Epilog

Ein kleiner Schwarm Steindohlen kreiste in der Luft über den Bergspitzen mit einem aufgeregten: »Krah ... krah ... krah!« Die Meister der Lüfte flogen hoch droben, als seien sie ein Ganzes, dann schwangen sie sich hinab und tauchten bis zum Erdboden hinunter, wobei sie Bögen und Kreise zogen, von denen Fidelma und Eadulf wie verzaubert waren, als sie den Sattel des Cnoc Mhaoldhomhnigh passierten und in die Ebene hinabritten.

»Sie sind weit ins Inland gekommen«, bemerkte Fidelma und zeigte auf die Vögel, die man leicht an ihrem glänzenden rötlichschwarzen Federkleid, den rotumrandeten Schnäbeln und den roten Füßen erkennen konnte.

Diese Dohlen, cosdhearg genannt, waren eigentlich Küstenvögel, die auf den Meeresklippen nisteten, doch manchmal traf man auch in den Bergen unweit der See auf sie. Eadulf waren sie eher gleichgültig. Er blickte auf die Berghänge, über die sie geritten waren. Vor ihnen erstreckten sich die Tiefebenen. Im hellen Oktoberlicht konnte er das breite,

funkelnde Band des Flusses Siür ausmachen, des Schwesterflusses, wie er genannt wurde. Er vermochte sogar zu erkennen, wo sich der Fluß mit dem Tar vereinte und sich ostwärts weiterwand, bis er schließlich ins Meer mündete. Von hier war es nicht mehr weit nach Cashel.

»Meinst du wirklich, daß Gabran nicht voll zurechnungsfähig ist?«

»Gott sei Dank muß ich das nicht beurteilen«, erwiderte Fidelma. »Man hat ihn ins Kloster Molaga geschickt, wo es ausgebildete Ärzte gibt, die feststellen werden, ob er für die Morde zur Verantwortung gezogen werden kann oder nicht.«

Eadulf schwieg eine Weile, dann sagte er: »Nun, zumindest hast du einen weiteren Konflikt mit den Ui Fidgente verhindert. Und Accobran wird lange dafür arbeiten müssen, allen die entsprechende Entschädigung zahlen zu können.«

»Und er wird nie wieder ein Ehrenamt bekleiden«, stimmte ihm Fidelma zu. »Die drei Aksumiter tun mir leid. Bruder Dangila und seine Gefährten kannten unsere Gesetze der Gastfreundschaft nicht und hatten keine Ahnung, daß sie dagegen verstießen.«

»Zumindest sind sie in Freiheit und an die Küste geschickt worden, wo sie sich nach einem Schiff umsehen können, das sie hoffentlich in ihre Heimat bringt. Was aber wird mit Gobnuid geschehen?«

»Er mußte seine Schmiede und sein Werkzeug verkaufen, damit er die Entschädigung zahlen konnte. Er ist bereits in die Gemeinschaft der Abtei des heiligen Finnbarr eingetreten. Dort brauchten sie einen guten Schmied.«

Eadulf mußte lachen. »Ich kann ihn mir gar nicht als Mönch vorstellen.«

Sie waren nun am Fuße des Berges angelangt und kamen auf eine Landstraße, die sie durch bestellte Felder führte. Eadulf blickte Fidelma an und lächelte glücklich.

»Bald werden wir in Finan’s Height sein. Dort überqueren wir die Furt und bitten im Kloster Finans des Aussätzigen zur Mittagszeit um Gastfreundschaft. Gegen Abend werden wir Cashel erreichen.«

Fidelma freute sich über seine Begeisterung. Sie selbst jedoch war ein bißchen traurig.

In den letzten Tagen war keine Zeit geblieben, darüber nachzudenken, was sie in der Festung ihres Bruders erwartete. Sie war wie im Fieber damit beschäftigt gewesen, die Aufklärung des Falls zu betreiben. Mit unerbittlicher Konsequenz hatte sie die einzelnen Fäden so schnell wie möglich miteinander verknüpft. Und die Euphorie, als sie ihre Lösung schließlich vortrug! Und vor allem das wunderbare Gefühl von Freiheit und Unabhängigkeit, das sie auf der Jagd nach der Wahrheit verspürt hatte. Und nun - nun stand die Rückkehr nach Cashel unmittelbar bevor, nur kurze Zeit hatte sie ihrem Zuhause entfliehen können. Da sie es Eadulf versprochen hatte, würde sie einer Aussprache mit ihm nicht mehr ausweichen können. Sie mußte sich ihren Problemen stellen.

Hinter ihrem maskenhaften Lächeln fühlte sie sich ungemein schuldig. Sie glaubte, daß sie Eadulf gegenüber nicht mit offenen Karten spielte. Es war nicht zum erstenmal in den letzten Monaten, daß sie ihre Gedanken und eigenartigen Gefühle seit der Geburt von Alchü hinterfragte. Irgendwie schien sie sich in einer Depression zu befinden, stellte sie doch auch die Beziehung zu ihrem sächsischen Gefährten in Frage. Es hatte lange gedauert, bis sie vor einem knappen Jahr eingewilligt hatte, seine ben charrthach zu werden, also nach Gesetzen der Brehons nicht seine angetraute Ehefrau, sondern seine Gefährtin. Sie waren eine eheähnliche Beziehung eingegangen, die im Cain-Lanamnus-Gesetz anerkannt war: eine Probeehe für ein Jahr und einen Tag. Danach stand es beiden Partnern frei, sich, ohne Strafe und ohne in schlechten Ruf zu geraten, zu trennen und eigene Wege zu gehen, wenn das Zusammenleben nicht glücklich gewesen war.

Diese Probeehe war Fidelmas Entscheidung gewesen. Sie hatte befürchtet, daß nach dem Gesetz ihre Ehe mit Eadulf eine Ehe zweier Personen unterschiedlichen Standes sein würde. Fidelma war von königlichem Geblüt, Eadulf hätte also nicht die gleichen Eigentumsrechte wie seine Frau. Da sie Eadulfs Charakter gut kannte, ging sie davon aus, daß eine Abmachung, in der sich Eadulf nicht gleichberechtigt fühlte, keine gute Voraussetzung für ein glückliches Zusammenleben mit ihm wäre.

Fidelma sorgte sich jedoch sehr um Eadulfs Wohl, und so wollte alles gut überlegt sein. Sie wußte, sie liebte Eadulf und konnte sich ein Leben ohne ihn -seine Unterstützung, seine Toleranz ihrem hitzigen Temperament gegenüber, das sie für ihren größten Makel hielt - nicht vorstellen. Doch in den Monaten nach der Geburt ihres Kindes waren ihr alle möglichen schwermütigen Gedanken durch den Kopf gegangen. Sie hatte sich gefragt, ob sie überhaupt zur Ehe taugte.

Bereute sie es, ein Kind geboren zu haben? Was war der Grund für ihr seelisches Durcheinander? Sie dachte oft daran, wieviel freier sie ohne Alchü wäre. All das quälte sie.

Warum war sie so unglücklich? Sie liebte Eadulf. Vorher hatte sie eine unglückliche Liebesaffäre mit Cian gehabt, einem Krieger, und geglaubt, sie würde sich, nachdem sie ihn verloren hatte, nie wieder verlieben. Doch dann war Eadulf auf einmal in ihr Leben getreten, und sie hatte eine eigenartige Anziehung gespürt. Sie dachte daran, wie es war, als sie sich getrennt hatten, als sie nach Cashel zurückkehrte und ihn in Rom zurücklassen mußte. Damals hatte sie sich auf seltsame Art einsam gefühlt. Natürlich hatte sie es sich nicht eingestehen wollen, daß sie die Gesellschaft des sächsischen Mönchs vermißte. Sie verglich die Männer, die ihr bis dahin begegnet waren, mit Eadulf. Und sie erinnerte sich an ihre tiefe Erregung und Freude, als sie Eadulf dann wiedergesehen hatte.

Das war Liebe. Oder? Sie hatte Eadulfs Gesellschaft, seine Freundschaft und seine Liebe sehr genossen. Aber sie wollte sicher sein, daß sie das Richtige tat. Vor zwei Jahren hatte sie beschlossen, daß er in seine Heimat zurückkehren sollte, während sie sich auf eine Pilgerreise an des Grab des heiligen Jakobus nach Iberia begeben wollte. Kaum in Iberia angekommen, hatte sie die Nachricht erhalten, daß Eadulf in Todesgefahr schwebte. Sie war sofort zu ihm geeilt, um ihm beizustehen. Das war doch Liebe, oder?

Was stimmte nur nicht mit ihr? Warum quälten sie solche Gedanken? Körperlich krank war sie sicher nicht. In der letzten Nacht hatte Eadulf versucht, ihr ein bitteres Gebräu aus brachlais einzuflößen. Wie hieß es doch gleich? Johanniskraut. Sie wußte natürlich, daß die Heilkundigen von Eireann dieses Kraut Frauen verabreichten, die nach der Geburt ihres Kindes niedergeschlagen waren und in Depressionen verfielen. Sie litt doch wohl nicht an einer solchen Melancholie, oder? In dem Moment, in dem sie sich ernsthaft diese Frage stellte, dämmerte ihr bereits die Antwort.

All das beschäftigte sie die ganze Zeit über derart, daß sie gar nicht bemerkte, daß sie beinah am Kloster Finans des Aussätzigen angelangt waren. Es war erst unlängst errichtet worden, doch schon bald hatte sich um die Klostergebäude und die Kapelle herum ein kleines Dorf gebildet. Es war ein schönes Fleckchen Erde in einer schönen Landschaft. Eine ausgezeichnete Anlaufstelle für Händler, die vom Fluß her kamen und ihre Güter per Fuhrwerk weiter in die unzugänglicheren Gegenden des Königreiches befördern wollten.

Sie durchquerten den Fluß an einer nicht ungefährlichen Furt, die recht tief war und von starken Strömungen durchzogen wurde. Das Kloster hatte dort immer einen Wächter postiert, der mögliche Unfälle melden und Hilfe rufen sollte. Eadulf gelang es, als erster mit seinem Pferd das gegenüberliegende Ufer zu erreichen. Er wartete auf Fidelma, und gemeinsam ritten sie auf das Kloster zu, wo man ihnen Gastfreundschaft gewähren würde.

»Lady, ehrwürdige Lady!«

Der Ruf schallte vom Eingang einer Schenke am Weg zu ihnen herüber. Ein großer, dunkelhäutiger Krieger löste sich hastig aus dem Schatten der Tür und eilte auf sie zu. Er trug die Farben der Krieger von Cashel, und um seinen Hals hing die goldene Fackel der obersten Garde von Cashel. Fidelma kannte ihn, erinnerte sich aber im Moment nicht an seinen Namen. Der Mann trat neben ihr Pferd.

»Gott sei Dank, daß ich dich schon hier treffe, Lady.« Er sah Eadulf an und grüßte ihn kurz, wobei er mit den Fingern gegen seine Schläfe tippte. »Dich auch, Bruder Eadulf.«

»Wofür dankst du Gott?« fragte Eadulf neugierig.

»Ich habe den Auftrag, ins Land der Cinel na Äeda nach Rath Raithlen aufzubrechen.«

»So freuen wir uns, daß wir dir die lange Reise ersparen konnten«, sagte Fidelma. »Wieso hat man dich nach uns ausgeschickt? Ich schätze, es gibt Neuigkeiten aus Cashel.«

Verlegen trat der Krieger von einem Bein aufs andere. Sein Blick war betrübt. »So ist es, Lady.«

Angst stieg in Fidelma auf. »Ist etwas mit meinem Bruder? Mit Colgü? Gibt es schlechte Nachrichten?«

»Dein Bruder, der König, ist wohlauf, wenn auch äußerst besorgt. Es gibt schlechte Nachrichten, Lady ...«

»So sprich schon!« warf Eadulf ein, den das Zögern des Mannes reizte.

»Es geht um dein Kindermädchen Sarait. Sie ist ermordet worden.«

Fidelma sah ihn erschrocken an. »Sarait ist ermordet worden? Was ist geschehen?«

»Lady.« Der Krieger holte tief Luft, und auf einmal stürzten die Worte aus ihm heraus: »Sarait ist ermordet worden, und euer Sohn Alchü wurde entführt.«

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