Kapitel 2

Eadulf betrat den Raum, wo es sich Fidelma auf einem Stuhl vor dem Feuer bequem gemacht hatte. Trotz der Wandgobelins und der Teppiche auf den Steinplatten am Boden drang die herbstliche Abendkühle durch die dicken grauen Steinmauern des Schlosses von Cashel. Eadulf blickte finster. Gereizt stieß er die schwere Eichentür hinter sich zu.

Fidelma schaute etwas verärgert von ihrem Buch auf. Es handelte sich um eines jener kleinen Bücher, tiag liubhair genannt, die man bequem auf Pilgerreisen oder Missionsfahrten in ferne Länder bei sich tragen konnte. Da Fidelma gern vor dem Feuer las, waren diese kleinen Bücher, die man in einer Hand halten konnte, genau das richtige für sie.

»Leise! Du weckst Alchü noch auf«, sagte sie. »Er ist gerade erst eingeschlafen.«

Eadulfs Blick verfinsterte sich noch mehr.

»Stimmt etwas nicht?« wollte Fidelma wissen. Sie unterdrückte ein Gähnen und legte ihr Buch beiseite. Sie wußte genau, wann Eadulf verärgert war.

»Ich habe gerade diesen alten Narren getroffen, Bischof Petran«, sagte Eadulf ohne Umschweife und ließ sich auf den Stuhl ihr gegenüber fallen. »Er wollte mir eine Lektion über die Vorteile des Zölibats erteilen.«

Fidelma lächelte müde. »Das sieht ihm ähnlich. Bischof Petran ist ein führender Verfechter der Idee, daß alle Geistlichen zölibatär leben sollten. Für ihn ist die Ehelosigkeit unseres Standes der Höhepunkt des Sieges des Christentums über das Böse in allen weltlichen Dingen.«

Eadulf wirkte verstimmt.

»Das würde bedeuten, daß die Menschheit innerhalb von wenigen Generationen ausstirbt.«

»Wieso bist du mit dem alten Petran aneinandergeraten?« fragte Fidelma. »Jeder weiß doch, daß er ein Frauenhasser ist, was wahrscheinlich an seiner eigenen zölibatären Lebensweise liegt. Ohnehin würde ihn keine Frau auch nur anschauen«, fügte sie kühl hinzu.

»Er heißt unsere Ehe nicht gut, Fidelma.«

»Das ist seine persönliche Ansicht. Gott sei Dank gibt es kein Gesetz, das unter Geistlichen den Zölibat vorschreibt . Nicht einmal unter jenen, die wie Pe-tran Anhänger der Regeln und Doktrinen sind, die nun in Rom anerkannt werden. Im neuen Christentum gibt es bestimmte Gruppierungen, die meinen, daß jene, die Christus dienen und ihm ihre ganze Liebe schenken, ihre Liebe nicht zugleich auch einem einzelnen Mitmenschen geben können. Die irren sich. Gäbe es Gesetze, die unsere natürlichen Gefühle in Ketten legen würden, dann wäre die Welt um so vieles ärmer.«

Eadulf blickte weiterhin mürrisch drein. »Bischof Petran behauptet, daß Paulus von Tarsus von seinen Jüngern den Zölibat eingefordert hätte.«

Fidelma rümpfte abschätzig die Nase. »Dann hättest du ihm aus Paulus’ Brief an Timotheus zitieren sollen: >Etliche werden vom Glauben abfallen und anhangen den verführerischen Geistern und Lehren böser Geister durch die Heuchelei der Lügenredner, die ein Brandmal in ihrem Gewissen haben. Sie gebieten, nicht ehelich zu werden und zu meiden die Speisen, die Gott dazu geschaffen hat, daß sie mit Danksagung empfangen werden von den Gläubigen und denen, die die Wahrheit erkennen. Denn alles, was Gott geschaffen hat, ist gut, und nichts ist verwerflich, was mit Danksagung empfangen wird; denn es wird geheiligt durch das Wort Gottes und Gebet.< Frag Petran, ob er etwa leugnet, daß Gott Mann und Frau schuf, und ob die Ehe nicht von ihm zu einem ehrbaren Stand gemacht worden ist.«

»Ich glaube nicht, daß Petran die Einzelheiten dieser Sache mit mir erörtern will.«

Fidelma streckte sich ein wenig aus. »Ich schätze, daß Petran viele Dinge nicht gutheißt, die wir aus Ei-reann tun, seit er einige Jahre in einem fränkischen Kloster verbracht hat, wo man den Zölibat lehrt und lebt. Keusch sind nur jene Männer und Frauen, die nicht fähig sind, von ihren Mitmenschen Liebe zu erhalten. Daher hängen sie sich den Mantel der Keuschheit um, geben vor, den Unkörperlichen zu lieben, und schrecken vor Menschen aus Fleisch und Blut zurück. Zwingt man Menschen dazu, ihre Liebe gegenüber ihren Mitmenschen zu unterdrücken, so können sie gewiß auch nichts anderes lieben, ganz zu schweigen von Gott. Uns sollte es nicht weiter stören, was Petran denkt, denn er wird sich bald auf eine Pilger-reise nach Lucca machen, einer Stadt nördlich von Rom, wo vor hundert Jahren der heilige Fridian von Eireann Bischof gewesen ist.«

Eadulf war ein wenig hin und her gerissen zwischen seiner Bewunderung für ihre philosophischen Ausführungen und dem Gefühl, ihr nicht das Wasser reichen zu können. Er wünschte, er hätte ein so gutes Gedächtnis wie Fidelma, die ganze Abschnitte aus der Bibel zitieren konnte. Die Gelehrten von Eireann hatten sich jahrhundertelang in dieser Kunst geübt. Fidelma hatte ihm davon berichtet, daß man vor der Einführung des Christentums in ihrem Land traditionell religiöse und philosophische Texte nicht schriftlich festhielt. Männer wie Frauen verwandten mehr als zwanzig Jahre darauf, die alten Gesetze und Riten auswendig zu lernen.

»Ich schätze, daß wir Bischofs Petrans Ansicht nach zweifach verdammt sind«, sagte Eadulf, stand auf und ging in die Ecke des Raumes, wo die Wiege stand.

»Weck ihn nicht auf«, sagte Fidelma.

»Auf keinen Fall«, versicherte Eadulf ihr. Er sah auf das schlafende Baby hinab. Auf der Stirn lagen feine rote Haarsträhnen. Eadulf lächelte voller väterlichen Stolzes. »Es ist immer noch kaum zu glauben, daß wir einen Sohn haben«, sagte er leise, mehr zu sich selbst.

Fidelma stand rasch auf und stellte sich neben ihn, wobei sie eine Hand auf seinen Arm legte. »Vier Monate hattest du nun schon Zeit, dich mit Alchüs Ankunft in dieser Welt anzufreunden.«

»Sanfter Hund.« Eadulf übersetzte den Namen lei-se, während er auf das Kind niederblickte. »Ich frage mich, was aus ihm einmal werden wird.«

»Er muß erst einmal groß werden, Eadulf, und das dauert.« Fidelma kehrte wieder ans Feuer zurück und setzte sich. »Sarait wird bald hier sein und sich um ihn kümmern, denn wir sind heute abend bei meinem Bruder zum Festmahl gebeten.«

Sarait war Fidelmas Dienerin und das Kindermädchen von Alchü. Solange Fidelma im Schloß ihres Bruders in Cashel wohnte, wurde sie nicht als Nonne behandelt, sondern als eine Prinzessin der Eogha-nacht, die Schwester des Königs von Muman.

»Aus welchem Anlaß wird gefeiert?« wollte Eadulf wissen.

»Man hat mir mitgeteilt, daß der Stammesfürst der Cinel na Äeda heute nachmittag eingetroffen ist und meinen Bruder um Hilfe ersucht hat. Colgü hat uns gebeten, an der Tafel zu erscheinen.«

»Hilfe? Welcher Art wohl?«

Fidelma zuckte gleichgültig die Schultern. »Das weiß ich nicht. Ich habe mich auch schon gefragt, was ihn nach Cashel getrieben hat. Heute abend werden wir es erfahren.«

»Wer sind die Cinel na Äeda? Ich dachte, ich würde alle Stämme deines Königreiches kennen, doch an den Namen kann ich mich nicht erinnern.«

»Sie leben in den Hügeln südlich vom Fluß Bride, einen gemächlichen Zweitageritt südwestlich von hier. Die Festung des Stammesfürsten wird Rath Raithlen genannt. Er heißt Becc und ist ein entfernter Cousin von mir, denn sein Volk gehört zu den Eoghanacht. Beccs Großvater Fedelmid war vor achtzig Jahren König von Cashel. Ich habe Becc zuletzt als kleines Mädchen gesehen, da war ich sogar mal in seinem Herrschaftsgebiet.«

»Also stattet er Cashel nicht so häufig einen Besuch ab?«

»Äußerst selten«, entgegnete Fidelma. »Er kommt nur zu den Zusammenkünften der Ratsversammlung dieses Königreiches. Sonst pflegt Becc keine weiteren Kontakte zu Cashel.«

Eigentlich war Fidelma noch neugieriger als Eadulf, was den Grund des Besuchs ihres entfernten Cousins betraf. Als sie mit Eadulf zu den privaten Räumen von Colgü, dem König von Muman, schritt, dachte sie ständig daran. Der königliche Haushofmeister hatte ihnen mitgeteilt, daß Colgü sie vor dem Festmahl bei sich empfangen wollte. Der junge König war allein. Es war kaum zu übersehen, daß Fidelma und Colgü eng miteinander verwandt waren, denn sie waren beide hochgewachsen, hatten rote Haare und die gleichen wandelbaren grünen Augen. Ihre Gesichtszüge ähnelten sich, und beide hatten die gleiche Art, sich zu bewegen.

Colgü empfing sie mit einem herzlichen Lächeln und umarmte seine Schwester. Dann streckte er Eadulf die Hand entgegen.

»Geht es dem Kleinen gut?« fragte er.

»Alchü ist wohlauf, ja. Sarait ist bei ihm«, erwiderte Fidelma. Rasch blickte sie sich im Raum um. »Wie ich sehe, ist dein Gast nicht hier, Bruder. Das bedeutet, daß du mit uns etwas besprechen willst, ehe wir ihn begrüßen.«

Colgü lächelte. »Wie immer beweist du einen wachen Verstand, Fidelma. Ja, ich wollte tatsächlich vor dem Essen mit euch reden. Doch die Neuigkeiten sollt ihr direkt aus dem Mund unseres Cousins erfahren. Ich werde ihn später rufen lassen, bevor wir in den Saal gehen, wo, den Umständen entsprechend, nur noch eine oberflächliche Unterhaltung stattfinden kann.«

Eadulf hustete verlegen. »Vielleicht sollte ich mich zurückziehen, wenn die Angelegenheit eure Familie betrifft?«

Colgü streckte ihm eine Hand entgegen und hieß ihn bleiben. »Du gehörst nun zur Familie. Als Mann meiner Schwester und Vater ihres Sohnes. Außerdem geht diese Sache auch dich an.«

Fidelma nahm auf einem der Stühle vor dem Feuer Platz, Eadulf wartete, bis Colgü ihm das Zeichen gab, sich zu setzen. So schrieb es das Zeremoniell vor. Fidelma war nicht nur die Schwester des Königs, sondern eine anruth, eine Anwältin bei Gericht, also durfte sie sich auch ohne Erlaubnis in Anwesenheit der Provinzkönige setzen und vor ihnen das Wort ergreifen. Sie durfte sogar in Anwesenheit des Großkönigs sitzen, wenn man sie dazu einlud. Eadulf, der, obwohl Fidelmas Ehemann, in diesem Königreich ein Fremder war, mußte warten, bis man ihn zum Sitzen aufforderte.

»Colgü, deinen Bemerkungen entnehme ich, daß die Angelegenheit, in der Becc mit dir reden will, keine nur familiäre Sache ist?« fragte Fidelma.

»So ist es«, erwiderte Colgü. »Er spricht von dem Bösen und vom Tod. Unter den Cinel na Äeda herrschen Furcht und Schrecken.«

Überrascht zog Fidelma ihre Augenbrauen hoch.

»Das Böse und der Tod?« wiederholte sie leise. »Das Böse ist ein emotionsgeladenes Wort, aber der Tod weilt immer unter uns. Wieso werden beide Wörter zusammen genannt?«

»Er spricht von Aberglauben und von möglicherweise unheiligen Ritualen, die sich unter den Bewohnern der dunklen Wälder breitgemacht haben.«

»Da bin ich aber gespannt, Bruder. Erzähl mehr davon.«

»Ich werde Becc rufen lassen, damit er weiterberichtet«, erwiderte Colgü. »Ihr sollt gleich alles aus seinem Mund erfahren.« Er langte nach einer kleinen silbernen Glocke, die sich seitlich auf einem Tisch befand. Kaum war das schrille Läuten verklungen, da trat der Haushofmeister des Königs ein und ließ auf ein Nicken von Colgü hin einen älteren Mann hereinkommen. Sein Gesicht mit dem buschigen Bart verriet noch, wie schön es in seiner Jugend gewesen sein mußte. Er besaß die durchtrainierte Figur eines Kriegers, die im Alter kaum an Stattlichkeit eingebüßt hatte.

»Becc, Stammesfürst der Cinel na Äeda«, verkündete der Haushofmeister, ehe er sich zurückzog und die Tür schloß.

Nur Eadulf erhob sich unbeholfen, als der fremde Fürst eintrat, dessen Name ganz im Gegensatz zu seiner hohen Gestalt stand - Becc bedeutete »der Kleine«. Becc verneigte sich förmlich vor Colgü, ehe er sich mit einem sanften Lächeln Fidelma zuwandte und ihr zunickte.

»Fidelma, wo ist das kleine Mädchen geblieben, dem ich vor vielen Jahren begegnet bin? Dein Ruhm eilt dir jetzt in allen Teilen unseres Königreiches voraus.«

»Wie freundlich von dir, Cousin Becc«, erwiderte Fidelma ernst. »Erlaube mir, dir meinen Gefährten Bruder Eadulf von Seaxmund’s Ham aus dem Land des Südvolks vorzustellen.«

Becc wandte sich nun Eadulf zu und betrachtete ihn verschmitzt aus spöttischen blaugrünen Augen.

»Ich habe Bruder Eadulfs Namen immer im gleichen Atemzug mit dem von Fidelma von Cashel vernommen. Beide stehen für Gesetz und Gerechtigkeit.«

Eadulf fühlte sich ein wenig unbehaglich. Er hatte die vage Vermutung, daß hinter all diesen Komplimenten etwas steckte und das Treffen nicht ohne Hintergedanken stattfand.

»Setzt euch«, forderte der König nun Becc und Eadulf auf. »Ich habe Fidelma und Eadulf gebeten, sich deine Geschichte anzuhören, ehe wir uns zu dem Festmahl begeben, Becc.«

Der Fürst wurde ernst, und ein dunkler Schatten schien sich auf sein Gesicht zu legen.

»Möglicherweise könntet ihr den Cinel na Äeda ei-nen Weg aus der Misere weisen«, sagte er hoffnungsvoll.

Fidelma blickte ihn nachdenklich an. »Berichte uns alles, was vorgefallen ist, Becc, und wir werden sehen, wie wir dir am besten helfen können.«

»Der erste Mord fand vor zwei Monaten statt«, fing Becc ohne große Umschweife an. »Das Opfer war Beccnat, die Tochter von Lesren, der bei uns das Leder gerbt und verarbeitet. Sie hatte gerade ihren siebzehnten Sommer erreicht. Ein junges, unschuldiges Mädchen.«

»Wie ist sie umgebracht worden?« fragte Fidelma nach einer Weile.

»Auf brutale Weise«, erwiderte Becc sofort. »Ganz brutal.« Seine Stimme klang auf einmal sehr angespannt. »Eines Vormittags fand man ihre Leiche im Wald unweit meiner Festung. Jemand hatte mehrere Male auf sie eingestochen, so als hätte er auf unsagbar grausame Weise, einem Ritual folgend, ihr Fleisch von den Knochen lösen wollen.«

»Du hast gesagt, daß dies der erste Mord war. Also nehme ich an, es ist noch mehr passiert?«

»Vor einem Monat wurde wieder ein junges Mädchen getötet. Diesmal traf es Escrach, die Tochter unseres Müllers. Sie wurde in ähnlichem Zustand aufgefunden. Und auch sie war erst siebzehn oder achtzehn Jahre alt.«

»Wo war der Tatort? Wieder im Wald?«

Becc nickte. »Ganz in der Nähe von der ersten Leiche. Und vor ein paar Tagen fand man das dritte Mädchen. Ballgel war genauso alt wie die anderen. Sie hat in der Küche meiner Festung ausgeholfen. Auch sie war auf unsagbar schlimme Weise zerstückelt worden.«

»Unsagbar schlimm?« Fidelmas Gesicht verfinsterte sich. »Wenn manche Dinge unaussprechlich scheinen, so sollte man sie trotzdem benennen, finde ich.«

Becc seufzte und schüttelte den Kopf.

»Ich wähle meine Worte nicht leichtfertig«, sagte er tadelnd. »Habt ihr eine Vorstellung davon, wie es aussieht, wenn ein Fleischer ein Schwein schlachtet?«

Eadulf preßte seine Lippen aufeinander. »So böse?«

Becc blickte ihn ruhig an.

»Vielleicht noch schlimmer, sächsischer Bruder«, erwiderte er leise.

Daraufhin herrschte Schweigen.

»Du sagst, daß dies das dritte Mädchen war? Und jeder Mord geschah im Abstand von einem Monat?« fragte Fidelma schließlich.

»Bei Vollmond.«

Fidelma atmete kurz aus und schaute rasch zu Eadulf.

»Bei Vollmond«, wiederholte sie leise.

Becc nickte, um der Bedeutung dieser Tatsache noch mehr Gewicht zu verleihen.

»Dieser Umstand ist mir und Abt Brogan auch aufgefallen«, sagte er.

»Abt Brogan?«

»In der Nähe liegt die kleine Abtei, wo der heilige Finnbarr geboren wurde.« Becc sah Eadulf an. »Finn-barr hat in der Sumpfregion des Flusses Laoi eine Schule gegründet und dort viele Jahre unterrichtet.«

»Wir wissen sehr gut, wer Finnbarr war«, warf Colgü schroff ein, »denn war nicht unser Vater, Failbe Fland mac Aedo Duib, in jenen Tagen König von Cashel?«

Becc senkte den Kopf, erklärte aber nicht, daß seine Ausführungen für Eadulf bestimmt waren.

»Das hatte ich nicht vergessen. Nun denn, Abt Brogan ist ein ehrwürdiger Mann, der an Finnbarrs Schule am Fluß Laoi ausgebildet wurde. Vor zwei Jahrzehnten übernahm er die Verwaltung der Abtei in unserer Nähe. Sie liegt genau am Fuße des Hügels, auf dem die Morde geschahen. Den Wald dort nennen die Leute das Eberdickicht.«

Fidelma lehnte sich zurück. »Es wurden also drei junge Mädchen ermordet, jeweils bei Vollmond. Hat dein oberster Brehon diesen Fall untersucht? Ich begreife nicht, warum du das Ganze hier in Cashel vorträgst.«

Becc schaukelte verlegen hin und her. »Mein oberster Brehon war Aolü. Ein Mann von Verstand und Weisheit, der vierzig lange Jahre den Cinel na Äeda in diesem Amt gedient hat. Er war schon sehr alt und gebrechlich, und vor drei Wochen starb er an einem Fieber, das er sich in der Kälte zugezogen hatte.«

»Wer ist sein Nachfolger?« fragte Fidelma.

»Nun, ich konnte keinen Nachfolger bestimmen. Bei uns gibt es mehrere untergeordnete Richter, doch niemand verfügt über genügend Erfahrung, daß man ihn zum obersten Brehon ernennen könnte. Ehe sich jemand für das Amt findet, fehlt uns das Urteilsvermögen eines erfahrenen Richters.«

Fidelma stieß einen Seufzer aus. Jetzt wurde ihr klar, was sich hinter Beccs Besuch in Cashel verbarg.

»Aolü hat wohl noch die beiden ersten Mordfälle untersucht?«

»Ja.«

»Gibt es irgendwelche Hinweise auf einen Täter?«

Becc hob die Schultern und ließ sie bedeutungsschwer wieder fallen. »Keine, die Aolü weiterer Nachforschungen für wert befunden hätte. Mein Nachfolger Accobran erledigte für Aolü einige Dinge, da der zu dem Zeitpunkt schon recht schwach war und sich nicht mehr aus der Burg hinausbewegen konnte. Doch Accobran brachte nichts Wichtiges in Erfahrung. Und Verdächtige ...« Auf einmal wurde er ganz ernst.

Fidelma bemerkte das, und ihre Augen verengten sich. »Du wirkst besorgt, Cousin. Gibt es einen Verdächtigen?«

Becc zögerte einen Moment. Dann machte er eine hilflose Geste. »Deshalb bin ich hier, Fidelma, und es ist dringend. Vor dem Tor zur Abtei des heiligen Finn-barr ist es zum Aufruhr gekommen. Ich mußte mit meinen Kriegern die Mönche vor einem Angriff schützen. Und ich mußte ein Exempel statuieren und einen Mann verwunden, damit es nicht zu dem Übergriff und der Zerstörung der Klostergemeinschaft kam.«

»Der Klostergemeinschaft? Der Abtei?« Fidelma konnte ihre Überraschung nicht verbergen. »Warum?

Willst du damit sagen, daß man die Mönche der Morde verdächtigt?«

»Nicht die Brüder selbst. Brocc, der mit seinem Bruder in unserer Mühle arbeitet und mit zwei der Ermordeten verwandt war, hat vielen unserer Leute eingeredet, daß die Fremden, die sich in der Abtei aufhalten, für die Morde verantwortlich sind.«

»Welche Beweise hat er dafür?«

»Ich fürchte, nur sein eigenes Vorurteil. Die Fremden trafen erst kurz vor dem ersten Mord in der Abtei ein, deren Gastfreundschaft sie seitdem genießen. Da so etwas hier noch nie geschehen ist, meint Brocc nun, die grausigen Morde seien zweifellos das Werk jener Gäste. Da wurden die Leute mißtrauisch. Brocc versuchte, sie zum Sturm auf die Abtei zu bewegen, um sich der Fremden zu bemächtigen. Wäre es dazu gekommen, hätte man sie gewiß umgebracht und die Mönche ebenso angegriffen.« Beccs Gesicht verfinsterte sich, er zuckte mit den Schultern. »Ich habe Brocc dreimal gewarnt, nicht gegen das Gesetz zu verstoßen, und ihm mit den Folgen gedroht. Als er sich immer noch weigerte, nach Hause zu gehen, traf ihn mein Pfeil im Oberschenkel. Das brachte die Leute zur Besinnung.«

Eadulf schaute ernst auf.

»Das kann ich mir vorstellen. Eine drastische, aber wirksame Maßnahme«, sagte er anerkennend.

»Und diese Fremden stehen unter dem Schutz der Abtei?« fragte Fidelma. »Hat man sie darüber unterrichtet?«

»Ja, die Ortsansässigen wissen Bescheid. Die Fremden genießen die vom Gesetz vorgeschriebene Gastfreundschaft und außerdem den besonderen Schutz der heiligen Stätte, eine Regel, die der neue Glaube übernommen hat.«

»Besteht nicht die Gefahr eines erneuten Übergriffs während deiner Abwesenheit?« erkundigte sich Eadulf.

»Brocc, der Hauptunruhestifter, wird so schnell nicht wieder auf die Beine kommen.« Becc lächelte düster. »Außerdem hat der Tanist Accobran die Befehlsgewalt übernommen. Er wird die Abtei und deren Gäste beschützen.«

»Seid ihr, Abt Brogan und du, von der Unschuld der Fremden überzeugt?« fragte Fidelma.

»Wir wissen nur, daß wir Fremde aufgrund eines Verdachts und ohne Beweise nicht bestrafen können. Zur Klärung der Tatvorgänge fehlt uns ein erfahrener Brehon.«

Nun herrschte Schweigen, und Fidelma lehnte sich in ihrem Stuhl zurück. Sie stieß einen langen Seufzer aus.

»Ich bin nur ein Brehon auf unterster Stufe. Als eine dalaigh oder Anwältin besitze ich nur den Grad einer anruth. Ihr braucht einen ollamh des Gesetzes. Ich vermute, daß ihr unter den Cinel na Äeda qualifiziertere Brehons habt, als ich es bin.«

»Aber niemanden von deinem Ruf, Cousine«, erwiderte Becc sofort.

»Was erwartet ihr von mir?«

Becc schwieg kurz, dann räusperte er sich nervös.

»Erwarten? Wir erwarten nichts, Fidelma von Cashel. Doch ich würde dich gern um etwas bitten. Könntest du nach Rath Raithlen kommen, natürlich in Begleitung von Bruder Eadulf, und Licht in das Dunkel bringen?«

Eadulf sah Fidelma an. Von Anfang an hatte er geahnt, wohin sich die Unterhaltung bewegen würde. Jetzt entdeckte er einen Funken Erregung in ihren Augen. Fidelmas Gesichtszüge verrieten, daß sie Feuer gefangen hatte. Er wußte, er könnte dem Anreiz nichts entgegensetzen, den dieser Fall ihrem Verstand bot. Seit sie aus dem Land des Südvolks zurückgekehrt waren, selbst in der Zeit der Schwangerschaft und nach der Geburt Alchüs, war Eadulf aufgefallen, daß sie nicht recht glücklich war. Fidelma gehörte nicht zu den Frauen, die völlig in Ehe und Mutterschaft aufgingen. Insgeheim hegte er den Verdacht, mehr mütterliche Gefühle zu besitzen als sie.

Schon seit längerem war Eadulf klargeworden, daß sie sich nach jener Beschäftigung sehnte, die sie stets so sehr gefesselt hatte - der Auffindung der Wahrheit bei Rechtsbrüchen unter Anwendung des Gesetzes. Das belebte sie und stachelte ihre Sinne an. In den letzten Monaten hatte er bemerkt, daß sie sich langweilte. Sie langweilte das Leben auf dem Schloß mit all der Fürsorge um Alchü. Ihr fehlten die Herausforderungen. Wenn er so etwas dachte, hatte er manchmal Schuldgefühle, denn sie war ja beileibe keine schlechte Mutter, die gleichgültig gegenüber ihrem Kind war.

Fidelma liebte Alchü über alles. Er kannte sie nur zu gut und verurteilte sie nicht, weil sie ihr Wesen nicht verleugnete. Er räusperte sich.

»Wir müssen auch an Alchü denken«, sagte er leise.

Fidelma preßte verärgert die Lippen zusammen.

»Sarah ist ein gutes Kindermädchen«, warf Colgü ein, ehe sie antworten konnte. »Ihr seid höchstens eine Woche unterwegs, maximal zehn Tage. Sie würde sich bis zu eurer Rückkehr nur um euer Kind kümmern. Auf Schloß Cashel sind Kinder doch immer wohlbehütet aufgewachsen.«

»Du bist unsere einzige Hoffnung«, fügte Becc flehend hinzu. »Das meine ich ernst und aufrichtig.«

Fidelma schaute Eadulf ein wenig traurig an, so als hätte sie begriffen, daß er sich darüber im klaren war, welch große Herausforderung Beccs Ansinnen für sie bedeutete. Sie mußte sich der Herausforderung stellen; er konnte ihr das nicht verwehren, nicht einmal Alchü könnte diesen Teil ihres Lebens verdrängen. Sie war für ihren Beruf geboren, man hatte sie dafür ausgebildet, sie brauchte ihn so sehr wie die Luft zum Atmen, die Nacht zum Schlafen und das Licht am Tage.

Sie wandte sich wieder an Becc. »Diese drei Fremden, die du erwähntest . Was meintest du damit? Sind sie Fremde für die Cinel na Äeda oder unser Königreich von Muman oder gar die fünf Königreiche von Eireann?«

»Die Fremden sind über die Meere gekommen, aus einem fernen Land, von dem ich nie zuvor gehört habe.«

»Also geht es auch um die Ehre des Königreiches und nicht nur um die der Cinel na Äeda, wenn die Fremden unrechtmäßig beschuldigt und bedroht werden.«

Eadulf seufzte leise.

Colgü nickte zustimmend.

»Diesen Gesichtspunkt gilt es zu berücksichtigen«, pflichtete er ihr bei. »Der Fall muß dringend auf ge -klärt werden, ehe es noch zu weiteren Übergriffen auf die Abtei des heiligen Finnbarr kommt.«

»Oder noch mehr junge Mädchen dran glauben müssen«, fügte Fidelma ernst hinzu. Wieder schaute sie zu Eadulf hinüber. »Also muß ich hin. Mir bleibt keine andere Wahl. Kommst du mit mir, Eadulf? Ich werde deine Hilfe brauchen. Sarait wird sich um Alchü kümmern.«

Eadulf zögerte nur einen Moment, dann fügte er sich seinem Schicksal.

»Natürlich«, antwortete er mürrisch. »Wie dein Bruder schon sagte, Sarait ist ein gutes Kindermädchen. Sie wird für das Baby sorgen, wenn wir fort sind.«

Fidelma sah ihn mit einem zufriedenen Lächeln an. »So werden wir morgen in aller Frühe nach Rath Raithlen aufbrechen.«

Colgü läutete wieder mit der silbernen Handglocke. »Ehe wir unsere Unterhaltung beenden, muß ich noch eine Sache klären.«

Diesmal trat Colgüs geistlicher Berater ein. Segdae war Bischof von Imleach und comarb, also offizieller Nachfolger des heiligen Ailbe, der den christlichen Glauben nach Muman gebracht hatte. Der nicht mehr junge Mann mit dem vogelartigen Gesicht, dessen dunklen Augen nichts entging, hielt ein längliches Kästchen in den Händen.

Colgü erhob sich, und entsprechend dem Zeremoniell standen nun alle auf. Segdaes strenge Gesichtszüge erhellten sich für einen Augenblick, als er die Anwesenden begrüßte und dann Colgü das Kästchen überreichte. Jetzt schritt der König auf Fidelma zu.

»So wie dieser Fall liegt, Fidelma, geht es auch um die Ehre unseres Königreiches. Die Fremden genießen unsere Gastfreundschaft; und wenn sie zu Unrecht beschuldigt oder gar bedroht werden, so befleckt das unsere Ehre. Falls sie aber unsere Gastfreundschaft mißbrauchten und die Morde begangen haben sollten, ist es an uns, dafür zu sorgen, daß sie dafür geradestehen.« Er öffnete das Kästchen. »Du hast schon einmal in meinem Auftrag gehandelt, Fidelma, und das sollst du nun wieder tun.«

Er entnahm dem Kästchen einen weißen Ebereschenstab, auf dem ein kleiner goldener Hirsch mit Geweih befestigt war, das Symbol der Prinzen der Eoghanacht von Cashel. Mit angemessener Würde überreichte der König den Stab Fidelma.

»Das ist das Zeichen meiner persönlichen Macht, Schwester. Du hast es bereits in der Vergangenheit zum Guten zu nutzen gewußt, und du wirst ihm auch in Zukunft gerecht werden.«

Fidelma ergriff den Stab und verneigte sich kurz.

Anschließend umarmten sich Bruder und Schwester, wie es bei Hofe üblich war.

Für einen Moment herrschte feierlicher Ernst zwischen ihnen, dann traten beide zurück und lächelten, als wären sie Kinder, die ein Geheimnis teilten. Nun wandte sich Colgü wieder den Anwesenden zu.

»Begeben wir uns in die Festhalle, sonst fragen sich unsere Gäste noch, warum wir sie so lange warten lassen.«

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