Becc oder Accobran zu informieren, war sie bei dem Toten geblieben.

Aufmerksam hörte Fidelma ihr zu. Ihre Aussage deckte sich mit der von Tomma.

»Und wo befand sich Liag zu der Zeit?«

»Der Heilkundige?«

»Er war doch da, nicht wahr?« fragte Fidelma.

»Er tauchte erst auf, nachdem der Tanist mit deinem sächsischen Gefährten losgeritten war.«

»Wie war das genau?«

»Tomma und ich waren bei Lesren, auf einmal kam Liag aus dem Wald. Da gibt es einen schmalen Fußweg, ganz nahe der Stelle, wo Lesren lag.«

»Und wo führt dieser Fußweg hin?«

»Bis rauf nach Rath Raithlen, zur Festung.«

»War Liag überrascht, als er Lesren da liegen sah?«

»Überrascht?« Bebhail dachte einen Moment nach und schüttelte den Kopf. »Der alte Mann zeigt seine Überraschung nie.«

»Was hat er dann getan?«

»Er hat Lesren untersucht und dessen Tod festgestellt. Anschließend erklärte er mir, daß ich ihn auf den Rücken drehen sollte, ehe er ganz erkaltete, und ihn für das Begräbnis vorbereiten könnte.«

»Du hast also die Leiche auf Liags ausdrückliche Anweisung hin gewaschen und hergerichtet?«

»So ist es.«

Fidelma fragte sich, was Liag dazu bewogen hatte. Hatte er absichtlich Beweise vernichten wollen, oder hatte er einfach nur unüberlegt gehandelt?

»Hast du in der Zeit, nachdem Lesren die Hütte verließ und man später seine Leiche entdeckte, irgend etwas Ungewöhnliches gehört oder gesehen?«

Bebhail schüttelte den Kopf. »Nein.«

»Und du hast in dieser Zeit niemanden hier oder im Umkreis der Gerberei bemerkt?«

»Keine Menschenseele.«

»Hast du irgendeinen Verdacht, wer Lesren getötet haben könnte?«

Bebhail sah Fidelma mit großen dunklen Augen an.

»Mein Mann war nicht gerade sehr beliebt«, sagte sie ruhig. »Du weißt sicher, daß er einige Feinde hatte. Doch du kannst nicht von mir erwarten, daß ich Namen nenne.«

Fidelma schwieg eine Weile. Dann bohrte sie weiter: »Hast du jemals den Namen Biobhal gehört? Er klingt dem deinen sehr ähnlich, ich weiß. Dein Mann hat ihn wohl im Sterben gemurmelt.«

Erneut schüttelte Bebhail den Kopf.

»Hier gibt es niemanden, der so heißt«, sagte sie nur. »Biobhal? Bist du sicher, daß er nicht meinen Namen sprach?«

»Tomma ist sich ganz sicher, und Creoda hat es wohl auch gehört.«

»Ich kenne niemanden, der so heißt.«

Fidelma lächelte sie beruhigend an. »Das war’s dann. Kann ich dir irgendwie helfen, Bebhail? Wird jemand bei dir bleiben und sich um dich kümmern? Wer kann für dich die Vorkehrungen für das Begräbnis treffen?«

»Ich habe eine Schwester ganz in der Nähe. Tomma wird sie holen.«

Ihre Stimme war leise, beherrscht und immer noch ganz emotionslos. Fidelma stand auf und legte tröstend eine Hand auf die Schulter der Witwe.

»Ich werde den Tanist darum bitten. Tomma sollte hierbleiben, bis deine Verwandten eintreffen, damit du nicht allein bist.«

»Allein?« Bebhail seufzte tief. »Oh, so sollen die Tage der Trauer um meinen Mann beginnen, der nun tot ist. Weint und klatscht in die Hände und singt das Nuall-guba, das alte Klagelied.«

»So soll es sein, Bebhail«, versicherte ihr Fidelma feierlich auf die rituelle Aufforderung hin. Dann rief sie Accobran herein, damit Bebhail ihn zu ihrer Schwester schickte.

Sie wollte gerade den Raum verlassen, da fiel ihr Blick auf ein Stück glänzendes Metall, das auf dem Tisch lag. Sie nahm es in die Hand. Es wog recht schwer, funkelte und sah gelblich aus.

»Du bist ja reich, Bebhail«, sagte sie ruhig. »Das ist ein ziemlich großer Goldklumpen.«

»Laß mich mal sehen«, sagte Accobran, griff nach dem Metallstück, drehte und wendete es mehrmals und legte es gleichgültig wieder auf den Tisch zurück. »Das ist nur Eisenkies - Katzengold«, sagte er schroff. War da Erleichterung in seiner Stimme?

»Ah«, sagte Fidelma leise. »Non teneas aurum to-tum quod splendet ut aurum.«

Bebhail saß weiter unbeweglich da, als würde sie ihre Besucher gar nicht mehr wahrnehmen.

Fidelma teilte Tomma draußen alles Nötige mit, und als Accobran kurz darauf zu ihr hinauskam, erklärte er ihr, daß er sich um die Trauerfeierlichkeiten kümmern werde.

»Ich werde auch Bebhails Schwester und ihre Familie benachrichtigen, Lady. Wann kann mit den Zeremonien begonnen werden?«

»Ganz wie es dem Brauch entspricht«, erwiderte Fidelma. »Die Leiche ist zur Beerdigung freigegeben. Eadulf und ich erwarten dich in der Festung, sobald du zurück bist.«

Fidelma und Eadulf liefen schon zu den Pferden. Rasch schwangen sie sich hinauf.

»Wir müssen uns mit Creoda unterhalten, dann muß ich von Liag erfahren, wieso er hier zufällig in der Nähe war. Vielleicht hat er irgend etwas bemerkt.«

Accobran gefiel das offenbar nicht. »Ich sollte dich begleiten. Ich habe doch schon gesagt, daß er .«

»Mach dir keine Gedanken«, unterbrach ihn Fidelma. »Eadulf und ich werden uns schon nicht verirren. Hol du nur Bebhails Schwester her.«

Sie wußte sehr wohl, daß Accobran nicht gemeint hatte, sie hätten einen Führer zu Liags Einsiedelei nötig. Nein, er war vielmehr um ihr Wohl besorgt. Doch sie wollte nicht länger beaufsichtigt werden. Jetzt, wo sie das Gelände einigermaßen kannte, wollte sie sich frei bewegen können.

Seite an Seite ritten Fidelma und Eadulf schweigend am Ufer des Flusses entlang. Accobran sah ihnen noch einen Augenblick hinterher, saß dann auf und verschwand in der entgegengesetzten Richtung.

Nach einer Weile meinte Eadulf: »Wir hätten Accobran um sein Jagdhorn bitten sollen. Hat er nicht gesagt, daß er damit immer dem Einsiedler ein Signal gibt?«

Amüsiert sah Fidelma ihn an. »Wenn unsere lauten Stimmen ihn nicht herbeirufen, dann wohl auch nichts anderes.«

»Was mag der Einsiedler deiner Meinung nach in der Nähe der Gerberei getrieben haben?« fragte Eadulf nun.

»Das möchte ich ja herausfinden.«

»Und was ist mit dem Vernichten von Beweisen?« fragte Eadulf.

»Auch dem muß ich nachgehen«, erwiderte sie gelassen.

Nicht lange, und sie entdeckten eine Blockhütte zwischen den Bäumen.

»Das muß Creodas Behausung sein«, sagte Fidelma und ritt darauf zu.

Schon trat ein junger Mann heraus und rief mit schriller Stimme: »Was wollt ihr hier?«

»Bist du Creoda?«

Der junge Mann trug die Lederschürze, die alle Gerber kennzeichnete. An seinem Gürtel hing ein scharfes Arbeitsmesser, auf dem nun seine Hand ruhte. Mißtrauisch betrachtete er die Fremden.

»Ich bin Creoda«, erwiderte er. Auf einmal fiel die Anspannung von ihm ab. »Ah, du bist die dalaigh. Ich habe dich gestern bei der Gerberei gesehen.«

Fidelma und Eadulf stiegen von den Pferden ab.

»Wir wollten dir ein paar Fragen stellen, über Lesren«, erklärte ihm Fidelma.

Der junge Mann schob die Unterlippe vor. »Lesren ist tot.« Er zeigte mit dem Kopf auf Eadulf. »Er war mit dem Tanist da. Er hat die Leiche gesehen.«

»Ich weiß. Wir kommen gerade von der Gerberei.« »Da kann ich euch kaum noch was Neues erzählen.«

»Mir liegt an deiner Sicht der Dinge.«

Creoda zögerte, ehe er mit seiner Schilderung begann. »Ich war gerade mit dem Mittagessen fertig, da rief mich Tomma, und wir gingen gemeinsam zur Gerberei. Wir beide hatten da noch zu tun, während die anderen nicht benötigt wurden. Lesren war nicht da. Wir fragten Bebhail, wo er sein könnte, sie wußte es nicht, also machten wir uns auf die Suche nach ihm. Dann fanden wir ihn am Waldrand. Das ist alles.«

»War er noch am Leben?« erkundigte sich Fidelma.

»Am Leben? Tja, eigentlich kaum noch, er rang mit dem Tode.«

»Hat er was gesagt?«

»Tomma hat sich zu ihm hinuntergebeugt. Er wird es euch erzählen.«

»Wir würden gern wissen, was du gehört hast.«

»Nichts, was irgendwie einen Sinn ergab. Nur ein paar Bruchstücke, und einen Namen ... Kaum zu verstehen. Tomma drehte sich zu mir um und fragte mich, ob ich ihn kannte.«

»Was für einen Namen? Hast du ihn genau mitbekommen?«

Creoda schüttelte den Kopf. »Tomma wiederholte den Namen noch einmal deutlich, denn zuerst hatte ich geglaubt, daß Lesren nach seiner Frau rief, nach Bebhail. Doch offenbar hatte er >Biobhal< gemurmelt. Den Namen kannte ich nicht.«

»Biobhal«, wiederholte Fidelma. »Bist du ganz sicher?«

»Ich habe Tomma gebeten, ihn noch einmal zu wiederholen. Der war mir noch nie untergekommen«, bekräftigte der junge Bursche.

»Dann werden wir dich jetzt nicht weiter behelligen«, sagte Fidelma ernst und drehte sich zu ihrem Pferd um.

»Schwester, wirst du den Verbrecher finden, der soviel Unheil stiftet?« fragte Creoda. »Drei Mädchen, die ich gut kannte, sind von diesem Mondsüchtigen ermordet worden, und nun ist auch mein Lehrmeister tot.«

»Lesren wurde aber bei Sonnenschein ermordet«, entgegnete Fidelma.

Der Junge sah sie an, als hätte er noch nicht darüber nachgedacht.

Fidelma wartete einen Augenblick, dann sagte sie: »Du kanntest also die Mädchen alle. Haben sie sich untereinander gut verstanden?«

»Die drei waren eng befreundet. Sie gingen zusammen durch dick und dünn und teilten all ihre Geheimnisse. Zumindest glaube ich das«, antwortete Creoda.

»Hast du nicht auch an den Unterweisungen über die Sterne teilgenommen?«

Creoda senkte den Kopf. »Ja.«

»Und wer ist noch hingegangen?«

»Gabran mit Beccnat natürlich. Die waren immer zusammen. Ich hörte sogar, daß sie heiraten wollten, obwohl Lesren dagegen war.«

»Und wer noch?«

»Escrach. Ich habe Escrach sehr gemocht . Ich hatte gehofft, daß . « Er zuckte mit den Schultern. »Nun ja, Escrach versuchte nach Beccnats Ermordung Gabran zu trösten, als er von der Küste wiederkam. Escrach war ein nettes Mädchen. Beide waren seit ihrer Kindheit befreundet. Ballgel ist natürlich auch zu Liag gegangen und manchmal auch Accobran, der Ta-nist.«

»Accobran?« Eadulf war überrascht. »Er ist doch um einiges älter als ihr.«

Creoda grinste.

»Ich bin mir nicht sicher, ob er an den Sternen oder an Beccnat interessiert war«, sagte er verbittert. »Ich weiß, daß Gabran die Art und Weise nicht mochte, wie der Tanist sie bei Festen zum Tanz aufforderte.«

»Hat sie sich gegen seine Bemühungen gewehrt?« fragte Fidelma.

Creoda seufzte und schüttelte den Kopf. »Accobran hatte auf viele Mädchen ein Auge geworfen. Ich glaube, er und Gabran haben sich gestritten, weil Beccnat auf irgendeinem Fest mit ihm getanzt hatte. Aber Accobran war nicht der älteste, der Liags Unterricht besuchte. Dieser Schmied, Gobnuid, war auch ein paarmal da.«

»Mich interessiert, was Liag euch beigebracht hat«, sagte Eadulf. »Etwas über den Mond und die Sterne? Worum ging es genau?«

»Um die alte überlieferte Sternenkunde, die alten Namen der Sterne und was ihre Bahnen bedeuten, um den Mond und seine Macht . Mußt du so etwas denn wissen? Wenn Liag nicht so viel über den Mond erzählt hätte, wären die Mädchen vielleicht noch am Leben.«

Fidelma zog die Augenbrauen hoch.

»Das mußt du uns erklären«, meinte sie.

»Liag hat immer viel davon geredet, daß Wissen auch Macht ist. Vor dem Dunkel der Nacht brauche keiner Angst zu haben, wenn er nur die geheimen Namen des Mondes kenne, denn dann könne er die Nacht beherrschen, hat er uns gelehrt. Für Liag barg die Nacht keine Geheimnisse, und er sagte, daß die Macht mit der Nacht kommt.«

»Die Macht kommt mit der Nacht?« fragte Eadulf erstaunt.

»Hätte er uns erzählt, daß es nachts auch Dinge zu fürchten gibt, dann hätten sich Beccnat, Escrach und Ballgel möglicherweise nicht nachts hinausgewagt«, erklärte Creoda. »Hätten sie Angst gehabt, dann wären sie vielleicht noch am Leben.«

»Wo Furcht ist, herrscht Unwissenheit und Unsicherheit«, hielt ihm Fidelma entgegen.

Creoda starrte sie einen Moment an und fragte dann beinahe flehend: »Wirst du herausfinden, wer das Böse über uns gebracht hat?«

»Ich werde den Täter finden«, versicherte ihm Fidelma. »Was das betrifft, solltest du keine Angst haben.«

Eadulf und sie stiegen wieder auf die Pferde und kehrten auf den Weg am Fluß zurück.

»Wollen wir immer noch zu Liag?« erkundigte sich Eadulf nach einer Weile.

In Gedanken versunken nickte Fidelma. Schweigend ritten sie weiter. Sie gelangten an die Stelle, wo sie am Vortag die beiden Jungen bei der Goldsuche angetroffen hatten. Zuerst sah es so aus, als sei jetzt niemand dort, doch dann hörten sie, wie etwas ins Wasser plumpste. Sofort blickten beide zu dem Felsen, der über das Ufer hinausragte.

Oben hockte ein Junge, der wohl gerade einen Stein ins Wasser geworfen hatte; nun hielt er einen neuen bereit. Zuerst dachten sie, es handele sich um einen der beiden Jungen vom Vortag. Er war ungefähr zwölf Jahre alt, hatte blondes Haar und schmale Glieder. Auch war seine Kleidung ähnlich der, die die Jungen getragen hatten. Fidelma brachte ihr Pferd in der Nähe des Felsüberhangs zum Stehen. Eadulf sah sie überrascht an.

»Ein schöner Tag, nicht wahr?« rief sie dem Jungen zu.

Der Junge schien sie erst jetzt zu bemerken. Er reagierte zurückhaltend.

»Der Tag mag ja schön sein, aber nicht gerade das, was er so mit sich bringt«, erwiderte er altklug.

Fidelma mußte lachen. »Du bist ja ein richtiger Philosoph, mein Junge.«

Er legte den Stein hin und schlang die Arme um die Knie. »Das habe ich von den Erwachsenen, sie sagen es immer, wenn irgend etwas schiefgelaufen ist.«

»Und was ist bei dir schiefgelaufen an so einem strahlenden Tag?«

»Gobnuid hat sich über mich lustig gemacht.«

»Der Schmied?« Fidelma runzelte die Stirn.

Der Junge nickte. »Ich habe ihm etwas gezeigt, was ich für wertvoll hielt, und er hat mich ausgelacht.«

»Bist du etwa Sioda?«

Auf der Stelle verfinsterte sich das Gesicht des Jungen.

»Woher weißt du das?« fragte er trotzig. »Hat Gobnuid die Geschichte zum besten gegeben ...«

»Ich habe von deinen Freunden gehört, daß du etwas Kostbares entdeckt hast«, sagte Fidelma.

»Ich dachte, es sei Gold«, erwiderte der Junge, und seine Augen wurden wieder traurig. »Gobnuid meinte, es sei keins. Hat mir dafür eine Münze gegeben, und ich hatte gehofft, richtig reich zu werden.«

»»Ad praesens ova eras pullis sunt meliora«, sagte Eadulf.

Der Junge blickte ihn an, als sei er blöd. »Er ist ein Fremder, nicht wahr?« fragte er Fidelma.

»Das war ein lateinisches Sprichwort. Es bedeutet: Die Eier von heute sind besser als die Küken von morgen«, erklärte sie. »Mit anderen Worten, eine Münze in der Tasche ist besser als das Versprechen zukünftigen Reichtums. Ein guter Rat.«

Der Junge schnaubte. »Ich war mir so sicher, daß es sich um Gold handelte.«

»Hast du den Klumpen im Fluß gefunden?« fragte Fidelma.

»Nein.«

»Die beiden anderen Jungen haben aber gestern hier im Fluß nach Gold gesucht. Sie haben angenommen, daß du es von hier hast.«

Der Junge lachte verbittert. »Ich habe ihnen gesagt, daß ich es im Fluß gefunden habe. Ich wollte nicht, daß sie herausbekommen, wo ich es wirklich her habe. Doch jetzt ist es mir egal. Reich werde ich sowieso nicht.«

»Also hast du den Klumpen nicht aus dem Fluß?« fragte Fidelma noch einmal nach.

Der Junge schüttelte den Kopf. »Ich habe ihn im Eberdickicht gefunden. Dort gibt es alte Minen.«

»Im Eberdickicht?« erkundigte sich Fidelma erstaunt.

Der Junge zeigte auf den Hügel vor ihnen. »Eigentlich heißt so der Wald auf der Hügelkuppe, doch inzwischen nennt man den ganzen Hügel so.«

»Wieso kriechst du in deinem Alter in Minen herum?« wollte Eadulf wissen. »Das ist doch sicher gefährlich, oder?«

»Hier in der Gegend werden viele Erze abgebaut«, erwiderte der Junge. »Mein Vater hat schon dort gearbeitet, da war er kaum älter als ich. Jetzt sind die Stollen stillgelegt. Wir spielen da immer. Ich meine, die Jungen aus der Gegend hier.«

»Du hast also in den Minen des Eberdickichts gespielt und dabei den Goldklumpen gefunden?«

Der Junge rümpfte die Nase.

»Ich habe da nicht gespielt, sondern ich war auf Erkundung«, berichtigte er.

Fidelma lächelte kurz. »Selbst wenn es so war, solltest du vorsichtig sein. Mein Gefährte hat recht. Es ist sehr gefährlich, in alten Minen zu spielen . Nein,

Erkundungen anzustellen.«

Wieder schniefte der Junge und blickte wie abwesend auf den Fluß. Fidelma verabschiedete sich von ihm, da er aber nicht antwortete, ritten sie und Eadulf einfach weiter.

»Warum wolltest du unbedingt wissen, wo der Junge das falsche Gold her hat?« fragte Eadulf ein wenig vorwurfsvoll, nachdem sie ein Stück weg waren. »Wir sollten uns auf andere Dinge konzentrieren.«

Fidelma sah ihn an. »Ich möchte herausbekommen, warum das Metallstück, das mir Gobnuid zeigte - das Stück, das der Junge gefunden hat -, angeblich Katzengold sein soll, obwohl es richtiges Gold ist. Ich habe früher schon einmal echtes Gold und Eisenkies, sogenanntes Katzengold, in den Händen gehalten und kann es unterscheiden. Den Klumpen in Gobnuids Schmiede habe ich mir genau angesehen. Es war Gold.«

Eadulf starrte sie eine Weile an, ehe er etwas sagen konnte. »Du meinst also, der Schmied hat den Jungen übers Ohr gehauen?«

»Er hat ihm mit Sicherheit nicht die Wahrheit gesagt.«

»Warum sollte er das tun? Nur um Geld zu machen?«

Fidelma antwortete nicht gleich. Dann sagte sie: »Genau das möchte ich ergründen. Die Mädchen sind alle in diesem Waldstück, dem Eberdickicht, umgekommen. Ob es da einen Zusammenhang gibt?«

Beide verfielen wieder in Schweigen. Schließlich sagte Eadulf: »Wie lange werden wir deiner Meinung nach noch hier bleiben?«

»Hier? Im Wald?«

»Nein, in Rath Raithlen.«

»Wenn man uns zur Lösung eines Falls wie diesen hinzugezogen hat, bleiben wir da nicht wie immer, bis die Sache geklärt ist, Eadulf?« fragte sie erstaunt.

»Früher hat es kein kleines Wesen gegeben, das auf unsere Rückkehr wartet«, erwiderte er. »Du hast nicht einmal von Alchü geredet, seit wir von Cashel weg sind.«

»Nur weil ich den Namen meines Sohnes nicht ständig auf den Lippen trage, habe ich ihn nicht vergessen«, fuhr Fidelma ihn an. Ihr Aufbrausen war ihren Schuldgefühlen zuzuschreiben, denn sie hatte bis zum heutigen Vormittag tatsächlich nicht einmal an Alchü gedacht.

»Seit wir aus Cashel fort sind, haben wir kein einziges Mal über unseren Sohn gesprochen«, sagte Eadulf ruhig, doch er betonte das »wir«.

Fidelma errötete vor Scham. Sie wußte, daß Eadulf recht hatte, doch das regte sie nur noch mehr auf.

»Müssen wir denn von ihm sprechen? Er ist in Saraits Obhut auf Schloß Cashel. Wir haben uns hier vor Ort um wichtigere Dinge zu kümmern.«

Eadulf packte die Gelegenheit beim Schopfe. »Alchü ist noch nicht mal einen Monat alt, und du hast ihn einer Amme überlassen. Da ich an der medizinischen Hochschule von Tuam Brecain studiert habe, weiß ich genau, daß das Stillen eines Kindes der Mutter Kraft und Gesundheit wiedergibt und die Bindung zwischen Mutter und Kind stärkt, statt ...«

»Eadulf, es ist weder die rechte Zeit noch der rechte Ort, meine Fähigkeiten als Mutter in Frage zu stellen«, entgegnete sie schroff.

Eadulf beherrschte sich. »Ich bin nicht sicher, ob ich deine Stimmungen begreife, Fidelma. Seit der Geburt unseres Sohnes hast du dich stark verändert.«

»Ist es etwa verboten, sich zu verändern?« Sie wußte sehr wohl, was er meinte, hatte sie doch selbst ihre Beweggründe hinterfragt. »Manchen Menschen täte eine Veränderung gut!« Sie wurde zusehends gereizter, gerade weil sie wußte, daß sie im Unrecht war. »Wenn du dir solche Sorgen um das Kind machst, warum reitest du nicht nach Cashel zurück, und ich bleibe hier, um den Fall zu lösen?«

Eadulf sah sie resigniert an.

»A verbis ad verbera«, seufzte er, »von Worten zu Schlägen.«

Fidelma wollte schon wütend etwas entgegnen, doch dann seufzte sie ebenfalls. Sie lehnte sich vor und legte reumütig eine Hand auf Eadulfs Arm.

»Wir wollen vorerst nicht mehr darüber reden, Eadulf. Dring bitte nicht weiter in mich. Meine Stimmung ändert sich von einem Augenblick zum anderen, ohne daß ich einen Grund dafür erkenne.«

Eadulf blickte sie besorgt an. »Das hast du mir noch nie anvertraut.«

Sie lächelte ein wenig. »Du hättest es merken können.«

»Das habe ich schon, aber ich habe nicht ange-nommen, daß du krank .«

Sie fiel ihm ins Wort. »Das ist kein körperliches Leiden. Ich handele, als wäre ich im Fieber. Manchmal fürchte ich um mich. Meistens, wenn ich an unser Baby denke, Eadulf. Wenn ich mich auf andere Dinge konzentriere, ist nach wie vor vernünftig, was ich tue. Und das macht mir noch mehr Angst.«

Eadulf fuhr sich mit der Hand über den Kopf. »Ich glaube mich zu erinnern, daß eine Mutter nach der Geburt eines Kindes durchaus unglücklich sein kann . Davon habe ich gehört.«

»Wenn wir wieder in Cashel sind, will ich den alten Conchobhar aufsuchen«, warf Fidelma rasch ein. »Bis dahin wollen wir nicht mehr darüber sprechen.«

Conchobhar war der erste Arzt von Cashel und außerdem Astrologe.

Eadulf begriff, daß es keinen Sinn hatte, die Angelegenheit weiterzuverfolgen. Schweigend ritten sie in das Dickicht der Bäume hinein, die immer enger standen. Sie versuchten sich rechts vom Fluß zu halten, doch der gewundene Pfad führte sie von ihrem Ziel ab, so daß sie ein-, zweimal umkehren mußten, um eine andere Route einzuschlagen. Auf einmal befanden sie sich in einer Gegend, die sie beide wiedererkannten.

»Dort ist der Hügel«, murmelte Eadulf, als sie an einer lichten Stelle am Fluß anhielten. »Wie hat ihn Accobran gleich genannt?«

»Cnoc a’ Bhile«, antwortete Fidelma.

»Richtig. Der Hügel des heiligen Baumes.« Eadulf seufzte. »In so einem Baum sollen die heidnischen Götter einst gewohnt haben.«

»Bile war eine heilige Eiche, heißt es bei den Vorfahren, und als sich Danu, das göttliche Wasser des Himmels, auf die Erde ergoß, wuchs die Eiche und trug Eicheln. Aus jeder Eichel kam ein heidnischer Gott oder eine Göttin hervor. Deshalb wird das alte irische Göttergeschlecht auch Tuatha de Danann, Kinder der Göttin Danu, genannt.«

»Ich dachte, daß Bile der Gott der Dunkelheit und des Todes sei und aus der Unterwelt stamme.«

»Christen aus Rom waren es, die hierherkamen und sich die alte Göttin Danu so vorgestellt haben. Für unser Volk ist die Eiche immer noch heilig. Viele unserer Stammesfürsten wurden unter den Zweigen einer Eiche in ihr Amt eingeführt, denn sie ist das Symbol unserer Könige, der Ursprung unseres Volkes. Es gilt als Frevel, so einen heiligen Baum zu fällen. Der Amtsstab eines Fürsten oder Königs ist aus Eichenholz und verleiht ihm besondere Macht. Der Großkönig hatte früher ein Zepter aus Eschenholz. Die Esche nannte man Bile Dathi, sie ist ebenfalls heilig und gehört zu den sechs wundertätigen Bäumen Irlands.«

»Hast du nicht eben gesagt, Bile sei eine Eiche?« fragte Eadulf verwirrt.

»Die Sprache entwickelt sich. Heutzutage nennt man jeden heiligen Baum Bile. Und auch der Gott, der die Seelen mit der Fähre über die heiligen Flüsse oder das Meer ins Jenseits geleitet, heißt so.«

Eadulf, der erst als junger Mann zum christlichen Glauben übergetreten war, wurde unbehaglich zumu-te. Immer versuchte er, seine heidnische Vergangenheit zu leugnen. Fidelma kam mit der alten Götterlehre ihrer Vorfahren offenbar besser zurecht als er, auch wenn das Volk von Eireann das Christentum schon vor etwa zweihundert Jahren angenommen hatte.

»Ich bin einmal durch Londinium gekommen«, erzählte er nachdenklich. »Heutzutage ist der Ort ziemlich verlassen, doch einst war er eine blühende römische Stadt.«

»Davon habe ich gehört«, erwiderte Fidelma.

»Die Welisc, die sich selbst Britannier nennen, lebten einst dort, sogar dann noch, als Rom über die Stadt herrschte.«

Fidelma fragte sich, worauf Eadulf hinauswollte.

»Ich weiß, daß die Welisc viele alte Götter und Göttinnen mit den Iren gemein haben.«

»Das stimmt. Was willst du damit beweisen?«

»Ganz in der Nähe, wo ich wohnte, befand sich ein altes Tor, das Bile hieß und auf den großen Fluß Ta-mesis führte, der an der Stadt vorbeifließt. Ein alter Mann erzählte mir, daß man früher die Köpfe der Toten vom Körper trennte, sie durchs Tor trug und flußabwärts schiffte. Nicht weit entfernt mündete ein Nebenlauf der Tamesis, er hieß der Welisc Brook, dort warf man die Köpfe ins Wasser, zusammen mit Schwertern, Schilden und anderen Waffen. Ein furchtbarer heidnischer Brauch.«

Fidelma lächelte und nickte. »So furchtbar ist er gar nicht. Man glaubte damals, daß sich die Seele eines Menschen im Kopf befände, und um die Toten zu ehren, trennte man häufig die Köpfe ab - wodurch die Seelen befreit wurden - und bewahrte die Köpfe an heiligen Stätten auf. Ist es nicht großartig, daß im Herzen des Landes, das nun den Angeln und den Sachsen gehört, so ein alter Brauch seine Spuren hinterlassen hat?«

Eadulf schüttelte betrübt den Kopf.

»Semel insanivimus omnes«, sagte er. »Wir waren alle einmal töricht. Ich weiß nicht, ob die Leute an so etwas erinnert werden müssen. Es ist ohnehin schwer genug, sie zum wahren Glauben zu bekehren. Das mußten wir doch erst im letzten Jahr erfahren, nicht wahr?«

Eadulf spielte offenbar darauf an, daß manche der sächsischen Königreiche erst vor kurzem wieder zu den alten Göttern ihrer Vorfahren zurückgekehrt waren. So hatte zum Beispiel Sigehere, König von Ostsachsen, ein Land an der Grenze zu Eadulfs Land der Ostangeln, vor zwei Jahren nach einer verheerenden Pest die alten heidnischen Tempel wieder geöffnet.

»Du kannst keine Zukunft aufbauen, wenn du das Wissen der Vergangenheit verdrängst oder es zu vernichten versuchst. Der Bericht von Bischof Benignus, dem Nachfolger des heiligen Patrick in Armagh, macht mich ganz traurig, denn er schreibt, daß Patrick hundertachtzig Schriften der Druiden verbrannt hat, um das Volk zum Christentum zu bekehren. Die Zerstörung von Wissen, von jeglichem Wissen, ist keine gute Grundlage für die Zukunft.«

»Du kannst doch nicht die Vernichtung des Heidentums ablehnen, wenn du dich dazu verpflichtet hast, die Menschen zum Christentum zu bekehren!« Eadulf war entsetzt.

»Ich will nur sagen, der Torheit der Menschen sollte man mit Lachen begegnen und nicht damit, daß man Märtyrer schafft. So hielten es unsere Satiriker stets, darum sieht unser Gesetz auch so hohe Strafen für jene vor, die ohne gültigen Beweis über andere spotten. Castigat ridendo mores.«

Eadulf überlegte.

»Sie sagen sich von alten Bräuchen los, indem sie sich darüber lustig machen?« wagte er zu sagen.

Fidelma lächelte. »Mit anderen Worten, das Lachen wird Erfolg haben, wohingegen Bedrohungen, Strafen und gottesfürchtige Lektionen scheitern werden.«

Eadulf seufzte. »Das klingt vielversprechend. Ich bin jedoch sicher, auch dagegen findet sich ein Argument.«

»Sag mir Bescheid, wenn dir eins einfällt. In der Zwischenzeit wollen wir uns unserem Fall widmen.«

Sie ließen ihre Pferde langsam auf den bewaldeten Hügel zulaufen, wo sie Liag schon einmal getroffen hatten.

»Wir sollten nach ihm rufen«, murmelte Eadulf und sah sich nervös um. »Sonst geht er uns vielleicht aus dem Weg.«

»Aus dem Weg? Wieso?« ertönte eine rauhe Stimme hinter ihnen, die sie beide zusammenzucken ließ.

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