Kapitel 14

Eadulf starrte Gobnuid an, doch allmählich wunderte ihn nichts mehr. Er hätte sich nur gewünscht, Fidelma hätte ihn eingeweiht, was ihren Verdacht bezüglich der Höhle anging. Vielleicht hatte diese Sache auch nichts mit den drei Morden im Mondschein zu tun. Die breite Gestalt des Schmiedes kam nun auf den Höhleneingang zu. Er lief rasch und sicher, als sei er nicht zum erstenmal hier. Am Eingang rief er etwas und verschwand darauf in der Höhle.

Eadulf blickte zu den Felsen hinüber, wo sich Goll versteckt hielt. Etwas bewegte sich hinter den Steinen, der Holzfäller war also noch da. Wütend mit sich, seufzte Eadulf auf. Hätte er doch nur Fidelmas Worten größere Bedeutung beigemessen. Er begriff nicht, was das alles mit den Vollmondmorden zu tun hatte, außer daß man die Leichen hier in der Nähe gefunden hatte. Aber was hatte Goll damit zu schaffen? Irgendwie fühlte er sich überfordert.

Menma zupfte Eadulf am Ärmel. Bruder Dangila und Gobnuid traten gerade aus der Höhle. Gobnuid fuchtelte mit den Händen in der Luft herum, als wolle er seinem Begleiter etwas erklären. Bruder Dangila löschte seine Lampe, und beide begaben sich den Hügel hinab in Richtung des Klosters. Gobnuid sprach zwar laut, aber Eadulf konnte ihn trotzdem nicht genau verstehen. Sobald sie außer Sichtweite waren, kam Goll aus seinem Versteck hervor und schlich ihnen nach.

Als alle verschwunden waren, stand Menma auf. »Und was nun, Bruder? Gehen wir ihnen nach?«

»Nein«, antwortete Eadulf. »Ich muß das alles unverzüglich Fidelma berichten. Sie zu verfolgen würde nichts bringen. Der Fremde und Gobnuid kehren offenbar zur Abtei zurück. Goll beobachtet sie wohl nur. Die Frage ist - warum?«

»Das ist wohl wahr«, stimmte ihm Menma zu. Er sah zum Himmel hoch. »In einer Stunde ist es dunkel. Wir sollten lieber zurückreiten.«

Die Pferde warteten geduldig an der Stelle, wo sie angebunden waren. Menma ritt den gewundenen Weg durch das hügelige Waldland voran. Sie hatten die Hälfte des Weges zurückgelegt und waren an eine offene Stelle gelangt, als Menma plötzlich anhielt. Eadulf, der seinen Gedanken nachhing, ließ sein Pferd beinahe auf das seines Vordermanns auflaufen.

»Was ...«, fragte Eadulf erstaunt.

»Sieh nur!« Menma streckte die Hand aus.

Eadulf schaute in die Richtung, in die der Jäger wies. Die Dämmerung brach herein und verwehrte eine klare Sicht, doch man konnte noch deutlich eine weiße Rauchwolke aufsteigen sehen.

»Das ist bei meinem Haus!« schrie Menma plötzlich. »Mein Haus brennt!«

Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, stieß er die Fersen in den Bauch seines Pferdes. Es wieherte und galoppierte den Hügel hinab. Von plötzlicher Angst um Fidelma gepackt, jagte Eadulf dem Jäger hinterher.

Es schien unendlich lange zu dauern, bis sie am Fuß des Hügels angelangt waren. Mehrmals hatten sie ihr Tempo verlangsamen müssen, weil es zu steil bergab ging. Sie erreichten den Weg nach Rath Raithlen, überquerten ihn und ritten weiter in den Wald hinein. Nun sahen sie deutlich, daß die Blockhütte des Jägers in Flammen stand. Das Feuer hatte sich von Wand zu Wand ausgebreitet, und als sie davor hielten, stürzte das Dach mit heftigem Funkenschlag zusammen.

»Suanach!« schrie Menma und schaute sich verzweifelt nach seiner Frau um. »Suanach!« Er schwang sich vom Pferd, und es sah aus, als wolle er sich in die flammende Hölle stürzen.

Eadulf rannte ihm hinterher. »Da kannst du nicht rein!« Er mußte schreien, denn das alles verschlingende Feuer machte einen ohrenbetäubenden Lärm.

Menma blieb stehen und starrte mit weit aufgerissenen Augen auf das Schauspiel.

Auch Eadulf sah mit Entsetzen auf das brennende Haus. Wenn sich Fidelma und Suanach drinnen aufgehalten hatten, dann war jede Hoffnung verloren. Er trat zurück und bemerkte unter seinem Fuß etwas Hartes, Metallenes. Er blickte nach unten und entdeckte zu seiner Überraschung einen Schild auf dem Boden. Er schaute auf und sah in die Runde.

Etwas stimmte hier nicht. Nicht weit von ihm lag ein toter Hund, aus dessen Körper ein Pfeil ragte. Es war Luchoc. Nun bemerkte Eadulf Truhen und verstreute Kleider, als hätte man sie in Eile abgeworfen. Er zog Menma am Arm und zeigte schweigend darauf.

Der Jäger war zutiefst erschüttert. Er kniete sich zu seinem Hund nieder und untersuchte den Pfeil. Danach besah er sich den Schild, den Eadulf gefunden hatte, und fluchte los.

»Was ist?« fragte Eadulf.

»Die Ui Fidgente!« entgegnete Menma schroff.

Eadulf zitterte. Er kannte das aufständische Volk im Norden von Muman sehr gut. Er hatte schon früher mit ihm zu tun gehabt und war sich der ständigen Bedrohung bewußt, die von ihm ausging. Immer wieder forderten die Ui Fidgente die Autorität von Fi-delmas Bruder in Cashel heraus und hatten mehrmals sein Gebiet überfallen.

»Willst du sagen, daß es sich hier um einen Überfall der Ui Fidgente handelt?« fragte er erschrocken.

Menma wollte das so Offensichtliche nicht bestätigen. Er suchte das Gelände ab, wobei ihm seine Kenntnisse im Fährtenlesen zustatten kamen.

»Wahrscheinlich etwa zehn Leute. Zumindest waren entsprechend viele Pferde hier.«

Eadulf sah auf eine Stelle, wo die Erde ganz aufge-wühlt war. Er konnte nur mehrere Hufabdrücke erkennen.

»Und Fidelma und deine Frau ...?« begann er.

»Ich glaube, daß man sie als Gefangene mitgenommen hat. Sieh nur, der Fußabdruck einer Frau bei den Hufen.«

»Ich verstehe nicht.«

»Hier hat man eine Frau gezwungen, auf ein Pferd zu steigen.«

»Beide Frauen? Oder nur eine?«

Menma verzog das Gesicht. »Das kann ich nicht erkennen .«

Auf einmal hörten sie lautes Pferdegetrappel. Eadulf drehte sich sofort um, und Menma holte seine Waffe.

Schon preschten ein Dutzend Reiter unter den Bäumen hervor. Sie waren bewaffnet. An ihrer Spitze ritt Accobran.

Da entdeckte er Eadulf und Menma. Im Licht das Feuers, das ein gespenstisches Flackern auf die Gesichter warf, konnte man erkennen, daß er ziemlich überrascht war.

»Von der Festung aus haben wir Rauch aufsteigen sehen, da sind wir los, um nach dem Rechten zu schauen. Wie ist das passiert? Was machst du hier, Bruder Eadulf?«

Menma trat einen Schritt vor. »Die Ui Fidgente! Sie haben meine Frau und Schwester Fidelma als Geiseln mitgenommen.«

»Was?« fragte Accobran bestürzt.

Menma berichtete rasch von dem Pfeil, dem Schild und den Hufspuren.

»Wir müssen hinterher. Wieviel Vorsprung haben sie etwa, Menma?«

»Eine gute halbe Stunde, nicht mehr.«

»Dann könnten wir sie einholen. Das ist das erstemal seit vielen Jahren, daß sie in unser Gebiet eingefallen sind. Warum gerade jetzt?«

Eadulf stieg auf sein Pferd und wollte sich Acco-brans Männern anschließen.

»Du nicht, Bruder«, entschied der Tanist. »Ich möchte nicht riskieren, daß du umgebracht oder als Geisel genommen wirst. Es ist schon schlimm genug, daß man die Schwester von König Colgü entführt hat. Dafür werden sie bezahlen!«

»Aber Fidelma ...«, widersetzte sich Eadulf.

»Ich möchte, daß du zur Festung zurückkehrst und Becc mitteilst, was geschehen ist«, fuhr ihn Accobran an. »Unser Volk muß sich auf einen eventuellen größeren Angriff vorbereiten. Ich halte es für möglich, daß die Ui Fidgente ohne Vorwarnung einen Krieg anzetteln. Sollte es sich aber nur um eine kleine Gruppe von Plünderern handeln, dann haben wir die Chance, sie einzuholen und die Frauen zu retten. Falls nicht, braucht unser Volk Zeit für Gegenmaßnahmen. Reite zurück und informiere Becc!«

Eadulf saß voller Zweifel auf seinem Pferd, doch Accobran übersah ihn einfach und winkte Menma und den anderen zu, den Spuren zu folgen, die nach Nordwesten führten.

Eadulf wurde klar, daß der Tanist recht hatte. Inzwischen war es Nacht geworden. Jemand mußte den Fürsten der Cinel na Äeda vor einem möglichen Einfall der Ui Fidgente warnen. Die Verfolgung der fremden Reiter sollte er wirklich lieber Accobrans Kriegern überlassen.

Er wendete sein Pferd und galoppierte auf den dunklen Hügel von Rath Raithlen zu.

Was war inzwischen geschehen? Fidelma hatte ein wenig geschlafen und sich erholt. Die Kopfschmerzen waren verschwunden, ihr war warm und behaglich zumute.

Da griff eine Hand nach ihrem Armgelenk. Erschrocken fuhr sie hoch. Sie starrte in Suanachs bleiches Gesicht.

»Was ist los?« In den Augen von Menmas Frau stand Angst.

»Ich war an der Quelle Wasser holen. Da sah ich plötzlich mehrere Reiter auf unsere Hütte zukommen. Sie trugen die Standarte der Ui Fidgente. Diese Leute hegen nie gute Absichten gegenüber unserem Volk.«

Sofort sprang Fidelma aus dem Bett und warf sich ihr Gewand über.

»Wir müssen uns verstecken«, flüsterte sie.

»Du hast recht. Wenn du ihnen in die Hände fallen solltest, Lady .«

Da hörten sie, wie die Pferde bereits vor der Blockhütte haltmachten. Eine Stimme rief barsch die Bewohner heraus.

»Zu spät!« sagte Suanach. »Ich muß hinaus und sie fragen, was sie wollen. Du mußt dich verstecken.«

Sie kniete sich hin und schlug den Teppich zur Seite. Eine hölzerne Falltür kam zum Vorschein. Sie öffnete die Falltür und zeigte hinunter.

»Das ist unser uaimh talün - der Keller, in dem wir Nahrungsmittel lagern. Ein sicheres Versteck.«

Sie hörten, wie mit lautem Krach die Haustür aufgestoßen wurde.

Fidelma verlor keine Zeit damit, Suanach zu überreden, mit ihr hinunterzusteigen. Sie ließ sich in den Keller hinab und war sofort von Dunkelheit umgeben, nachdem die Frau des Jägers die Tür wieder geschlossen und den Teppich darübergelegt hatte.

»Ich komme!« Fidelma hörte, wie Suanach den Eindringlingen das zurief. Sie vernahm ihre Fußtritte auf dem Boden, dann erst wagte sie sich tiefer in den Keller, nur für den Fall, daß jemand die Falltür fand und öffnete.

Der Keller erwies sich als ein Gang, in dem man sich nur kriechend vorwärts bewegen konnte. Er schien unendlich lang zu sein, doch dann fiel ihr ein, daß Raum und Zeit nicht mehr von Belang waren, wenn man sich in völliger Dunkelheit befand. Der Gang war mit Steinen ausgekleidet. Sie spürte deren harte, glatte Oberfläche. Außerdem war es hier trok-ken. Vorsichtig schob sie sich weiter, bis ihr ein aromatischer Duft in die Nase stieg. Hier mußte Suanach wohl ihre Kräuter aufbewahren und auch andere rätselhafte Nahrungsmittel in Flaschen und Kisten.

Sie lehnte sich gegen eine Kiste und entspannte sich ein bißchen. Sie fragte sich, ob Suanach recht hatte. Die Ui Fidgente würden so weit im Süden des Landes wohl kaum einen Überfall wagen? Doch Fidelma kannte ihre Brutalität und Raubgier. Abschätzig rümpfte sie die Nase. Da nahm sie einen stechenden Geruch wahr.

Rauch!

Sie wurde von panischer Angst gepackt. Rauch drang in den Gang ein. Das bedeutete, daß die Hütte in Flammen stand. Die Angreifer hatten sie also angesteckt. Sie spürte, wie der Qualm immer dichter wurde, denn das Atmen fiel ihr schwer. Und es gab keine Möglichkeit zu entkommen.

Sie tastete den Gang ab. Irgend etwas huschte piepsend an ihr vorbei, wieder und wieder. Mäuse! Die Mäuse flohen aus dem brennenden Haus. Erneut überkam sie Angst. Dann fiel ihr auf, daß die Mäuse alle in eine Richtung liefen, genau entgegengesetzt zur Falltür. Sie nahm sich zusammen und folgte weiter dem Gang.

Da entdeckte sie in der Decke über sich eine winzig dünne Ritze, durch die es ein wenig hell schimmerte. Noch eine Falltür? Manche Keller waren mit zwei Eingängen versehen. Sollte Menma noch eine gebaut haben, die sich außerhalb der Hütte befand? Wäre diese Falltür dann weit genug entfernt, damit die Angreifer sie nicht bemerkten? Nun, es blieb ihr nur, das herauszufinden. Der Rauch wurde immer dichter, und sie hatte den Eindruck, daß es auch zunehmend wärmer wurde. In der Angst wuchsen ihr ungeahnte Kräfte. Sie kletterte über ein paar Kisten, die den Weg zu dem schmalen Lichtstreifen verstellten.

Sie stieß gegen die dunkle Decke über sich. Holz! Wirklich eine Falltür. War sie von außen zugesperrt? Sie drückte ihren Rücken dagegen. Immer wieder. Doch nichts bewegte sich. Aber dann . Gab die Tür ein wenig nach? Wieder stemmte sie ihren Rücken dagegen und spürte, wie etwas aufschnappte. Sie schob die Falltür hoch und blickte hinaus.

Flink wie eine Katze kletterte sie hinauf und sah sich, flach liegend, nach allen Seiten um. Sie befand sich dicht hinter der Hütte, aus der Rauch und Flammen aufstiegen. Glücklicherweise hielten sich die Angreifer alle vor der Hütte auf. Sie konnte ihre Rufe, ihr Gelächter und das Wiehern ihrer Pferde hören. Sie hoffte nur, daß Suanach nichts geschehen war. Doch nun mußte sie einen Unterschlupf finden, falls die Fremden hinter der Hütte auftauchen sollten. Sie schloß die Falltür und schaute sich nach einem Fluchtweg um.

Gleich hinter der Hütte begann der Wald. Sie stand auf und rannte geduckt auf die schützenden Bäume zu. Schon war sie im Unterholz, wo sie sich unter einem Busch an den Boden drückte. Sie verschnaufte ein wenig und kroch dann zu einer günstigen Stelle, von der aus sie die Hütte im Blick hatte. Die stand völlig in Flammen, der Rauch stieg in einer hohen, spiralförmigen Wolke in den Himmel auf. Sie hoffte, daß man sie in der Festung bemerken würde und bald Hilfe schickte.

Fidelma war gerade rechtzeitig geflohen, denn nun ritten zwei Männer um die Hütte herum, als wollten sie die Gegend absuchen.

»Nichts zu sehen von ihrem Mann. Sie hat wohl die Wahrheit gesagt, er ist im Wald unterwegs«, stellte einer der Männer in lautem, heiserem Ton fest.

Sein Kumpan hatte eine schrille Stimme und wies auf die Hütte.

»Der Rauch wird bald unsere Feinde herlocken. Wir sollten zu den anderen zurück, ehe wir entdeckt werden.«

»Ohne unseren Plan ausgeführt zu haben?«

»Was sollen wir dem Anführer berichten?« fragte der zweite Mann.

»Conri müssen wir nichts davon sagen.«

»Wollen wir hoffen, daß du recht hast und dieser Menma wirklich nach seiner Frau sucht«, meinte der andere.

»Er wird anbeißen, wird die Spur seiner Frau aufnehmen und uns dabei in die Falle gehen.«

»Eigentlich hätten wir nur hier auf ihn lauern müssen. Ich verstehe immer noch nicht, warum Menma so wichtig ist. Unter den Cinel na Äeda gibt es gewiß auch andere, die uns weiterhelfen könnten.«

»Der alte Kapitän hat uns versichert, Menma wüßte alles über das Eberdickicht und was man dort entdeckt hat. Wenn der Kapitän die Wahrheit gesagt hat, dann könnten wir endlich Rache nehmen für unsere Niederlage am Cnoc Äine, die wir diesem Emporkömmling Colgü zu verdanken haben.«

»Wir werden uns für nichts rächen können, wenn wir nicht verschwinden, ehe die Krieger von Rath Raithlen hier sind«, entgegnete der andere.

Die beiden Männer ritten zu ihren Gefährten zurück. Fidelma versuchte zu deuten, worüber sie sich unterhalten hatten. Suanach war anscheinend am Leben und nur als Geisel mitgenommen worden. Doch worum handelte es sich bei der Entdeckung im Eberdickicht? Warum veranlaßte das die Ui Fidgente, so tief in das Territorium der Eoghanacht einzudringen? Wer war der alte Kapitän, und was wußte Menma?

Doch sie konnte jetzt nicht länger darüber nachdenken. Sie mußte so schnell wie möglich nach Rath Raithlen zurück, um Becc zu berichten, was hier geschehen war. Er mußte Krieger losschicken, die Sua-nachs Spur aufnahmen. Dann könnten Fidelma und Eadulf nach Menma suchen und mehr über das Eberdickicht in Erfahrung bringen. Sie war sich sicher, daß die Antwort in der Höhle zu finden war, die sie heute morgen untersucht hatten. Sie war heilfroh, daß sie Eadulf gebeten hatte, in die sichere Festung zurückzukehren. Sein Leben wäre den Ui Fidgente nichts wert.

Sie hörte, wie die Reiter abzogen. Sie konnte nichts tun, um die Flammen zu löschen, die Menmas und Suanachs Heim verschlangen. Die Hütte wurde zu einem einzigen lodernden Scheiterhaufen. Sie stand auf und lief durch den Wald, immer nach Osten, auf einer Achse, die ihrem Gefühl nach den Weg zur Festung kreuzen mußte. Vermutlich würde sie bald auf Beccs Reiter stoßen.

Nun brach die Dämmerung herein. Sie lief durchs Unterholz und konnte kaum noch erkennen, wo sie hintrat, mußte ständig Hindernissen ausweichen. Nach einer Weile bedauerte sie es, nicht den normalen Pfad von der Hütte zum Hauptweg eingeschlagen zu haben. Schließlich waren die Reiter in entgegengesetzter Richtung fortgeritten. Plötzlich wurde ihr klar, daß sie wohl die Orientierung verloren hatte. Sie sah sich um und versuchte herauszubekommen, ob sie in die falsche Richtung lief. Doch in der hereinbrechenden Dunkelheit war das aussichtslos. Durch die hohen, sich zum Himmel hinaufreckenden Eichen und Erlen fiel auch nicht das geringste Licht.

Als sie die Hoffnung schon fast verloren hatte, entdeckte sie einen Pfad, der vielleicht von vielen Generationen von Wildschweinen getrampelt worden war und der sie nun durch das Unterholz hindurchführte. Trotz der Dunkelheit konnte sie erkennen, daß die Baumstämme auf einer Seite dunkler waren. Sie blieb stehen und tastete sie ab. Auf der dunklen Seite wuchs feuchtes Moos.

Fidelma lächelte.

Diese Seite der Bäume zeigte nach Norden. Mit einem alten Holzfällertrick konnte man nun leicht die Himmelsrichtung bestimmen. Sie lehnte sich mit dem Rücken an die trockene Seite eines Baumes und streckte die Arme genau im rechten Winkel zum Körper aus. Ihr linker Arm wies jetzt nach Osten, der Richtung, in die sie gehen mußte.

Fast wäre sie über einen langen, schmalen Ast gestolpert, als sie weiterging. Sie hob ihn auf und stellte fest, daß sie ihn gut zu ihrer Verteidigung gebrauchen könnte. Sogleich fühlte sie sich sicherer. Inzwischen waren an dem wolkenlosen Himmel Mond und Sterne aufgegangen, und der Weg, auf dem sie inzwischen lief, war besser zu erkennen.

Sie schätzte, daß sie in gut einer Stunde Beccs Festung erreichen würde. Sie verfiel in ein rasches Tempo.

Kaum zehn Minuten später hörte sie ein Pferd herangaloppieren. Rasch versteckte sie sich hinter einem Strauch und hob ihren Stock. Im Mondlicht konnte sie den Weg hinter sich gut einsehen und nun den schwarzen Schatten eines Pferdes ausmachen. Der Reiter hing unbeholfen am Hals des Tieres. War er von den Ui Fidgente? Hatten die ihre Flucht bemerkt und wollten sie nun abfangen, ehe sie Rath Raithlen erreichte? Ihr blieb kaum Zeit, darüber nachzudenken. Ein Pferd konnte sie gut gebrauchen.

Als sich der Reiter näherte, sprang sie schreiend wie eine bean sidh - eine Frau aus dem Feenvolk - hinter dem Busch hervor. Das Pferd bäumte sich auf und stemmte seine Vorderbeine in die Luft. Der Reiter fiel hintenüber und schlug auf dem Weg auf, wo er reglos liegenblieb. Mit hocherhobenem Stock sprang Fidelma auf ihn zu.

Der Reiter stöhnte und stieß einen sächsischen Fluch aus. Fidelma ließ ihren Stock sinken und starrte auf den Liegenden.

»Nar lige Dia! Möge Gott uns beistehen!« rief sie. »Bist du es, Eadulf?«

Eadulf stöhnte erneut und schüttelte den Kopf, den er mit beiden Händen festhielt.

»Ich glaube nicht, daß ich jemals wieder ich selbst sein werde«, stieß er hervor. »Ich bin ganz gewiß in zwei Hälften zersprungen.«

»Es tut mir leid. Ich dachte, du gehörst zu den Ui Fidgente«, rief Fidelma. Sie kniete sich nieder und wollte ihm aufhelfen.

Eadulf versuchte im Dunkeln etwas zu erkennen. Er sah Fidelmas Schatten, hörte ihre Stimme, und auf einmal begriff er, was hier vorging. Er mühte sich, auf die Beine zu kommen.

»Du bist nicht von ihnen verschleppt worden?« fragte er ungläubig und streckte eine Hand nach ihrer Wange aus.

Sie lächelte einen Moment, doch das konnte er ja nicht sehen.

»Wie du merkst, Eadulf«, erwiderte sie ein wenig streng, um ihre Erleichterung zu überspielen. »Sonst wäre ich ja nicht hier.«

»Accobran und Menma sind mit ein paar Männern von Rath Raithlen los geritten, um die Ui Fidgente zu verfolgen«, sagte er jetzt. »Wir dachten, daß sie dich und Suanach gefangengenommen hätten.«

»Suanach haben sie gefangengenommen«, bestätigte Fidelma voller Bedauern. »Die Ui Fidgente hoffen, auf diese Weise Menma in ihre Fänge zu kriegen.«

Eadulf war inzwischen wieder völlig zu sich gekommen, spürte aber jeden seiner Knochen.

»Menma in eine Falle locken? Wieso das?« fragte er.

»Ich weiß es nicht. Doch ich habe zwei von ihnen belauschen können. Der Zweck ihres Überfalls bestand offenbar darin, von Menma etwas Bestimmtes über das Eberdickicht herauszubekommen.«

»Sonderbar, daß sie sich deshalb so weit nach Süden vorwagen. Worum mag es ihnen gehen?«

»Da bin ich überfragt, Eadulf. Meine Sorge gilt im Augenblick Suanach. Sie hat mich im Keller ihres Hauses versteckt, während sie den Ui Fidgente entgegentrat. Nur so konnte ich entkommen.«

Eadulf wurde nun sehr ernst. »Wollen wir hoffen, daß Accobran wirklich ein so fähiger Krieger ist, wie man ihm nachsagt. Menma ist ein ausgezeichneter Fährtenleser und kann den Angreifern sicher folgen.«

»Ich bin mir nicht sicher, ob er das auch in der Nacht schafft. Warum bist du nicht bei ihnen?«

»Accobran meinte, ich solle zur Festung zurückreiten und Becc warnen, denn es könnte sich ja um einen größeren Angriff auf die Cinel na Äeda handeln. Der Tanist sagte, sie hätten von Rath Raithlen aus Rauch aufsteigen sehen und Becc hätte deshalb seine Krieger losgeschickt. Niemand wußte vorher, daß es die Ui Fidgente waren.«

»Accobran sagte ...?«Fidelma ging ein Licht auf. »Dann warst du gar nicht in der Festung?«

»Ich war mit Menma am Nachmittag noch einmal in der Höhle, die dich so beschäftigt hat«, gestand Eadulf. »Wir waren gerade auf dem Rückweg zur Hütte, als wir das Feuer bemerkten. Als wir dort eintrafen, stießen wir auf Accobran.« »Was hast du gemacht?« fragte Fidelma völlig außer sich. »Du bist in die Höhle zurückgegangen?«

»Dir war sie doch so wichtig, daß ich dachte, ich könnte dir die Mühe ersparen. Sollte es dort irgendein Geheimnis geben, so wollte ich es herausfinden, damit du dich nicht noch einmal in Gefahr begibst.«

Schweigend verarbeitete Fidelma diese Mitteilung. »Und bist du auf etwas Besonderes gestoßen?«

»Dei gratia!« bestätigte ihr Eadulf.

»Dann mußt du mir unterwegs alles erzählen.«

Fidelma blickte sich um. Eadulfs Pferd war ein paar Meter weitergelaufen und nagte an einem Strauch am Wegesrand. Sie ging auf das Pferd zu, tastete im Dunkel nach den Zügeln und kam mit dem Pferd zu Eadulf zurück.

»Steig du zuerst auf, ich setze mich dann hinter dich. Bist du sicher, daß du durch den Sturz nicht verletzt bist?«

»Wie du weißt, habe ich ein dickes Fell.«

Sie stellte sich vor, daß Eadulf jetzt lächelte, und so nickte sie.

Eadulf hatte gerade seinen Bericht beendet, da kamen die Tore von Rath Raithlen in Sicht. Fidelma hatte die ganze Zeit über geschwiegen und nur ein- oder zweimal etwas nachgefragt.

Eadulf wartete einen Moment und meinte dann: »»Quid nunc?«

»Was nun, das ist eine gute Frage«, erwiderte sie nachdenklich.

Von den Toren her drangen Rufe zu ihnen, man hatte sie im Dunkeln von den Wachtürmen aus gesehen.

»Tja«, meinte Fidelma, »wir werden jetzt Becc unterrichten, was mit Menmas Haus passiert ist, und dann muß ich eine Weile nachdenken.«

Becc wartete schon mit seinem Verwalter Adag an den Festungstoren auf sie.

»Fidelma!« Er kam mit ausgestreckten Armen auf sie zu. »Ich bin so froh, dich zu sehen, meine Cousine. Als wir den Brand im Wald bemerkten, waren wir zutiefst beunruhigt. Und als mir dann Adag auch noch mitteilte, daß du seit heute vormittag nicht in der Festung gewesen bist - du und Bruder Eadulf« - rasch nickte er zu Fidelmas Gefährten hinüber -, »da haben wir uns ziemliche Sorgen gemacht.«

»Du solltest dir lieber um die Frau des Jägers Men-ma Sorgen machen«, erwiderte Fidelma und erzählte ihm rasch von dem Überfall der Ui Fidgente.

Becc war entsetzt. »So weit nach Süden wagen die sich vor? Adag«, wandte er sich an seinen Verwalter, »schick jemanden los, der die Abtei und die umliegenden Festungen warnt.«

In der Festung herrschte reges Treiben, während man den Befehl des Fürsten ausführte. Becc hatte auch angeordnet, daß das Pferd seiner Gäste versorgt werden sollte. Er führte Fidelma und Eadulf in seine Halle und rief einen Bediensteten, der Wein und Brot bringen sollte.

»Wie ernst ist die Bedrohung, die von den Ui Fidgente ausgeht, deiner Meinung nach?« wollte er von Fidelma wissen, nachdem der Wein eingeschenkt war.

»Die Ui Fidgente muß man immer für gefährlich halten, Becc«, antwortete Fidelma. »Seit ihrer Niederlage bei Cnoc Äine sinnen sie auf Rache. Trotzdem glaube ich, daß es sich hier nur um einen kleinen Trupp von Plünderern handelt, die auf etwas Bestimmtes aus sind. Ich halte sie nicht für einen Kriegstrupp. Sie suchen einfach nur nach etwas.«

»Das verstehe ich nicht.«

»Sie wollen irgend etwas in Erfahrung bringen. Wenn sie in großer Zahl gekommen wären, hätte man sie bemerkt. Den Weg nach Osten konnten sie nicht nehmen, weil dort die Eoghanacht Äine aufpassen. Wären sie direkt nach Süden marschiert, so wären sie auf die Eoghanacht Glendamnac gestoßen und in Richtung Westen auf die Eoghanacht Loch Lein. Eine große Armee wäre jemandem aufgefallen, bei einem kleinen Überfalltrupp, der vorsichtig im verborgenen agiert, ist das schwieriger. Ich gehe davon aus, daß es sich hier um einen solchen Trupp handelt.«

Becc lehnte sich erleichtert zurück. »Doch auch ein kleiner Trupp bringt mich in Bedrängnis. Zur Zeit haben wir nicht genügend junge Männer, die als Krieger ausgebildet sind. Aber, was meinst du ... Hinter was sind sie her?«

Fidelma hob eine Schulter. »Das kann ich nicht beantworten.«

»Du hast gesagt, sie haben nur eine Sache im Sinn. Welche?«

»Hoffentlich holt Accobran sie ein und bringt sie als Gefangene zurück, dann können wir sie fragen und werden es bald genauer wissen.«

Becc sah sie betroffen an.

»Bis zu Accobrans Rückkehr können wir nichts unternehmen«, versicherte ihm Fidelma.

Becc seufzte resigniert.

»Ihr werdet euch zurückziehen und erfrischen wollen«, sagte er und erhob sich. »Das Abendessen wird in einer Stunde angerichtet sein.«

Fidelma und Eadulf standen mit ihm auf. Auf dem Weg zur Tür drehte sich Fidelma noch einmal um.

»Ich habe da noch eine Frage, Becc. Hast du hier in der Festung einen senchae, einen Historiker?«

»Ja, mehrere. Es hängt ganz davon ab, was du wissen willst. Es gibt einen Genealogen, den Hüter der Geschichte meines Hauses. Dann gibt es jemanden, der sich in den alten Legenden auskennt .«

»Ich interessiere mich für die Geschichte des Eberdickichts.«

»Ich fürchte, daß es da nur einen gibt, der sich damit auskennt. Man wird ihm gut zureden müssen, ehe er etwas von seinem Wissen preisgibt.«

»Der alte Liag, der Heilkundige?«

Becc sah sie überrascht an. »Woher weißt du das?«

»Das war nur geraten«, erwiderte sie leise. »In einer Stunde werden wir zum Abendessen erscheinen.«

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