Kapitel 1

Es schien, als würde die große weiße Scheibe des Mondes den Himmel beherrschen. Sie hing tief, war unbarmherzig weiß und kalt und erfüllte den Himmel mit einem solchen Leuchten, daß alles Dunkel sich aufzulösen schien. In dem gnadenlos eisigen Mondlicht zitterte er und kam sich für jedermann sichtbar und nackt vor. Kurz schoß ihm der Gedanke durch den Kopf, daß es seltsam sei, am ganzen Körper zu frieren, dennoch einen scheinbar glühenden Kopf und schweißige Hände zu haben und dabei rasch und flach zu atmen. Es grenzte fast an eine sexuelle Erregung. Sein Herz pochte laut. Die verschiedenen Düfte der Nacht stiegen ihm in die Nase. Er streckte seine Arme zu der riesigen, fleckigen weißen Scheibe empor und reckte sich dabei ein wenig nach vorn, wobei sich seine Rücken- und Schultermuskeln anspannten.

Zwischen den Lippen wurden jetzt seine Zähne sichtbar, ein Laut drang hervor, als er siegesgewiß grinste. Ihn durchlief ein Schauer, denn er war im Besitz des Wissens, ein Rausch der Überlegenheit über seine Mitmenschen ergriff ihn. Er, nur er allein, wagte es, den verbotenen heiligen Namen der Mondgöttin auszusprechen, da er sich von ihr erleuchtet wußte, über ihre Weisheit verfügte. Nur er traute sich, ihren Namen zu nennen; seine Mitmenschen hatten unzählige Umschreibungen und Beinamen für sie erfunden, da sie sich vor der unversöhnlichen Göttin der Nacht fürchteten und ihren wahren heiligen Namen nicht auszusprechen wagten. Sie redeten immer nur ängstlich von ihr als der »Strahlenden«, der »Leuchtenden« oder »dem Ort, wo das Wissen vereint ist«. Gingen Seeleute an Bord eines Schiffes, meinten sie, sie zögen Unglück auf sich, wenn sie Frau Luna nicht »Königin der Nacht« nannten. Doch er kannte ihren wahren Namen, und nur er war so mutig, ihn auszusprechen.

Nur er besaß dieses Vorrecht, und das war auch das Zeichen seiner Macht, der Beweis seiner Autorität und seiner Erfahrenheit. Selbst der Gott des neuen Glaubens wollte nicht einmal seinem geliebten Moses gegenüber seinen Namen preisgeben. Sagen nicht die Priester des neuen Glaubens, daß Moses auf diese Frage lediglich als Antwort von Gott erhielt: »Ich werde sein, der ich sein werde.« Stimmte es denn nicht, daß all die Götter ihre göttliche Freiheit aus geschickter Beeinflussung und Kontrolle errangen, indem sie Kenntnis und Gebrauch ihrer Namen verhinderten? Namen und das Benennen der Dinge verliehen Macht. Er besaß diese Macht. Und er spürte sie in diesem Augenblick.

Er streckte seine Hände wieder nach vorn, spreizte seine Fingerspitzen, als wollte er das strenge, zerklüftete Gesicht der erhabenen Göttin liebkosen. Er empfand die Erregung, das eigenartige Pulsieren der sreang na imleacain, der Nabelschnur, die ihn mit der weißen Scheibe verband und bedingungslose Ergebenheit und Gehorsam forderte.

Er wußte, daß die Zeit herangerückt war, in der er ihrem zwanghaften Einfluß nicht länger widerstehen konnte.

Er verließ die Lichtung und lief merkwürdig hüpfend in den Wald. Ihm war klar, wo er sich befand. Mit der Leichtigkeit eines Tieres bewegte er sich vorwärts und eilte über den dunklen Waldpfad. Hindernissen ging er geschickt aus dem Weg, sein Atem war ruhig und ohne jede Spur von Anstrengung. Der Hauptweg war nicht mehr weit, denn die Bäume standen nicht mehr so dicht. Er sah schon die dunklen Umrisse der alten Festung des Fürsten auf dem Hügel zu seiner Rechten. Bei diesem Anblick hielt er inne. Ihm fiel das Flackern der Laternen auf, die an den Toren der Festung angebracht waren. Er wußte, daß in deren Schatten mindestens zwei Krieger Wache hielten. Das störte ihn weiter nicht. Er würde sich nicht noch näher an die Festung heranwagen. Das war nicht seine Absicht.

Im Mondschein konnte man sehen, daß der Weg, der am Wald entlang- und zur Festung hinaufführte, völlig menschenleer war. Er blickte hinauf zu der Mondscheibe über sich; da formten sich seine Lippen kurz zu einer schmalen, entschlossenen Linie.

Ob es schon zu spät war? Hatte er etwa den richtigen Augenblick verpaßt? Gewiß nicht. Die Eingebung, die ihn vorantrieb, sagte ihm, daß alles gutgehen würde.

Jetzt regte sich etwas an den Toren der Hügelfestung. Das Quietschen von Metallscharnieren unterbrach die nächtliche Stille. Er vernahm Stimmen. Ein Mann rief in gedehntem Ton: »Komm gut heim, Ballgel!« Woraufhin eine leise weibliche Stimme vergnügt antwortete. Dann hörte er, wie die Tore wieder zugingen.

Etwas Dunkles schwebte langsam den Hügel hinunter.

Dankbar stieß er einen Seufzer aus. Er war rechtzeitig gekommen. Die schmale Gestalt, die offenbar einen Korb unter dem Arm trug, war im Mondlicht vor den dunklen Festungswehren besser zu erkennen. Sie lief mit jugendlich beschwingten Schritten.

Er lächelte in sich hinein und zog sich ein wenig in den Schutz der Bäume zurück. Er spürte, wie sein Puls langsam schneller wurde; seine schweißnassen Handflächen begannen zu jucken. Unbewußt rieb er sich die Hände an seinen Oberschenkeln ab.

Die Gestalt näherte sich rasch und kam auf seine Höhe. Da bewegte er sich leicht, wobei es im Unterholz raschelte. Sofort blieb sie stehen und drehte sich in seine Richtung.

»Wer da?« fragte sie und starrte in die Finsternis hinein, ihre Stimme verriet keine Angst.

Er zögerte nur einen Moment, blickte rasch nach hinten, um sicher zu sein, daß sie wirklich allein waren, dann trat er in das Mondlicht hinaus. Sie erkannte ihn und war sichtlich erleichtert.

»Ach du bist es! Was tust du hier?«

Er räusperte sich und versuchte zu lächeln. Seine Stimme klang herzlich und freundlich. »Ich bin auf dem Heimweg, Ballgel. Ich meinte dich auf dem Weg von der Festung hinunter gesehen zu haben. Ist es nicht zu spät für dich draußen?«

Das Mädchen tat die späte Stunde mit einem Lachen ab. »Fürst Becc hatte heute abend viele Gäste. Ich mußte meinem Onkel in der Küche zur Hand gehen. Es gab allerlei zu tun. Ist es nicht immer das gleiche, wenn unser Herr Gäste hat? Ich muß häufig bis spät in die Nacht dableiben. Ich dachte, du wüßtest das.«

Geistesabwesend nickte er. Das wußte er natürlich. Damit hatte er gerechnet. »Ich werde dich begleiten.«

»Wie du willst«, erwiderte sie. »Ich gehe direkt nach Hause. Es war ein anstrengender Tag.«

Sie drehte sich um und lief weiter. Seine Hütte befand sich ja ungefähr in der gleichen Richtung wie die ihre. Daher war sie nicht weiter von seinem Angebot überrascht. Er stapfte neben ihr her.

Jetzt lächelte er. Es war ein verschlagenes Lächeln, doch in dem trüben Licht nahm sie es nicht wahr.

»Wenn du schnell nach Hause willst, solltest du die Abkürzung direkt durch den Wald über die Kuppe des Hügels nehmen. Damit sparst du fünfzehn Minuten ein.«

»Durch das Eberdickicht zu so später Stunde?« Sie lachte wieder. »Mit Wölfen und wer weiß was für wilden Tieren? Hast du vergessen, was dort im Wald passiert ist?«

Er blieb stehen und breitete seine Arme aus, als wollte er damit alle Gefahr beiseite schieben.

»Ich bin doch hier, um dich zu beschützen, oder?« fragte er. »Weder Tier noch Mensch würde zwei erwachsene Leute angreifen. Ich möchte auch so schnell wie möglich heim, und ich muß noch ein Stückchen weiter als du. Wie gesagt, wir gewinnen so ganze fünfzehn Minuten.«

Das Mädchen zögerte, begriff dann aber, daß er recht hatte.

»Im Wald ist es so dunkel«, warf sie ein, allerdings etwas halbherzig.

»Was? Dunkel? Wo doch Vollmond ist? Es ist so hell, daß man sogar einen Dachs zwanzig Schritt entfernt unter den Büschen entlanglaufen sieht. Komm! Du brauchst dich vor nichts zu fürchten, ich bin bei dir.«

Nur für den Bruchteil einer Sekunde zögerte sie, dann nickte sie. »Nun gut, ich werde aber so schnell wie möglich laufen.«

Sie rannte vor ihm her, und einen Augenblick lang hob er sein Gesicht zu der riesigen Scheibe des Mondes empor, schloß frohlockend die Augen und tauchte sein totenbleiches Antlitz in das eisige weiße Licht.

»So komm schon«, rief sie ihm ungeduldig zu. »Worauf wartest du?«

»Ich komme«, erwiderte er schnell. Sein Herz klopfte so laut, daß es alle anderen Geräusche zu übertönen schien. Er spürte, wie ihm der Schweiß von der Stirn tropfte und um die Augenhöhlen floß. Er wischte sich das Gesicht mit der Hand ab. Dann folgte er mit sicheren Schritten der dunklen Gestalt, die auf dem Pfad in den mondbeschienenen Wald hinein zu verschwinden schien.

»Mein Lord, komm schnell!«

Becc, der Stammesfürst der Cinel na Äeda, blickte verärgert auf, als Adag, sein Verwalter und Haushofmeister, ohne vorheriges Anklopfen in seinen Schlafraum stürzte. Das war ein unverzeihlicher Verstoß gegen die Regeln. Er öffnete den Mund, um seinen Untergebenen zurechtzuweisen, doch dieser redete weiter.

»Bruder Solam von der Abtei ist hier. Man will die Mönche angreifen«, stieß der rundliche, kahl werdende Mann hervor. »Abt Brogan bittet dich um Hilfe. Sofort.«

Becc war bis tief in die Nacht auf gewesen, hatte mit seinen Gästen gezecht. Ihm schmerzte der Kopf, sein Mund war ganz trocken. Er stöhnte ein wenig und griff nach einer Karaffe, die auf dem Tisch neben seinem Lager stand. Er hob sie an und nahm ein paar Schlucke. Angewidert verzog er das Gesicht. Der Verwalter sah ihm abschätzig zu.

»Der Wein wird süß getrunken, doch bitter bezahlt«, bemerkte Becc zu seiner Verteidigung und wischte sich den Mund mit dem Handrücken ab.

Adag blickte über die Schulter seines Fürsten hinweg und schlug einen frommen Ton an: »Wer Wasser trinkt, braucht keinen Wein zu bezahlen.«

Becc schaute ihn mürrisch an, öffnete den Mund und schloß ihn wieder. Noch eine Redensart schoß ihm ungewollt durch den Kopf. Ob du nun betrunken oder nüchtern bist, behalte deine Gedanken für dich.

Er stand auf und legte rasch seine Kleider an, wobei er seinen Verwalter nicht weiter beachtete, bis er schließlich sein Schwert aufgenommen hatte.

Im Vorraum wartete ein völlig aufgelöster Mönch des neuen Glaubens. Er war jung und hatte blondes Haar.

»Bruder Solam«, begrüßte ihn Becc. »Was bringst du für Nachrichten?«

»Die Abtei wird angegriffen, mein Lord. Mein Abt bittet dich ...«

Becc schnitt ihm mit einer Geste das Wort ab.

»Die Abtei wird angegriffen? Wer wagt das?« fragte er barsch.

»Die Dorfbewohner, mein Lord. Wieder ist eine Leiche, die Leiche eines jungen Mädchens, heute früh im Wald gefunden worden. Sie heißt Ballgel ...«

Entsetzt weiteten sich die Augen des Fürsten. »Ballgel? Die arbeitet doch in meiner Küche. Gestern war sie noch recht spät hier. Wir hatten Gäste . « Rasch drehte er sich zum Verwalter um, der ihm gefolgt war. »Adag, wann hat Ballgel die Festung verlassen?«

»Kurz nach Mitternacht, Lord. Ich war am Tor, als sie losging. Sie war allein.«

Becc wandte sich wieder Bruder Solam zu. »Steht es fest, daß es sich um Ballgel handelt?«

»Ja. Die Leute sind ganz aufgebracht. Das ist innerhalb der letzten drei Monate das dritte Mädchen, das hier ermordet wurde. Eine Meute aus dem Dorf ist auf die Abtei losmarschiert und hat den Abt aufgefordert, ihnen die drei geistlichen Besucher auszuhändigen. Das lehnt der Abt ab, und deshalb toben sie jetzt. Sie sagen, sie werden die Mönche angreifen und alles in Brand stecken, wenn sie die Fremden nicht herausgeben.«

»Warum die Fremden? Haben die Leute aus dem Dorf Beweise dafür, daß sie etwas mit dem Tod von Ballgel zu tun haben?«

Bruder Solam schüttelte den Kopf. »Die Dorfbewohner sind eigentlich ängstlich und abergläubisch, mein Lord. Doch weniger gefährlich sind sie deshalb nicht.«

»Ich habe schon die Wache verständigt, Lord«, warf Adag ein. »Die Pferde sind gewiß schon gesattelt.«

»So laßt uns zum Kloster aufbrechen«, befahl Becc entschieden, wandte sich um und lief zum Hof voran. »Bruder Solam kann hinter einem unserer Krieger aufsitzen.«

Die Abtei des heiligen Finnbarr lag nur einen kurzen Ritt entfernt und bestand aus einer Ansammlung von Holzgebäuden am Ufer des Flusses Tuath. Die Häuser waren von einem Palisadenzaun umgeben, um Wölfe und andere nächtliche Räuber fernzuhalten. Vor dem Holztor, das kaum stark genug war, einen entschlossenen Mann fernzuhalten, befand sich eine Gruppe von vierzig oder fünfzig Männern und Frauen. Vor ihnen stand ein schmächtiger, älterer Mönch mit silberweißem Haar. Seinem Aussehen nach handelte es sich um einen ranghohen Geistlichen. Er war von vier jungen, recht furchtsam blickenden Mönchen umringt.

Der alte Mann hielt beschwichtigend die Hände hoch, als wolle er um Ruhe bitten. Doch seine Worte gingen im Lärm der aufgebrachten Menge unter.

»Liefert uns die Fremdlinge aus! Wir werden schon mit ihnen abrechnen!«

In der vordersten Reihe hatte sich ein stämmiger Mann mit schwarzem Bart und zornigem Gesichtsausdruck aufgebaut. In einer Hand hielt er eine schwere Keule. Die Leute um ihn herum jubelten ihrem kampfeslustigen Anführer zu.

»Das ist ein Haus Gottes!« Als die wütenden Schreie kurz abebbten, konnte man die dünne Stimme des Alten hören. »Niemand wird das Haus Gottes mit gewalttätigen Absichten betreten. Kehrt in eure Hütten zurück.«

Daraufhin erhob sich lauter Protest. Jemand aus den hinteren Reihen warf einen kleinen Stein. Er flog über die Köpfe der anderen hinweg und schlug nur gegen die Wand. Doch die Botschaft war gefährlich.

»Im Namen Gottes, Brocc, schaff die Leute von hier fort, ehe noch ein Unheil geschieht.« Der alte Mann wandte sich nun direkt an den kräftigen Anführer.

»Es ist bereits Unheil geschehen, Abt Brogan«, entgegnete der, so laut er konnte, damit die Menge ihn verstand. »Und es wird noch mehr Unheil geben, wenn du die Fremdlinge nicht der gerechten Strafe zuführst.«

»Eurer Rache, meinst du wohl eher. Unsere Gäste werden nicht nur durch die Gesetze der Gastlichkeit geschützt, sondern auch durch das unverbrüchliche Recht auf Zuflucht.«

»Du beschützt also die Mörder unserer Kinder?«

»Hast du Beweise dafür?«

»Der Beweis sind die verstümmelten Leichen unserer Töchter!« schrie Brocc mit erhobener Stimme, so daß alle ihn hören konnten.

Seine Worte stießen auf allgemeine Zustimmung.

»Du hast keinen Beweis dafür«, entgegnete einer der Mönche an der Seite des Abts. Seine Stimme war kräftig und übertönte den Lärm. »Ihr seid nur gekommen, weil diese Geistlichen aus der Ferne hier zu Gast sind, aus keinem anderen Grund. Ihr habt vor ihnen Angst, weil sie euch fremd sind.«

Wieder flog ein Stein aus den hinteren Reihen nach vorn. Doch diesmal traf er den jungen Bruder mitten auf die Stirn. Sofort schoß ein roter Strahl aus der Wunde, und der Mönch taumelte ein, zwei Schritte zurück. Die Menge grölte wild und bejubelte die Tat.

»Abt Brogan, wenn du nicht das gleiche Schicksal wie die Fremdlinge erleiden willst, gib sie uns lieber heraus«, drohte Brocc.

»Du wagst es, dem Abt zu drohen?« rief jetzt ein anderer Mönch entsetzt. »Du hast schon deine Hände gegen die Brüder dieses Klosters erhoben, die Strafe Gottes ist dir gewiß. Doch nun wagst du ...«

»Genug der Worte!« schrie Brocc und riß bedrohlich seine Keule hoch.

Da preschten der Stammesfürst, Adag und vier berittene Krieger heran. Als die Leute ihren Herrn und seine bewaffneten Reiter erblickten, gaben sie mürrisch den Weg frei.

Bruder Solam, der hinter einem der Krieger gesessen hatte, rutschte vom Pferd, eilte zum Abt hinüber und stellte sich schützend vor ihn. Die Menge war verstummt. Doch Brocc wollte sich nicht den Wind aus den Segeln nehmen lassen.

»Nun, Fürst Becc«, rief er wutschnaubend, »bist du gekommen, um der Bestrafung der Mörder deine Zustimmung zu geben, oder unterstützt du jene, die sie beschützen?« Dabei streckte er einen Arm aus und zeigte anklagend auf den Abt. »Der Abt weigert sich, die Fremdlinge unter Recht und Gesetz zu stellen.«

»Ich bin hier, um euch zu sagen, daß ihr gegen das Gesetz verstoßt«, rief Becc befehlsgewohnt. »Kehrt in eure Häuser zurück.«

Brocc spreizte großtuerisch die Beine, eine Hand stemmte er in die Hüfte, die andere hielt locker die Keule. Er mußte seinen Ruf als starker Mann verteidigen.

»Also wirst du auch die Mörder beschützen, Fürst Becc?« Seine Stimme klang beinah triumphierend.

»Ich bin dein Herr, du hast mir zu gehorchen«, fuhr ihn Becc gereizt an. »Ich sagte, kehrt in eure Häuser zurück, sonst bekommt ihr es mit mir zu tun.«

Besorgtes Murmeln drang aus der Menge, einige machten sich mit blassen, düsteren Gesichtern auf den Weg.

»Bleibt hier!« schrie Brocc. Er verharrte in seiner herausfordernden Haltung. Sein scharfer Ton band auch jene an ihn, die bereits halbherzig losgegangen waren. Dann wandte er sich dreist an den Fürsten. »Versuch nicht, uns einzuschüchtern, Becc. Wir verlangen Gerechtigkeit.«

Beccs Gesicht war vor Zorn rot angelaufen.

»Dir geht es doch nicht um Gerechtigkeit«, hielt er Brocc entgegen. »Du willst nur Blutvergießen, und das ohne einen rechten Grund außer deinem Vorurteil gegenüber Fremden.« Den Versammelten rief er zu: »Ich fordere euch noch einmal auf, in eure Häuser zurückzukehren. Ihr verstoßt gegen das Gesetz des Aufruhrs - das Cdin Chireib! Macht ihr so weiter, wird das schreckliche Folgen für euch haben! Verstanden?«

Die Halbherzigen wären gern davongezogen, wenn nicht Brocc seine Hand erhoben und sie zum Bleiben gezwungen hätte.

»Ich bin ein ceile, eine freier Stammesangehöriger. Ich bewirtschafte mein eigenes Land, zahle Steuern an die Gemeinde, und ich bin der erste, der die Truppen des Fürsten bei Krieg und Gefahr unterstützt. Ich besitze eine Stimme in der Stammesversammlung, und auch wenn ich nicht zu den derbfhine deiner Familie gehöre, dem Netz von Verwandten, das dich zum Fürsten wählte, so soll und wird meine Stimme gehört werden.«

Becc saß immer noch ruhig auf seinem Pferd und wirkte entspannt, nur seine Augen wurden ein wenig schmaler.

»Deine Stimme wird gehört, Brocc«, erklärte der Fürst ruhig. Nur jene, die ihn gut kannten, bemerkten den gefährlichen Unterton in seinen Worten.

Doch Brocc kannte ihn nicht so genau. Er wandte sich wieder an die Menge.

»Unter uns hat es Tote gegeben. Junge Mädchen sind gewaltsam zu Tode gekommen. In der letzten Nacht wurde Ballgel, meine Cousine, die in der Küche unseres Stammesfürsten aushalf, auf dem Heimweg umgebracht. Sie ist das dritte Mädchen, das bei Vollmond brutal ermordet wurde. Hat nicht erst im letzen Monat Escrach, das einzige Kind meines Bruders, das gleiche Schicksal erleiden müssen? Wann hat das Abschlachten begonnen? Genau als Abt Brogan die drei dunklen Fremden bei sich aufgenommen hat. Schwarz ist ihre äußere Erscheinung, und schwarz sind ihre Taten. Ich fordere Gerechtigkeit. Bring sie heraus, damit sie bestraft werden können.«

Die Leute murmelten zustimmend, doch etwas verhaltener, seit die bewaffneten Krieger aufgetaucht waren. Deutlich war jedoch, daß Brocc bei den Dorfbewohnern große Unterstützung fand.

Becc lehnte sich in seinem Sattel vor. »Wo sind deine Beweise, Brocc?« fragte er ziemlich gleichmütig, als handelte es sich um eine normale Unterhaltung.

»Die Beweise wurden deinem Brehon Aolü vorgelegt«, erwiderte Brocc.

»Sie waren für ihn gegenstandslos.«

»Und nun ist der alte Narr tot. Schaff einen neuen Brehon herbei, und ich werde ihm alles noch einmal vortragen.«

»Aolü hat dir doch erklärt, daß deine Beweise nicht ausreichten. Mit welchen Beschuldigungen willst du die Fremden vor einem neuen Brehon anklagen? Nach dem Gesetz dieses Landes geht das nicht ohne schlüssige Beweise.«

Brocc lachte auf. »Schon ihre Anwesenheit hier ist Beweis genug!«

Trotz immer lauter werdender Beifallsbekundungen lehnte sich der Fürst in aller Ruhe zurück. Er lächelte bitter.

»So verfügst du über keinen anderen Grund als dein Vorurteil?« spottete er. »Dir geht es nicht um Gerechtigkeit, sondern du verlangst ein Opfer auf dem Altar deiner Vorurteile. Ich sage dir noch einmal, Brocc, und jedem, der noch immer vor diesem Tor hier steht, sage ich es ebenso: Ihr verstoßt gegen das Gesetz des Cdin Chireib. Das ist meine zweite Verwarnung. Eine dritte möchte ich mir sparen.«

Brocc ließ sich nicht entmutigen. Unbeeindruckt stand er da und schüttelte den Kopf.

»Wir lassen uns nicht von unserem Vorhaben abbringen. Wir werden die Abtei stürmen und die Fremdlinge gefangennehmen. Niemand wird uns aufhalten, weder die Mönche noch du, Becc, und deine Krieger, wenn ihr euch uns in den Weg stellt.«

Er hob seine mächtige Keule drohend vor die Brust. Gleichzeitig drehte er sich zu den Leuten um und forderte sie auf: »Folgt mir, und ich werde für Gerechtigkeit sorgen!«

Niemand rührte sich. Alle blickten an Brocc vorbei auf den Fürsten. Als sich Brocc umdrehte, hatte der gerade einen Pfeil an seinen Bogen gelegt. Nun zielte er in seine Richtung. Brocc war kein Feigling. Überrascht blinzelte er, doch dann lächelte er trotzig.

»Du kannst mich nicht niederschießen, Becc. Ich bin ein ceile, ein freier Stammesangehöriger.«

Becc hatte den Bogen leicht angehoben und brachte den Pfeil in Augenhöhe. Jetzt war der Bogen ganz gespannt.

»Zum drittenmal, Brocc, warne ich dich. Du verstößt gegen das alte Gesetz des Aufruhrs. Ich befehle dir ein drittes und letztes Mal, in dein Haus zurückzukehren. Weigerst du dich, so trägst du allein die Folgen.«

»Verfaule doch in deinem Grab! Willst du etwa deine eigenen Leute umbringen, Becc?« spöttelte Brocc. »Das wirst du nicht tun, nur um Fremde zu beschützen.« Er hob seine Keule und rief in die Menge: »Folgt mir! Wir werden .«

Seine Worte endeten in einem Schmerzensschrei.

Becc hatte den Pfeil abgeschossen, der sich in Broccs Oberschenkel gebohrt hatte. Einen Moment stand er mit weit aufgerissenen Augen da, dann fiel er zu Boden, krümmte sich und stöhnte vor Schmerzen. Niemand rührte sich. Niemand sagte ein Wort.

Mit zornigem Blick rief der Fürst: »Ich habe euch dreimal gewarnt. Jetzt kehrt in eure Häuser zurück!« Seine Stimme klang streng.

Bereitwillig, wenn auch leise murmelnd, zerstreute sich die Menge. Nach kurzer Zeit waren alle verschwunden außer dem sich am Boden windenden Brocc.

Als Abt Brogan auf den Fürsten zueilte, schwang der sich vom Pferd.

»Gott sei gedankt! Du hast dich beeilt, Fürst. Ich hatte schon befürchtet, daß sie über die Abtei herfallen.«

Becc drehte sich zu seinem Verwalter Adag um, der auch gerade absaß. »Schaff Brocc zum forus tuaithe, dort soll man sich um seine Verletzung kümmern. Es ist nur eine Fleischwunde, sie schmerzt zwar, wird ihn aber nicht gleich umbringen.«

Der forus tuaithe war - wörtlich - das »Haus des Gebietes«, das Hospital. Jedes Gebiet verfügte über eine solche Einrichtung, ob sie nun weltlich verwaltet war und unter die Zuständigkeit der Brehons fiel oder vom ansässigen Abt geleitet wurde.

Adag half Brocc auf die Beine, vielleicht ein wenig zu grob. Der stämmige Mann stöhnte und klammerte sich an ihn. Seine Wunde blutete stark.

»Ersticken sollst du!« stieß er keuchend hervor und blickte Becc mit haßerfüllten Augen an. »Vor Schmerzen brüllen und verrecken!«

Becc lächelte. »Deine Flüche können mir nichts anhaben, Brocc. Und denk dran, wenn du deine Verwünschungen ausstößt, du schaufelst dir dein eigenes Grab.«

Er sah zu Adag hinüber und nickte leicht. Der Verwalter zog den verletzten Brocc auf nicht eben sanfte Weise fort.

»Falls du die Redewendung nicht kennst, Brocc«, flüsterte Adag ihm erheitert zu, »sie bedeutet, daß der Fluch auf dich zurückfallen wird, wenn er die Person, auf die er abzielte, nicht trifft. Ich würde dem Fürsten gegenüber Reue zeigen, um den Folgen deines Fluchs zu entgehen.«

Becc sprach inzwischen mit dem Abt.

»Das ist eine schlimme Angelegenheit, Abt Bro-gan«, sagte er, wobei er den Bogen an seinen Sattel hängte.

Der alte Mönch nickte. »Ich fürchte, daß die Leute Angst haben. Wenn es nicht Brocc wäre, dann würde ein anderer diese Angst ausnutzen. Drei junge Mädchen sind umgebracht worden und alle bei Vollmond.« Er zitterte, bekreuzigte sich und murmelte: »Absit omen!«

»Wo haben sich die Fremden gestern nacht aufgehalten?«

»Sie schworen, sich nicht aus der Abtei entfernt zu haben. In dieser Sache weiß ich mir keinen Rat. Soll ich ihnen sagen, daß ihnen die Abtei kein Obdach mehr bieten wird? Daß ich ihnen nicht weiter Schutz und Gastfreundschaft gewähren kann?«

Becc schüttelte rasch den Kopf. »Wenn sie nicht schuldig sind, wäre das ungerecht und ein Verstoß gegen das Gesetz der Gastfreundschaft. Sollten sie schuldig sein, so wäre es ebenso falsch, sie weiterzuschicken und ohne Prozeß entkommen zu lassen, damit sie dann woanders ihre Verbrechen begehen.«

»Was können wir tun?« wollte der Abt wissen. »Ich habe keine Lösung.«

Becc rieb sich das Kinn. Tatsächlich hatte er sich die Angelegenheit bereits durch den Kopf gehen lassen, nachdem ihm Bruder Solam die Nachricht überbracht hatte, und einen Plan erwogen. Doch man sollte ihm keine unvernünftigen Entscheidungen vorwerfen. Aolü war vierzig Jahre lang Brehon der Cinel na Äeda gewesen. Vor drei Wochen war der alte Mann plötzlich erkrankt und verstorben. Becc hatte schon überlegt, wie er den alten Richter ersetzen konnte. Innerhalb der Cinel na Äeda gab es eine Reihe von untergeordneten Richtern, doch niemand besaß derartige Fähigkeiten und eine solche Autorität wie Aolü.

»Ich glaube, wir sollten einen Brehon von außerhalb bitten. Die hiesigen Brehons, so aufrecht und ehrbar sie auch sein mögen, sind wahrscheinlich nicht einflußreich und durchsetzungsfähig genug, um die aufgeschreckten Dorfbewohner zur Ruhe zu bringen.«

Der Abt nickte bedächtig. »Da stimme ich dir zu, Becc. Zuerst müssen wir die Ängste der Leute ausräumen und dann herausfinden, wer hinter diesen sinnlosen Morden steckt.«

Becc verzog das Gesicht.

»Kein Mord wird begangen, ohne daß der Mörder einen gewissen Sinn darin sieht«, erwiderte er. »Wir brauchen einen Brehon mit entsprechender Autorität.«

»Wo sollen wir den hernehmen, Becc?« fragte der Abt zweifelnd.

»Ich werde mit einem meiner Männer zum Hof des Königs nach Cashel reiten. König Colgü wird uns mit Rat und Tat beistehen, ist er doch die höchste Instanz des Landes.«

»Cashel?« Abt Brogan zog die Augenbrauen hoch. »Das heißt doch aber, daß du einige Tage unterwegs sein wirst. Von hier nach Cashel ist es ein weiter Weg.«

»Keine Angst. Ich werde dir Tanist Accobran, meinen Nachfolger, hierlassen. Er hat die strenge Order, dich und die Fremden zu beschützen.«

Accobran war noch nicht einmal ein Jahr lang der Tanist oder gesetzliche Nachfolger des Stammesfürsten der Cinel na Äeda. Als noch junger Krieger hatte er in den letzten Auseinandersetzungen mit den aufrührerischen Ui Fidgente große Tapferkeit bewiesen. Becc lächelte nachdenklich. »So wie ich Brocc in seine Schranken gewiesen habe, bezweifle ich, daß noch jemand versuchen wird, die Abtei anzugreifen. Nachdem die Leute die Folgen des Ungehorsams miterlebt haben, werden sie sich das zweimal überlegen.«

»Das mag sein, gewiß«, stimmte ihm der Abt zu, »doch ich dachte eher an einen weiteren Mord.«

Einen Moment lang fuhr sich Becc nachdenklich durch seinen Bart. »Ich habe angenommen, daß genaue Beobachtung eine solche Furcht zerstreut hätte, Abt.«

Der Alte runzelte die Stirn. »Ich verstehe nicht ganz.«

»Die drei Mädchen wurden alle bei Vollmond umgebracht. Offenbar handelt es sich um einen grausamen Ritualmord. Bis zum nächsten Vollmond muß erst wieder ein ganzer Monat vergehen. Unsere jungen Frauen sind erst einmal sicher.«

Das Gesicht des Abtes blieb ernst. Becc hatte jene Ängste ausgesprochen, die er seit der Nachricht vom zweiten Mord hatte verdrängen wollen und die nun der dritte bestätigt hatte.

»Der Vollmond«, seufzte er. »Also bist du auch der Meinung, Becc, daß wir es mit einem Wahnsinnigen zu tun haben ... Mit jemandem, der im Licht des Vollmondes einfach morden muß?«

»Das ist ganz klar, Abt Brogan. Ich werde heute nachmittag nach Cashel aufbrechen, um einen Brehon von Rang zu finden. Bis das Böse wieder zuschlägt, haben wir Zeit.«

Загрузка...