Kapitel 4

Es war ein heller, frischer Herbstmorgen, kein Nebel trübte die Sicht. Die Umrisse der Hügel und Bäume traten klar und deutlich hervor, braune und rote Töne leuchteten aus den vielen Grünfärbungen. Eadulf hatte gerade gefrühstückt und blickte nun aus dem Fenster. Vor ihm erstreckte sich die Festungsanlage. Sie umfaßte etwa einen Hektar und war von einem dreifachen Wall umgeben. Eadulf versuchte, den Hektar in ein irisches Maß umzurechnen, gab das aber bald auf. Da er unter Bauern aufgewachsen war, schätzte er, daß man mit einem Ochsengespann mehr als zwei Tage benötigen würde, um das gesamte Gelände umzupflügen. Rath Raithlen war im Vergleich zu den anderen Burgen und Wehren, die er gesehen hatte, recht groß. Sogar verglichen mit Schloß Cashel.

Der Festungswall war ganz typisch an den Verlauf des Hügels angepaßt, der achtzig Meter oder höher war und die kleineren Hügel ringsum überragte. Durch die Täler floß eine Reihe von Bächen, einige fast so groß wie jener Fluß, der um den Fuß des Hügels rauschte, auf dem Rath Raithlen lag. Es gab Wälder, so weit das Auge reichte, und hier und da konnte man auf den entfernt liegenden Bergen kleinere Burgen ausmachen. Das Land wirkte reich und fruchtbar. Der Herbst hatte bisher nur die Blätter gefärbt, noch waren die Bäume dicht belaubt.

Innerhalb der Festungsanlage gab es neben dem Sitz des Fürsten und den dazugehörigen Gebäuden mehrere Straßen und Wege mit Werkstätten von Kunsthandwerkern und mit verschiedenen Wohnhäusern. In letzteren lebte wohl das Gefolge des Fürsten. Die Wälle umschlossen ein ganzes Dorf mit mehreren Schmieden, Sattlereien und sogar einer Bierstube. Rath Raithlen war offenbar ein wohlhabender Ort.

»Ich habe gar nicht gewußt, daß die Cinel na Äeda so reich sind«, sagte Eadulf zu Fidelma, als sie vorschlug, in den Hof hinunterzugehen und sich an die Arbeit zu machen.

»Die Chronisten behaupten, dies sei der alte Hauptsitz der Eoghanacht gewesen, ehe unser Vorfahr, König Conall Corc, Cashel entdeckte und dort auf dem Felsen einen neuen Hauptsitz gründete«, erklärte Fidelma. »Wie ich dir schon sagte, mein Cousin Becc ist der Enkel von König Fedelmid, das ist die männliche Form meines Namens.«

»Es ist schon ein beeindruckender Ort«, stimmte ihr Eadulf zu und sah sich im Hof um, ehe sie Beccs Halle betraten. »Ich entdecke hier viele Gedenksteine mit Inschriften - allerdings in Ogham, das ich nicht entziffern kann.«

»Wenn wir Zeit haben, werde ich dir das alte Alphabet beibringen«, meinte Fidelma. »Als ich als Kind hier zu Besuch war, zeigte man mir die Gräber bedeutender Herrscher aus grauer Vorzeit.«

»Mich erstaunt die Anzahl der Schmieden. Ich habe sie von dem Fenster unseres Schlafgemachs aus gese-hen. Nur ein paar davon scheinen wirklich in Betrieb. Wozu benötigt Becc so viele Schmieden?«

»Die Gegend war einst ein Zentrum der Metallverarbeitung. Man findet hier viele kostbare Metalle: Kupfer, Blei und Eisen, sogar Gold und Silber. Der heilige Finnbarr, der in der Abtei geboren wurde, über die wir sprachen, war der Sohn eines Metallhandwerkers.«

»Ich habe dich oft von Magh Meine reden hören, Fidelma, von der Ebene der Mineralien. Ist das hier?«

»Das ist nicht weit weg, Richtung Nordosten. Aber auch hier fördert man verschiedene Erze.« Fidelma verstummte. Accobran, der schöne junge Tanist, trat aus einer Tür und kam auf sie zu. Er begrüßte sie ungezwungen, wirkte zuvorkommender als am gestrigen Abend. Fidelma mißtraute jedoch seinem Charme. Er fragte sie, ob sie zu den Leuten, die zu befragen waren, reiten wollten. Als sie erfuhren, daß die Betreffenden höchstens zwei Meilen weit entfernt wohnten, entschied Fidelma, zu Fuß zu gehen. So hätten sie Gelegenheit, sich die Landschaft anzuschauen und die Stellen genauer zu untersuchen, an denen die drei Mädchen getötet worden waren.

Accobran führte sie durch die Befestigungsanlagen. Schließlich passierten sie das letzte große Holztor und liefen den Hügel hinab. Sie folgten ein Stück einem breiten Weg, bis ihr Begleiter in ein dichtes Waldstück abbog, durch das sich ein schmaler Pfad wand.

»Der alte Liag wohnt mitten in diesem Wald«, teilte ihnen Accobran über die Schulter hinweg mit. Sie konnten nur hintereinanderlaufen, denn Buschwerk überwucherte den Pfad. »Normalerweise trifft man ihn am Ufer des Tuath an.«

»Ein eigenartiger Name für einen Fluß«, meinte Eadulf. Er besserte seine Kenntnisse der Sprache von Eireann bei jeder Gelegenheit auf. »Bedeutet der Name nicht nur Gebiet?«

Der junge Tanist lächelte. »Eine Sippe unseres Volkes südlich von hier wurde von einem Fürsten namens Cüisnigh geführt, sein Herrschaftsgebiet wurde Tuath an Cüisnigh genannt. Irgendwann geriet sein ursprünglicher Name in Vergessenheit. Die Leute be-zeichneten ihn schließlich als >Fluß, der durch das Gebiet der Cüisnigh fließt<, und später blieb nur noch Tuath übrig. So erklärt sich der Name.«

»Wenn dieser Heilkundige so zurückgezogen lebt, wie können wir Kontakt zu ihm aufnehmen, ohne daß er sich bei unserem Auftauchen versteckt?« fragte Fidelma, die ihren eigenen Gedanken nachhing.

Accobran klopfte auf das Horn, das an seinem Gürtel hing. »Ein richtiger Einsiedler ist er nicht, wie gesagt ... Ich werde einfach in mein Jagdhorn stoßen, wenn wir in der Nähe seiner Hütte sind, und dann wird er wissen, daß ihn der Tanist der Cinel na Äeda zu sehen wünscht.«

Der Wald war inzwischen sehr dicht geworden, eine Mischung aus dickstämmigen Eichen, hohen Stechpalmen, Erlen und Eiben. Accobran führte sie geschickt den gewundenen Pfad entlang. Plötzlich hielt er inne, drehte sich um und wies auf eine Stelle, eine Art kleine Lichtung. Fidelmas aufmerksames Auge hatte bereits entdeckt, daß kürzlich jemand hier gewesen sein mußte. Gras und Sträucher waren niedergetreten, Zweige abgebrochen, und das Farnkraut war zerdrückt.

»Dort hat man Ballgels Leiche gefunden.«

Fidelma untersuchte den Ort eingehend. »Hat Ballgel immer diesen Weg nach Hause benutzt?«

Der Tanist zuckte mit der Schulter. »Ich glaube nicht. Ein junges Mädchen wählt normalerweise nicht diesen Waldpfad, wenn sie nachts allein unterwegs ist. Doch es ist eine Abkürzung zur Hütte ihrer Tante, bei der sie wohnte. Sicherer wäre der Hauptweg gewesen, der um den Hügel herum und an der Abtei vorbeiführt. Vielleicht war sie in Eile und hatte sich darum entschieden, die Abkürzung zu riskieren.«

»Zu riskieren?« fragte Eadulf. »Das klingt ja, als hätte sie gewußt, daß hier Gefahren lauern.«

Accobran betrachtete ihn ernst. »Wölfe und andere Tiere, die tagsüber Menschen aus dem Weg gehen, streifen nachts durchs Dickicht und können einen durchaus anfallen, besonders wenn sie spüren, daß man Angst vor ihnen hat. Es gibt hier ein paar wilde Eber, die äußerst aggressiv sind, wenn man sie stört.«

»Meinst du, daß Ballgel ängstlich war?« fragte Eadulf nachdenklich. »Gewiß ist sie hier aufgewachsen, kannte all die Gefahren. Angst hat man immer nur vor dem Unbekannten.«

»Sie war jung, Bruder Eadulf. Ein Mädchen. Welches junge Mädchen hat nachts im Wald keine Angst?«

Fidelma lächelte. »Offensichtlich fürchtete sie sich nicht davor, allein diesen Pfad zu nehmen . « Nachdenklich schwieg sie. »Oder ist sie vielleicht gar nicht allein gewesen? Wurde sie gar dazu gezwungen, hier entlangzugehen?«

Eadulf, der den Boden betrachtet hatte, schüttelte den Kopf. »Kein Hinweis darauf, daß jemand gegen seinen Willen hierhergetrieben wurde. Offenbar waren später mehrere Personen hier, wahrscheinlich um die Leiche zu holen. Wenn man das Opfer auf dem Hauptweg abgefangen hätte, es dort umgebracht oder hierhergeschleppt hätte, um es im Unterholz zu töten, dann würde man sicher Spuren eines Kampfes bemerken. Mir scheint, daß Ballgel freiwillig diesen Pfad genommen hat.«

»Oder sie war schon bewußtlos oder tot«, warf Accobran ein, »dann hätte sie sich nicht mehr wehren können. Möglicherweise hat man sie hergetragen.«

»Das stimmt«, bestätigte ihm Fidelma. »Allerdings hätte man Hinweise darauf finden müssen, zum Beispiel tiefe Fußspuren im Boden, weil jemand eine schwere Last trug. Leider sind inzwischen die meisten Spuren zerstört. Ich neige aber zu der Annahme, daß sie freiwillig hier entlanggegangen ist. Vielleicht hat sie ihren Mörder sogar gekannt.«

Accobran wirkte gleichgültig. »Das ist doch reine Spekulation. Ich glaube nicht, daß sich eine dalaigh in Spekulationen ergehen sollte.«

Fidelma sah ihn ernst an und antwortete: »Eine dalaigh fällt ihr Urteil nicht aufgrund von Spekulationen. Doch ich stelle üblicherweise immer Betrachtungen über mögliche Tathergänge an. Nur so wird sich herauskristallisieren, ob die Beweise zu den bekannten Fakten passen. Gehen wir weiter, denn ich glaube nicht, daß wir hier noch etwas Nützliches finden. Der Mord ist schon zu lange her, und Mensch und Tier haben seitdem das übrige getan. Ich glaube, ich habe die Spuren des Ebers entdeckt, von dem du gesprochen hast.«

Accobran zögerte einen Moment, drehte sich dann aber um und lief wieder voran. Der Pfad führte über den unteren Hang eines Hügels und stieg wieder an. Nach einer Weile wurden Bäume und Unterholz spärlicher, der Weg wurde breiter. Nun gab es sogar ein paar grasbewachsene Lichtungen, auf die die Sonne schien. Accobran deutete nach vorn.

»Der Fluß ist nicht mehr weit, und der kleine Berg zu unserer Rechten wird der >Hügel des heiligen Baumes< genannt. Dort wohnt Liag.«

Eine kleine Erhebung lag im Schatten des größeren Hügels vor ihnen.

»So kündige uns besser an«, schlug Fidelma vor.

Accobran löste sein Jagdhorn vom Gürtel, befeuchtete die Lippen, hielt einen Moment inne und stieß dann dreimal kurz hinein.

»Wenn Liag in der Nähe ist, wird er wissen, daß ihn jemand sprechen will«, sagte er und ging weiter den Hügel hinauf. Jetzt konnten sie das Rauschen des Flusses in seinem Steinbett hören. Der Wald wurde immer lichter, und man sah links den nicht allzu breiten Fluß.

»Das ist der Tuath. Er fließt, wie gesagt, um den Hügel herum, auf dem Rath Raithlen liegt, und dann weiter nach Süden«, erklärte Accobran.

Sie gelangten an den Fuß der kleinen Erhebung und bemerkten eine Holzhütte unter dichten, schutzbietenden Bäumen.

»Gebt euch zu erkennen!«

Sie erschraken. Fidelma blickte in die Richtung, aus der der Ruf gekommen war, doch in dem dunklen Schatten der Bäume nahm sie nichts wahr.

»Fremde, gebt euch zu erkennen!«

Es war die Stimme eines Mannes, kräftig und laut, die gewohnt war, Befehle zu erteilen.

Accobran sah zu Fidelma, ehe er antwortete. »Liag, ich bin’s, Accobran, der Tanist. Ich habe ein paar Freunde mitgebracht, die sich mit dir unterhalten wollen.«

»Deine Freunde, nicht meine. Wer sind sie und was wollen sie?«

»Ich bin Schwester Fidelma«, rief Fidelma. »Und Bruder Eadulf begleitet mich.«

»In meinem Refugium brauche ich keine Mönche und Nonnen.« Die Stimme klang immer noch abweisend.

»Wir sind nicht als Geistliche hier. Ich bin eine dalaigh und vertrete hier die oberste Gerichtsbarkeit.«

Der Unsichtbare schwieg und schien über diese Mitteilung nachzudenken. Dann löste sich ein Schatten aus den Bäumen. Ein älterer Mann in einem safrangelben Wollgewand trat hervor. Er trug eine silberne Halskette, hatte langes schlohweißes Haar, das von einem Haarreif aus grünen und gelben Perlen zurückgehalten wurde. An einem Lederriemen über der Schulter hing ein Sack, in dem Eadulf den traditionellen lés oder Medizinbeutel erkannte. In der rechten Hand hielt er etwas, das wie eine Peitsche aussah.

»Tritt vor, dalaigh. Ich will diejenige sehen, die als Anwältin hier ist und nicht als Nonne.«

Fidelma bewegte sich ein wenig den Pfad hinauf und gab den anderen ein Zeichen, an Ort und Stelle zu warten. Das Gesicht des Mannes war tief zerfurcht, und seine Augen leuchteten wie zwei kalte blaue Steine. Mißtrauisch betrachtete er Fidelma.

»Für eine Vertreterin des Gesetzes bist du ziemlich jung«, sagte er schließlich.

»Und für den einzigen vertrauenswürdigen Mediziner in dieser Gegend wirkst du recht alt«, erwiderte Fidelma feierlich.

Der alte Mann zeigte auf den Gegenstand in seiner Hand. »Erkennst du das hier?«

Sie nickte rasch. »Die echlais ist ein Zeichen deines Amtes, sie zeigt, daß du ein gesetzlich anerkannter Arzt bist.«

»So ist es. Ich besitze die ganze Autorität meines Berufes. Ich bin nicht nur ein Kräuterdoktor.«

»Das habe ich auch nicht gedacht.« Sie fuhr mit der Hand zu ihrem marsupium, dem Beutel am Gürtel, und holte den Amtsstab aus Eberesche heraus, den ihr Bruder ihr mitgegeben hatte. »Und erkennst du das hier?«

Die Augen des Alten wurden größer. »Der Amtsstab der Eoghanacht, der Könige von Cashel, der Herrscher von Munster, der Nachfahren von Eber Fionn, dem Sohn Golamhs, dem Krieger aus Spanien, der die Kinder der Gael hierherbrachte. Ich erkenne das Hirschemblem.«

Fidelma ließ den Stab wieder in ihrem marsupium verschwinden. »Ich bin, wie ich schon sagte, eine dalaigh und Schwester von Colgü, dem König von Cashel.«

Der alte Einsiedler schwieg einen Augenblick.

»Warum bist du zu mir gekommen?« fragte er endlich.

»Mein Gefährte und ich sind damit beauftragt, die Morde an den drei Mädchen zu untersuchen.«

Der Alte blieb immer noch mißtrauisch.

»Wer hat euch beauftragt?«

»Mein Bruder Colgü, König von Cashel, auf Bitten von Becc, Herrscher der Cinel na Äeda.«

Der alte Mann verzog das Gesicht. »Ein Name der Eoghanacht reicht aus, um deine Befugnis zu untermauern, Fidelma von Cashel. So seid willkommen und nehmt Platz. Ich kann euch miodh cuill anbieten, einen selbstgemachten Haselstrauchmet.«

Fidelma setzte sich auf den Stamm eines umgestürzten Baumes und gab den anderen zu verstehen, es ihr nachzutun.

Der Einsiedler legte seinen Beutel ab und lief rasch zu einer Quelle, die zwischen ein paar Steinen hervorsprudelte. Er griff nach einem Lederriemen im Wasser, an dessen Ende sich ein Krug befand, holte eine Keramikschale aus seinem Beutel und füllte sie mit dem gekühlten Met.

»Ich fürchte, daß ihr euch das wenige teilen müßt«, sagte er, und das klang nicht entschuldigend. »Ich erwarte keinen Besuch, ich ermuntere auch niemanden dazu.«

»Wir werden dich auch gar nicht lange aufhalten«, versicherte ihm Fidelma, nahm die Schale entgegen und trank höflich daraus. Dann reichte sie sie weiter. Das Getränk war zu stark für sie, und selbst Eadulf holte nach dem ersten Schluck Luft. Er hustete und gab die Schale rasch Accobran, der wohl eher daran gewöhnt war.

»Ich habe erfahren, daß du die Leichen untersucht hast. Deiner Meinung nach sind also alle drei Mädchen ermordet worden.«

»Ich nehme meinen Auftrag immer ernst, Fidelma von Cashel«, erklärte ihr der Alte und setzte sich ihr gegenüber.

»Das ist mir klar.«

»Ich kenne das Gesetz von Dian Cecht, also versuche nicht, meine Fähigkeiten in Frage zu stellen.«

»Gibt es einen Grund, warum ich das tun sollte?« gab ihm Fidelma in so scharfem Ton zurück, daß der Alte einen Moment erschrocken wirkte.

»Nein«, rechtfertigte er sich.

»Dann ist es gut. Denn ich habe keinen Anlaß, die medizinischen Gesetze von Dian Cecht genauer zu betrachten. Ich will nicht deine Untersuchungsergebnisse anfechten, sondern Fakten sammeln.«

Der Alte hatte sich wieder gefaßt und gab ihr zu verstehen, daß sie fortfahren könne.

»Du hast also alle drei Leichen untersucht«, wiederholte sie.

»Das stimmt.«

»Und ich weiß, daß du zunächst die Leute von der ursprünglichen Annahme abgebracht hast, das erste Mädchen sei von einem wilden Tier angefallen worden. Sag mir, warum?«

Liag äußerte sich mit Bedacht. »Ich begriff, wieso man auf eine solche Idee kommen konnte. Das erste der Opfer ... Beccnat, so hieß das Mädchen ... war gräßlich verstümmelt worden. Unter dem getrockneten Blut konnte man kaum etwas erkennen. Außerdem war der Körper bereits ins Verwesungsstadium übergegangen, denn er muß zwei oder drei Tage im Wald gelegen haben. Erst als man die Leiche für die Totenfeier wusch, fiel mir auf, daß das Fleisch zwar schlimm zugerichtet war, die Wunden aber nicht von Zähnen, sondern von der gezackten Schneide eines Messers stammten.«

»Und in den anderen beiden Fällen war es ebenso?« »Ja.«

»Sag mir«, Fidelma zögerte etwas, denn sie wollte die Frage vorsichtig formulieren. »Fehlte an den Leichen etwas?«

Liag war ganz erstaunt. »Ob etwas fehlte?«

»Waren die Leichen, abgesehen von den Verstümmelungen, noch vollständig?«

»Körperteile fehlten nicht«, erklärte Liag, als er be-griff, worauf sie hinauswollte. »Du brauchst hier nicht nach dem Vollzug irgendeines alten Rituals zu suchen, Fidelma von Cashel. Die drei Mädchen wurden von einem Verrückten heimtückisch gemeuchelt.«

Fidelma blickte schnell auf. »Von einem Verrückten? Weißt du, was du da sagst?«

»Wer sonst außer einer kranken Seele könnte diesen Taten begangen haben?«

»Dann meinst du also, daß ein Geistesgestörter immer bei Vollmond mordet?«

»Meiner Meinung nach ist das eine erwiesene Tatsache. Bedenke die Tatzeit des vorletzten Mordes zum Beispiel. Er fand genau zum Mond des Dachses statt.«

»Mond des Dachses? Was ist das?« fragte Eadulf dazwischen.

Liag drehte sich mit abschätzigem Blick zu ihm um, er hatte Eadulfs Akzent gehört.

»Ein Sachse? Du bist in eigenartiger Begleitung unterwegs, Schwester von König Colgü von Cashel«, sagte er zu Fidelma. Ehe sie etwas erwidern konnte, erläuterte er Eadulf: »Der Vollmond im Oktober wird Mond des Dachses genannt, mein sächsischer Freund. Er ist so hell, sagten unsere Vorfahren, daß die Dachse im Mondlicht Gras für ihren Bau trocknen. Die Zeit des Oktobermondes ist heilig, und das Licht des Dachsmondes fällt wohlwollend auf jene, die seine Kraft anerkennen . So etwa dachten unsere Vorfahren.«

Eadulf erschauerte leicht. Schon in seiner Jugend war er zum Christentum übergetreten, er konnte sich aber immer noch an die abergläubischen Vorstellungen seiner heidnischen Ahnen erinnern.

Der alte Liag belächelte Eadulf zufrieden. »Die Menschen meinten damals, daß die Mondgöttin, deren Name nicht ausgesprochen werden darf, die Erde zur Zeit des Dachsmondes reinigt, insbesondere wenn man ihr einen Dachs opferte und sein Fleisch verzehrte.«

»Ich habe gehört, du unterrichtest Sternenkunde«, warf Fidelma ein. »Dann kennst du also alle Legenden, die sich um den Vollmond ranken?«

Liag wirkte gleichgültig. »Jene Legenden bilden die Wurzeln unserer Kultur, gehören zu unserem Geburtsrecht. Wir sollten alle Geschichten kennen, die uns von unzähligen Generationen unserer Vorfahren überliefert wurden. Mir ist es zugefallen, diese Geschichten an die jungen Stammesangehörigen der Ci-nel na Äeda weiterzugeben. Nicht wahr, Accobran?«

Der Tanist errötete. »Du bist ein guter Lehrer, Li-ag. Du hast ein so umfassendes Wissen wie kein anderer. Aber einen Dachs zu opfern . Davon habe ich noch nichts gehört. Sicher ist das Fleisch des Dachses von Fionn mac Cumhail sehr geschätzt worden, nicht wahr? In den alten Erzählungen wird berichtet, daß einer von Fionns Kriegern, Moling der Schnelle, ihm ein Stück Dachsfleisch bringen sollte.«

Liag unterbrach ihn nicht.

»Ich habe auch gehört, daß der heilige Mo Laisse von der Insel Oaks im Land Ui Neill eine Kappe aus Dachsfell trug, die nun als Reliquie auf der Insel aufbewahrt wird«, fügte Fidelma leise hinzu.

Liag lachte zynisch auf. »Ich verstehe nicht, warum die Anhänger des christlichen Glaubens behaupten, sie würden keine Gegenstände mehr anbeten, und es dennoch tun. Die Verehrung des Kreuzes, heiliger Gegenstände und Ikonen . Wo ist da der Unterschied zur Verehrung anderer Dinge?«

Niemand erwiderte etwas.

Fidelma wartete eine Weile und fragte dann Liag: »Als du die Leichen angeschaut hast, ist dir, abgesehen von den Messerstichen, noch etwas Ungewöhnliches aufgefallen, etwas, das dich zu Vermutungen über die Identität des Täters gebracht haben könnte?«

Der Alte schüttelte den Kopf. »Ich habe dir alles erzählt.«

»Accobran hat uns gezeigt, wo Ballgel gefunden wurde. Wo hat man die anderen Leichen entdeckt?«

»Beccnats Leiche lag an einem Ort, den man Steinkreis der Wildschweine nennt.« Er deutete auf die hohen, bewachsenen Hänge hinter ihnen. »Über der Abtei. Escrach lag fast an der gleichen Stelle.« Auf einmal erhob sich der Alte. »Wenn das dann alles war .«

Fidelma stand ganz erstaunt auf, mit einem so raschen Ende des Gesprächs hatten sie und ihre Begleiter nicht gerechnet.

»Vielleicht werde ich noch einmal mit dir reden müssen«, rief sie ihm hinterher, als er sich plötzlich auf den Weg gemacht hatte.

Liag drehte sich um, er wirkte mürrisch. »Du hast mich schon einmal gefunden, Schwester des Königs. Zweifellos wird dir das wieder gelingen. Doch deine Fragen hätten dir auch andere beantworten können. Aber es geht mich nichts an, womit du deine Zeit verschwendest. Ich nutze die meine sinnvoller. Solltest du mich also wieder aufsuchen, dann nur mit präzisen Überlegungen, ansonsten werde ich dich nicht empfangen und meine kostbare Zeit vergeuden.«

Mit diesen Worten verschwand der Alte. Fidelma sah ihm erstaunt hinterher.

»Ein Mann ohne Manieren«, murmelte Eadulf mürrisch.

Accobran verzog das Gesicht. »Ich habe euch gewarnt, daß sich Liag der Gesellschaft anderer entzieht. Für ihn gelten die Regeln des normalen Umgangs nicht.«

»Du hast uns gewarnt«, bestätigte ihm Fidelma. »Allerdings hat er in einem recht: Meine Fragen hätten wirklich auch andere beantworten können. Doch mir lag daran, das alles aus Liags Mund zu erfahren. Eadulf kennt meine Methoden. Es ist immer besser, den einzelnen Zeugen selbst anzuhören, als sich aufs Hörensagen zu verlassen.«

Eadulf blickte sie überrascht an. »Und hast du etwas Neues herausgefunden?«

Fidelma lächelte ruhig. »Aber ja, ja wirklich. Vielleicht könnte uns Accobran nun zum Vater des ersten Opfers bringen, zu Lesren, dem Gerber.«

Accobran schaute daraufhin noch verblüffter drein als Eadulf, zuckte aber nur mit den Schultern. »Lesren wohnt ganz in der Nähe. Flußaufwärts an dem Hügel, auf dem Rath Raithlen liegt.«

Und schon machte er sich auf den Weg. Fidelma beugte sich zu Eadulf hinüber und flüsterte ihm ins Ohr: »Präge dir diese Stelle gut ein. Vielleicht müssen wir noch einmal allein hierherkommen.«

Wieder folgten sie einem schmalen und beschwerlichen Pfad, er lief so dicht wie möglich am Fluß entlang. Bäume und Büsche wuchsen bis ans Ufer hinunter, das abbröckelte und nicht ohne Gefahr zu begehen war. Sie gingen im Gänsemarsch.

»Der Hügel, auf dem man Escrach und Beccnat fand«, fragte Fidelma auf einmal, »wie hieß er doch gleich?«

»Die Gegend dort nennt man das Eberdickicht. So heißt auch der Hügel.«

Fidelma fiel ein, daß Becc den Namen erwähnt hatte.

»Der Mörder scheint diesen Ort zu bevorzugen«, murmelte sie vor sich hin.

Eadulf, der hinter Fidelma ging, wandte ein: »Ist denn das von Bedeutung? Schließlich handelt es sich offenbar um einen Verrückten, der wahllos tötet.«

»Möglicherweise hast du recht. Doch vielleicht ist die Wahl des Tatorts gar nicht so willkürlich.«

Eadulf wollte noch eine Frage stellen, da drehte sie sich um. Ihr Gesicht war ausdruckslos; den Wink verstand er zur Genüge. Sie wollte im Augenblick nicht weiter darauf eingehen.

Als das Ufer flacher wurde und auf einen kiesartigen Strand sanft abfiel, mündete der Pfad plötzlich in einen breiteren Weg. Der Lärm von Kindern übertönte selbst das Rauschen des Flusses. Fidelma hatte sie schon gehört, noch ehe sie zu sehen waren. Zwei Jungen staksten im flachen Wasser herum und suchten etwas.

»Jungen von hier, sie fischen«, erklärte Accobran kurz und wollte weitergehen.

»Die fischen nicht«, wurde er von Fidelma berichtigt. Sie trat dichter ans Wasser. »Na, findet ihr was, Jungs?« rief sie.

Sie drehten sich um. Zwei elf- oder zwölfjährige Jungen mit zerzausten Haaren. Einer hielt eine Schüssel in der Hand und zuckte mit den Schultern, wobei er auf deren Inhalt deutete.

»Überhaupt nicht, Schwester. Aber Sioda behauptet, er hätte hier neulich einen echten Goldklumpen gefunden.«

»Oh. Wer ist Sioda?«

»Ein Freund von uns. Deshalb sind wir hier. Die genaue Stelle wollte er uns nicht verraten. Bisher haben wir nichts weiter entdeckt, nur Schlamm und Steine.«

»Na dann noch viel Glück, Jungs.«

Fidelma kehrte wieder zu Eadulf und Accobran auf den Weg zurück.

»Was machen die denn da?«

»Wir nennen das Erzwaschen«, erklärte ihm Fidelma. »Manchmal sind Metalle im Flußbett - zum Beispiel Gold. Man holt mit einer Schüssel Sand, Kies oder Schlamm vom Grund des Flusses herauf, wie die Jungen es tun, und spült alles durch in der Hoffnung, ein wenig Gold zu finden.«

Accobran lachte laut auf, es klang irgendwie verbittert. »Vor ungefähr hundert Jahren, zu Zeiten des heiligen Finnbarr, hat man hier Gold entdeckt. Bis die Jungen dort was auswaschen, müssen sie wohl bis zum Jüngsten Tag warten.«

»Meinst du also, es stimmt nicht, daß dieser Sioda hier Gold gefunden hat?« fragte Fidelma interessiert.

»Das wird wohl eher sulfar iarainn gewesen sein.«

Eadulf runzelte die Stirn, denn obwohl er das Wort »Eisen« erkannte, verstand er die genaue Bedeutung dieses irischen Begriffs nicht.

»Pyrit«, erklärte Fidelma. »Katzengold, denn es sieht wie Gold aus, ist aber keins.« Sie wandte sich wieder an Accobran. »Kennst du dich mit diesen Dingen aus?«

Der junge Tanist zuckte die Schultern. »In dieser Gegend wurde einst Bergbau betrieben; die Cinel na Äeda sind dadurch reich und mächtig geworden. Die Gold- und Silbervorkommen sind inzwischen erschöpft, es gibt nur noch Kupfer und nördlich von hier etwas Blei.«

Er führte sie weiter den Weg voran. Der Wald wirkte nun nicht mehr so bedrückend, ab und zu war auf gerodeten Flächen Mais und Weizen angebaut.

»Jetzt sind wir bald an Lesrens Hütte«, rief Accobran.

Eadulf stieg ein eigenartiger Geruch in die Nase, vielleicht nach verdorbenem Essen. Prüfend sog er ihn noch einmal ein, bis ihm klar wurde, worum es sich handelte. Sie passierten eine Baumreihe, die ein großes

Stück gerodetes Land einfaßte, das sich am Fluß entlang erstreckte. Auf ihm stand eine große Blockhütte, aus deren Schornstein Rauch aufstieg. In ihrer Nähe waren mehrere kleinere Schuppen, neben denen sich Holzrahmen mit aufgespannten Tierhäuten reihten. Über zwei großen Feuern hingen schwere Eisenkessel, deren blubbernder und dampfender Inhalt von einem Jungen umgerührt wurde. Daher kam also der beißende Gestank. Eadulf bemerkte einen Mann mit einer dicken Stange, der eine Haut in den Kessel fallen ließ. Hier mußte es sich eindeutig um die Gerberei handeln.

Vor einem der großen Holzrahmen stand ein dünner, zäh wirkender Mann mit einer Lederschürze und tastete prüfend die straffe Tierhaut ab.

»Lesren!« rief Accobran.

Der Mann blickte sich um. Er hatte kleine, flinke, dunkle Augen, die Fidelma an einen Baummarder erinnerten. Mißtrauisch und ängstlich. Ehe er sich dem jungen Tanist zuwandte, musterte er Eadulf und Fidelma.

»Was willst du von mir, Accobran«, fuhr er ihn barsch an. »Habe ich nicht genug zu tun?«

Eadulf und Fidelma wechselten einen Blick. Sehr entgegenkommend war der Gerber ja nicht gerade. Bisher schien ihnen niemand von den Cinel na Äeda freundlich zu begegnen.

»Ich habe einen Richter mitgebracht, der ein paar Auskünfte von dir braucht, Lesren.«

Die dunklen Augen des Gerbers schwenkten zu Eadulf. »Richter? Dieser Mann ist ein Fremder.«

»Hast du etwas gegen Fremde, Lesren?« fragte ihn Fidelma streng.

»Nein, Frau, solange sie sich nicht in meine Angelegenheiten einmischen.«

Accobran holte tief Luft und wollte schon erklären, wer Fidelma war, doch sie kam ihm zuvor.

»Ich bin die dalaigh, Lesren. Ich möchte gern etwas über deine Tochter erfahren.«

»Du?« fragte der Gerber. »Eine junge Frau?«

»Das ist Fidelma von Cashel«, warf Accobran ein. »Schwester von König Colgü«, fügte er halblaut hinzu.

Der Gerber blinzelte, wurde aber nicht freundlicher. »Wenn du hier bist, um mich über Beccnats Ermordung zu befragen, so kann ich dir sagen, wer sie umgebracht hat. Es war Gabran.«

Accobrans Geduld war am Ende. »Wir haben Untersuchungen angestellt, Lesren. Das weißt du. Ga-bran war in der Nacht, als deine Tochter starb, nicht in Rath Raithlen.«

»Das sagst du.«

»Ich gebe nur wieder, was die Zeugen bestätigen. Es ist erwiesen, daß er sich zwölf Meilen von hier entfernt aufhielt.« Accobran sagte das offenbar zum wiederholten Male. »Aolü, unser verstorbener Brehon, hat erklärt, daß Gabran frei von jeder Schuld ist.«

»Du behauptest also, Gab ran hätte deine Tochter auf dem Gewissen«, redete nun Fidelma weiter. »Meinst du, er hat die anderen beiden Mädchen auch getötet?«

Lesren schob trotzig das Kinn vor. »Ich behaupte, daß er Beccnat umgebracht hat. Mehr nicht. Immer wieder habe ich sie vor ihm und seiner Diebsfamilie gewarnt.«

»Das sind harte Worte«, warf ihm Fidelma vor. »Ich warne dich, andere als Diebe zu bezichtigen. Du kennst das Gesetz und die Strafe, die jeden erwartet, der falsch über andere redet. Damit könntest du das Anrecht auf deinen Sühnepreis einbüßen, sudaire.« Sie betonte seinen Titel ein wenig, um ihn daran zu erinnern, daß er seine Position in der Gemeinde aufs Spiel setzte.

Eadulf war bekannt, daß jeder in den fünf Königreichen von Eireann, ob er nun von hohem oder geringem Stand war, einen Sühnepreis besaß. Der Großkönig war dreiundsechzig Kühe wert, während die Könige der Provinzen, wie Fidelmas Bruder Colgü, dem Wert von achtundvierzig Kühen entsprachen. Eadulf war stolz darauf, daß er inzwischen den Sühnepreis der meisten Menschen einzuschätzen wußte. Dem Gerber zum Beispiel maß er vier Kühe zu. Die Kuh wiederum war die Grundeinheit der irischen Währung. Ein sed entsprach einer Kuh, ein cumal dem Wert von drei Kühen. Dann gab es noch kleinere Silbermünzen: screpall oder sicil.

Anfangs hatte Eadulf das System des Sühnepreises nicht durchschauen können, zumal ein Vergleich mit dem Ständesystem seines Landes nutzlos war. Bald wurde ihm klar, daß das Bewertungsgefüge gerecht war und mit den Grundsätzen für die Bestrafung von Verbrechen zu tun hatte. Die Rechtsprechung in Irland beruhte auf Vergütung und Wiedergutmachung. Damit der Bewertungsmaßstab im ganzen Königreich gleich war, schrieb man jeder Person einen »Sühnepreis« zu, der sich allein nach deren ausgeübter Tätigkeit richtete, nicht nach dem, was seine Eltern waren. Bei Vergehen berechnete sich die Geldstrafe nach dem Sühnepreis des Geschädigten. Brachte zum Beispiel ein Mann einen Bauhandwerksmeister um, so mußte er dessen Familie eine Entschädigung in Höhe von zwanzig Kühen und dazu noch eine Geldstrafe an das Gericht zahlen. Konnte er das Geld nicht aufbringen und lag sein eigener Sühnepreis unter dem Wert von zwanzig Kühen, verlor er selbigen und außerdem alle zivilen Rechte. Er mußte arbeiten, um die Familie zu entschädigen und das Gericht zu bezahlen. Er wurde ein »Unfreier«, ein Mann ohne jede Rechte - ein fuidhir.

Man unterschied zwei Arten von Unfreien, je nach Schweregrad des Verbrechens. Ein daer-fuidhir besaß keine Rechte und durfte keine Waffen tragen. Ein saer-fuidhir durfte weiterhin seinen Acker bestellen oder seinen Beruf ausüben - innerhalb festgelegter Grenzen. Er mußte Steuern zahlen. Und falls er am Ende seines Lebens die erforderliche Entschädigungssumme nicht aufgebracht hatte und nicht wieder in die Gesellschaft aufgenommen worden war, ging die Strafe nicht auf seine Frau oder seine Kinder über. Jeder Mensch ist nur für seine eigenen Schulden haftbar, sagten die Brehons.

Als Fremder in Eireann wurde Eadulf vor dem Ge-setz als »grauer Hund«, cu glas, behandelt. Dieser Begriff bezog sich auf jemanden, der aus einem Land auf der anderen Seite des Meeres stammte. Eadulf war nun nicht mehr Abgesandter des Erzbischofs von Canterbury und hatte damit seinen ehemaligen Rang aufgegeben. Er besaß keinen Sühnepreis. Selbst die Ehe mit Fidelma hätte ihm den nicht eingebracht, wenn nicht Colgü und Fidelmas engste Verwandte diese Verbindung anerkannt und bestätigt hätten. So belief sich sein Sühnewert auf die Hälfte von dem seiner Frau. Doch für einen Mann seiner Herkunft gab es einige lästige und fast beleidigende Einschränkungen. Er durfte ohne Fidelmas Erlaubnis keine Verträge schließen. Ebenso mußte sie für ihn alle Schulden oder Strafgelder begleichen. Vor dem Gesetz war einzig Fidelma verantwortlich für die Erziehung ihres Sohnes Alchü. Auch wenn Eadulf von Colgü wie ein Freund und Gleichgestellter behandelt wurde, benachteiligte ihn sein Stand als »grauer Hund« sehr.

Eadulf war außerdem sehr erstaunt, daß Fidelmas Volk einige Vergehen, die in seinem Land nicht unter Strafe standen, scharf ahndete - wenn man Bußgelder und den Verlust von Rechten als Strafe bezeichnen konnte. In der sächsischen Gesellschaft wurde die ganze Breite an gesellschaftlichen und politischen Verbrechen mit den als gerecht empfundenen Strafen wie Tod, Verstümmelung und Versklavung verfolgt. Wohingegen die Brehons im irischen Bretha Nemed festlegten, wenn ein Mann eine Frau gegen ihren Willen küßte, er ihren ganzen Sühnepreis an sie zahlen mußte. Versuchte ein Mann, eine Frau zu vergewaltigen, so drohte ihm ein Bußgeld von einundzwanzig Kühen.

Die Wahrheit genoß vor dem Gesetz einen besonderen Stellenwert. Nach dem Bretha Nemed wurde der Sühnepreis an das Opfer gezahlt, wenn man jemanden fälschlich des Diebstahls bezichtigte oder ihn verleumdete und ihn so in Schande brachte. Daher konnte er gut verstehen, warum Fidelma den Gerber so eindringlich warnte.

Lesren ließ sich davon nicht abschrecken.

»Was ich gesehen habe, das ist wahr. Frag Goll, den Holzfäller, wenn du mir nicht glaubst. Frag ihn, warum er mir ein Bußgeld in Höhe eines silbernen screpall zahlen mußte. Ich werde erst wieder etwas über den Fall sagen, wenn ihr das mit ihm geklärt habt.«

»Ein screpall ist nicht gerade viel«, murmelte Eadulf.

»Es war ein Verstoß gegen das Gesetz, ganz gleich, wie hoch das Bußgeld war«, fuhr ihn der Gerber an.

»Und welcher Brehon hat das Bußgeld erhoben?« wollte Fidelma wissen.

»Aolü.«

»Aolü ist tot«, fügte Accobran leise hinzu.

Fidelma seufzte ungeduldig. »Stimmt es, daß du die Verbindung deiner Tochter mit Gabran nicht gutheißen konntest wegen der Sache mit seinem Vater Goll und dem Bußgeld?«

Wieder schob Lesren angriffslustig sein Kinn vor. »Das reicht doch.«

»Wie hat Beccnat darauf reagiert, daß du ihre Beziehung zu Gabran abgelehnt hast? Sie war siebzehn und damit alt genug, allein ihre Wahl zu treffen. Sie hatte das Recht, ihre Zukunft selbst zu bestimmen.«

Lesrens Gesicht verfinsterte sich. »Sie war meine Tochter. Sie lehnte meine Meinung ab, und was ist daraus geworden? Wenn sich nur Escrach nicht von Gabran abgewandt hätte, dann hätte er meiner Tochter nicht nachgestellt.«

»Escrach?« Fidelma musterte ihn aufmerksam. »Was meinst du damit?«

»Gabran bemühte sich um sie, doch Escrach wollte nichts von ihm wissen. Ich habe meine Tochter davor gewarnt, ihn zu ermutigen.«

»Wenn die Töchter alt genug sind, selbst zu wählen, haben sie auch Rechte«, erinnerte ihn Fidelma.

»Töchter haben auch Pflichten«, erwiderte der Gerber wütend. »Ich sah mich gezwungen, Beccnat zu züchtigen, wenn sie nachts nicht zu Hause schlief. Ihre letzten drei Nächte verbrachte sie auswärts. Nun, ich hatte Angst, daß ihr etwas zustoßen könnte, was ja dann auch passierte. Und Gabran hat schuld.«

»Du bist recht dickköpfig, Lesren«, mischte sich jetzt Accobran ein. »Gabran war überhaupt nicht in der Nähe, als deine Tochter starb. Ganz gleich, was du Gabrans Vater anzulasten suchst, die Zeugen sagen etwas anderes aus. Und mal abgesehen von deiner Meinung, du kannst Escrachs und Ballgels Tod Ga-bran nicht auch noch in die Schuhe schieben. Warum sollte er sie umgebracht haben?«

»Um das zu erreichen, was ihm offensichtlich bei dir gelungen ist ... Dich von seiner Spur abzubringen. Es aussehen zu lassen, als würde ein Verrückter hier sein Unwesen treiben. Daran glaube ich nicht. Und ich werde es bei jeder Gelegenheit wiederholen. Ga-bran hat meine Tochter getötet.«

»Aber warum? Aus welchem Grund sollte er das getan haben? Sie wollten heiraten.« Fidelmas Stimme war ruhig, doch ihre Fragen trafen mit ihrer Logik genau ins Schwarze.

Lesren starrte sie an.

»Warum?« wiederholte er langsam, als sei ihm diese Überlegung neu.

Fidelma blieb hartnäckig. »Er wollte Beccnat heiraten. Trotz deiner Einwände, wie man mir erzählt hat. Weshalb sollte er sie umbringen?«

Lesren zögerte kurz, er schien seine Gedanken zu ordnen.

»Weil«, sagte er leise, »weil sie mir einige Tage vor ihrem gewaltsamen Ende gesagt hat, sie wolle mich und ihre Mutter nicht weiter beunruhigen und würde Gabran nicht heiraten. Sie fühlte sich von ihm nur benutzt, und er sei nicht der passende Ehemann für sie. Dann ging sie fort und kehrte nie mehr zurück. Sie wollte Gabran mitteilen, daß ihre Beziehung beendet sei. Darum hat er sie ermordet.«

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