Kapitel 7

Als sich die Tür hinter Accobran und Brocc schloß, wandte sich Fidelma wieder den drei Aksumitern zu, die immer noch reglos dasaßen, als hätten sie das soeben Geschehene nicht mitbekommen.

»Habt ihr irgend etwas auf Broccs Vorwürfe zu erwidern?« fragte sie ruhig. Darauf herrschte Schweigen. Fidelma fügte nun hinzu: »Das Gesetz verpflichtet euch nicht zu einer Aussage, doch eure Aussage könnte der Lösung des Falls dienen. Je eher wir diese Angelegenheit aufklären, desto besser für alle.«

»Darauf gibt es nichts zu erwidern, Schwester«, sagte Bruder Dangila kurz und bündig. »Du hast bereits festgestellt, daß der Mann einem von uns etwas vorwirft, aber nicht sagen kann, wem genau. Selbst wenn es stimmen würde, was würde es schon beweisen? Es ist keineswegs schlüssig, daß einer von uns oder wir alle drei etwas mit den Morden zu tun haben.«

Fidelma mußte zugeben, daß Brocc als Augenzeuge unbrauchbar war, da er niemanden zu identifizieren vermochte.

»Ihr behauptet also, in der Vollmondnacht alle im Kloster gewesen zu sein?«

Bruder Dangila stieß einen leisen Seufzer aus.

»Wir schlafen hier und studieren hier«, erwiderte er leise, ohne genau auf ihre Frage einzugehen.

»Und in der Nacht des Vollmondes davor, als Beccnat ermordet wurde?« fragte Fidelma müde. »Kannst du dich an die Nacht erinnern? Wo warst du, wo waren die anderen, und was habt ihr getan?«

»Wir verlassen die Abtei höchst selten«, meinte Bruder Dangila in ruhigem, würdevollem Ton. »Wir widmen uns hier unseren Studien und versuchen, von den Mönchen eure Sprache zu erlernen. Und ganz sicher spazieren wir im Dunkeln nicht draußen herum, wo uns Angst und Voreingenommenheit begegnen könnten, wie sie etwa dieser Brocc verkörpert.«

»Was für Studien betreibt ihr?« erkundigte sich Fidelma und runzelte leicht die Stirn.

»Ist dein Land nicht ein Zentrum der Bildung?« fragte Bruder Gambela lächelnd. Er hatte inzwischen Vertrauen gefaßt und gemerkt, daß er sich gut auf griechisch verständigen konnte. »Die Kenntnisse, die wir hier erwerben, werden uns in unserem Land sehr zustatten kommen.«

»Seid ihr deshalb hier?« Fidelma hatte beschlossen, ein anderes Thema anzuschneiden.

Bruder Dangila schüttelte den Kopf. »Unsere Geschichte ist sehr lang, vielleicht langweilt sie euch nur.«

»Erzähle sie uns bitte«, bat ihn Fidelma.

»Nun gut. Wir drei sind Aksumiter, wie ich schon sagte. Wir stammen nicht aus Adulis, sondern aus dem Landesinneren. Doch wir wurden nach Adulis zu einer Versammlung der Vertreter der christlichen Gemeinden unserer Nachbarländer Malqurra und Alwa gerufen. Uns faszinierte die große Stadt Adulis, und wir gingen zum Hafen am Fluß, um die Schiffe zu betrachten, die dort aus allen Ecken der Welt eintreffen, um Handel zu treiben. Das war unser Verderb, denn wir wurden überfallen und bewußtlos geschlagen, und als wir aufwachten, befanden wir uns im Inneren eines Schiffsrumpfes weit auf See. Sklavenhandel ist ein sehr profitables Geschäft für jene, die in unserem Teil der Welt kein Gewissen haben. Unser Leid an Bord schien nicht enden zu wollen. Doch schließlich erreichten wir einen fremden Hafen und wurden an Land gebracht. Man behandelte uns zwar schlecht, doch der Herr hielt seine Hand über uns und ließ uns drei zusammen. Am Ende landeten wir in Rom. Rom, der Stadt, die von sich sagt, das Zentrum des Glaubens zu sein, den wir so schätzen. Und als man uns in Ketten durch die Stadt führte, riefen wir den Menschen zu, daß auch wir Christen seien. Als sie aber erfuhren, daß wir Aksumiter sind, grölten sie und prangerten uns als Ungläubige und Ketzer an.«

Fidelma zog erstaunt die Augenbrauen hoch. »Warum denn das?«

Nun antwortete Bruder Gambela in seinem etwas geschraubteren Griechisch. »Wir sind Anhänger des Monophysitismus, nach dem es in der Person Christi nur eine, die göttliche Natur gibt.«

Fidelmas Augen leuchteten auf, denn sie hatte verstanden. »Ach, ich habe von dem Konzil von Chalke-don gehört, wo man diese Ansicht als Irrlehre verurteilte. Rom schloß dann jene aus, die glaubten, daß Christus nur eine einzige Natur besitze.« An Eadulf gewandt, fügte sie hinzu: »Deshalb die griechischen Wörter mono und physis. Rom bekannte sich zu Christus sowohl als vollkommenem Gott als auch vollkommenem Menschen. Das Konzil von Chalkedon verkündete im Jahr 451, daß es ketzerisch sei zu behaupten, Christus hätte nur eine Natur.«

Bruder Dangila schüttelte den Kopf. »Wir sind nie Verfechter des monophysischen Gedankens gewesen, wie er in jenem Konzil dargestellt wurde. Wir Aksu-miter meinen, daß Christus in seiner Göttlichkeit und in seiner Menschlichkeit vollkommen war, beides aber in einer Natur miteinander vereinte - das ist die Natur des fleischgewordenen Geistes. Hat nicht der heilige Cyril von Alexandria gesagt, daß die menschliche und die göttliche Natur zu einer vereint waren, ohne sich zu vermischen und sich zu verändern? Jene zwei Naturen existierten nicht voneinander losgelöst. Vielleicht haben sich die Oberpriester Roms verschworen und unsere Lehren falsch dargestellt als Strafe dafür, daß sich unsere Kirche geweigert hatte, dem Papst zu folgen und politisch von ihm beeinflußt zu werden.«

»Harte Worte«, murmelte der Abt vorwurfsvoll.

»Die Wahrheit ist häufig bitter«, erwiderte Bruder Gambela.

»Also weiter mit eurer Geschichte«, meldete sich Fidelma zu Wort, denn sie hatte bemerkt, daß sie sich vielleicht auf gefährliches theologisches Gebiet zubewegten. »Ihr wart also Sklaven in Rom? Und niemand wollte euch zu Hilfe kommen?«

»So war es«, meinte Bruder Dangila. »Wir mußten Waren auf Schiffe verladen, die am Ufer des Tiber angelegt hatten. Dann wurden wir an einen fränkischen Händler verkauft und gehörten zur Mannschaft seines Schiffes, das eine lange und gefährliche Reise vom Mittelmeer durch eine Meeresenge unternahm, die man die Säulen des Herkules nannte. Später folgte eine gefahrvolle Reise entlang der iberischen Küste. In einem großen Unwetter kam unser Schiff vom Kurs ab. Der Kapitän geriet in Panik, weil er glaubte, daß wir über den Rand der Erde hinaus unserem sicheren Tod entgegenfuhren.« Der Aksumiter lächelte schief. »Der Mann war der Ansicht, die Erde sei eine flache Scheibe und der Horizont bilde den Rand, dem sich niemand nähern durfte. Wir fanden diese Theorie ziemlich kurios. Ist sie hier auch verbreitet?«

Fidelma schüttelte den Kopf. »Unsere Astronomen lehren schon seit langer Zeit, daß die Welt sphärisch ist, Bruder Dangila. Martianus schreibt, daß bereits die Druiden in Zeiten unserer heidnischen Vorfahren meinten, die Erde habe die Form einer Kugel.«

Bruder Dangila nickte zustimmend. »Dieser Kapitän stammte aus einem Land, das Frankia heißt. Als wir kein Land mehr sahen, wußte er nicht, wie er sein Schiff weitersteuern sollte. Er und die Mannschaft wurden von Angst ergriffen, wir drei beteten derweil. In einem schrecklichen Sturm kenterte das Schiff, doch Gott lächelte auf uns herab, denn wir drei gehörten zu den wenigen, die ans Ufer dieses Königreichs gespült wurden. Eure Leute gaben uns zu essen, Kleidung und erwiesen uns Gastfreundschaft. Man hieß uns willkommen, und das um so mehr, als man erfuhr, daß wir Christen waren. Euer Volk hat uns nicht dafür verurteilt, daß wir Aksumiter sind ...«

Nun warf Bruder Gambela ein: »Wir waren glücklich, als wir merkten, daß die Anhänger Christi in diesem Königreich nicht dem Diktat Roms folgen, sondern so wie wir viele der alten Rituale und Lehren des früheren Glaubens bewahrt haben. Wir spürten, daß Gott unsere Reise aus einem einzigen Grunde so gefügt hatte - wir sollten hier studieren und unser Wissen unserem Volk bringen. Zu dem Zweck gelangten wir in das Kloster Molaga. Dort blieben wir eine Weile.«

»Trotz dieser Abenteuer oder eher Mißgeschicke tragt ihr Kleider mit Ornamenten, die aus eurem Land zu stammen scheinen«, bemerkte Eadulf auf einmal mißtrauisch. Nach einem für seine Verhältnisse langen Schweigen hatte er zum erstenmal das Wort ergriffen. Seine Kenntnisse des Griechischen waren relativ gering, und er hatte Mühe gehabt, den Feinheiten der Unterhaltung zu folgen. »Wie ist es euch gelungen, diese wertvollen Silberkreuze durch eure Sklavenzeit zu retten?«

Jetzt sprach Bruder Dangila, den die Frage nicht im geringsten beunruhigte. »Die Gewänder wurden hier nach unseren Anweisungen gewebt. Aber du hast recht; diese Kreuze wurden von Silberschmieden aus Aksum angefertigt. Dennoch sind es nicht unsere eigenen. Sie wurden uns vom Abt des Klosters Molaga geschenkt. Offenbar stammten sie aus den Überresten eines Schiffbruchs. Uns fielen sie auf, als wir beim Abt waren, und wir erkannten ihre Herkunft. Der wohltätige Mann überließ sie uns.«

»Nach eurem Aufenthalt dort, was geschah dann?« wollte Fidelma wissen.

»Wir sind hierhergekommen, wo wir uns erneut ganz den Studien widmen.«

»Aus reiner Neugier würde mich interessieren, welcher Art diese Studien sind«, erkundigte sich Eadulf.

Zu aller Überraschung antwortete jetzt Bruder Nakfa mit einer tiefen und sanften Stimme, die sehr melodiös klang, wodurch sein Griechisch eher gesungen als gesprochen wirkte.

»Wir möchten eure Vorstellung vom Himmel kennenlernen, erfahren, was ihr über Sonne, Mond und Sterne und deren Bahnen am Firmament wißt. Wie wir bemerkten, leben in deinem Land viele gebildete Leute, die darüber geforscht und geschrieben haben. Unser Volk ist stolz auf seine Kenntnisse der Gestirne, aber wir haben nicht angenommen, daß es außerhalb der uns bekannten Welt noch andere Völker gibt, die sich damit beschäftigen.«

Bruder Dangila fügte hinzu: »Wir sind auf die Werke eines gelehrten Bruders gestoßen, der Augustin heißt .«

An der Stelle äußerte der Abt, der der Unterhaltung mit aller Konzentration gefolgt war: »Er meint Bruder Aibhistin, der auf der Insel Carthaigh lebt. Aibhistin hat sein Leben ganz dem Studium des Himmels gewidmet.«

»Insbesondere aber dem des Mondes und der Gezeiten«, fügte Bruder Dangila hinzu, »etwas überaus Bedeutendes, denn er hat klar feststellen können, daß der astrorum splendissimum, der hellste der Himmelskörper, der Mond, die Gezeiten der Ozeane lenkt und daher eines der größten Mysterien des Universums darstellt.«

Bruder Gambela hob ein wenig den Kopf, sein Gesicht, wie auch das seiner Gefährten, leuchtete begeistert auf.

»In Molaga entdeckten wir eine Kopie des De Mi-rabilius Sacrae Scripturae, in dem der gute Bruder Augustin von der Bedeutung des Mondes spricht. Er meint, daß die Passion Christi zu Vollmond stattgefunden hat .«

Auf einmal beugte sich Eadulf mit einem mißtrauischen Blick nach vorn.

»Ihr Brüder aus Aksum scheint sehr am Vollmond interessiert zu sein«, sagte er scharf.

Bruder Dangila lächelte ihn freundlich an. »Wer kann schon den Vollmond und seine Folgen ignorieren?«

»Seinen Folgen?« fragte Fidelma unverzüglich, als sie sich der möglichen Bedeutung seiner Worte bewußt wurde.

»Beschäftigst du dich nicht deshalb mit den Mordfällen, Schwester?« entgegnete Bruder Dangila. »Man hat mir gesagt, daß dein Volk der Tatsache, daß die Morde bei Vollmond geschahen, einige Bedeutung beimißt.«

»Von welchen Folgen sprichst du, Bruder Dangila?« wiederholte Fidelma. Sie hatte das Gefühl, daß das ausdruckslose Gesicht des Aksumiters etwas verbarg.

»Die Flut setzt drei Tage und zwölf Stunden vor dem Vollmond ein und benötigt die gleiche Zeit, um wieder abzuebben. So sagt es euer Gelehrter, der Bruder Aibhistin. Also, wenn der Vollmond so intensiv auf die Gezeiten wirkt, wie sehr werden dann die Gefühle der Menschen auf und ab bewegt? Fließt in unserem Körper nicht auch eine Flüssigkeit, die wie das Wasser der Meere vom Mond beeinflußt werden kann?«

Fidelma verzog nachdenklich den Mund.

»Das ist schon möglich«, gab sie zu. »Demzufolge hätte wohl einer von euch durchaus auf dem Hügel sitzen und in der Vollmondnacht Beobachtungen anstellen können, als Brocc zufällig dort langlief.«

Bruder Dangila lächelte kurz.

»Das ist gut möglich«, antwortete er ernst.

»Und war einer von euch dort?«

»Das haben wir doch schon geklärt, Schwester. Solche Spiele müssen wir nicht spielen.«

Fidelma erkannte, daß sie an der Stelle nicht weiterkommen würde, und wechselte das Thema.

»Wissen denn die Leute hier, daß ihr euch so für den Mond und sein Verhalten interessiert?« erkundigte sie sich.

»Wir haben nicht versucht, unsere Studien geheimzuhalten. Abt Brogan kennt unsere Neigungen genau«, erwiderte Dangila.

Der Abt nickte leicht. »So ist es, Schwester Fidelma. Die Brüder haben nie ihre Leidenschaft für das Studium der Gestirne vor mir verheimlicht, niemandem gegenüber.«

»Aber wenn das so ist«, meinte Eadulf nun, »dann verstärkt doch dieser Umstand das Mißtrauen der Leute hier. Der Anblick eines Fremden auf einem Hügel, der intensiv den Mond betrachtet, würde irgendwelche Verdächtigungen nur noch schüren. Um das zu vermeiden, solltet ihr verraten, warum einer von euch auf dem Hügel saß. Warum sagt ihr nicht, wer es war?«

»In unserem Land pflegen wir zu sagen, daß nur Unkenntnis zu Mißtrauen führt«, entgegnete Bruder Dangila ernst. »Die Leute können nicht einschätzen, warum wir die Himmelsbahnen erforschen. Falls wir also zugeben würden, daß einer von uns in jener Nacht den Vollmond beobachtet hat, ich sage nur falls, würden sie das auch nicht begreifen, und unser Geständnis würde ihr Mißtrauen nur noch verstärken.«

Fidelma sah das ein. »Das ist sicher wahr, Bruder. Doch Publilius Syrus sagt, daß Argwohn nur Argwohn hervorbringt. Sie sind schon argwöhnisch, und da wäre es besser, wenn wir ihren Verdacht sofort aus dem Weg räumen, ehe er übermächtig wird.«

Auf einmal stand Bruder Nakfa auf; auch seine beiden Gefährten erhoben sich.

»Schwester, unser Schicksal liegt in deiner Hand«, versicherte ihr Bruder Nakfa feierlich. »Was wir von dem Fall wissen, haben wir dir gesagt. Die Morde geschahen alle bei Vollmond, und weil wir fremd sind und unsere Hautfarbe wie auch unsere Sprache und unser Auftreten anders sind und weil wir den Himmel erforschen, werden wir schrecklicher Verbrechen verdächtigt. Einzig in der Wahrheit liegt unsere Verteidigung. Wenn es nichts weiter zu besprechen gibt, würden wir uns mit deiner Erlaubnis gern zu unseren Studien zurückziehen.«

Fidelma erhob sich nun ebenfalls, war aber ein wenig aufgebracht. Sie verbarg ihre Gefühle hinter einem Gesicht, das ebenso ausdruckslos war wie das der drei Männer.

»Im Augenblick habe ich keine weiteren Fragen«, sagte sie leicht gereizt.

Die drei Klostergäste verneigten sich und verließen leise den Raum. Als sie fort waren, nahm Fidelma wieder Platz.

Abt Brogan wirkte besorgt.

»Ich fürchte, diese Begegnung hat nur neue Fragen aufgeworfen, statt das Mißtrauen zu zerstreuen, Schwester Fidelma«, meinte er.

Fidelma war nachdenklich. »Der Sinn der Befragung besteht darin, neue Gedanken und Möglichkeiten zu provozieren, Abt. Und als dalaigh ist es meine Pflicht, das zu tun. Es wäre zu wünschen, daß die drei Fremden uns etwas mehr über ihr Treiben in den Vollmondnächten verrieten. Ich neige dazu, Brocc zu glauben, der immerhin einen von ihnen gesehen hat. Allerdings ist seine Aussage bisher nutzlos. Wie Eadulf bin ich der Meinung, ihr Interesse am Studium der Himmelskörper mit in unsere Untersuchung einzubeziehen. Zum Glück haben sie sich dazu bekannt, sonst hätte das nur noch mehr Argwohn geweckt.«

Abt Brogan war nicht ganz zufriedengestellt.

»Bruder Dangila hat recht. Selbst wenn Broccs Aussage stimmt, bedeutet das nicht, daß er auch den Mörder des Mädchens gesehen hat«, unterstrich Fidelma. »Deshalb brauchst du dir nicht den Kopf zu zerbrechen. Du tust recht daran, den Fremden weiterhin Gastfreundschaft und Schutz zu bieten. Sie machen mich aber trotzdem sehr neugierig, Abt. Ich werde sicher noch einmal mit ihnen reden.«

»Nun«, erwiderte der Abt und erhob sich, um seine Gäste zur Tür zu begleiten, »ich würde Brocc im Auge behalten, denn was er einmal versucht hat, könnte noch einmal passieren.«

»Trotz seiner Verletzung?« fragte Eadulf.

»Die Wunde wird bald verheilt sein. Brocc ist jemand, der weiter auf Rache sinnt. Und er hat einen Freund in Rath Raithlen, einen Schmied namens Gobnuid. Der war auch am Aufruhr beteiligt. Vielleicht hecken die beiden neues Unheil aus.«

»Gobnuid? In welchem Zusammenhang habe ich diesen Namen schon einmal gehört? Egal. Wir werden auf der Hut sein, Abt Brogan«, versicherte ihm Fidelma.

Accobran wartete draußen auf sie, doch Brocc war nicht zu sehen. Offenbar war er in die Mühle seines Bruders zurückgekehrt.

Es war spät geworden, als sie die Abtei verließen.

Fidelma entschied, daß es sich nicht lohnen würde, auch noch Goll aufzusuchen. Accobran schien darüber sehr froh zu sein, denn er entschuldigte sich umgehend bei ihrer Rückkehr in die Festung und eilte zu den Ställen. Bald darauf sahen sie ihn davonreiten.

Eadulf wollte sofort sein abendliches Bad nehmen. Er hatte sich an diesen irischen Brauch gewöhnt, auch wenn es eine Weile gedauert hatte, denn anfangs war es ihm merkwürdig vorgekommen, sich immer morgens zu waschen und abends zu baden. Fidelma wollte sich noch ein wenig in der Festung umsehen. Obwohl der Oktobertag sich seinem Ende zuneigte, vernahm sie aus einer Schmiede noch Arbeitsgeräusche. Sie folgte dem Lärm, der aus einem Gebäude drang, das sich im hinteren Teil der Festungsanlage befand.

Ein Schmied war dabei, in der Glut eines Feuers einen Metalltopf auszuformen, wobei eine Hand den Gegenstand mit einer Zange festhielt und die andere mit einem Hammer das glühende Metall bearbeitete. Gelegentlich kamen Leute vorbei, die den Schmied grüßten, doch er brummte nur etwas, ohne aufzublik-ken. Er sah nicht so aus, wie man sich einen Schmied wohl vorgestellt hätte. Er war mager und drahtig, und sein Gesicht ähnelte dem eines Fuchses. Trotz seiner dünnen nackten Arme und seines schmalen Oberkörpers verrieten die angespannten Muskeln eine enorme Kraft. Über seinem schweißglänzenden Körper trug er eine knappe Lederweste und Lederhosen.

Fidelma blieb stehen und bewunderte die Geschicklichkeit, mit der er seine Arbeit verrichtete. Sie wartete, bis er den Topf in ein Wasserfaß getaucht hatte, wobei eine zischende Dampfwolke aufstieg. Dann erst sprach sie ihn an.

»Guten Abend, Schmied.«

Er blickte auf und schob sich ein paar rotblonde Haarsträhnen aus dem Gesicht. Er blickte Fidelma freundlich an; seine eng beieinanderliegenden hellblauen Augen hoben sich stark von der wettergegerbten Haut ab und leuchteten.

»Guten Abend, Lady.«

Fidelma war erstaunt. Gewöhnlich wurde sie von Fremden mit »Schwester« begrüßt. Dieser hier schien zu wissen, daß sie eine Frau von adligem Geblüt war.

»Ihr wißt, wer ich bin?«

Der Schmied lächelte verbindlich. »Wissen denn nicht alle hier in der Festung, daß du eine dalaigh bist und die Schwester der Königs von Cashel?«

Fidelma seufzte. Selbstverständlich kannten alle den Grund für Beccs Reise nach Cashel und wußten daher auch, in wessen Begleitung er zurückgekehrt war.

»Du arbeitest aber noch spät, Schmied«, sagte sie.

»Ich muß diesen Topf für den Verwalter Adag fertigstellen. Doch jetzt ist es geschafft.«

Er nahm den erkalteten Topf aus dem Wasser, stellte ihn auf ein Regal und hängte sein Werkzeug an ein Brett.

»Als kleines Mädchen war ich schon einmal hier. Damals gab es innerhalb der Festung eine Unmenge von Schmieden. Jetzt sind es nur noch wenige, wie ich sehe.«

Der Schmied lächelte kurz.

»Das stimmt. Dank unserer Minen war das hier einst eines der großen metallverarbeitenden Zentren des Königreiches. Doch erst gab es kein Gold mehr, dann ging das Silber aus, und auch andere Erze findet man kaum noch. Eine Bleimine wird genutzt, drüben bei Dün Draighneain. Das liegt einen kurzen Ritt von hier entfernt.«

»Ich habe erfahren, daß nach wie vor Kupfer und Eisen abgebaut werden«, meinte Fidelma.

»So ist es, Lady, aber nicht genug, um der Gegend hier und ihren Bewohnern zu dem früheren Wohlstand zu verhelfen. Unsere Gold- und Silberschmiede haben einst Aufträge für die Großkönige im fernen Temhair ausgeführt, heute ist das nicht mehr so. Ich begann meine Ausbildung als Silberschmied, als für die Klöster dieser Gegend viele juwelenverzierte Abendmahlskelche hergestellt wurden. Doch nun beschlage ich Pferde und schmiede Pflugscharen und Metalltöpfe.« Mit düsterem Blick schaute er sich in seiner Werkstatt um. »Ach, man müßte eine neue ergiebige Goldader oder Silbermine entdecken ... Aber das ist wohl aussichtslos.«

Fidelma lachte leise auf.

Der Schmied legte die Stirn in Falten.

»Was amüsiert dich so?« wollte er wissen.

»Ich habe heute zwei kleine Jungen am Fluß angetroffen . Wie nennt ihr ihn? Den Tuath? Die beiden suchten nach Gold.«

Der Schmied schüttelte den Kopf. »Die Kinder haben da nur gespielt. Man hat dort zuletzt Gold gefunden, als der Vater unseres Stammesfürsten ein kleiner Junge war.«

»Nun, sie erzählten mir aber, einer ihrer Freunde habe genau da einen Goldklumpen entdeckt.«

Der Schmied schaute überrascht auf.

»Und wer soll das gewesen sein?« fragte er schroff. »Haben sie es gesagt?«

»Den Namen des Jungen? Sie nannten ihn Sioda.«

»Natürlich, der kleine Sioda.«

»Kennst du ihn?«

»Eigentlich ziemlich gut. Er ist der Sohn von Beccs Schildträger. Erst vor ein paar Tagen kam der kleine Halunke zu mir gerannt und verkündete, er hätte Gold gefunden, das ich ihm abkaufen sollte.«

Plötzlich drehte er sich um, holte etwas von einem Regal herunter und hielt Fidelma seine Hand hin. Ein Stück Metall in Daumengröße lag darauf. Es glänzte gelblich.

»Es sieht wie Gold aus«, sagte sie.

»Eisenkies. Völlig wertlos.«

»Katzengold?«

Der Schmied nickte, erfreut über ihre Kenntnisse. »Es ist tatsächlich Katzengold. Ich habe Sioda ein bißchen Geld gegeben, damit er nicht so enttäuscht ist. Ich kann den beiden Burschen nur viel Glück wünschen, aber sie können noch bis zum Jüngsten Tag da am Fluß hocken und werden nicht das kleinste Goldkörnchen finden.«

»Bis zum Jüngsten Tag ...«, seufzte Fidelma nachdenklich.

Der Schmied wandte sich um, da das Schmiedefeuer zu zischen begann und eine blaue Flamme aufloderte. Fidelma nutzte die Gelegenheit, fuhr rasch mit einem spitzen Gegenstand über das Metall und untersuchte den goldenen Glanz, den der Kratzer hinterlassen hatte. Als sich der Schmied wieder zu ihr umdrehte, gab sie es ihm zurück.

»Es ist jammerschade, daß die Cinel na Äeda nun so magere Zeiten erleben«, sagte sie. »Doch mal abgesehen von den Erzen, ist es ein reiches Land, und niemand muß darben. Hier gibt es reichlich Wälder, fruchtbare Böden und einige gute Weideflächen. Von der Festung sind es auch nur zwölf Meilen bis zum Hafen beim Kloster Molaga.«

»Du hast schon recht«, meinte der Schmied und legte das vermeintliche Gold wieder ins Regal. »Man muß sich eben allen Bedingungen und Schwankungen anpassen, denn nichts währt ewig. Wir haben eine Redensart: Selbst die Straße nach Temhair hat Kurven und Windungen.«

Fidelma lächelte freundlich, wurde aber sofort ernst, als sie sich an den Grund ihres Besuchs in der Festung erinnerte.

»Ich muß dir nicht sagen, warum ich hier bin, Schmied.«

»Nein«, meinte er. »Becc hat dich hergeholt, weil er deine Meinung über die Fremden im Kloster hören will.«

Das Wort, das der Schmied für »Fremde« benutzt hatte, war ein juristischer Begriff - murchoirthe, der eigentlich einen Schiffbrüchigen bezeichnete. Fidelma horchte auf, als der Schmied diese Bezeichnung wählte, denn sie konnte sich ebenso auf eine Person ohne Anspruch auf Freikauf von der Strafe beziehen, die wegen eines Verbrechens auf See ausgesetzt und dann an Land gespült wurde. Alle anderen hatten zuvor den Ausdruck deorad oder »Außenseiter« benutzt. Das bezog sich auf jemanden, der vor dem Gesetz als Rechtsperson galt. Fidelma ließ sich ihr Interesse an der Wortwahl des Schmieds nicht anmerken.

»Also liege ich richtig mit meiner Ansicht, daß du glaubst, Brocc hätte recht?«

»Hast du schon mit Brocc gesprochen?«

»Natürlich.«

»Und hast du die Fremden schon getroffen?«

»Ja.«

Der Schmied zuckte daraufhin mit der Schulter, als wäre die Sache für ihn erledigt.

»Zu welchem Schluß bist du gekommen?« forschte Fidelma vorsichtig nach.

»Es sind keine Menschen, wie wir sie kennen. Sie wirken so fremd und häßlich. Wie nachtaktive Tiere -einfach gefährlich, wenn sie sich bei Vollmond unseren Frauen nähern. Ich teile irgendwie Broccs Ansichten. Man sollte sie vertreiben oder bestrafen für das, was sie getan haben. Nur durch Beccs Eingreifen wurden sie gerettet. O ja, Lady. Ich gebe zu, daß ich unter den Leuten war, die zur Abtei marschiert sind und ihre Bestrafung verlangt haben. Ich würde selbst Hand anlegen, wenn sich kein anderer dazu findet.«

Mißbilligend sah Fidelma ihn an. »So sollst du wissen, Schmied, daß das Gesetz deine Handlung nicht gutheißt. Was wäre geschehen, wenn ihr die Fremden verletzt oder getötet hättet?«

Der Schmied lachte, seine Voreingenommenheit war spürbar.

»Ein murchoirthe besitzt vor dem Gesetz keinen Sühnepreis. Das hat mir Brocc gesagt. Also müßte man weder eine Geldstrafe noch eine Entschädigung zahlen.«

»Ach ja? Brocc hätte dir auch erklären sollen, daß der Abt den Fremden Gastfreundschaft gewährt. Vor dem Gesetz haben sie also einen Sühnepreis, der halb so hoch wie der des Abts ist.« Sie blickte sich in seiner Schmiede um. »Ich bezweifle, daß deine Schmiede diese Summe abwerfen würde.«

Aufgebracht wandte Fidelma sich ab. Sie wollte schon davoneilen, doch sie zögerte. Ihr war klar, daß ihr Zorn genausowenig nützlich war wie seine Ablehnung jener Fremden. Sie wollte den Grund für seine Haltung begreifen und nicht etwa durch ihr Verhalten seine Ansichten bestärken.

»Wie heißt du?«

»Gobnuid«, sagte er trotzig.

Sie hatte schon vermutet, daß sie an ihn geraten war. Was für eine ironische Fügung war es doch, daß sie ausgerechnet ihn angesprochen hatte, wo sie einen beliebigen Schmied über die Goldvorkommen in dieser Gegend hatte befragen wollen.

»So nimm diesen Rat mit auf den Weg, Gobnuid.

Die Angst vor dem Fremden soll keinen Haß in dir säen. Denn Haß ist die Rache eines schwachen Menschen, den etwas Fremdes einschüchtert und verängstigt.«

Sie war immer noch wütend, doch sie hatte dieses Gefühl unter Kontrolle und versuchte ihre Stimme ruhig klingen zu lassen. Mit Zorn konnte man in Rath Raithlen nichts ausrichten. Jetzt erinnerte sie sich daran, daß sie seinen Namen zum erstenmal aus dem Mund des Kochs Sirin gehört hatte.

»Ich glaube, du kanntest Sirins Nichte Ballgel, nicht wahr?«

Der Schmied zuckte mit den Schultern.

»Wer hat sie hier in Rath Raithlen nicht gekannt?« erwiderte er. »Unsere Ansiedlung ist nicht so groß.«

»Da hast du recht. Man sagte mir, daß es zwischen euch einige Unstimmigkeiten gegeben hat.«

Gobnuid starrte sie verärgert an. »Wer sagt das?«

Fidelma sah, daß er seine Hand nervös zusammenballte.

»Also stimmt es gar nicht? Hast du sie nicht auf dem Fest des heiligen Finnbarr zum Tanz aufgefordert? Und sie hat dir einen Korb gegeben? Du warst wie toll, und alle haben es mitbekommen.«

Die Lippen des Schmieds bildeten jetzt eine schmale Linie. »Auf das Mädchen war ich nicht wütend, sondern auf die einfältigen Burschen, mit denen sie sich abgab. Außerdem machten sie sich auf einmal über mein Alter und mein Aussehen lustig, nur weil ich mich getraut habe, Ballgel aufzufordern. Auf das alles war ich wütend.« »Und nicht auf Ballgel, weil sie dir einen Korb gegeben hatte?«

»Als ich von ihrem Tod erfuhr, war ich ganz außer mir. Ich hatte sie davor gewarnt, sich dem trügerischen nächtlichen Himmel anzuvertrauen.«

Fidelma starrte ihn an.

»Wie kommst du darauf?« fragte sie.

»Ballgel und die anderen gingen immer zu Liag, der ihnen den Kopf mit diesen törichten Märchen über den Mond und die Sterne vollstopfte. Brocc hat mir verraten, auch seine Nichte Escrach sei derart davon beherrscht gewesen, daß sie sogar die Fremden befragen wollte.«

Fidelma gab sich Mühe, nicht zu zeigen, wie sehr sie das in Erstaunen versetzte. »Weswegen wollte sie die aufsuchen?«

»Wegen der Kräfte des Mondes. Liag hatte Escrach gesagt, daß die Fremden allerlei über die Eigenschaften der Gestirne wußten. Genau darum sollte man sie von hier fortjagen.«

Fidelma rang nach Luft. Dann war Liag also im Bilde, daß die Wißbegierde der Aksumiter besonders auf die Sternenkunde gerichtet war?

»Sag mir, Gobnuid, der Heilkundige hat demnach Ballgel und Escrach die Gesetze des Himmels erklärt? Wer war noch dabei?«

»Über all die Jahre wohl eine ganze Menge. Ich habe selbst öfter seinen Ausführungen gelauscht.«

»Es gingen auch Jungen hin?«

»Ja, sogar Accobran, unser Tanist«, erwiderte er.

»Und denk daran, daß die Fremden ebenfalls über solches Wissen verfügen und die Geheimnisse des Mondes kennen. Das allein reicht mir schon als Beweis, daß in der Abtei das Böse umgeht.«

Fidelma sah den Schmied mißbilligend an. »Das ist überhaupt kein Beweis. Denk du lieber daran, daß es mir nur um die Wahrheit geht. Niemand soll versuchen, mich von meinen zielstrebigen Untersuchungen und Entscheidungen abzubringen, sonst wird er mit dem Gesetz in Konflikt geraten. Die Strafe wird dementsprechend hoch sein.«

Sie hatte sich schon ein Stück von der Schmiede entfernt, als sie instinktiv noch einmal zurückblickte. Gobnuid untersuchte konzentriert etwas in seiner Hand, das im Schein des Schmiedefeuers funkelte. Es handelte sich um den Goldklumpen, den er zu Eisenkies erklärt hatte. Fidelma eilte weiter.

Als sie das Gästezimmer betrat, schaute Eadulf auf. Er hatte bereits ein Bad genommen und sich für das Abendessen in Beccs Halle angekleidet.

»Viel Zeit hast du nicht mehr«, sagte er. Dann sah er ihr nachdenkliches Gesicht. »Was ist geschehen?«

»Ich hatte gerade eine aufschlußreiche Unterhaltung mit dem Schmied Gobnuid. In dieser Siedlung herrschen Vorurteile gegenüber den Fremden, man fürchtet sich vor ihnen. Es wird nicht genügen, die Aksumi-ter nur aus Mangel an Beweisen freizusprechen. Es muß bezeugt werden, daß sie unschuldig sind.«

»Du glaubst also wirklich, daß sie unschuldig sind?« fragte Eadulf.

Fidelma sah ihn streng an. »Glauben hat nichts damit zu tun.«

Eadulf zog die Augenbrauen hoch. »Ich würde mir erst ein Urteil über Schuld oder Unschuld erlauben, wenn ich alle Fakten zusammengetragen hätte. Bisher sind viele Fragen noch gar nicht gestellt, geschweige denn beantwortet worden.«

Fidelma ließ sich aufs Bett fallen. Natürlich hatte Eadulf recht. Vermutete sie jetzt schon bei Menschen Vorurteile, die gar keine hatten?

»Die Aksumiter haben so gut wie zugegeben, daß in jener Nacht einer von ihnen auf dem Hügel war«, meinte Eadulf weiter. »Die Tatsache, daß Brocc nicht genau erkennen konnte, wer von den dreien dort saß, spricht sie nicht von Schuld frei. Es ist vielmehr das Eingeständnis, daß sie gelogen haben. Und wann lügen die Leute? Wenn sie etwas zu verbergen haben.«

Fidelma seufzte tief. »Du hast recht, Eadulf. Es tut mir leid, wenn ich vorhin so gereizt reagiert habe. Doch mit blindem Vorurteil kann ich nicht umgehen.« Sie erhob sich. Es war höchste Zeit. »Ich muß ein Bad nehmen. Geh du schon in Beccs Halle voraus und entschuldige mich. Sage, daß ich gleich kommen werde.«

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