Kapitel 11

Liag war zwischen den Bäumen hinter ihnen hervorgetreten. Er trug - wie bei ihrer ersten Begegnung -ein safranfarbenes Gewand aus Wolle. Das schlohweiße Haar wurde von einem grüngelben Haarreifen zurückgehalten, und um den Hals hing eine Silberkette. Er hatte den traditionellen Leinenbeutel, den lés bei sich, in dem sich seine Heilmittel befanden, und den echlais, einen peitschenähnlichen Stab, der ihn als Heilkundigen auswies.

»Du scheinst erstaunt, mich zu sehen, Fidelma von Cashel.« Er lächelte kaum. Eadulf beachtete er erst gar nicht.

»Du hast dich uns ziemlich leise genähert«, erwiderte Fidelma, während sie vom Pferd glitt.

»Hast du mich etwa nicht gehört? Als ich jung war, lernte man noch, sein Gehör auf die Geräusche des Waldes einzustellen. Man wußte, wie die Eidechse raschelt, wenn sie dem hungrigen Auge des Falken entschlüpft, wie der Dachs durchs Unterholz schleicht und wie der Wiesel heimwärts eilt. Horcht!« Der Alte neigte den Kopf zur Seite und legte in etwas übertriebener Geste seine Hand ans Ohr.

Eadulf war wenig begeistert. Gerade war es ihm gelungen, von seinem unruhigen Pferd abzusitzen und die Zügel um einen Strauch zu schlingen.

»Du willst mir doch nicht weismachen, daß du das alles heraushören kannst?« fuhr er ihn an.

Liag drehte sich zu Eadulf um. »Ich höre, wenn eine Ratte eine Eidechse am Schwanz packt, und ich vernehme den Schrei der Eidechse, wenn sie ihren Schwanz abwirft, um dem Räuber zu entkommen, und heim ins sichere Nest schlüpft.«

Eadulf maß den alten Einsiedler mit Blicken. Er war sich nicht sicher, ob er sich über ihn lustig machte. »Ich höre nichts.«

»So ist es, sächsischer Bruder. So ist es.«

»Wenn du all das hörst, Liag, dann kannst du uns sicher ein paar einfache Fragen beantworten«, sagte Fidelma.

Liag sah sie mißtrauisch an.

»Es heißt, daß jene, die Fragen stellen, ohne Antwort nicht auskommen können«, erwiderte er leise. »Doch nicht jede Frage verdient eine Antwort.«

»Eine gute Erwiderung. Wenn deine Ohren so gut hören können, hast du gewiß die Todesschreie von Beccnat, Escrach und Ballgel vernommen.«

Die Wangen des Alten liefen auf Fidelmas sarkastische Bemerkung hin purpurrot an. »Ich behaupte nicht, allwissend zu sein. Nicht alles, was im Wald vor sich geht, kann ich hören. Wäre ich in ihrer Nähe gewesen ...« Er hob eine Schulter und ließ sie vielsagend fallen.

Fidelma bohrte weiter. »Weiterhin nehme ich an, daß du auch Lesrens letzte Atemzüge erlauscht hast? Wie man mir sagte, warst du ganz in der Nähe, als er starb.«

»Wer sagt denn, daß ich in der Nähe war?«

»Dann weißt du also, daß Lesren umgebracht wurde?« warf Eadulf rasch ein.

»Das streite ich nicht ab«, erwiderte der Heilkundige.

»Du bist aus dem Wald gekommen, als Bebhail und Tomma bei dem Toten standen, nicht wahr?«

»Aber Lesren war tot, mein sächsischer Freund. Soweit ich es beurteilen kann, war er schon eine Weile tot.«

»Was hast du dort gemacht?« fragte Eadulf.

Liag schien belustigt. »Falls es dir noch nicht aufgefallen ist, Sachse, wenn ich den Hügel von Rath Raithlen überquere und dann in diese Richtung gehe, führt mich mein Weg unweigerlich an Lesrens Gerberei vorbei.«

»Und du hast einfach so zu dieser Tageszeit den Weg über den Hügel genommen?« wollte Fidelma wissen.

»Ich bin einfach so an der Gerberei vorbeigekommen, dalaigh«, erwiderte er mit ironischem Unterton. Zum erstenmal gebrauchte er ihren Titel.

»Wo bist du vorher gewesen?«

»Rath Raithlen ist ja wohl der einzige wichtige Ort auf diesem Hügel.«

Fidelma verbarg ihre Überraschung. »Alle sagen, daß du als Einsiedler im Wald lebst und die Außenwelt meidest. Willst du nun behaupten, daß du der Festung des Fürsten einen Besuch abgestattet hast?«

»Genau das habe ich dir bereits gesagt.«

Fidelma zeigte nicht, wie gereizt sie war.

»Woher rührt dieser Wandel, Liag?«

»Das ist kein Wandel. Ob ich unter Leute will oder nicht, das geht nur mich an. Ich bestimme, was ich tue, nicht die anderen. Wenn ich jemanden treffen möchte, dann mache ich das. Umgekehrt genauso.«

»Ließ dich etwas Geschäftliches oder etwas Privates in die Festung gehen?«

»Ein Geschäft war der Anlaß«, bestätigte Liag.

»Entgegenkommend bist du nicht gerade«, stellte Fidelma ungeduldig fest.

»Ich dachte, ich halte mich an das Gesetz, das vorschreibt, die Fragen einer dalaigh zu beantworten.«

Fidelma wußte, daß sie da nichts machen konnte. Liag beantwortete zwar ihre Fragen, verriet dabei aber so wenig wie möglich.

»Erkläre mir bitte, welches Geschäft dich nach Rath Raithlen geführt hat.«

»Ich mußte einen Schmied aufsuchen«, erwiderte er.

»Gobnuid?« platzte Fidelma heraus; sie wollte das Überraschungsmoment ausnutzen. Gobnuid war der einzige Schmied in Rath Raithlen, den sie kannte. Vielleicht würde Liag nun ausführlicher antworten. Doch der nickte einfach nur.

»Welcherart Geschäft bist du dort nachgegangen?«

»Ich verstehe nicht, was das mit deinen Untersuchungen zu tun haben könnte, Fidelma von Cashel. Doch egal, Gobnuid war nicht in seiner Schmiede, also machte ich mich wieder auf den Heimweg.«

»Gobnuid war mit einer Ladung Felle zu einem Händler am Fluß unterwegs. Was wolltest du bei ihm?«

Liag schien erstaunt über das, was sie sagte, doch er hatte sich sofort wieder in der Gewalt.

»Selbst ein Einsiedler benötigt manchmal die Dienste eines Schmieds. Ich wollte ein paar Messer und Äxte schleifen lassen.«

Eadulf blickte Fidelma an.

»Und diese Messer und Äxte ...«, fing er an, aber Liag lachte wieder spöttisch.

»Ich habe sie in der Schmiede gelassen; Gobnuid wird sie schleifen, wenn er wieder da ist. Ich habe Les-ren nicht damit umgebracht, falls du das denken solltest, mein sächsischer Freund.«

»Du findest das alles wohl lustig, Liag«, versetzte Eadulf gereizt, »doch es geht um einen toten Mann und drei tote Mädchen. Die Sache ist wenig erheiternd.«

Mit stechenden Augen funkelte der Alte Eadulf an. »Da hast du recht, sächsischer Bruder. Das gleiche trifft wohl auch auf Schuldzuweisungen zu, die ein Fremder hier in diesem Land ausspricht.«

»Bruder Eadulf hat nichts dergleichen ausgesprochen«, griff nun Fidelma ein. »Und ich ebensowenig. Wir wollen nur Tatsachen feststellen. Eine Schuldzuweisung würden wir so deutlich formulieren, daß keine Mißverständnisse entstehen. So, jetzt schildere du uns, was geschah. Du hast dich auf den Heimweg gemacht, als .?«

Eine ganze Weile stand der Alte einfach nur da und starrte Fidelma an, kalt und herausfordernd. Fidelma blieb ebenfalls völlig regungslos. Schließlich zuckte Liag mit den Schultern und nahm seine Niederlage hin.

»Eigentlich hatte ich vor, Lesrens Gerberei zu umgehen. Ich mag Lesren und seine Leute nicht besonders. Da fiel mir auf, wie ungewöhnlich ruhig es dort war. Sonst ließ Lesren mehrere Männer für sich arbeiten, sie brauten die giftige Brühe zum Gerben und spannten die Häute zum Trocknen auf. In der Stille hörte ich, wie eine Frau weinte.«

Er schwieg kurz.

»Sprich weiter«, forderte Fidelma ihn auf, immer noch verärgert über den Alten.

»Ich stieß auf Bebhail und Tomma, die bei Lesrens Leiche standen. Ich beschloß, der Frau, die so verwirrt und aufgewühlt wirkte, meine Hilfe anzubieten. Tomma konnte sie offensichtlich nicht beruhigen.«

»Und dann?«

»Es gelang mir irgendwie. Sie schien nicht sicher zu sein, ob ihr Mann wirklich tot war oder nicht. Also untersuchte ich ihn und stellte fest, daß er nicht nur tot war, sondern sein Tod schon vor einer ganzen Weile eingetreten sein mußte.«

»Woran hast du das erkannt?« wollte Eadulf wissen.

Liag sah ihn mitleidig an. »Nun, natürlich an der Totenstarre.«

»Warum hast du Bebhail gesagt, sie soll die Leiche waschen und für das Begräbnis vorbereiten?« fuhr Fidelma ihn an.

Liag erwiderte: »Aufgrund ihrer Verfassung hielt ich es für angebracht, daß sie etwas tat, was ihr die Endgültigkeit der Situation bewußt machte. Es wäre falsch gewesen, sie glauben zu lassen, daß ihr Mann irgendwie wieder ins Leben zurückkehren könnte. Es war ein Akt der Barmherzigkeit, sie zu bewegen, sich ganz darauf zu konzentrieren .«

»Ein Akt der Barmherzigkeit, der wahrscheinlich alle Hinweise auf Lesrens Mörder zunichte gemacht hat«, meinte Fidelma ungehalten.

Liag sah sie nachdenklich an. »Das bezweifle ich. Ich konnte nichts Verdächtiges feststellen.«

»Da du flüchtende Eidechsen hören kannst, schätze ich, daß du genauso erfahren bist wie eine dalaigh«, meinte Eadulf ärgerlich.

Liag blickte ihn an. Einen Moment lang flackerte Zorn in seinen Augen auf, doch dann lächelte er versöhnlich.

»Du hast allen Grund, wütend auf mich zu sein, mein sächsischer Freund. Ich war unfreundlich zu dir, und das ist meiner nicht würdig. Machen wir Schluß damit. Ich weiß als Heilkundiger so viel, daß ich sagen kann, die Leiche gab keinerlei Hinweise auf den Mörder.«

Eadulf schluckte seinen Ärger über den gönnerhaften Ton seines Gegenübers herunter. Eine passende Antwort hatte er leider nicht parat.

»Liag, du hast alle vier Toten gesehen. Sind dir dabei irgendwelche Gemeinsamkeiten aufgefallen?« fragte Fidelma eindringlich.

»Nur daß alle mit einem Messer umgebracht wurden, das gezackt und stumpf ist.«

»Wenn das die einzige Gemeinsamkeit ist, was sind die Unterschiede?« bohrte Fidelma weiter.

Liag schaute sie anerkennend an. »Ich würde sagen, daß es einen großen Unterschied zwischen den ersten drei Morden und dem am Gerber gibt.«

»Und der ist?«

»Die ersten drei Opfer waren junge Mädchen. Sie sind aufs übelste zugerichtet und verstümmelt worden. Das vierte Opfer dagegen war ein Mann. Die vielen Einstiche an Hals und Brust deuten auf einen brutalen Mörder hin, doch Lesren wurde nicht verstümmelt. Tomma sagte mir, als er ihn entdeckte, hat er sogar noch ein paar Worte sagen können, die allerdings keinen Sinn ergaben.«

»Er murmelte einen Namen«, bestätigte Fidelma.

»Einen Namen, den keiner kennt, wenn Tomma ihn richtig verstanden hat. Es kann gut möglich sein, daß Lesren sich in einer Art Delirium befand. Wer weiß, was einen verwirrten Geist in den letzten Augenblicken vor dem Tod beschäftigt?«

»Du verfügst über ein großes Wissen, Liag«, erwiderte Fidelma, ohne ihm damit ein Kompliment machen zu wollen. »Du weißt sicher viel über die alten Zeiten, in denen man in dieser Gegend Gold und Silber abbaute.«

Liag neigte leicht den Kopf, er war über diesen Themenwechsel sichtlich erstaunt. »Ja, ich weiß ein wenig darüber Bescheid. Das Erz, das man hier einst in Hülle und Fülle ans Tageslicht beförderte, war sehr wertvoll und von hervorragender Qualität. Doch inzwischen findet man hochwertiges Gold nur noch im östlichen Gebirge von Laighin.«

»Hat Lesren mal in den Minen gearbeitet?«

Liag schüttelte den Kopf. »Warum fragst du das?«

»Erinnerst du dich daran, wer laut unseren Vorfahren als erster Gold in Irland entdeckt hat?«

Der Heilkundige wirkte überrascht. »Wieso fragst du? Nun, es war Tigernmas, der sechsundzwanzigste Großkönig von Eireann, nachdem die Gälen gekommen sind. Er ließ zum erstenmal in diesem Land Gold schmelzen. Zu seiner Herrschaftszeit gab es Unmengen von goldenen Trinkbechern und Broschen, so wird berichtet, und Uchadan war sein oberster Kunsthandwerker.«

Eadulf blickte Fidelma ziemlich verwirrt an, schien sie sich doch in Belanglosigkeiten zu verlieren.

»Ich habe gehört, daß die Minen alle stillgelegt worden sind.«

»Das stimmt, Lady«, bestätigte ihr Liag. »Nicht weit von hier wird noch ein wenig Blei abgebaut, aber mit dem Wohlstand von damals ist es vorbei.«

»Ich schätze, hier würde sich einiges ändern, wenn man neue Edelmetallvorkommen entdeckte, nicht wahr?«

Liag grinste. »Sicher, aber vermutlich nicht zum Besseren. Ich meinerseits ziehe die Ruhe und den Frieden vor, die mit Abgeschiedenheit und Mittellosigkeit einhergehen. Reichtum nährt Gier, und Gier zieht Haß nach sich und dann auch das Verbrechen

»Verbrechen wie einen Mord?« mischte sich Eadulf ein, der allmählich die Geduld verlor. »Machen sich solche Verbrechen nicht heute schon in deinem Idyll breit, Liag?«

Liag drehte sich zu Eadulf um. »Du bist ziemlich direkt, sächsischer Bruder. Zweifellos dringst du mit deiner Direktheit zum Kern der Dinge vor. Und doch ziehe ich mein Idyll vor, wie du es nennst. Der Ort ist nicht verantwortlich für das Böse im Herzen der Menschen, die an ihm leben. Man sagt, daß Geld den Charakter verdirbt.«

Eadulf wollte schon etwas entgegnen, doch Fidelma ging zu ihrem Pferd und band es los.

»Vielen Dank für deine Auskünfte, Liag. Wir müssen in die Festung zurück. Nur noch eine Frage. Wann wurdest du zu Beccnats Leiche gerufen?«

Der Alte sah sie erstaunt an. »Am Morgen nach Vollmond. Ich dachte, das sei klar.«

»Und auch Escrach und Ballgel hast du dir am Morgen nach Vollmond angesehen?«

Liag nickte.

»Noch einmal vielen Dank, Liag. Du hast uns sehr geholfen.«

Liag erwiderte nichts, er blieb reglos stehen, bis sie auf die Pferde gestiegen und davongeritten waren. Als sie außer Hörweite des alten Mannes waren, lehnte sich Eadulf zu Fidelma vor.

»Warum bist du so an den Minen interessiert? Was hat das Gold mit den Morden zu tun?« erkundigte er sich.

»Vielleicht hätte ich dir schon früher sagen sollen, daß ich mich frage, welche Rolle das Gold bei alldem spielt. Wenn Lesrens letztes Wort wirklich Biobhal war, dann wird die Sache noch viel interessanter.«

»Wie meinst du das?«

»Weil ich nur einen Biobhal kenne. In den Schriften heißt es, daß vor langer, langer Zeit, noch ehe die Kinder der Gälen an diese Ufer kamen, unser Land von Fremden überfallen wurde. Partholon, der Sohn von Sera, der seinen Vater ermordet hatte in der Hoffnung, die Herrschaft über das Königreich an sich reißen zu können, führte einen dieser Überfälle an. Doch er wurde des Landes verwiesen, und er und seine Anhänger gelangten ins Königreich von Muman. Partholon soll hier die Kunst des Pflügens eingeführt und durch Rodung freie Flächen geschaffen haben, er hat die Landwirtschaft begründet und Herbergen bauen lassen. Dann brach die Pest aus, und er und sein Volk wurden ausgelöscht.«

»Und was hat dieser Biobhal damit zu tun?« fragte Eadulf.

»Biobhal gehörte zu Partholons Gefolge. Ihm sagt man nach, als erster in diesem Königreich Gold entdeckt zu haben.«

Eadulf lächelte belustigt. »Solche Geschichten erzählen die Alten den Kindern im Winter am Feuer. Das ist doch kaum von Belang.«

Fidelma seufzte. »Darum geht es nicht. Für jeden, der sich mit den alten Legenden in diesem Königreich auskennt, steht Biobhal für Gold. Ich wüßte zu gern, warum Lesren mit seinem Namen auf den Lippen gestorben ist.«

»Jetzt ist mir klar, warum du Liag nach Goldvorkommen gefragt hast. Doch er kannte den Namen Bi-obhal offenbar nicht. Er erwähnte einen gewissen Tigernmas.«

»Ja, das ist wirklich eigenartig«, stimmte sie ihm zu. »Gewiß hat er den Namen Biobhal schon einmal gehört, doch er hat sich für Tigernmas entschieden. Das war der Großkönig, unter dessen Herrschaft man hier mit dem Schmelzen von Gold begann. Und den Namen Biobhal gibt er vor nicht zu kennen.«

»Ich verstehe das nicht«, sagte Eadulf.

»Ich auch nicht. Hier wird viel über Gold geredet. Ich muß mir dieses Eberdickicht unbedingt genauer anschauen.«

»Den Ort, wo der Junge auf das Katzengold gestoßen ist?«

»Den Ort, wo der Junge echtes Gold fand, um das Gobnuid ihn betrogen hat«, berichtigte ihn Fidelma.

»Nun gut. Doch was werden wir in den stillgelegten Minen des Eberdickichts schon entdecken? Wie sollte uns das bei der Aufklärung des Mordes an Les-ren helfen?«

»Wer weiß?«

Eadulf starrte sie verblüfft an. »Willst du damit sagen, daß du einen Zusammenhang zu den Morden an Beccnat, Escrach und Ballgel siehst?«

Fidelma schwieg sich aus.

Sie blickte durch das hohe Baumdach zum Himmel hinauf. Dann zeigte sie auf einen Pfad, der vom Ufer fortführte.

»Folge mir, Eadulf.«

Sie lenkte ihr Pferd auf den schmalen Pfad.

»Was ist?« fragte er. »Wo willst du hin?«

»Vermutlich gelangen wir hier auf den Hauptweg, und von dort aus können wir westwärts hinauf zum Eberdickicht reiten.«

»Es wird bald dunkel«, stellte Eadulf besorgt fest. »Was können wir da schon groß finden?«

Fidelma schaute sich zu ihm um.

»Ich bin keine Prophetin. Ich weiß es auch noch nicht«, erwiderte sie gereizt.

Eadulf zog es vor zu schweigen.

So ritten sie eine Weile weiter, bis sich der Pfad so verengte, daß die Pferde Mühe hatten, selbst hintereinander voranzukommen. Schließlich erreichten sie den Hauptweg. Der führte von den in der Ferne liegenden Toren von Rath Raithlen an der Abtei des heiligen Finnbarr vorbei und dann südwestlich ins Eberdickicht. Bald waren sie oben auf dem Hügel. Nichts wies darauf hin, daß sich hier Minen befinden könnten. Vergeblich suchte Fidelma nach irgendwelchen Anhaltspunkten. Nur jemand, der sich in dem Gelände gut auskannte, hätte sie entdecken können.

Fidelma war enttäuscht. Sie mußte sich eingestehen, daß sie ohne einen Ortskundigen nicht würde feststellen können, wo man hier Gold abgebaut hatte. Es war inzwischen recht kühl geworden. Richtung Osten wurde der Himmel schon dunkler. Verärgert seufzte sie.

Eadulf war so klug, den Mund zu halten, doch gerade sein diplomatisches Schweigen schien sie noch mehr zu reizen.

»Wie du siehst, war ich wieder mal ziemlich vorschnell, Eadulf«, meinte sie.

Der hob eine Hand, machte eine versöhnende Geste.

»Wir kennen uns hier nicht aus und brauchen wohl jemanden, der uns hilft«, bemerkte er leise.

Fidelma preßte verärgert die Lippen aufeinander. »Dann kehren wir besser in die Festung zurück und suchen uns so eine Person.«

Sie wollten schon umdrehen, als sie ein Rascheln hörten. Aus dem Dickicht neben ihnen sprang ein Hund, ein kleiner, kurzbeiniger Jagdhund mit struppigem Fell. Er blieb stehen, begann zu jaulen und zu kläffen.

Ein kurzer Pfiff war zu vernehmen, darauf eine Stimme.

Nun wurde unterhalb der Böschung ein junger Mann sichtbar. Als er Eadulf und Fidelma erblickte, blieb er stehen. Auf seinen breiten Schultern trug er einen erlegten Keiler. Mit der einen Hand hielt er ihn fest, in der anderen hatte er einen Bogen aus Eibenholz. An seinem Gürtel hing neben einem Jagdmesser ein Köcher mit vielen Pfeilen. Seine Kleider waren aus Wildleder. Das kastanienbraune Haar, das bis auf die Schultern fiel, wurde von einem Stirnband zusammengehalten. Er sah gut aus und lächelte gewinnend.

Einen Moment stand er unentschlossen da, dann rief er dem Hund zu: »Aus, Luchoc!«

Sofort hörte der Hund auf zu bellen.

»Gott sei mit dir, Schwester, und mit dir, Bruder«, begrüßte der Jäger die beiden. »Achtet nicht weiter auf meinen Hund. Hunde, die bellen, beißen nicht.«

Fidelma lächelte ihn an.

»Luchoc ist ein eigenartiger Name für einen Jagdhund, Jäger«, erwiderte sie.

Der junge Mann nickte. »Tja, ich nenne ihn >guter Mäusefänger<, das paßt eigentlich nicht zu einem Hund, du hast recht. Doch der arme Kerl ist wirklich zum Mäusefangen besser als zum Jagen.«

»Du scheinst heute dennoch gute Beute gemacht zu haben«, warf Eadulf ein und wies auf den Keiler auf seinen Schultern.

»Das reicht eine ganze Weile für meine Familie«, stimmte der Jäger ihm zu. »Ihr seid offenbar fremd hier«, stellte er fest.

»So ist es«, entgegnete Fidelma. »Kennst du dich in dieser Gegend, dem Eberdickicht, gut aus?«

»Ich wohne auf der anderen Seite des Hügels. Schon mein ganzes Leben lang. Doch falls ihr hier jemanden suchen solltet, so kann ich nur sagen, daß die Gegend seit vielen Jahren ziemlich verödet ist. Noch zu Zeiten meines Großvaters war sie dicht besiedelt, doch heute ist sie es nicht mehr.«

»Man hat mir erzählt, daß es hier eine alte Mine gibt«, erkundigte sie sich neugierig.

Der Jäger lachte auf. »Eine Nonne und ein Mönch sind doch nicht etwa in dieses Land gekommen, um nach Gold und Silber zu suchen, oder? Ich habe die Leute von einer dalaigh und ihrem Gefährten reden hören, die bei unserem Stammesfürsten Becc zu Gast sind. Ich schätze, das seid ihr?«

»Ich frage tatsächlich aus beruflichen Gründen.«

»Nun, verlassene Minen gibt es hier in der Gegend jede Menge, außerdem ein paar Höhlen, die recht gefährlich sind, Schwester. Da sollte man besser nicht hineingehen, wenn man sich nicht auskennt.«

»Hast du nicht gesagt, daß du ganz in der Nähe wohnst?«

Die Augen des jungen Mannes funkelten mißtrauisch. »Ja, Schwester. Und ich bin meinem Fürsten Becc gehorsam.«

»Und du heißt ...?«

»Ich bin Menma, der Jäger. Da ich mich nun vorgestellt habe, wer seid ihr und woher kommt ihr?«

»Ich bin Fidelma von Cashel, Menma. Das ist mein Gefährte, Bruder Eadulf.«

»Dann stimmt es, was man unter den Cinel na Äeda erzählt - der König von Cashel hat eine Schwester, die eine berühmte dalaigh ist.«

»So ist es«, bekräftigte Fidelma.

Der junge Mann ließ den Keiler vorsichtig zu Boden gleiten und verneigte sich voller Respekt. »Ich bitte um Entschuldigung für mein unhöfliches Benehmen.«

»Davon kann nicht die Rede sein«, versicherte ihm Fidelma. »Dein Mißtrauen uns gegenüber war berech-tigt, wenn man bedenkt, was in den letzten Monaten hier geschehen ist.«

Der Jäger nickte zustimmend. »Das Land der Cinel na Äeda ist nicht groß, hier kennt man einander. Meine Frau war mit Escrach befreundet. Das ist eine schlimme Geschichte.«

»Das kann man wohl sagen«, pflichtete Fidelma ihm bei. »Menma, noch eine Frage: Kennst du die Mine und die Höhlen in diesem Berg?«

»Ziemlich gut, Lady.«

Sie schaute zum Himmel auf. »Es ist bereits spät, bald wird es dunkel. Doch würdest du uns führen, wenn wir uns ein andermal hier ein wenig umschauen wollen?«

»Sehr gern. Aber die Minen sind schon seit langem stillgelegt.«

»Ich möchte ja mit niemandem sprechen«, erklärte Fidelma. »Ich möchte nur das Gebiet genauer unter die Lupe nehmen, die alten Minen. Gibt es auch in der Nähe des Steinkreises der Wildschweine welche?«

Zu ihrer Enttäuschung schüttelte er den Kopf. »Nein, dort nicht. Doch oberhalb davon befindet sich eine Höhle, in der man einst nach Gold suchte. Auch die ist nun verlassen und gefährlich.«

»Können wir auf dich zählen, falls wir diese Höhle morgen näher erkunden wollen? Wo finden wir dich?«

Menma deutete nach rechts. »Dort führt ein Pfad durch den Wald. Wenn ihr ihm folgt, gelangt ihr zu meiner Hütte. Falls ich unterwegs sein sollte, ist meine Frau da. Sie wird euch zeigen, wie ihr mich erreicht. Blast dreimal in das Horn, das neben dem Feuer hängt. Sobald ich das höre, komme ich. Dieses Zeichen haben meine Frau und ich für Notfälle vereinbart.«

»Du bist sehr umsichtig, Menma«, stellte Fidelma fest.

»Ich mache mir lieber umsonst Sorgen, als daß ich mich leichtsinnig verhalte. Hier gilt noch das alte Sprichwort: Man soll nie mit beiden Füßen messen, wie tief der Fluß ist.«

Der Jäger bückte sich und hob den Keiler wieder auf seine Schultern.

»Ich werde auf euer Signal warten. Guten Heimweg zur Festung.«

Er hob die Hand mit dem Bogen zum Gruß und rief dann nach seinem Hund, der rasch auf ihn zurannte. Gleich darauf war er zwischen den Bäumen verschwunden.

»Jetzt können wir nach Rath Raithlen zurückkehren«, sagte Fidelma und wendete ihr Pferd.

Eadulf tat es ihr gleich. »Ich verstehe immer noch nicht, was du in den stillgelegten Minen finden willst.«

Er hatte eine sarkastische Antwort erwartet, doch statt dessen erwiderte Fidelma: »Um die Wahrheit zu sagen, Eadulf, ich bin mir auch nicht sicher, worauf das hinausläuft. Vielleicht führt es nur in die Irre. Mir geht einfach die Idee im Kopf herum, daß es hier ein Geheimnis gibt, bei dem Gold eine Rolle spielt. Erinnere dich nur an die mutwillig beschädigte Leiter im Festungsturm. Einer von uns hätte stürzen oder gar zu Tode kommen können!«

»Und dir kam der Verdacht, daß Gobnuid dahintersteckte.«

Überrascht blickte ihn Fidelma an. Manchmal unterschätzte sie Eadulfs Wahrnehmung.

»Ja. Gobnuid hat mir auch weismachen wollen, daß der Klumpen Gold, den Sioda gefunden hatte, unecht war. Warum hat er das getan?«

Eadulf verzog das Gesicht. »Weshalb bist du dir so sicher, daß das alles mit der Ermordung der drei Mädchen zu tun hat? Hast du mal bedacht, daß du vielleicht eine falsche Fährte verfolgst?«

»Ihre Leichen hat man aber hier in der Nähe gefunden«, unterstrich Fidelma.

»Was bedeutet das schon? Es gibt eine Menge von verdächtigen Orten. Zum Beispiel die Abtei. Dann Liags Einsiedelei.«

»Und außerdem ist da noch Lesrens letztes Wort .«

»Ein Name . der einen Hinweis liefern könnte und der Liag völlig unberührt ließ, als du ihn danach gefragt hast. Ich glaube, du solltest .«

»Still!« sagte Fidelma auf einmal und führte eine Hand an die Lippen, während sie mit der anderen am Zügel zog. Ihr Pferd schnaubte.

»Was ist ...«, meinte Eadulf.

Fidelma zeigte den Hügel hinunter in das aufkommende Dunkel.

Sie waren dem Pfad bis zum Rand des Hügels gefolgt, von wo man das Tal überblicken konnte. Unter ihnen lagen zu ihrer Linken die Gebäude der Abtei des heiligen Finnbarr. Etwas weiter entfernt gab es eine Lichtung. Eadulf konnte gerade noch zwei Gestalten ausmachen, die über die Lichtung eilten. Eine davon war etwas größer und trug ein flatterndes weißes Gewand. Bald darauf hatte das Dunkel der Bäume die beiden verschluckt.

Eadulf blickte Fidelma erstaunt an.

»Was geht da vor sich?« fragte er.

»Hast du jemanden erkannt?« wollte sie wissen.

»Nein.«

»Ich aber. Einer war Gobnuid, der Schmied. Der ist ja früh von seiner Reise zurück! Und der andere, Eadulf?«

»Keine Ahnung.«

»Denk nach, Eadulf! Eine hohe Gestalt im weißen Gewand!«

Eadulf wußte, worauf sie hinauswollte. »Einer von den drei Fremden, schätze ich. Nur welcher? Sie waren zu weit weg.«

»Doch es war einer von ihnen. Was aber haben Gobnuid und einer der Aksumiter in der Dämmerung hier zu schaffen?« überlegte Fidelma laut.

»Ehrlich gesagt, begreife ich gar nichts. Noch nie hat mich ein Fall vor solche Rätsel gestellt ...«

»Je verworrener der Fall, desto größer die Herausforderung, Eadulf. Ich bin entschlossen, mich davon nicht beeindrucken zu lassen. Brehon Morann sagte einmal, kein Ding und kein Rätsel sind wirklich geheimnisvoll. Geheimnisvoll sind nur die Augen und was sie wahrnehmen. Wenn also deine Augen etwas Geheimnisvolles sehen, so verlaß dich nicht nur auf sie, wenn du es zu verstehen suchst.«

Eadulf warf ihr ein skeptisches Lächeln zu. »Das Herz sieht eher als der Kopf?«

»Genau so ist es. Diesen vertrackten Fall werden wir auch lösen.«

Als sie schließlich die Tore von Rath Raithlen erreichten, war es schon finster. Sobald sie auf dem Hof waren, kam ein Stallbursche auf sie zugerannt, der sich um ihre Pferde kümmerte. In der Festung herrschte geschäftiges Treiben. Brandfackeln wurden angezündet, um ihnen Licht zu machen. Becc tauchte an der Tür seiner Halle auf und begrüßte sie.

»Ich freue mich, dich wieder in Sicherheit zu sehen, Fidelma. Accobran hatte befürchtet, du wärest allein unterwegs.«

»Eadulf war bei mir«, erwiderte sie kurz und blickte sich um. »Was herrscht hier für eine Aufregung? Wo ist der Tanist?«

»Fort«, entgegnete Becc zufrieden. »Er ist auf der Jagd nach Lesrens Mörder.«

Загрузка...