Kapitel 5

Inzwischen hatte sich eine Frau neben Lesren gestellt. In ihrer Jugend mußte sie recht hübsch gewesen sein. Obwohl ihr schwarzes Haar graue Strähnen zeigte, trugen ihre hellen Augen, ihre makellose Haut und ihre ganze Erscheinung keine Spuren des Alters. Sie wirkte bedrückt. Lesren machte keine Anstalten, sie vorzustellen, Fidelma ahnte jedoch, wer sie war.

»Bist du Beccnats Mutter?«

»Ich bin Bebhail, Schwester.«

Lesren drehte sich grinsend zu seiner Frau um. »Das ist die Schwester des Königs, Weib. Eine Richterin, sie will was über Beccnats Tod herausfinden.«

Seine Frau blinzelte leicht und senkte den Kopf. Fidelma spürte, daß sie sich wegen des ungehobelten Benehmens ihres Mannes schämte.

»Du hast gehört, was dein Mann gesagt hat. Danach hatte Beccnat ihre Meinung geändert und wollte Ga-bran nicht mehr heiraten. Ein paar Nächte vor ihrem Tod ging sie fort, um es ihm mitzuteilen. Warst du dabei, als sie das sagte?«

Die Frau blickte ihren Mann nervös an und nickte dann rasch. Auf einmal traten ihr Tränen in die Augen. Es war offensichtlich, daß sie ganz verzweifelt war.

»Das Mädchen hat also euch beiden von ihrer Absicht erzählt und ist dann auf und davon?«

»Es ist so, wie mein Mann sagte. Ich kann dem nichts hinzufügen.« Bebhail eilte rasch in die Hütte zurück und schloß die Tür hinter sich.

Lesren lächelte düster.

»Bist du nun zufrieden, dalaigh?« fuhr er sie heftig an.

Fidelma blickte mit starrer Miene zu ihm hin. »Ganz im Gegenteil. Du vergißt da eines. Ob es sich deine Tochter anders überlegt hat oder nicht, ob Ga-bran ein Motiv hatte oder nicht, Accobran hat bestätigt, daß Gabran in der Mordnacht mehr als zwölf Meilen entfernt war. Doch mach dir keine Gedanken darum, ich werde alles noch einmal überprüfen.«

»Tu das, dalaigh. Ich erwarte Gerechtigkeit.«

»Keine Sorge. Die wirst du bald erfahren. Ich komme wieder.«

Als sie außer Hörweite waren, sagte Eadulf leise: »Er hat gelogen, was seine Tochter angeht. Da bin ich mir sicher. Seine Frau hatte ganz offensichtlich Angst davor, in seinem Beisein etwas auszuplaudern.«

»Es herrschte eine gewisse Spannung bei dem Ehepaar«, stimmte ihm Fidelma zu. Neugierig blickte sie Accobran an. »Haßt er Gabran und dessen Familie wirklich derart? Worum ging es bei dem Bußgeld, das Aolü dem Vater des Jungen auferlegte?«

»Seit Jahren herrscht Feindseligkeit zwischen Les-ren und Goll«, antwortete der Tanist. »Meiner Meinung nach genügt das nicht, um jemanden umzubringen. Vorwürfe wegen Diebstahls sind eine Sache, aber Mord, dreifacher Mord - das ist etwas anderes.«

»Worum ging es bei diesen Vorwürfen? Vermutlich wurde deshalb das Bußgeld erhoben?«

»Darüber weiß ich nur wenig. Ein paar Geschichten waren im Umlauf. Wenn du die Wahrheit wissen willst, mußt du dich an Becc wenden, er hat sich seinerzeit in dem Fall mit Brehon Aolü beraten.«

Fidelma schwieg nachdenklich. Dann sagte sie: »Ich denke, wir sollten jetzt mit Gabran und seinem Vater sprechen.«

Accobran blickte zum Himmel auf. »Es ist schon Mittag vorüber, Schwester. Ich würde empfehlen, zum Essen zur Festung zurückzukehren. Wenn ich mich nicht irre, wolltet ihr auch Seachlann aufsuchen, Escrachs Vater, und dann noch zur Abtei weiter. Becc teilte mir mit, daß ihr die Fremden dort sprechen wollt. Goll und Gabran arbeiten im Wald auf der anderen Seite des Flusses. Ich bezweifle, daß wir vor Einbruch der Nacht dahin gelangen, wenn wir nach eurem Plan vorgehen.«

Fidelma nahm das gelassen auf. »Eile mit Weile. Wenn wir Gabran und Goll heute nicht treffen, dann eben morgen. Doch da erinnerst du mich an etwas -was ist mit Escrach? Stimmt es, daß Gabran mit ihr zusammen war?«

»Escrach war attraktiv. Die Cinel na Äeda stehen in dem Ruf, schöne Frauen zu haben. Und Gabran war ein gesunder Bursche. Das ist in dieser Gemeinschaft nichts Ungewöhnliches. Hier heiratet man früh und bekommt Kinder, noch ehe die Jugend vorbei ist.«

»Und doch bist du unverheiratet, Tanist der Cinel na Äeda«, stellte Fidelma fest.

Wieder einmal glitt das entwaffnende Lächeln über sein Gesicht. »Nun, ich habe viele Jahre damit zugebracht, den Kriegsgöttern zu folgen. Ein Krieger sollte sich keine Frau nehmen, denn oft bleibt sie als Witwe zurück. Ich bin erst vor kurzem seßhaft geworden, um die Pflichten zu erlernen, die mir mein Cousin und unser derbfhine auferlegt haben.« Auf einmal wirkte Accobran nachdenklich. »Gehst du davon aus, daß bis zum nächsten Vollmond nichts Ernstes passieren wird?«

Fidelma betrachtete ihn abwägend. »Du vermutest also, daß es einen weiteren Mord geben wird?«

»Was dreimal geschah, kann gewiß noch ein viertes Mal geschehen.«

»Also bist du auch Liags Ansicht, daß hier ein Verrückter am Werk ist und der Vollmond den Mörder zu seinen Taten verleitet?«

Accobran lächelte zynisch. »Das ist zumindest einleuchtender als die Geschichte, die Lesren uns glauben machen will. Ehrlich gesagt, ich kann Gabran nicht besonders leiden. Er ist manchmal ziemlich arrogant. Und doch glaube ich, daß der alte Liag recht hat. Was sollte es sonst für eine Erklärung geben?«

»Wir müssen in Erfahrung bringen, warum Brocc die Fremden beschuldigt, und wir müssen die Fremden aufsuchen, damit sie die Vorwürfe entkräften können«, unterstrich Eadulf. »Vor voreiligen Schlüssen sollten wir uns hüten.«

Er spürte, daß Fidelma ihn ansah, und errötete ein wenig, denn er wußte, daß er sich genau jener Worte bediente, mit denen sie ihn oft gerügt hatte.

»Das ist wohl wahr«, stimmte der junge Tanist zu. »Und je früher wir uns in der Festung stärken, desto eher können wir mit den Untersuchungen fortfahren.«

Sogleich führte er sie auf einem steilen Pfad den Hügel hinauf zu den hochaufragenden Umfriedungen von Rath Raithlen.

Das Mittagsmahl nahmen sie zusammen mit Becc ein. Der Fürst lächelte bitter, als man auf Lesren und Goll zu sprechen kam.

»Vielleicht hätte ich euch wegen der beiden vorwarnen sollen.«

»Ist denn dieser Zwist so ernst?« wollte Fidelma wissen.

»Das hängt davon ab, wie man die Sache sieht. Falls es so ist, wie Accobran mir erklärt hat, und Lesren, dieser Trottel, bezichtigt immer noch Golls Sohn des Mordes an seiner Tochter und macht ihn damit auch für die anderen Morde verantwortlich, könnte es für Lesren ernst werden. Ich weiß genau, wie das Gesetz gegen die Verbreitung bösartiger Verleumdungen vorgeht.«

»Wie hat denn dieser Streit eigentlich begonnen?«

Becc dachte eine Weile nach. »Vermutlich fing er bereits vor vielen Jahren an. Lesren war vor seiner Ehe mit Bebhail schon einmal verheiratet.«

»Er hatte vorher eine andere Frau?« fragte Eadulf.

»Ja, so ist es. Sie hat sich von ihm scheiden lassen. Die Frau hieß Finmed.« Er machte eine Pause, was dem Folgenden mehr Bedeutung verlieh. »Finmed ist jetzt mit Goll verheiratet, sie ist Gabrans Mutter.«

Eadulf gelang es, einen Pfiff zu unterdrücken. Nur ein leises Zischen war zu hören, als er sich zurücklehnte. Fidelma blickte ihn vorwurfsvoll an.

»Vor dem Gesetz gelten mehrere Gründe, aus denen sich ein Paar trennen kann«, erklärte sie Eadulf. Dann fragte sie Becc: »Welcher Grund lag bei ihnen vor? Haben sie sich in gegenseitigem Einvernehmen getrennt? So daß jeder ohne Schuldvorwürfe ein neues Leben beginnen konnte?«

Becc schüttelte den Kopf. »Lesrens und Finmeds Scheidung gehörte zu den Fällen, in denen die Schuldfrage von einem Brehon ganz eindeutig entschieden wurde. Finmed verließ Lesren mit voller Entschädigung und ihrer coibche. Die coibche ist der Brautpreis, den der Mann seiner Frau oder deren Familie zu zahlen hat«, fügte er für Eadulf zur Erklärung hinzu.

»Ich weiß, was die coibche ist«, erwiderte Eadulf.

Becc bemerkte seine Taktlosigkeit sogleich. Er hatte vergessen, wie Fidelma und Eadulf zueinander standen. Eadulf hatte sich die Zeit genommen, die Cain Lanamna, die Ehegesetze, zusammen mit Colgüs oberstem Brehon durchzusprechen. Er wußte, daß eine Frau, die ihren Mann verließ und Schuld an der Trennung trug, ihre coibche, Sachgeschenke oder eine entsprechende Summe Geld ihrem Mann wieder zurückgeben mußte. War die Frau jedoch schuldlos, so konnte sie die coibche behalten und die Hälfte der während der Ehe erwachsenen Güter für sich beanspruchen.

»Was war denn der Scheidungsgrund?« fragte Fidelma.

»Lesren war ziemlich gewalttätig«, erklärte Becc. »Er trank oft und schlug Finmed dann. Wie ihr wißt, hat eine Frau das Recht auf sofortige Scheidung, wenn sie von ihrem Mann geprügelt wird. Lesren mußte ihr ein Bußgeld zahlen und ihr die coibche überlassen. Obwohl sie aber durch den Ehevertrag Anspruch auf mehr hatte, wollte Finmed nichts weiter von ihm annehmen und verließ ihn. Lesren war ihr nicht einmal dankbar dafür, daß er so ungeschoren davongekommen war, sondern grollte und verzieh ihr nie. Als sie Goll heiratete, tobte er vor Wut.«

»Aber er hat doch auch wieder geheiratet, bei allem, was recht ist«, meinte Eadulf.

»So ist es«, stimmte ihm Becc zu. »Lesren hat Bebhail geheiratet. Trotz der Gerüchte, die man so hört, scheinen sie glücklich miteinander zu sein, und sie hat ihm zumindest eine Tochter geschenkt, Becc-nat.«

»Willst du damit andeuten, daß Lesren immer noch einen heimlichen Groll gegen seine frühere Frau hegt und auch gegen Goll, ihren Ehemann?«

Becc seufzte und nickte. »Ja. Finmed heiratete Goll, und ein Jahr darauf verheiratete sich Lesren ebenfalls wieder. Finmed und Goll bekamen einen Sohn, Ga-bran. Im Laufe der Zeit wurde die Kluft zwischen Lesren und Goll immer tiefer.«

»Und was ist mit Lesrens Anschuldigung, Goll sei ein Dieb?« wollte Eadulf wissen.

»Das war eine schäbige Behauptung. Reine Boshaftigkeit. Lesren hatte offenbar herausgefunden, daß Goll ohne Erlaubnis einen Baum gefällt hatte«, antwortete Becc.

»Wie das?« Eadulf schien empört. »Er ist doch Holzfäller, wie kann man ihm so etwas vorwerfen?«

»Holzfäller müssen wie alle anderen auch die Gesetze einhalten. Ohne Genehmigung dürfen gewisse Bäume - sogenannte Fürstenbäume - in bestimmten Gebieten nicht geschlagen werden. Andernfalls muß man eine Strafe zahlen. Goll befand sich in der mißlichen Lage, schnellstens Eschenholz liefern zu müssen. Da die Esche aber zu den Fürstenbäumen gehört und er eine solche ohne meine Erlaubnis oder die meines Brehons fällte, machte er sich strafbar.«

Fidelma sah zu Eadulf hinüber.

»Das könnte man praktisch als Baumdiebstahl bezeichnen«, erklärte sie ihm und wandte sich dann wieder an Becc. »Doch wenn sich das Bußgeld nur auf einen screpall belief, wie man uns sagte, so wurde das nicht als bewußter Diebstahl eingestuft.«

Der Fürst stimmte ihr zu. »Lesren entdeckte es und schwärzte Goll bei Aolü an. Dem Brehon blieb nichts anderes übrig, als Goll vor Gericht zu stellen. Goll hatte die Esche so plötzlich fällen müssen, weil jemand einen Fürstenstuhl in Auftrag gegeben hatte, der ein Geschenk sein sollte. Der Tradition nach darf nur der Fürst auf einem Eschenstuhl sitzen. Hätte Goll den Fürsten um Erlaubnis ersucht, wäre das Geschenk keine Überraschung mehr gewesen. Also beschloß er, den Baum einfach ohne Genehmigung zu fällen. Goll erhielt eine formale Strafe in Höhe eines screpall

»Wußte Goll, daß Lesren ihn angezeigt hatte?« fragte Eadulf.

»Natürlich. Lesren mußte auch vor Aolü aussagen.«

»Das hat Lesren bei Goll nicht gerade beliebt gemacht, oder?«

Der Fürst lächelte trocken. »Nach einer Woche bekam Goll seine Rache. Wie ihr vielleicht wißt, benutzt man die Rinde des Apfelbaums zum Gerben. Doch während der sogenannten >tödlichen< Monate darf man die Rinde nicht schälen, da die Bäume sonst absterben. Goll beobachtete, wie Lesren sich zur falschen Zeit an einem Apfelbaum zu schaffen machte. Also zeigte er ihn an. Nun wurde Goll als Zeuge vor Gericht gerufen. Aolü und ich kamen zu der Überzeugung, daß man unter die Sache einen Schlußstrich ziehen sollte. Lesren wurde ebenfalls ein Bußgeld in Höhe eines screpall auferlegt. Damit wären beide quitt. Aolü und ich hofften, daß jetzt Ruhe einkehren würde.«

»Doch die Zwistigkeiten gingen weiter?«

»Ja. Und dann geschah etwas Unvorhersehbares: Golls Sohn und Lesrens Tochter verliebten sich ineinander. Als Lesren davon erfuhr, kam es fast zu einer tätlichen Auseinandersetzung. Goll sah die Dinge etwas gelassener, auch wenn er nicht glücklich darüber war. Mein Eindruck war, daß der ganze Haß nur von Lesren ausging.«

»Von Goll nicht?« fragte Fidelma. »Bist du da sicher?«

»Lesren verbot seiner Tochter, Gabran zu heiraten, obwohl sie alt genug war, ihre Wahl selbst zu treffen. Zudem gab es keine rechtliche Handhabe mehr, die Heirat zu verhindern.«

»Aber Lesren behauptet nun, seine Tochter hätte es sich anders überlegt. Bei ihrer letzten Unterhaltung hätte sie ihrem Vater mitgeteilt, daß sie Gabran nicht heiraten würde und es ihm sagen wollte«, bemerkte Eadulf.

Becc zog erstaunt seine Augenbrauen hoch. »Das ist das erstemal, daß ich davon höre. Seid ihr sicher?«

»Sicher ist nur, daß Lesren uns diese Geschichte so erzählt hat«, sagte Fidelma.

»Somit erhält Gabran ein Tatmotiv, denn diese Ablehnung hätte ihn gewiß wütend gemacht.«

»Das mag schon sein. Doch Aolü, mein Brehon, war noch am Leben, wenn auch schon etwas geschwächt, als Gabran des Mordes beschuldigt wurde. Accobran sollte herausfinden, wo sich Gabran zur Tatzeit aufgehalten hatte. Wie sich herausstellte, war er zwölf Meilen weiter weg an der Küste gewesen. Dafür gibt es eine Menge Zeugen. Also hatte das Mädchen, selbst wenn sie sich gegen eine Heirat entschieden hatte, dies Gabran vor ihrer Ermordung nicht mehr sagen können.«

»Lesrens Frau bestätigte seine Version«, murmelte Eadulf.

»Dieser Kerl ist nicht nur ein Dummkopf, er ist auch bösartig«, erwiderte Becc. »Ich weiß wirklich nicht, warum sich seine Frau all das gefallen läßt, was er ihr antut. Lesren kann Gabran doch nicht des Mordes beschuldigen, nachdem Accobran gegenteilige Beweise geliefert hat. Und da sind außerdem die anderen Morde. Brocc hat bisher alle, nur Lesren nicht, davon überzeugt, daß die Fremden in der Abtei dafür verantwortlich sind.«

Fidelma holte tief Luft. »Hier gehen so viel Angst und Mißtrauen um, Becc. Es ist, als blicke man in einen undurchdringlichen Nebel voller taumelnder dunkler Schatten. Doch der Tag ist noch lang - wir können eine Reihe anderer Leute aufsuchen. Eadulf ist inzwischen auch mit dem Essen fertig. So laßt uns aufbrechen.«

Eadulf schlang eilig den letzten Bissen hinunter und sprang auf. Er bemerkte nicht, daß Fidelma ihn anlächelte.

»Das ist Seachlanns Mühle.«

Fidelma und Eadulf waren mit dem jungen Tanist ein zweites Mal einen schmalen Pfad entlanggegangen, der sie zum Ufer führte. Die Stelle ähnelte der Lichtung, auf der sich Lesrens Hütte befand, nur standen hier weniger Bäume. Eine im Grundriß runde Wassermühle mit einem riesigen Wasserrad wurde von der Kraft des Flusses in Gang gehalten. Unweit der Mühle entdeckten sie neben dem dahinschnellenden Wasser einen Mann an einem kleinen Feuer. Er war in mittlerem Alter, stämmig und muskulös und wirkte mit dem zerzausten Bart und den wilden Haaren ziemlich ungepflegt. Er hielt einen Korb über die Flammen und drehte und wendete dessen Inhalt.

Fidelma bemerkte, daß Eadulf fragend die Stirn runzelte, und kam ihm zu Hilfe.

»Der Mann trocknet die graddan, die Körner, in einem criather, das ist der Korb, den er über das Feuer hält«, erklärte sie ihm. »Das trockene Korn bringt er dann zur Mühle. Behandelt man in deinem Land das Getreide ähnlich?«

»Nicht so, wie ihr es macht. Auf diese Weise kann man doch nur geringe Mengen trocknen, nicht wahr?«

»Oh, es gibt auch riesige Öfen, sogenannte Darren, wo viel Getreide getrocknet werden kann. Diese Methode hier ist nur bei kleinen Mengen angebracht.«

»Und warum fängt der Korb kein Feuer?« fragte Eadulf.

»Nun, der Boden ist aus Knochen gemacht, aus den Knochen eines Wals. Die können zwar ansengen, aber nicht brennen.«

Der Mann am Feuer hatte sie gehört, stellte den Korb beiseite und erhob sich langsam. Sein Blick war finster und unfreundlich.

Accobran drehte sich zu Fidelma um und sagte leise: »Das ist Brocc, der Bruder des Müllers, unser Unruhestifter.«

»Was willst du hier, Accobran?« erscholl Broccs rauhe Stimme, ehe sie sich ihm auf fünf bis sechs Meter genähert hatten. Er humpelte auf sie zu. Fidelma erinnerte sich, daß ihn Beccs Pfeil am Oberschenkel verwundet hatte. »Du hast keinen Grund, mich mit deiner Gegenwart zu belästigen, es sei denn, du möchtest mich wieder gefangennehmen.«

Unberührt von dem schroffen Auftreten des Mannes, lächelte der Tanist.

»Ich werde dich nicht belästigen, Brocc. Es sei denn, du machst wieder Ärger. Wir wollen deinen Bruder sprechen, den Müller Seachlann.«

Inzwischen war ein anderer Mann aus der Mühle getreten. Unter seiner Müllerschürze verbarg sich eine leicht rundliche Figur. Er war offensichtlich älter als Brocc und nicht so kräftig wie dieser.

»Was wünscht ihr von mir?« rief er laut von der Tür her und nahm Fidelma und Eadulf scharf ins Visier. »Geistlicher Besuch ist das letzte, was ich brauche, wo die Mörder meiner Tochter im Kloster Unterschlupf fanden.«

Accobran nannte Fidelmas und Eadulfs Namen und Herkunft. Brocc erwiderte darauf sarkastisch: »Also du bist die dalaigh, die unser Fürst aus Cashel geholt hat? Eine Ordensschwester! Dann steht das Kloster wohl unter deinem Schutz?«

Fidelma fuhr ihn scharf an. »Ich bin eine dalaigh, und ich werde Recht und Gesetz hochhalten, ganz gleich, wer es verletzt hat. Wenn dir das nicht genügt, Brocc, so sollte dir wenigstens bewußt sein, daß ich König Colgüs Schwester bin. Ich möchte dich auch darauf hinweisen, daß man künftig von dir ein friedfertiges Verhalten erwartet.«

Brocc öffnete schon den Mund, als wollte er etwas darauf erwidern, doch dann sah er ihre eiskalten Augen, zuckte mit den Schultern und schwieg.

»Was willst du von uns, Lady?« fragte der Müller ein wenig entgegenkommender.

»Ich möchte mehr über deine Tochter erfahren, Seachlann, und über die Umstände ihres Todes. Ich suche ihren Mörder.«

Der Müller winkte sie in die Mühle. »Drinnen können wir es uns bequemer machen.« Er schaute zu seinem Bruder hinüber. »Das Korn muß noch weiter getrocknet werden«, sagte er streng.

Zögernd humpelte Brocc zum Feuer zurück.

Seachlann trat an der Tür beiseite, um sie hineinzulassen. Drinnen war es erstaunlich hell, die Sonne schien durch die Öffnungen, die als Fenster dienten.

Er bedeutete ihnen, sich auf die mit Getreide und Mehl gefüllten Säcke zu setzen. Dann ließ auch er sich nieder.

»Vorsicht, mein Freund«, sagte er auf einmal zu Eadulf. »Dieser Sack steht zu dicht an der Welle, ich will nicht, daß dir etwas zustößt.« Eadulf setzte sich auf einen anderen Sack. Der Müller lächelte Fidelma an und sagte: »Siehst du, ich kenne die >Rechte des Wassers< aus dem Buch von Acaill.«

»Ich habe erfahren, daß sich dein Bruder nicht so gut mit dem Recht auskennt, Seachlann«, erwiderte Fidelma. Dann erläuterte sie dem etwas erstaunten Eadulf: »Seachlann bezieht sich auf ein Gesetz zu Bußgeldern und Entschädigungen, wenn Leute in einer Mühle und deren Mahlwerk zu Schaden kom-men.« Sie blickte wieder zu Seachlann. »Du bist offenbar ein gewissenhafter Müller.«

Vor Stolz schwoll Seachlann sichtlich an. »Ich bin ein saer-muilinn«, sagte er.

Eadulf wurde klar, daß er einem höheren Berufsstand angehörte und kein bloßer Müller war, wie Fidelma vermutet hatte. Ein Mühlenbauer betrieb nicht nur die Mühle, sondern entwarf und konstruierte sie auch. Fidelma senkte anerkennend den Kopf.

»Kommen wir zum Grund unseres Besuches, Seachlann.«

Der Mühlenbauer zog die Augenbrauen zusammen. »Seid ihr wirklich hier, um die Wahrheit herauszufinden, oder nur, um jene zu schützen, die eure Gewänder tragen?«

Fidelma beschloß, Seachlann zugute zu halten, daß er der Vater eines der heimtückisch ermordeten Mädchen war.

»Seachlann, ich habe geschworen, der Wahrheit und der Gerechtigkeit zu dienen. Die Wahrheit muß siegen, ganz gleich, ob der Himmel über unseren Häuptern einstürzt oder sich die Meere über uns erheben.«

Seachlann sah sie eine Weile an, als wolle er das Gewicht ihrer Worte an ihrer Miene ablesen.

»Was willst du wissen, Lady?«

»Erzähl mir von Escrach und berichte, was in der Todesnacht geschah«, forderte ihn Fidelma auf.

Er seufzte tief auf.

»Escrach war erst siebzehn, stand in der Blüte ihrer Jugend, war eine Schönheit geworden.«

Fidelma wußte, daß Escrach »blühend« oder »knospend« bedeutete, ging aber nicht weiter darauf ein.

»Sie war unsere ganze Hoffnung. Da sie jetzt das Alter der freien Partnerwahl erreicht hatte und bald heiraten würde ...«

»Ich vermute, Escrach und Gabran hatten ernste Absichten?«

Der Müller sah erst überrascht aus, dann schüttelte er den Kopf. »Sie waren Freunde aus Kindertagen, mehr ist mir nicht bekannt. Escrach kam mit vielen Jungen und Mädchen von hier gut aus, wie etwa mit Beccnat und Ballgel. Gemeinsam gingen sie zu dem Alten zum Unterricht, der ihnen von früheren Zeiten erzählte. Da versammelten sich immer viele Kinder. Auch Gabran und Creoda.«

»Bei dem Alten?« fragte Eadulf.

»Bei Liag. Er lehrt Sternenkunde.«

»Ach ja. Und wer ist Creoda?«

»Ein Junge, der in Lesrens Gerberei arbeitet.«

»Escrach war also nicht Gabrans Freundin?«

»Er wollte Beccnat heiraten. Wir sind nur eine kleine Ansiedlung. Ich glaube nicht, daß Escrach in Rath Raithlen jemanden besonders im Auge hatte. Wir wollten sie zu meinem Bruder schicken, der als Müller in einem Hafenort arbeitet. Er hätte dort für Escrach eine anständige Partie anbahnen können.« Auf einmal stockte er und zögerte. Dann sagte er grimmig: »Wer immer unser Kind umgebracht hat, hat auch meine Frau auf dem Gewissen.«

Entsetzt schaute Fidelma Accobran an.

»Du hast mir nicht gesagt, daß ...«, begann sie.

»So verhält es sich ja auch nicht«, rechtfertigte sich der Tanist. »Deine Frau lebt doch noch, Müller.«

Seachlann lachte wütend. »Ich meine nicht den eigentlichen Tod. Seit dem Mord an Escrach sitzt meine Frau nur noch vor dem Feuer. Völlig regungslos. Von der Außenwelt nimmt sie nichts mehr wahr. Escrachs Tod hat eine lebende Leiche aus ihr gemacht. Wenn du einen Beweis dafür brauchst, so zeige ich dir gern die Hülle meiner Frau.«

»Kannst du uns etwas über die Umstände von Es-crachs Tod mitteilen? Sag uns bitte alles, was du weißt«, bat ihn Fidelma freundlich.

»Das werde ich nie vergessen. Es war in der Vollmondnacht des letzten Monats. Escrach hätte nie allein unterwegs sein dürfen. Doch sie hatte sich auf den Weg zur Schwester meiner Mutter gemacht, ihrer Großtante, die nur ein Stück weiter am Fluß wohnt, hinter dem Hügel südlich von hier.«

»Hinter dem Hügel mit dem Eberdickicht?« fragte Eadulf interessiert.

»Richtig. Sie hätte eigentlich längst zu Hause sein sollen, doch ich wußte, der alten Frau ging es nicht gut, und nahm an, daß Escrach so lange wie möglich bei ihr geblieben war. Als sie am nächsten Morgen immer noch nicht da war, machte ich mich sofort über den Hügel zur Hütte meiner Tante auf und sah mich unterwegs genau um. Meine Tante erklärte mir, Es-crach sei nie bei ihr eingetroffen. Hatte sie mich ange-logen? Ich lief denselben Weg wieder durch den Wald zurück und stieß dabei auf Goll, den Holzfäller. Er wirkte verstört und meinte, ich sollte mich auf etwas gefaßt machen. Ich wußte sofort, was er meinte. Er wollte gerade seiner Arbeit nachgehen . Und nicht weit von dem Pfad, in der Nähe des Steinkreises ...«

»Den ihr Steinkreis der Wildschweine nennt?« wollte Eadulf wissen.

Diesmal überging der Müller seine Zwischenfrage. »Da hatte Goll den verstümmelten Leichnam unserer Tochter gefunden.« Seachlann rang nach Luft. »Entweder ein Verrückter oder ein wildes Tier hatte ihrem jungen Leben ein Ende gesetzt. Nachdem Liag sich die Tote genau angesehen hatte, haben wir sie zum Begräbnis nach Hause gebracht. Seit diesem Zeitpunkt sitzt ihre Mutter am Feuer und spricht nicht mehr.«

Nun schwiegen alle.

»Warum glaubst du, daß dafür die fremden Mönche im Kloster verantwortlich sind?« erkundigte sich Eadulf.

Seachlann hob den Kopf und starrte ihn voller Feindseligkeit an. »Willst du sie etwa beschützen? Du bist selbst einer. Du sprichst zwar unsere Sprache, hast aber einen fremdländischen Akzent.«

»Bruder Eadulf ist mein Gefährte, ein Abgesandter des Hofes von Cashel. Er hilft mir bei der Wahrheitsfindung«, unterbrach ihn Fidelma streng. »Seine Fragen sind sehr wichtig. Er stellt sie in meinem Auftrag.«

Seachlann erhob sich und ging zur Tür der Mühle.

»Brocc! Komm her und steh der dalaigh Rede und Antwort.«

Kurz darauf trat Brocc ein und sah sich um.

»Welche Frage muß ich beantworten?« erkundigte er sich mit resoluter Stimme.

»Dein Bruder hat uns von den Todesumständen seine Tochter berichtet«, sagte Eadulf. »Wir haben allerdings nicht erfahren, warum du so überzeugt bist und auch ihn überzeugt hast, daß der Mord von einem der Brüder verübt wurde, die zu Gast in der Abtei weilen.«

Brocc wandte sich zornig an seinen Bruder. »Ich wußte es doch. Sie sind hier, um sie in Schutz zu nehmen.«

Fidelma wollte ihm schon etwas entgegnen, da hob der Müller die Hand.

»Ich gehe davon aus, daß die Schwester unseres Königs hier ist, um Gerechtigkeit walten zu lassen, Brocc. Sie hat mir ihr Wort als dalaigh gegeben. Sie verbürgt sich auch für den sächsischen Fremden.«

»Und der Abt verbürgt sich für die Fremden in seiner Abtei!« erwiderte Brocc schroff. »Warum sollten wir ihr mehr Glauben schenken als dem Abt, dem wir auch nicht vertrauen? Diese Mönche dienen alle einer Sache, sie sind nur sich selbst gegenüber verpflichtet.«

»Das ist nicht wahr, Brocc«, tadelte ihn Fidelma. »Wenn du mein Wort nicht akzeptierst, so akzeptiere das deines Bruders.«

Brocc lachte zynisch auf. »Mein Bruder ist ein guter Mensch. Er hält immer das Beste von den Leuten und kann leicht hinters Licht geführt werden.«

Traurig schüttelte Seachlann den Kopf. Er war nicht wütend über seinen Bruder. »Ob man mich mit Worten hinters Licht führt oder nicht, Brocc, was schadet es, ihnen die Wahrheit zu sagen? Warum sollte man ihnen etwas vorenthalten, was man mit eigenen Augen gesehen hat?«

Brocc rümpfte gereizt die Nase. »Man hat mir vorher auch nicht geglaubt, warum sollte es jetzt anders sein?«

Fidelma lehnte sich zurück, so konnte sie Brocc genau beobachten, denn die Sonne schien durch die Öffnungen in der hölzernen Mühlenwand auf ihn.

»In derart ernsten Fällen gehen wir nicht nur einer Zeugenaussage nach, Brocc. Sonst könnten wir ja all jenen Leuten, die wir nicht mögen, irgendwelche Verbrechen vorwerfen und sie einer Bestrafung zuführen, nur weil wir es behaupten. Wir brauchen mehr als nur Behauptungen, Brocc.«

Der stämmige Mann drehte sich mit triumphierendem Schnauben zu seinem Bruder um. »Siehst du, Seachlann? Schon gelten meine Worte nichts mehr.«

Fidelma stieß wütend die Luft aus. »Worte sind Schall und Rauch, Brocc. Wir suchen die Wahrheit. Wie können wir feststellen, ob du die Wahrheit sagst, wenn du uns gegenüber schweigst?«

»Mein eigener Fürst hat auf mich gezielt und mich verstümmelt. Lag ihm die Wahrheit am Herzen?« schrie Brocc.

»Ja. Ihm lag das Gesetz und seine Einhaltung am Herzen. Du hast das Gesetz in die eigene Hand genommen. Du wurdest Richter und Vollstrecker des Gesetzes; das entsprach deiner Vorstellung vom Gesetz. Doch nun genug davon. Ich werde mich nicht länger streiten. Entweder sagst du mir, warum du die Fremden in der Abtei anklagst, oder ich werde dich vor einen Brehon bringen, der dich dafür bestraft, daß du Verleumdungen verbreitest und zu Aufruhr anstiftest.«

Brocc kniff mehrmals die Augen zusammen.

»Das Morden setzte mit der Ankunft der drei Fremden im Kloster ein.«

Fidelma wartete ungeduldig.

»Diese drei Fremden sind nicht wie wir. Das sind keine Menschen.«

»Was soll das heißen?« entgegnete Eadulf. »Wenn es keine Menschen sind, was sind sie dann? Tiere, Geister oder was?«

»Geht zur Abtei und seht sie euch an. Mehr kann ich nicht sagen. Kommt wieder und sagt mir, ob es Menschen sind, wie wir sie kennen.«

»Jetzt sprichst du in Rätseln. Was immer du auch von diesen Mönchen halten magst, so tut das hier nichts zur Sache«, erklärte Fidelma. »Verrate mir, wieso du weißt, daß diese Fremden die Mörder der Mädchen sind, insbesondere von Escrach. Keine Nebensächlichkeiten mehr, Brocc. Ich möchte nichts über irgendwelche Zufälle hören, sondern brauche Fakten, nicht weniger und nicht mehr.«

Accobran, den die ganze Sache offensichtlich langweilte, stand auf und streckte sich. »Sag nur der dalaigh, warum du glaubst, daß die Fremdem an Es-crachs Tod beteiligt sind, dann können wir das hier beenden.«

»Warum?« Ein verzerrtes Lächeln huschte über Broccs Gesicht. »Warum? Weil ich den Mörder gesehen habe!«

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